Die Bilder der Madame Allard - Kelly Bowen - E-Book

Die Bilder der Madame Allard E-Book

Kelly Bowen

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Beschreibung

Ein vergessenes Apartment voller Geheimnisse – und die unglaubliche Geschichte einer furchtlosen Frau

London, 2017: Als Aurelia das Pariser Apartment ihrer Großmutter in Paris erbt, ist sie überwältigt. Die Räume sind voller berühmter Gemälde und feiner Couture - wie eine Zeitkapsel, die die bewegte Geschichte der Stadt bewahrt hat. Eines der Bilder führt sie zum mysteriösen Kunsthistoriker Gabriel. Gemeinsam gehen sie der Wahrheit hinter den seit Jahrzehnten verborgenen Schätzen auf den Grund.

Paris, 1942: Die glamouröse Estelle Allard schlägt sich in der Stadt der Lichter durch. Als die deutschen Besetzer ihre Freunde bedrohen, tut sie alles, um diese zu schützen. Dafür muss sie ein gefährliches doppeltes Spiel spielen und ahnt nicht, welche Konsequenzen ihre Entscheidung hat, gegen die Nazis zu kämpfen.

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Seitenzahl: 499

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DASBUCH

Lia stellte ihr Gepäck ab und wartete darauf, dass sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ein Stück vor ihr, auf der Seite, wo sich die breite, sonnige Straße befinden musste, fielen matte Lichtstrahlen durch das, was Lia für schwere Vorhänge vor den Fenstern hielt. Genug Licht, um einige Formen in der Wohnung zu erahnen, aber nicht ausreichend, um wirklich etwas zu erkennen. Vorsichtig wagte sich Lia zum Fenster vor. Sie erreichte die Wand mit den Vorhängen, und als sie die Hand ausstreckte, ertastete sie einen schweren Stoff, der sich wie Damast anfühlte. Sie fand die Kante des Vorhangs, und irgendwo über ihr klapperten die Ringe an der Stange. Ohne zu zögern, zog sie den Vorhang zurück. Und stellte fest, dass Grandmère ihr nicht nur eine Wohnung hinterlassen hatte. Sondern ein ganzes Museum. Das strahlende Licht erleuchtete grau-blaue Tapeten, deren Farbe an einen stürmischen Himmel erinnerte. Dutzende Stillleben in vergoldeten Rahmen hingen an der Wand gegenüber. In der Mitte des Raums standen sich zwei Louis-XV-Sofas mit verstaubten türkisfarbenen Polstern gegenüber, dazwischen lag ein großer Perserteppich. Seitlich der Fensterfront war ein offener Kamin mit kunstvoll verziertem Sims. Befestigungen an der Wand darüber ließen darauf schließen, dass dort einmal ein Kunstwerk gehangen hatte, das nun nicht mehr vorhanden war. Vor Aufregung spürte Lia ihre Beine kaum, als sie weiter in die Wohnung hineinging.

DIEAUTORIN

Die preisgekrönte Autorin Kelly Bowen wuchs in Manitoba, Kanada, auf und besuchte die University of Manitoba, wo sie einen Bachelor of Science und einen Master of Science in Veterinärwissenschaften erwarb. Sie arbeitete als Forscherin, bevor sie ihren Traum verwirklichte, historische Romane zu schreiben. Derzeit lebt Kelly mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Winnipeg.

KELLY BOWEN

Die Bilder der Madame Allard

ROMAN

Aus dem Englischen von Anja Rüdiger

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Die Originalausgabe THEPARISAPARTMENT

erschien erstmals 2021

bei Forever, Hachette Book Group, New York .

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 02/2024

Copyright © 2021 by Kelly Bowen

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung eines Fotos von Richard Jenkins

und AdobeStock/maglara

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31067-7V001

www.heyne.de

KAPITEL 1

Aurelia

Paris, Frankreich 10. Juni 2017

Die Frau war nackt.

In einem Wirbel von Scharlachrot und Orange hatte sie die Arme erhoben, ihr Haar wie eine dunkle Flut hinter ihr. Gefangen im Lichtstrahl, der durch die offene Wohnungstür hereinfiel, blickte sie aus ihren dunklen Augen wütend und anklagend von der Leinwand dem Betrachter entgegen, als wollte sie sich über das Eindringen in ihr Heim und ihre Privatsphäre beschweren. Lia erstarrte in der offenen Tür, in der einen Hand den schweren Schlüssel und in der anderen die Dokumente, in denen stand, dass sie jedes Recht hatte, an diesem Ort zu sein.

Und dass diese unbekannte Wohnung mit allem, was darin war, ihr gehörte.

Das ist ein wertvoller Besitz, hatten die Anwälte ihr versichert. Ihre Großmutter muss Sie sehr geliebt haben. Lia hatte nicht reagiert, war Grandmères letzter Wille doch genauso undurchsichtig wie ihr Wille zu Lebzeiten. Also setzte sie nicht darauf, dass Liebe dabei eine Rolle gespielt hatte.

»Licht und Strom müssten funktionieren«, sagte die Concierge, die auf dem Treppenabsatz hinter ihr stand, eine überraschend junge Frau mit einem kurzen pinkfarbenen Bob und einem sympathischen Lächeln, die sich schlicht als Celeste vorgestellt hatte. Lia hatte sie gleich gemocht. »Falls Sie noch etwas brauchen, klingeln Sie einfach.«

»Vielen Dank«, entgegnete Lia, während sie den Schlüssel in die Tasche steckte.

»Sie haben am Telefon gesagt, dass die Wohnung Ihrer Großmutter gehört hat?« Celeste lehnte lässig am Treppengeländer.

»Ja. Sie hat sie mir vererbt.« Zumindest hatten die Anwälte das gesagt, als sie sie in die Kanzlei bestellt und ihr Unmengen an Dokumenten vorgelegt hatten. Und während die Wohnung in Paris von einem auf den Namen ihrer Großmutter laufenden Konto bezahlt und unterhalten wurde, hatte Estelle Allard, soweit Lia wusste, niemals woanders als in Marseille gelebt.

»Oh. Herzliches Beileid«, sagte die Concierge.

»Danke. Ihr Tod kam nicht unerwartet. Aber das mit der Wohnung war ein ziemlicher … Schock.«

»Nicht gerade ein negativer Schock, denke ich, oder?«, wandte Celeste ein. »Wir alle sollten solches Glück haben.«

»Stimmt«, gab Lia zu, während sie mit dem Emailanhänger an ihrem Hals spielte. Bis zu diesem Morgen war die alte Kette das einzige Geschenk gewesen, das ihre Großmutter ihr je gemacht hatte. An ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie ihr das Schmuckstück ohne viel Aufhebens gegeben. Lia wandte sich wieder der Concierge zu. »Wie lange arbeiten Sie schon hier?«

»Seit sechs Jahren.«

»Ich nehme nicht an, dass Sie irgendetwas über diese Wohnung wissen? Oder über meine Großmutter? Estelle Allard?«

Celeste schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Die Eigentümer der anderen Wohnungen kenne ich alle gut, während ich keine Ahnung hatte, wem diese gehört. Ich wusste nur, dass sie, seit ich hier angefangen habe, unbewohnt ist.«

Spontan klemmte sich Lia die Papiere unter den Arm, zog den Reißverschluss ihrer Handtasche auf und nahm ein kleines Bild heraus. Es war eine etwas unbeholfene Zeichnung in leuchtenden Farben und stellte ein Landhaus dar, das von smaragdgrünen Bäumen umgeben war und sich vom kobaltblauen Himmel abhob. Zusammen mit dem Wohnungsschlüssel war es das Einzige, was Lias Großmutter ihr direkt hinterlassen hatte.

»Was ist mit dem Namen Seymour? William Seymour? Kommt der Ihnen bekannt vor?«, fragte Lia und hielt Celeste die Zeichnung hin.

Celeste schüttelte erneut den Kopf. »Nein. Darf ich fragen, wer das war?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er das Bild signiert hat.«

»Oh.« Offensichtlich hatte Lia Celestes Neugierde geweckt. »Denken Sie, dass er mal der Eigentümer der Wohnung war?«

»Ich habe keinen Schimmer.« Lia seufzte, während sie das kleine Gemälde wieder in ihre Tasche steckte.

»Ich kann in den Aufzeichnungen über das Gebäude nachsehen, wenn Sie möchten«, bot Celeste an. »Die Unterlagen reichen viele Jahre zurück. Wenn hier jemals ein William Seymour gelebt hat, müsste sich das eigentlich herausfinden lassen.«

Das freundliche Angebot rührte Lia. »Nein, ist schon gut.« Sie wollte die Zeit der Concierge nicht vergeuden. Zumindest nicht, solange sie selbst nicht ein wenig nachgeforscht hatte.

»Sicher? Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie es sich anders überlegen.«

»Danke. Das mache ich.«

Celeste zögerte. »Haben Sie vor, hier zu wohnen?«, fragte sie schließlich.

Lia öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn dann jedoch wieder. Die schlichte Antwort war Ja, zumindest vorerst. Aber auf lange Sicht? Das war wesentlich schwerer zu beantworten.

»Das geht mich natürlich nichts an.« Die Frau senkte den Kopf. »Entschuldigung.«

»Oh, kein Problem.« Lia lächelte. »Ich habe mich einfach noch nicht entschieden.«

»Ich hoffe, dass Sie bleiben werden«, sagte Celeste aufrichtig. »Es wäre schön, wenn …«

Das Geräusch eines Türschlosses, das geöffnet wurde, begleitet von hysterischem Hundegebell, veranlasste Lia, sich umzuwenden. Auf der anderen Seite des Treppenabsatzes erschien eine ältere Dame. Sie trug ein sich windendes weißes Fellbündel unter dem Arm und hatte einen Gehstock in der Hand. Sie trug einen geblümten Rock mit schmaler Taille und um den Hals eine dicke Perlenkette. Ihr gelocktes weißes Haar umrahmte ihr üppig gepudertes Gesicht, die karminroten Lippen waren ärgerlich verzogen. Die Farbe war in den tiefen Falten um ihren Mund verlaufen, und ihr gesamter Anblick wirkte eher makaber. Aurelia konnte Grandmères missbilligendes Zischen geradezu hören.

Make-up sollte immer dezent sein, Lia. Es sei denn, du willst auffallen, ohne gesehen zu werden, natürlich.

Damals war Lia ein Lipgloss liebender Teenager gewesen, und die kryptische Kritik hatte sie geärgert. Inzwischen musste sie zugeben, das Grandmère durchaus recht gehabt hatte.

Lias Nachbarin schlurfte über den Marmorfußboden, den Blick auf das große Aktgemälde hinter ihr gerichtet, das im spärlichen Licht in der Wohnung zu sehen war. Die Frau war genauso geschockt wie Lia vorhin, was bei der älteren Dame jedoch in deutlich sichtbare Missbilligung mündete. Lia bemühte sich zu lächeln und baute sich so in der Tür auf, dass der Blick in die Wohnung verstellt war.

Die Frau reckte mürrisch den Hals, um an ihr vorbeizusehen.

»Guten Tag«, sagte Lia höflich, wie es ihre Internatsmanieren verlangten, worauf der Hund erneut in wütendes Gebell ausbrach, das schrill von den Wänden und dem Marmorboden widerhallte. Das Gesicht der Frau wurde noch unwirscher, als sie irgendwo aus den Falten ihrer Kleidung ein Stück Wurst hervorzauberte. Das beendete das Bellen, und die glänzenden Augen des Hundes waren nun nicht mehr auf Lia, sondern auf die Belohnung in der klauenartigen Hand gerichtet.

»Ist das Ihre Wohnung?«, fragte die Frau in der plötzlichen Stille mit einer Stimme wie Sandpapier.

»Ja.« Eine Tatsache, die noch so neu war, dass es Lia nicht leichtfiel, die Antwort mit Überzeugung vorzubringen.

»Ich wohne schon mein ganzes Leben lang hier. Seit 1943«, sagte die Frau mit prüfendem Blick.

Lias Lächeln verlosch. »Hm. Das ist eine lange Zeit …«

»Ich weiß alles, was in diesem Gebäude vor sich geht. Und in all der Zeit hat niemand diese Wohnung betreten oder verlassen. Bis jetzt.«

»Mhm«, machte Lia unverbindlich, da sie sich nicht sicher war, ob das als Frage, Feststellung oder Missbilligung gemeint war. Sie klammerte sich an den Umschlag mit den Dokumenten und drückte ihn an die Brust.

»Wohnen Sie allein hier?« Der Blick der Frau wanderte zu Lias linker Hand.

»Entschuldigung?« Lia unterdrückte den Drang, die Hand in die Tasche zu schieben.

»Sie wirken zu alt, um nicht verheiratet zu sein. Aber jetzt ist es wohl zu spät, nehme ich an. Was für ein Pech.«

Lia blinzelte und fragte sich, ob sie sich vielleicht verhört hatte. »Wie bitte?«

»Ich kenne Frauen wie Sie.« Lias Nachbarin rümpfte die Nase, und ihr Blick fiel zuerst auf Lias schweren Rucksack und die Tasche und schließlich auf ihre nackten Schultern und die hinter dem Nacken verknoteten Träger ihres roten Sommerkleids.

»Frauen wie mich?« Ärger stieg in Lia auf.

»Ich möchte keine Musik hören. Keine Drogen oder Partylärm. Keine fragwürdigen Männer, die auf der Suche nach Ihnen mitten in der Nacht an meiner Tür herumstreifen.«

»Ich werde versuchen, Männer nur tagsüber zu empfangen.« Lia gab sich Mühe, höflich zu bleiben.

Celeste, die während der ganzen Unterhaltung kein Wort gesagt hatte, brach in Gelächter aus und bemühte sich, dies mit einem Hustenanfall zu tarnen.

Die Frau fuhr herum.

»Guten Tag, Madame.« Celeste riss sich zusammen. »Wie geht es Ihnen heute, Madame Hoffmann?«

Die Angesprochene warf einen strengen Blick auf das pinkfarbene Haar der Frau vor ihr und verzog angewidert die scharlachroten Lippen. »Abartig«, murmelte sie.

Celestes Handy klingelte, und sie warf einen Blick auf das Display. »Ein wichtiger Anruf«, sagte sie und sah Lia entschuldigend an. »Sagen Sie Bescheid, wenn Sie irgendetwas brauchen. Und herzlich willkommen.« Sie stieß sich vom Treppengeländer ab und hopste die Stufen hinunter, woraufhin der Hund erneut in hysterisches Bellen ausbrach.

Lia nutzte die Ablenkung, um sich in ihre Wohnung zurückzuziehen, und schloss die Tür hinter sich. In der stickigen Dunkelheit war sie froh, dem Gespräch entronnen zu sein.

»Kein Wunder, dass du ungehalten bist«, murmelte sie in Richtung des Aktgemäldes, das irgendwo vor ihr auf dem Boden stehen musste, aber ohne das Licht aus dem Treppenhaus nicht zu sehen war. »Das wäre ich auch, wenn ich seit 1943 eine solche Nachbarin hätte.«

Sie erhielt keine Antwort.

Die Wohnung roch muffig, was wohl daran lag, dass sie bedeutend länger unbewohnt war als die sechs Jahre, von denen Celeste wusste. Lia stellte ihr Gepäck ab und wartete darauf, dass sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ein Stück vor ihr, auf der Seite, wo sich die breite, sonnige Straße befinden musste, fielen matte Lichtstrahlen durch das, was Lia für schwere Vorhänge vor den Fenstern hielt. Genug Licht, um einige Formen in der Wohnung zu erahnen, aber nicht ausreichend, um wirklich etwas zu erkennen.

Vorsichtig wagte sich Lia zum Fenster vor. Die Dielen knarrten bei jedem Schritt, als ob auch sie ihr Eindringen missbilligten. Sie erreichte die Wand mit den Vorhängen, und als sie die Hand ausstreckte, ertastete sie einen schweren Stoff, der sich wie Damast anfühlte. So weit, so gut. Immerhin war kein Tier aufgeschreckt von der Decke gefallen oder über ihre Füße gehuscht. Sie fand die Kante des Vorhangs, und irgendwo über ihr klapperten die Ringe an der Stange. Ohne zu zögern, zog sie den Vorhang zurück.

Und bereute es sofort.

Als das grelle Sonnenlicht durch die blinden Fenster fiel, war sie von dichten Staubwolken eingehüllt. Lia würgte, hustete und hatte Tränen in den Augen. Sie kämpfte verzweifelt mit dem verriegelten Fenster und war äußerst erleichtert, als es endlich nachgab. Das vorwurfsvolle Stöhnen des Riegels ignorierend, schob sie die Bleiglasscheibe ein Stück auf und hielt ihr Gesicht in die frische Luft.

Keuchend und hustend hielt sie den Kopf mindestens eine Minute lang aus dem Fenster. Vielleicht hätte sie die Wohnungstür besser offen gelassen. Als der Husten endlich nachließ, nahm Lia einen tiefen, stärkenden Atemzug und wappnete sich für das, was sie erwartete. Langsam wandte sie sich vom Fenster ab. Und stellte fest, dass Grandmère ihr nicht nur eine Wohnung hinterlassen hatte.

Sondern ein ganzes Museum.

Noch immer wirbelten Staubschwaden durch die Luft, aber das strahlende Licht erleuchtete graublaue Tapeten, deren Farbe an einen stürmischen Himmel erinnerte. Dutzende Stillleben und Seestücke in vergoldeten Rahmen hingen an der Wand gegenüber.

In der Mitte des Raums standen sich zwei Louis-XV-Sofas mit verstaubten türkisfarbenen Polstern gegenüber, dazwischen lag ein großer Perserteppich. Auf der Seite zu Lia hin befand sich ein quer stehender Schreibtisch, an den das Aktbild gelehnt stand und jeden empfing, der durch die Tür eintrat.

Seitlich der Fensterfront war ein offener Kamin mit kunstvoll verziertem Sims. Befestigungen an der Wand darüber ließen darauf schließen, dass dort einmal ein Kunstwerk gehangen hatte, das nun nicht mehr vorhanden war. Und in der Mitte der Decke hing ein Kronleuchter, dessen tropfenförmige Kristalle nicht allzu sehr verstaubt waren.

Vor Aufregung spürte Lia ihre Beine kaum, als sie weiter in die Wohnung hineinging. An einem zierlichen Tischchen am hinteren Ende des einen Sofas blieb sie stehen und betrachtete die gerahmten Fotos darauf. Vorsichtig nahm sie das vorderste in die Hand und wischte den Staub ab. Auf dem Bild war eine junge Frau zu sehen, die vor einem Jazzclub an einer Laterne lehnte und ein mit Perlen besetztes Seidenkleid trug, das ihren makellosen Körper eng umschloss. Über ihren Schultern lag eine Pelzstola. Sie hielt eine Zigarettenspitze in der Hand und blickte mit sinnlicher Gleichgültigkeit durch den Rauch in die Kamera. Lia drehte das Foto um. Estelle Allard, Montmartre, 1938 stand auf der Rückseite.

Lia schluckte.

Obwohl die Anwälte ihr mehrfach erklärt hatten, dass dies die Wohnung von Estelle Allard gewesen war, stellte Lia fest, dass sie es bis jetzt nicht wirklich geglaubt hatte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihre Großmutter, die in ihrem ganzen Leben nicht erwähnt hatte, mal nach Paris gereist zu sein, geschweige denn dort gewohnt zu haben, all die Zeit über ein solch großes Geheimnis bewahrt haben sollte.

Und sie hatte nicht im Entferntesten eine Ahnung, was der Grund dafür sein könnte.

Lia stellte das Foto zurück und begutachtete das nächste. Estelle am Steuer eines Mercedes. Sie lehnte am Seitenfenster und lachte dem Fotografen zu. Das Haar fiel ihr lose über die Schultern, und ein kecker Hut verdeckte eines ihrer Augen. Lia blinzelte und bemühte sich, diese sinnlichen, kessen Bilder mit der strengen, reservierten Frau in Einklang zu bringen, die sie gekannt hatte. Es gelang ihr nicht wirklich.

Lia richtete ihre Aufmerksamkeit auf das letzte der Fotos und runzelte die Stirn. Ein deutscher Offizier blickte ihr ernst und streng entgegen. An der Uniform war zu erkennen, dass es zur Zeit des Ersten Weltkriegs aufgenommen worden war. Sie drehte das Bild um, doch die Rückseite war unbeschrieben. Nachdem sie das Foto wieder abgestellt hatte, sah sie auf den Zeitschriftenstapel daneben.

Lia schob die oberste zur Seite. Die nicht verstaubte Titelseite der Zeitschrift darunter war leichter zu lesen. Signal stand in dicken roten Buchstaben oben links. Ansonsten wurde die Titelseite von dem Bild eines Nazisoldaten dominiert, der eindringlich in die Kamera blickte. Die Rückseite der Zeitschrift war in dem gleichen Rotton wie der Titel gehalten. September 1942 stand deutlich lesbar ganz oben. Lia zuckte zurück.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, sagte sie in die Stille. Auch ohne die Zeitschrift aufzuschlagen, wusste Lia, was sie darin finden würde. Deutsche Propaganda und Hochglanzfotos, die den Nationalsozialismus verherrlichten, veröffentlicht zu der Zeit, als Deutschland Paris erobert und besetzt hatte.

Lia starrte noch einmal auf die junge, lachende Estelle Allard in ihrem Mercedes und den namenlosen deutschen Offizier, bevor sie sich von den Fotos und den Zeitschriften abwandte. Mit einem unguten Gefühl im Bauch ging sie an dem prunkvollen Kamin vorbei und in das elegante Esszimmer. Dieses wurde von einem Tisch aus Rosenholz und acht dazu passenden Stühlen dominiert. An der rechten Wand stand ein hoher Vitrinenschrank, dessen Borde mit Kristall, Silber und Porzellangeschirr vollgestellt waren.

Die gegenüberliegende Wand war mit Porträts von Männern und Frauen behängt, die gut und gern Jahrhunderte alt sein mochten. Lia biss sich auf die Lippe, bis es wehtat, als das flaue Gefühl in ihrem Magen stärker wurde. Derartige Kunstwerke waren begehrte Souvenirs der Nazis gewesen; ganze Sammlungen wurden während der Besatzungszeit gestohlen …

»Hör auf damit, Lia.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist doch absurd.«

Ja, sie hatte Nazipropaganda in dieser Wohnung gefunden. Aber ein einzelnes Foto und eine Handvoll Zeitschriften bedeuteten nicht automatisch, dass die Gemälde an diesen Wänden gestohlen oder auf andere Weise illegal erworben worden waren. Es bedeutete nicht, dass es für diese Gemäldesammlung einen anderen Grund als die Liebe zur Kunst gab. Damit verbundene Verschwörungstheorien sollte sie den Filmemachern in Hollywood überlassen. Oder irgendwelchen Fanatikern.

Lia wandte den Blick von den Gemälden ab und ging durch das Esszimmer, das in einen Flur mündete. Zu ihrer Rechten führte eine Tür in die Küche mit einem Ofen, einem Kühlschrank und einem tiefen Spülbecken neben einer Arbeitsplatte, die bis auf ein einzelnes Kristallglas leer war.

Zu ihrer Linken konnte sie durch eine offen stehende Doppeltür in einem dunklen Raum den Umriss eines Himmelbetts erkennen. Wie im Wohnzimmer fielen an der hinteren Wand spärliche Lichtstrahlen herein.

Lia betrat den Raum, ging um das Bett herum und zog deutlich vorsichtiger als zuvor die schweren Vorhänge auseinander.

Im Licht offenbarte das Zimmer seine überaus feminine Einrichtung. Die Wände waren mit einer rosafarbenen Tapete bezogen, deren obere Ränder von einem leicht vergilbten Weiß waren. Der Raum war mit einem Doppelbett, einem Toilettentisch, einem Stuhl und einem etwas wuchtigen, verzierten Schrank möbliert. Das Bett war ordentlich gemacht, und die Farbe des Bettzeugs würde in gewaschenem Zustand wohl in etwa dem rosa Ton der Wände entsprechen.

Der Raum war tadellos aufgeräumt bis auf ein Kleidungsstück, das nachlässig auf die Tagesdecke geworfen worden und inzwischen voller Staub war. Es handelte sich um ein Abendkleid, wie Lia feststellte, nachdem sie es an den schmalen Trägern angehoben hatte. Ein edles, mit Kristallperlen besetztes Kleidungsstück aus zitronengelbem Krepp und Chiffon, das – egal, aus welchem Jahrhundert es stammte – sicher extrem teuer gewesen und bestimmt nicht einfach so wie ein altes Paar Socken hingeworfen worden war.

Verblüfft legte Lia das Kleid zurück aufs Bett und blickte auf die schmale Tür in der Ecke neben dem Schrank, die in so etwas wie ein Ankleidezimmer führte, nur dass zum Ankleiden kaum noch Platz war. Denn auf beiden Seiten hingen unzählige kurze und lange Kleider sowie Pelze und andere Jacken dicht nebeneinander, sodass von den Wänden nichts mehr zu sehen war. Auf dem Boden standen Schuhe, Dutzende Paare, und auf einem Regal ganz oben befanden sich jede Menge Hutschachteln. Davor stapelten sich mit Leder oder Satin bezogene Schmuckdosen.

»Gütiger Gott«, murmelte Lia, die diesen Überfluss nicht fassen konnte.

Sie trat zurück und öffnete vorsichtig den Schrank neben sich, in dem sie eine ähnliche Menge an Extravaganz vermutete. Allerdings war dieser beinahe leer; in seinem höhlenartigen Inneren hingen nur fünf, sechs Abendkleider.

Diesen war der Staub der vielen Jahre erspart geblieben, und Lia stellte fest, dass es sich um maßgeschneiderte Couture-Stücke handelte, die aufwendig bestickt und mit edlen Applikationen versehen waren. Lia strich mit den Fingern über einen saphirblauen Rock und zog die Hand gleich wieder zurück, so edle Kleidung hatte sie noch nie berührt. Sie schloss die Schranktür wieder und lehnte die Stirn dagegen. Diese Kleider, Schuhe und Pelze waren ein Vermögen wert. Genau wie die Möbel und die Kunstwerke.

Und all das war seit mehr als siebzig Jahren in dieser Wohnung versteckt.

Lia hob den Kopf und atmete tief durch. Doch Vermutungen brachten sie nicht weiter – wie ihre wissenschaftliche Ausbildung sie gelehrt hatte. Im Zweifel für den Angeklagten, das galt auch für ihre Großmutter. Sie würde das Schlimmste erst glauben, wenn es wasserdicht bewiesen war.

Vorerst würde sie alle Hypothesen beiseitelassen und stattdessen eine Liste der Dinge machen, die nun zu tun waren und ihre sofortige Aufmerksamkeit verlangten. Listen mussten mit Zahlen und Notwendigkeiten gefüllt werden und nicht mit Spekulationen und Annahmen. Listen waren geordnet und rational, und sie hatten ihr schon immer dabei geholfen, sich auf das zu fokussieren, was sie kontrollieren konnte, wenn sie mit Unordnung und Unsicherheit konfrontiert wurde. Ja, eine sorgfältig erarbeitete Liste war genau das, was sie jetzt brauchte.

Lia fühlte sich gleich ein wenig besser und ging auf die Schlafzimmertür zu, blieb jedoch abrupt stehen, als sie ihr Spiegelbild entdeckte. Selbst stumpf und beschmutzt, wie der Spiegel über dem Toilettentisch war, zeigte er die Sorgenfalten in ihrem Gesicht. Unwillkürlich und ohne den Staub zu beachten oder den Blick von ihrem Spiegelbild abzuwenden, sank Lia auf den zierlichen Stuhl vor dem Toilettentisch. Ob ihre Großmutter die Letzte gewesen war, deren Abbild der Spiegel wiedergegeben hatte? Und wenn Lia in der Zeit zurückreisen könnte, was würde sie dann wohl sehen? Wen würde sie sehen?

Ihr Blick fiel auf die Platte des Toilettentischs. Eine Ansammlung von dekorativen Glasflakons stand dicht an dicht. Daneben lag ein Paar Damenhandschuhe, das wohl nach dem Ausziehen dort zurückgeblieben war. Und hinter den Handschuhen lehnte eine kleine Karte am Rahmen des Spiegels. Eine Art Postkarte, dachte Lia, als sie danach griff.

Es war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von einem imposanten Gebäude, dessen gesamte Fassade wie ein antiker Tempel mit Säulen gesäumt war. Beeindruckende Architektur, bei der nur die Hakenkreuzflagge störte, die im Vordergrund stolz im Wind wehte. Das flaue Gefühl kehrte zurück. Ganz langsam drehte Lia die Karte um.

Für die wunderbare Estelle stand dort in verblichener Tinte geschrieben. Mit vielem Dank, Hermann Göring.

Abrupt ließ Lia die Postkarte fallen und kam stolpernd auf die Füße, wobei sie den Stuhl zur Seite stieß. Ekel und Verzweiflung verursachten ihr Übelkeit. Wie dumm sie war, hatte sich geweigert, das überall in der Wohnung Offensichtliche zu akzeptieren. Wenn sie einen wasserdichten Beweis haben wollte, hatte sie ihn nun gefunden.

Noch immer hatte sie keine Ahnung, warum ihre Großmutter entschieden hatte, ihr diese Wohnung zu hinterlassen, aber der Grund, warum sie ein solches Geheimnis daraus gemacht hatte, war klar. Denn ihre Großmutter, die jedes Jahr am 8. Mai, dem Tag des Sieges, die französische Flagge aus dem Fenster gehängt und wiederholt ihre Vaterlandsliebe erklärt hatte, war alles andere als eine Patriotin gewesen. Ihre Großmutter war eine Lügnerin, eine Verräterin, eine Betrügerin.

Ihre Großmutter war eine Nazikollaborateurin gewesen.

KAPITEL 2

Sophie

Wieluń, Polen 31. August 1939

Sophie Seymour war acht Jahre alt, als sie zum ersten Mal hörte, dass jemand sie widernatürlich nannte.

Das war auf Heloise Postlewaithes Geburtstagsfeier gewesen, einem Ereignis, dem Sophie nur beiwohnte, weil Mrs. Postlewaithe sämtliche Mädchen aus der Sonntagsschulklasse eingeladen hatte. Die Feier war von modischen Kleidern mit vielen Rüschen, süßem Kuchen, lauwarmem Tee und Spielen geprägt, die Sophie todlangweilig fand. Deshalb hatte sie sich vor der Reise nach Jerusalem und der Stillen Post gedrückt und sich in die Bibliothek der Postlewaithes zurückgezogen, die sich im ersten Stock des Hauses befand.

Das Landhaus der Familie Postlewaithe war ein imposantes Gebäude, und die Bibliothek war genauso beeindruckend. Dort hatte Sophie in gesegneter Ruhe und im weichen Nachmittagslicht eine Lateinfibel gefunden, die zweifellos irgendein Familienmitglied von seiner Zeit in Eton mitgebracht hatte. Mit ihren acht Jahren sprach Sophie bereits fließend Französisch, Spanisch und Italienisch, ohne jemals mit der Sprache zu tun gehabt zu haben, aus der sie sich entwickelt hatten. Sofort war sie gefesselt und machte es sich mit dem Buch in einer Ecke bequem.

Sie war so gebannt von ihrem neu entdeckten Lernstoff und in der Bibliothek so gut versteckt, dass ihr die Panik und die Aufregung entgingen, die ihr Fehlen verursachte und die nach vergeblicher Suche in der Befürchtung gipfelten, dass das kleine Mädchen in einen der Brunnen auf dem Anwesen gefallen und ertrunken war.

Erst als die verzweifelte Mrs. Postlewaithe Sophie eine Stunde später in der Bibliothek entdeckte, wurde dieser klar, dass etwas schiefgelaufen war. Die Frau zerrte das Mädchen auf die Füße, Erleichterung wandelte sich in Wut, und sie riss dem Kind die Fibel aus der Hand.

»Was stimmt mit dir nicht?«, hatte sie gefragt, während ihr Gesicht unter der immer noch tadellos sitzenden eleganten Frisur eine alarmierende rote Färbung annahm.

»Nichts«, entgegnete Sophie verständnislos.

»Du hast die Feier verlassen.«

»Es war mir zu laut«, erklärte Sophie in dem Versuch, höflich zu sein.

»Du hast Heloises Geburtstagsfest ruiniert«, fauchte die Frau. »Vollkommen ruiniert.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Alle haben nach dir gesucht. Wir haben gedacht, du wärst ertrunken.«

Sophie schüttelte den Kopf. »Aber ich kann doch schwimmen«, versuchte sie die Gastgeberin zu beruhigen. »Meine Mom hat es meinem Bruder und mir beigebracht, bevor sie uns allein ins Wasser gelassen hat.«

Die Frau vor ihr kräuselte missbilligend die Lippen. »Vielleicht hätte deine Mutter dir auch beibringen sollen, dass Stehlen unhöflich ist. Man nimmt nicht einfach Dinge, die einem nicht gehören.«

»Ich habe nicht gestohlen«, erklärte Sophie. »Ich habe nur gelesen. Danach wollte ich das Buch wieder ins Regal stellen.«

Mrs. Postlewaithe blickte auf die Lateinfibel hinunter. »Und dazu bist du auch noch eine Lügnerin«, tadelte sie. »Das kannst du gar nicht lesen.«

»Doch, kann ich.« Sophie war bis dahin noch nie von einem Erwachsenen als Lügnerin bezeichnet worden. Es verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen. »Das ist nur Latein«, versuchte sie zu erklären. »Und dieses Buch beginnt mit der Grammatik in Tabellenform, um anschließend komplexere Sätze zu bilden. Das ist gar nicht so schwer. Soll ich es Ihnen zeigen?«

»Es ist nicht nötig, dass du mir irgendetwas zeigst. Ich weiß, wo in dieser Welt mein Platz ist. Und du musst noch lernen, wo der deine ist.«

Mrs. Postlewaithe starrte Sophie an, und Sophie starrte zurück.

»Du bist eine widernatürliche Kreatur«, fuhr die Frau fort und machte dabei ein böses Gesicht. Die Diamanten an ihrem Hals funkelten kalt. »Niemand will dich. Mit dir stimmt etwas nicht.«

Dieser Wortwechsel war inzwischen dreizehn Jahre her, aber Sophie hatte ihn niemals vergessen.

»Bin ich widernatürlich?«, fragte Sophie und blickte zur Decke.

Piotr drehte sich im Bett um. Sein dunkles Haar war zerzaust und der Blick aus seinen meerblauen Augen amüsiert. »Ist das eine Fangfrage? Ein Test für frischgebackene Ehemänner?« Er stützte den Kopf auf die Hand.

»Du lachst mich aus.«

»Nichts anderes hast du verdient, wenn du solche Fragen stellst.« Er strich ihr mit der Hand über die nackte Schulter. »Du bereust es doch nicht, oder?«

»Ich bereue, dass wir es nicht früher getan haben.«

»Damit sind wir schon zwei.« Piotr Kowalski lächelte, als er das sagte. »Wenn ich gewusst hätte, dass du Ja sagst, hätte ich dich an dem Tag gebeten, mich zu heiraten, als du mich mit dem Fahrrad umgefahren hast.«

»Ich habe dich nicht umgefahren. Ich bin ausgewichen und gegen einen Baum gefahren. Beinahe.«

»Nein, ich denke, du hast mich absichtlich umgefahren. Du konntest einfach nicht anders«, neckte er sie.

»Ich habe dich umgefahren, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen. Und du solltest wissen, dass ich mein Bestes gegeben habe, um mich nicht in dich zu verlieben.«

»Mhm.« Piotr lehnte sich vor und küsste sie mit einer Zärtlichkeit, die sie erschaudern ließ. »Du hattest keine Chance, Weib.«

Sophie nickte ergeben, weil es die Wahrheit war. Ihr war die Liebe in der Uniform eines polnischen Kavallerieoffiziers begegnet, und dieser hatte weder geschimpft noch geflucht, als er wegen ihrer Hast und Unaufmerksamkeit am Boden lag. Stattdessen hatte er ihr mit ihren zerrissenen Strümpfen, dem verschrammtem Knie und der blutenden Lippe freundlich auf die Füße geholfen, hatte gekonnt ihr Fahrrad gerichtet, um sich dann mit besorgtem Gesicht wieder ihr zuzuwenden.

Angesichts der Freundlichkeit und der umwerfenden blauen Augen des jungen Soldaten hatte Sophie sich zu Tode geschämt, eine Entschuldigung gestammelt und etwas davon, dass sie dringend zur Botschaft müsse. Daraufhin hatte er Wasser aus seiner Feldflasche auf ein Stofftaschentuch gegossen und ihr so liebevoll das Blut von der Lippe gewischt, dass es sie zu Tränen gerührt hatte. Anschließend war sie wieder auf ihr Fahrrad gestiegen und weggefahren und hatte erst bei der Botschaft angekommen bemerkt, dass sie noch immer sein Taschentuch in der Hand hielt, das nun mit Blut beschmutzt und zerknittert war.

Sie hatte sich in der Toilette eingeschlossen und versucht, sich einigermaßen wiederherzurichten. Der praktische Teil von ihr wusste, dass sie den freundlichen Offizier mit den blauen Augen nie mehr wiedersehen würde, aber anstatt erleichtert zu sein, erfüllte heftiges Bedauern sie.

»Warum bist du an jenem Tag zu mir gekommen?«, fragte sie plötzlich. »Zur Botschaft?«

»Weil das außergewöhnliche blonde Mädchen, das sich in mindestens vier Sprachen andauernd entschuldigt hat, mein Taschentuch gestohlen hatte und ich es wiederhaben wollte.«

»Du hast Blumen mitgebracht.«

»Weil sie auch mein Herz gestohlen hatte. Wobei ich das nie zurückbekommen habe. Das wird für immer dir gehören, moja kochana.«

Sophie blickte auf den Ring an ihrem Finger. Das Licht der Sonne, die über den Dächern und Turmspitzen der Stadt unterzugehen begann, ließ den Rubin sanft schimmern. »Du, Piotr Kowalski, bist ein schamloser Romantiker.«

»Schuldig im Sinne der Anklage.« Er grinste sie schelmisch an. »Und darum liebst du mich.«

»Ich liebe dich, weil du liebevoll, mutig und ehrenhaft bist. Weil du geduldig und zärtlich und clever bist.«

»Was ist mit gut aussehend?«

»Keiner sieht besser aus.« Sophie lächelte.

»Genau. Weiter. Was liebst du noch an mir?«

»Du brauchst wohl dringend ein bisschen Bestätigung?«

»Ganz genau. Und danach bist du dran. Ich verspreche, jede Menge Komplimente zu liefern.«

Sophie lachte und sagte dann ernst: »Ich liebe dich, weil du mich an dem Tag, an dem ich dir gesagt habe, dass ich Lehrerin für Fremdsprachen in Oxford werden will, gefragt hast, warum ich mich nicht längst beworben habe. Und wo wir leben würden.«

»Absolut vernünftige Fragen.«

Sophie spielte mit dem Rand des Lakens. »Die meisten Männer wären da anderer Meinung.«

Piotr nahm ihre Hand. »Aber ich bin nicht die meisten Männer. Woher kommt das?«

»Verunsicherung in der Kindheit«, murmelte Sophie. »Es tut mir leid. Das ist ein unangenehmes und absolut unromantisches Thema in unserer Hochzeitsnacht.«

Piotr setzte sich in dem quietschenden Hotelbett auf. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie an sich.

»Ein Mann, der dieses Feuer, das in dir brennt, löschen will, ist keiner. Egal, welche Träume du verwirklichen möchtest, ich werde dir dabei helfen.«

»Ich bin gerade die glücklichste Frau auf der Welt«, flüsterte sie und sah zu ihm auf.

»Vorsichtig«, entgegnete er mit blitzenden Augen. »Es könnte sein, dass du beschuldigt wirst, eine schamlose Romantikerin zu sein.«

»Ich habe dir gesagt, dass die Frauen in meiner Familie weder romantisch, schamlos oder sonst wie sind«, sagte sie gerührt. »Das überlassen wir den Männern.«

»Ich kann nicht erwarten, sie kennenzulernen.«

»Das wirst du.«

»Und sie werden nicht wütend sein? Dass ich dich geheiratet habe, bevor ich ihnen begegnet bin?«

Sophie biss sich auf die Lippe. So lange sie denken konnte, war der Gedanke, zu heiraten, mit ihren Zielen und Träumen unvereinbar gewesen, hatte ihrer Freiheit und Unabhängigkeit entgegengestanden. Und ihre Abneigung gegen die Institution der Ehe war nur jedes Mal größer geworden, wenn man ihr erklärt hatte, dass es höchste Zeit sei, ihren albernen Lerneifer abzulegen und das Selbstverständliche zu tun – sich einen guten Ehemann suchen und eine Familie gründen.

Unzählige Male hatte Sophie ihrer Familie geschworen, dass sie sich niemals verlieben würde. Niemals heiraten. Und nun hatte sie sich unzählige Male an ihren Schreibtisch gesetzt, um das Gegenteil mitzuteilen. Und nie hatte sie die richtigen Worte gefunden. Sie würde es ihnen mitteilen, wenn sie am nächsten Tag zurück nach Warschau fuhr.

»Sie werden dich lieben«, sagte sie. Was der Wahrheit entsprach.

»Ich wünschte, meine Eltern würden noch leben«, sagte Piotr, während sein Finger zärtliche Muster auf ihren Arm zeichnete. »Wobei sie entsetzt wären, dass wir nicht mit hundert Gästen in einer blumengeschmückten Kirche geheiratet haben, mit einem Blasorchester, das unseren Auszug bejubelt. Oder dass ich dir keine Hochzeitsreise nach Paris oder Wien in ein Hotel mit seidenen Bettlaken geboten habe.«

»Das klingt alles furchtbar kompliziert.« Sophie drückte seine Hand, die sie in der ihren hielt. »Die Welt ist kompliziert genug.«

»Nicht mal einen anständigen Fotografen habe ich aufgetrieben.«

»Ich wollte keinen anständigen Fotografen heiraten.«

»Sehr witzig.«

»Ich liebe dich«, sagte sie schlicht, den Sturm der Gefühle zu beschreiben, der in ihrer Brust tobte, vermochten ohnehin keine noch so schönen Worte.

Er sah sie an, hielt ihren Blick. »Ich liebe dich auch«, entgegnete er eindringlich.

»Ich wünschte, dass du länger bleiben könntest. Ich wünschte, dass du nicht morgen schon zu deinem Regiment zurückkehren müsstest. Ich will dich nicht so schnell wieder verlieren …«

»Das war der beste Heimaturlaub in meinem ganzen Leben«, unterbrach er sie. »Und du kannst mich gar nicht verlieren. Du bist für immer mit mir verbunden. Mein Name ist nun auch dein Name. Du trägst den Ring meiner Großmutter. Ich gehöre ganz und gar dir.«

Sophie schloss die Augen und lauschte auf seinen Herzschlag an ihrem Ohr.

»Die Antwort auf deine Frage ist Ja«, sagte er kurz darauf. »Du bist widernatürlich.« Seine Lippen fanden die zarte Stelle hinter ihrem Ohr. »Widernatürlich genial, widernatürlich schön.« Er schob seine Hand unter dem Laken auf ihre Hüfte. »Und vor allem«, flüsterte er, »widernatürlich bezaubernd.«

Sophie öffnete die Augen. »Beweis es mir«, sagte sie.

Und er tat es.

Sophie war sich nicht sicher, was sie geweckt hatte.

Sie lag im Bett und lauschte angestrengt, aber in der Stille war nur Piotrs gleichmäßiger Atem zu hören. Ihrem Ehemann gingen die Ideen nicht aus, wie sie die kurze Zeit seines Heimaturlaubs am besten nutzen konnten, und ihr genauso wenig. Doch irgendwann kurz vor dem Morgengrauen waren sie beide in einen erschöpften, glücklichen Schlaf gefallen.

Sie stand vorsichtig auf, öffnete ihren kleinen Koffer so leise wie möglich und tastete nach ihren Kleidern.

»Verlässt du mich schon?«, murmelte Piotrs verschlafene Stimme in der Dunkelheit.

»Nur um den Sonnenaufgang zu sehen«, antwortete sie und zog sich ein einfaches Kleid über. »Schlaf weiter.«

»Kommt nicht infrage. Das ist der erste Sonnenaufgang am ersten Tag unseres gemeinsamen Lebens. Ich komme mit.« Das Bett knarrte, und die Nachttischlampe flammte auf.

Sophie schloss den Kragen ihres Kleids und schlüpfte in ihre Schuhe. Piotr stieß gleich darauf zu ihr, und zusammen traten sie hinaus, umrundeten das Hotel und fanden sich auf einer Wiese wieder. Angesichts des heruntergekommenen Gebäudes, das sich einsam hinter der Grasfläche erhob, schloss Sophie, dass dies einmal ein Stellplatz für Kutschen gewesen war.

Am Horizont ging die Sonne auf, und ein sanfter goldfarbener Schimmer erschien unter der purpurnen Schicht der sich zurückziehenden Nacht. Die Luft war kühl; die frische Brise kündete vom sich nähernden Herbst. Sophie nahm Piotrs Hand und zog ihn über einen ausgetretenen Pfad zu einem Tor am Rand der Wiese, und der Tau nässte ihre Schuhspitzen.

Sie erreichten das Tor, und sie lehnte sich über den Zaun. Das Holz unter ihren Armen war rau, was sie jedoch nicht störte, als sie erfreut feststellte, dass die eingezäunte Weide eine weiße Stute mit dunklen Punkten und ihr Fohlen beherbergte, die wie eine Erscheinung plötzlich auftauchten. Mit den Nebelschwaden im hohen Gras und dem leuchtenden Himmel im Hintergrund sah es aus, als ob die Pferde für eine Postkarte Modell ständen, eine ländliche Szene, wie sie in den Straßen von Warschau überall verkauft wurde. Sophie seufzte angesichts der Schönheit dieses Anblicks und wollte diesen Moment für immer im Gedächtnis behalten.

»Ist das nicht wunderbar?« Glücklich atmete sie die frische Luft ein.

Piotr küsste sie. »Ja.«

Das Fohlen tänzelte und buckelte auf der Wiese, bis es beinahe umfiel.

Sophie lachte. »Ich glaube, es will dich beeindrucken. Vielleicht will es sich bei der Kavallerie bewerben.«

»Vielleicht.« Piotr kletterte durch den Zaun und streckte die Hand aus. »Komm«, sagte er lächelnd. »Wir freunden uns mit ihnen an.«

Sophie folgte ihm und nahm seine Hand. Als Kind war sie nie geritten – ihre Eltern hatten keine Pferde auf dem Landgut in Norfolk –, aber Piotr hatte sie oft mitgenommen, und inzwischen liebte sie die edlen Geschöpfe genauso wie er.

Die Stute begrüßte sie mit einem Wiehern und kam auf sie zu, während das Fohlen im Hintergrund weiter herumtänzelte. Der Apfelschimmel blieb neben Piotr stehen und blies ihm freundlich auf den Arm. Er hob die Hand, um die Stute zwischen den Ohren zu kraulen, wobei er unverständliche zärtliche Worte murmelte. Das Pferd senkte den Kopf.

»Du hast sie verzaubert.« Sophie trat zu ihm und sah zu, wie seine Hände über das Fell des Pferdes strichen. Sophie liebte Piotrs Hände, die fest, rau, schwielig und unendlich zärtlich waren. Selbst das nervöseste Pferd schien sich unter seinen Berührungen zu beruhigen.

»Hab ich nicht«, sagt Piotr sanft. »Ich hab mich nur vorgestellt. Das Fohlen wird auch kommen, wenn es so weit ist.«

Sophie sah zu, wie es Piotr und die Stute umrundete und dabei den Kopf zurückwarf. Schließlich kam es näher, so nah, dass seine Nüstern beinahe Piotrs Hemd berührten. Piotr strich der Stute weiterhin über den Hals und sprach ruhige Worte. Das Fohlen kam noch näher, und Piotr hörte auf, die Stute zu streicheln, um sich ihm zuzuwenden. Das junge Pferd scheute zurück, und Piotr konzentrierte sich wieder auf die Mutter.

»Es ist nervös«, meinte Sophie.

»Nein«, murmelte Piotr. »Vertrauen muss man sich verdienen. Es hat mich nur daran erinnert.«

Das Fohlen kam erneut auf Piotr zu. Diesmal scheute es nicht zurück, als Piotrs Hand sich ihm näherte. Er legte sie für ein paar Sekunden auf seinen Widerrist, bevor er das Fohlen zu streicheln begann. Es senkte den Kopf und kam noch einen Schritt näher.

»Na also.« Mit langsamen, sanften Bewegungen strich Piotrs Hand über den Rücken des Pferdes. »Vertrauen ist niemals einseitig. Irgendwann wird dieses Pferd dazu aufgefordert werden, das Unmögliche zu tun. Eine Situation zu meistern, in der jeder Instinkt, über den es verfügt, es zur Flucht drängt. Aber es wird tun, was du willst, weil du sein Vertrauen gewonnen hast. Vertrauen ist alles.«

Piotr senkte die Hand, trat von den beiden Pferden zurück zu Sophie und legte einen Arm um sie.

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und spürte einen Stich im Herzen. Sie konnte spüren, wie die Zeit ihr entglitt. Ihnen beiden. »Ich wünschte, du könntest bleiben«, flüsterte sie.

»Du bist diejenige, die der Botschaft ein Auto gestohlen hat und es zurückbringen muss.«

»Ich hab es nicht gestohlen, sondern ausgeliehen. Und ich bringe es zurück, bevor sie überhaupt merken, dass es nicht da ist. Und was ich an meinen freien Tagen mache, geht nur mich etwas an. Lenk nicht vom Thema ab.«

Er drückte ihre Schulter. »Mein Regiment ist nicht mal mobilisiert.«

Sophie verzog das Gesicht. »War es aber.«

»Überstürzte Aufregung wegen etwas, das vielleicht niemals eintritt. Die meisten Männer in meiner Schwadron glauben nicht, dass etwas passieren wird.«

»Die meisten Männer in deiner Schwadron haben nicht gehört, was ich in der Botschaft gehört habe«, murmelte Sophie.

»Hitler ist ehrgeizig und arrogant, ja, aber er ist nicht dumm. Deshalb denke ich, dass er nicht riskieren wird, dass Großbritannien und Frankreich ihm den Krieg erklären, weil er in Polen einmarschiert ist.«

»Da bin ich mir nicht so sicher, Piotr. Ich habe Angst.«

Piotr sah sie an. »Ich weiß. Mir geht es genauso.«

Sophie seufzte und sah zu, wie die Stute und das Fohlen ein paar Schritte zurücktraten. »Es tut mir leid. Wir waren uns einig, dass wir in der kurzen Zeit hier nicht über Politik und den Krieg reden …«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Er strich ihr eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Vielleicht sollten wir es tun. Vielleicht müssen wir darüber sprechen, was passieren wird, wenn die Deutschen etwas Dummes tun.«

Sie runzelte die Stirn.

»Ich denke, du solltest Polen verlassen.«

»Was? Nein.«

»Nur, bis die Dinge wieder …«

»Wohin soll ich denn gehen?«

»Nach Frankreich zunächst mal. Und von dort aus kannst du zurück nach England reisen, in dem Fall …«

»Nein. Mein Zuhause ist dort, wo du bist.«

»Ich will, dass du in Sicherheit bist.«

»Ich werde in Sicherheit sein. Hier, in Warschau. Wo ich gebraucht werde. Wo ich zumindest in kleinen Teilen dazu beitragen kann, was auch immer auf diplomatischem Weg möglich ist, um die Katastrophe zu verhindern.« Sie trat einen Schritt vor und umarmte ihn. »Ich werde nicht gehen, und du wirst mich nicht wegschicken. Wir stehen das zusammen durch, komme, was wolle.«

»Aber wenn das Schlimmste passiert – wenn Krieg ausbricht –, muss ich wissen, dass es dir gut geht.«

»Mir wird es gut gehen …«

»Versprich mir, dass du klug handeln wirst, wenn die Zeit gekommen ist, Sophie. Dass du auf dich aufpasst und nichts Dummes tust.«

»Piotr …«

»Versprich es mir!«, forderte er eindringlich.

Sophie biss sich auf die Lippe. »Ich verspreche es.«

»Danke.« Piotr lehnte seine Stirn an ihre. »Ich habe nicht wirklich daran geglaubt, dass du tatsächlich gehen würdest.«

»Gut. Ich bin froh, dass das geklärt ist.« Ein Windstoß ließ sie frösteln.

»Kommst du jetzt endlich wieder mit rein, und ich darf dich aufwärmen?«, fragte er.

Arm in Arm gingen sie in Richtung des Hotels.

Die grasende Stute blieb mit ihrem Fohlen zurück.

Sophies Magen knurrte. »Denkst du, dass wir irgendwo etwas zu essen kriegen …«

Die Stute hob abrupt den Kopf, stellte die Ohren auf und blickte aufmerksam zum Hotel hinüber.

Sophie blieb stehen, genau wie Piotr, aber auf dem düsteren ehemaligen Kutschenplatz war nichts zu sehen, was die Stute beunruhigt haben könnte. In der Straße hinter ihnen begann ein Hund unablässig zu bellen, und andere fielen ein. Sophie runzelte die Stirn. Die Stute schnaubte und trat mit erhobenem Kopf und geblähten Nüstern zurück, um dann, dicht gefolgt von ihrem Fohlen, zum Ende der Weide zu galoppieren. Und als das Geräusch der Pferdehufe verstummte, konnte Sophie die Motoren hören.

Zunächst wusste sie nicht, woher es kam, ihr Bewusstsein konnte das Heulen der schnell an Höhe verlierenden Flugzeuge erst zuordnen, als sie südwestlich am Himmel ein Leuchten bemerkte. Stumm starrte sie hoch, als die Lichtpunkte größer und lauter wurden und immer näher kamen.

»Sind das unsere?«, flüsterte sie.

»Nein«, sagte Piotr heiser.

Die erste Bombe detonierte irgendwo in der Mitte des Ortes, ein dumpfer Knall, gefolgt von einer Reihe Explosionen. Rauch und Staubwolken erfüllten die Luft, während immer noch mehr Flugzeuge kamen, bei denen die schwarzen Kreuze an der Unterseite der Tragflächen nun deutlich zu erkennen waren. Weitere Explosionen waren zu hören und erschütterten den Boden. Und dazwischen das Furcht einflößende Rattern der Maschinengewehre.

»Sie greifen im Tiefflug an!«, rief Piotr und zerrte Sophie hinter sich her. »Wir müssen uns in Sicherheit bringen.«

Sie flohen in Richtung des Hotels; Sophies Herz raste, und Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie kletterte über den Zaun und schürfte sich an dem rauen Holz die Hände auf. Der Saum ihres Kleides blieb an einem Nagel hängen, als die Flugzeuge heulend näher kamen. Verzweifelt riss sie sich los und stürzte schwer atmend über die Wiese. Piotr neben ihr drängte sie, schneller zu laufen. Sie waren erst wenige Meter weit gekommen, als das Hotel vor ihnen explodierte. Steine flogen durch die Luft, und die Druckwelle der Detonation schleuderte sie auf den Boden.

Sophie konnte nicht mehr atmen, und als sie nach Luft rang, war sie von einer Wolke auffliegenden Staubs eingehüllt, der ihr in den Mund und die Nase drang und sie röcheln und husten ließ. Sie drehte sich auf den Bauch, ohne auf den brennenden Schmerz in ihren Rippen zu achten, erhob sich auf die Knie und dann auf die Füße und presste sich die Hände auf die Ohren. Die Welt war seltsam still, und das Heulen der Flugzeuge wurde durch ein fernes Klingeln ersetzt.

Der Staub legte sich, doch um sie herum loderten Flammen. Rauch stieg auf und befleckte den perfekten Septembertag mit dem Grauen des Krieges. Dort, wo das Hotel gewesen war, waren nur noch Ruinen aus Steinen und zerborstenem Holz; lediglich die nördliche Wand ragte noch empor wie ein kaputter Zahn. Sophie wankte voran. Wo war Piotr?

Sie stolperte über einen Haufen Steine, aus dem grotesk ein Frauenschuh hervorsah. Daneben lag die wohl dazugehörende Handtasche, aus der Papiere gefallen waren, die über den Boden flatterten. Um Sophie herum tauchten wie Gespenster Menschen auf, mit Blut und Staub bedeckt. Die meisten rannten aufgeregt umher, manche wanderten ziellos herum, und ein paar kauerten auf dem Boden. Piotr war nicht unter ihnen.

Ein Schatten zog über ihrem Kopf dahin, dann ein weiterer. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Zu ihrer Linken stiegen kleine Wolken aus Staub und Rauch auf, wo die Leute neben ihr zusammenzuckten und zu Boden gingen. Ein Paar Hände griff nach ihr und drehte sie herum. Sie blickte in zwei leuchtend blaue Augen und weinte beinahe vor Erleichterung.

Piotr rief ihr etwas zu und zeigte auf das Kutschenhaus auf der anderen Seite der Wiese, das noch stand. Er stieß sie in die Richtung des Gebäudes, ihre Beine waren schwer, es war, als liefe sie unter Wasser. Das Klingeln in ihren Ohren ließ allmählich nach und wurde erneut vom Brummen und Heulen der Flugzeugmotoren ersetzt. Hinter Sophie brach der Schrei einer Frau plötzlich ab.

In dem wirbelnden Rauch versteckt, der von den Überresten des Hotels aufstieg, näherte sich heulend ein weiteres Flugzeug. Ein Donnern ließ den Boden erzittern, gefolgt von dem Knattern weiterer Maschinengewehre. Sophie stolperte voran, die Panik machte sie unbeholfen. Piotr stützte sie, drängte sie auf den dunklen Eingang zu, der keine Tür mehr hatte.

Sie hatten das Kutschenhaus fast erreicht, als das Flugzeug aus dem Schleier an Rauch und Feuer über dem Hotel hervorkam. Erdbrocken flogen auf, als der MG-Schütze den Boden unter sich zerfetzte. Piotr schob sie vorwärts, und Sophie landete im Eingang des Kutschenhauses hart auf dem Boden. Piotr fiel auf sie, als das Flugzeug brummend über sie hinwegflog, was ihr kurzzeitig die Luft nahm und ihr Kinn auf den Boden presste. Sie kniff die Augen zu und schmeckte den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Mühsam versuchte sie sich zu bewegen, aber Piotrs Gewicht drückte sie nach unten.

»Piotr?«, krächzte sie.

Er antwortete nicht.

»Piotr?«, fragte sie panisch und drückte sich auf die Ellbogen hoch, wobei Piotrs Gewicht langsam von ihrem Rücken rutschte. Sie keuchte vor Anstrengung und kroch zitternd vor Furcht unter ihrem Mann hervor.

»Nein, nein, nein, nein, nein.« Sie kniete neben ihm und wagte nicht, ihn anzufassen … oder es nicht zu tun.

Er war auf den Rücken gerollt, und seine dunklen Wimpern klebten auf seinen staubverkrusteten Wangen. Das Blut, das aus seiner Brust strömte, zeichnete ein makabres rotes Muster auf sein ehemals weißes Hemd.

Er atmete, allerdings nur schwach. Mit zitternden Fingern nutzte Sophie den zerrissenen Saum ihres Kleides, um behutsam das Blut von seinen Lippen zu wischen.

Er öffnete die Augen. »Hast du mich … wieder mit … deinem Fahrrad überfahren?«, brachte er heiser hervor.

Sophie schluckte ein Schluchzen hinunter. »Nicht wirklich.«

»Das sehe ich … anders.«

»Du wirst wieder gesund«, erklärte sie. »Du hast mich überlebt, also überlebst du auch das hier.«

Das hätte ihn sicher zum Lachen gebracht, doch seine Augen schlossen sich bereits wieder. »Nicht weinen.« Seine Worte waren kaum hörbar.

Sie wischte ihre Tränen weg und nahm seine Hand. Seine Finger waren kalt. Eiskalt.

»Schau in meine … Hemdtasche«, flüsterte er.

Sophie tat es mit zitternder Hand. In der Tasche seines Hemdes fand sie ein Foto, eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von ihr, auf der sie auf dem bloßen Rücken eines grobknochigen Pferdes saß. Sie lächelte triumphierend in die Kamera, das Haar fiel ihr wirr auf die Schultern, und ihre Kleidung war an den Ellbogen und Knien schmutzig.

»Das Foto hast du von mir gemacht, als du mich das erste Mal zum Reiten mitgenommen hast.«

»Ja.«

»Und ich bin unzählige Male vom Rücken dieses armen Pferdes gerutscht.«

»Ja und du … bist immer wieder aufgestanden und hast es erneut versucht.« Seine blauen Augen öffneten sich wieder und sahen sie an. »Du musst auch jetzt wieder aufstehen.«

Sie schüttelte den Kopf und schluchzte auf. »Nicht ohne dich.«

»Jeder Tag zählt, Sophie. Jeder Tag, der kommt. Sorg dafür, dass es nicht umsonst war.«

»Ich liebe dich.« Ihre Tränen flossen nun ungehemmt.

In der Ferne war ein weiteres sich näherndes Brummen zu hören, und Sophie beugte sich über Piotr, als ob sie ihn so vor allen Gefahren schützen könnte. Aus dem Augenwinkel nahm sie die wirbelnden Hufe der Stute wahr, die panisch davongaloppierte; das kupferfarbene Fohlen war nirgendwo zu sehen.

Sophie richtete sich auf und gab ihrem Ehemann einen Kuss auf die Lippen.

Und nur vierzehn Stunden, nachdem Sophie geheiratet hatte, wurde sie zur Witwe.

KAPITEL 3

Estelle

In der Nähe von Metz, Frankreich 17. Juni 1940

Zweiundzwanzig Witwen.

Zweiundzwanzig war die Anzahl der Männer mit Trauring, die gestorben waren, bevor Estelle Allard sie in ihrem Krankenwagen zum Feldlazarett hatte bringen können. Und es war gerade erst Mittag. Jeder dieser Männer, die sie von der Front wegbrachte, wurde von irgendjemandem geliebt. Sie wusste nicht, warum sie gerade jetzt daran dachte. Vielleicht weil sie sich schon immer gefragt hatte, wie es wohl war, zu lieben und so sehr geliebt zu werden, dass man sich binden wollte. Jemanden zu haben, der deine Fehler kennt und dich trotzdem liebt. Oder vielleicht gerade deswegen. So stark und so vollkommen, dass man sich eine Zukunft ohne diesen Menschen nicht vorstellen kann.

Der Gedanke an eine solche Liebe war genauso erschreckend wie schön, innerhalb von einer Sekunde konnte alles vorbei sein. So wie bei den zweiundzwanzig Frauen, deren Geliebter niemals mehr nach Hause kam.

Estelles Krankenwagen rumpelte durch die tiefen Ackerfurchen, und sie schaltete zurück, um das verbeulte Auto schließlich ratternd zum Stehen zu bringen. Sie blickte vor sich auf die vielen Reihen der Tragbahren mit Verletzten, die auf sie warteten. Reihen sich windender, schreiender und blutender Männer und noch mehr, die einfach in unheilvoller Stille dalagen. So viele waren es. Viel zu viele.

»Warum zur Hölle hat das so lange gedauert, Allard?«, schnauzte der erschöpfte Arzt sie an, als sie die Tür öffnete und von dem harten Sitz rutschte.

Sie schwankte leicht, als ihre Füße den Boden berührten. »Schön, zu sehen, dass du noch am Leben bist, Jérôme.«

»Du warst zu lange weg.« Jérôme de Colbert, der neben einer der liegenden Gestalten auf dem Boden kniete, ignorierte ihre Begrüßung. »Du musst schneller sein.«

»Es gibt kein Benzin«, entgegnete sie matt. Das wenige, das sich nun im Tank des Krankenwagens befand, kam von einem frisch verlassenen Hof einen Kilometer südlich, dessen Bewohner sich so sehr vor den einmarschierenden Deutschen fürchteten, dass sie alles zurückgelassen hatten.

»Ist Rachel irgendwo hinter dir unterwegs?«, fragte der Arzt, der inzwischen aufgestanden war.

»Vielleicht!« Tatsache war, dass Estelle ihre Freundin seit der Dämmerung nicht mehr gesehen hatte, als sie auf dem Bauernhof, der als Feldhospital genutzt wurde, aneinander vorbeigefahren waren. Estelle hatte sich den ganzen Tag über bemüht, nicht an all die furchtbaren Dinge zu denken, die ihr zugestoßen sein konnten. Sich Rachel nicht verwundet oder tot vorzustellen, der Krankenwagen nicht im ständigen Geschützfeuer beschädigt oder zertrümmert.

Auch in diesem Moment röhrten und ratterten die Gewehre unablässig und übertönten beinahe die Schreie und das Stöhnen der verwundeten, sterbenden Männer, die darauf warteten, abtransportiert zu werden. Die Luft war stickig und schmutzig, und der Gestank von Schießpulver und der Rauch vermischten sich mit dem scharfen Geruch von Blut und Urin. Estelle legte eine Hand auf die Tür des Krankenwagens, um richtig zu sich zu kommen, bevor sie zur nächsten Gruppe verwundeter Soldaten eilte, die darauf warteten, ins Feldlazarett gebracht zu werden.

Sie ging neben einem Soldaten in die Hocke, der bewegungslos auf der Bahre lag, ein Arm zur Seite gestreckt, den Kopf ganz und gar mit blut- und schlammgetränkten Lumpen umwickelt.

»Lass den hier«, sagte Jérôme schroff. »Der hat’s nicht geschafft. Schau mal, ob der daneben noch lebt. Ich bin gleich wieder da, um dir beim Einladen zu helfen.«

Estelle griff nach der leblosen Hand des Soldaten und legte sie sanft auf seine Brust. Ein goldener Trauring glitzerte im Sonnenlicht, das durch die trübe Luft drang.

Dreiundzwanzig Witwen.

Sie berührte den Ring. Ein hebräisches Wort war darin eingraviert und ein vertrautes …

»Nein.« Estelle erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie nach der Marke des Soldaten suchte und sie unter der schmutzigen Uniform hervorzog. Sie war voller Blut, aber noch lesbar. Alain Wyler.

Estelle ließ die Marke los und wandte sich von dem Toten ab, als würde das, was sie bereits wusste, dadurch weniger real. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie kämpfte gegen den Drang an, weinend zusammenzubrechen, angesichts von so viel Leid und Tod und Verlust. Stattdessen kam sie taumelnd auf die Füße, wobei ihr Blickfeld verschwamm und der Boden gefährlich zu wanken schien. Kurz darauf fand sie sich, von Krämpfen geschüttelt, auf Händen und Füßen wieder.

»Himmel, Allard, wann hast du zuletzt etwas gegessen?« Jérôme war zurück und hockte neben ihr, eine seiner Hände lag auf ihrer Schulter.

»Gestern?« Es war nicht leicht, die Tage auseinanderzuhalten.

Jérôme brummte: »Hier.« Er hielt ihr etwas vor die Nase, was wie ein Stück getrocknete Wurst aussah. »Iss das. Ich hab genügend Todesfälle zu beklagen, da will ich dich nicht auch noch auf der verdammten Liste haben.«

Estelle hockte sich auf die Fersen und nahm die Wurst und auch die Feldflasche entgegen, die Jérôme ihr anbot, und trank ein paar vorsichtige Schlucke lauwarmes Wasser.

»Hast du geschlafen?«

»Genug.« Eine Stunde oder so zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Mehr Zeit war nicht.

Die Punkte, die vor Estelles Augen tanzten, verschwanden, und die Übelkeit ließ nach, doch ihre Kehle war immer noch wie zugeschnürt. Sie legte eine Hand auf die Alains, zum letzten Mal.

»Hast du ihn gekannt?« Jérôme betrachtete sie aus geröteten Augen, die in seinem mit Schlamm und Ruß bedeckten Gesicht unnatürlich hell wirkten.

»Ja«, brachte Estelle mühsam hervor.

»Wer war er?«

»Rachels Bruder.« MeinBruder, wollte sie eigentlich sagen. Denn genau das war er gewesen, in jeder Hinsicht, nur dass sie nicht blutsverwandt waren. »Er hat eine Frau. Hannah. Und eine dreijährige Tochter. Aviva.«

»Verdammt.« Jérôme senkte den Kopf. »Verdammt«, wiederholte er.

»Rachel sollte es von mir erfahren.«

»Ja«, murmelte Jérôme. »Das tut mir so leid, Allard.«

Estelle gab dem Arzt die Feldflasche zurück. »Mir auch.«

Jérôme stand auf und hielt ihr die Hand hin, um ihr hochzuhelfen. Er hat freundliche Augen, dachte Estelle benommen, als sie seine Hand ergriff. In der Farbe von geschmolzenem Karamell, verlässlich und …

Der Boden auf dem Feld hinter Estelles Krankenwagen explodierte. Sie warf sich zu Boden, Trümmer und Erde spritzten auf und regneten auf sie und die Verletzten hinab. Estelle spürte einen Schmerz an der Schläfe.

»Sales Boches, diese verdammten Deutschen!«, schrie Jérôme in Richtung der Front. »Ihr Schweine! Hört endlich auf, wenigstens für eine verdammte Minute, damit ich meinen verdammten Job machen kann!«

Estelle kam wieder auf die Füße. Sie spürte etwas Warmes, das an der Seite ihres Gesichts hinunterrann, und wischte es wütend mit dem Ärmel weg.

Jérôme drehte sich um. »Ich brauche dich, du musst fahren«, sagte er heiser. Erdbröckchen fielen von seinen Schultern. »Und bring noch mehr Verbandszeug mit. Wir ziehen schon die Toten aus, um ihre verdammten Uniformen in Streifen zu reißen. Ich komme nicht mehr nach.«

Estelle nickte und half beim Einladen der verletzten Soldaten.

»Komm so schnell wie möglich wieder zurück.« Jérôme schlug keuchend die hinteren Türen zu. »Bitte.«

»Ja«, sagte sie. »Untersteh dich, in der Zwischenzeit draufzugehen.«

»Gleichfalls, Allard.«

Estelle stieg wieder in den Krankenwagen, trat auf die Kupplung und haute den ersten Gang rein. Das Fahrzeug gab ein mitleiderregendes Stöhnen von sich und fuhr dann mit einem heftigen Rucken an. Einer der Soldaten hinten im Wagen schrie auf. Sie steuerte das Vehikel auf die unebene Straße und gab Gas, um so schnell wie möglich die Steigung hinaufzufahren. Doch schon nach einem halben Kilometer war sie gezwungen, wieder abzubremsen. Die Straße vor ihr war voller Menschen, die vor der immer näher rückenden Front flohen. Die meisten waren zu Fuß unterwegs, viele mit kleinen Kindern auf dem Arm. Einige hatte Schubkarren dabei oder Hundewagen. Wenn die Menschen Glück hatten, besaßen sie Pferde- oder Ochsenkarren oder Fahrräder, und weiter vorn fuhr sogar ein Traktor, der schwarze Abgase ausstieß. Allen gemeinsam waren die Müdigkeit und die Angst in ihren Gesichtern.

Estelle folgte ein paar lange Minuten der Straße, bevor sie die Menschenmasse hinter sich ließ, rumpelnd auf eine Weide abbog und einem Feldweg mit tiefen Furchen folgte, über den früher Vieh getrieben worden war. Sie durchbrach eine Hecke und hatte das neue, erst am Vortag auf einem verlassenen Bauernhof errichtete Feldlazarett erreicht. Operationen wurden in der Küche und im ehemaligen Wohnzimmer durchgeführt. In den anderen Räumen lagen überall Männer am Boden und warteten.

Einige uniformierte Männer kamen heraus, als der Krankenwagen hustend und rumpelnd an der Scheune und den leeren Ställen vorbeifuhr. Sie luden die Verletzten aus, doch anstatt auf das Wohngebäude gingen sie auf die Scheune zu.

»Halt«, protestierte Estelle. »Diese Männer müssen ins Wohnhaus. Sie brauchen einen Arzt.«

»Kein Platz«, murmelte einer der Männer, während er die Bahre sicherer umfasste. »Das Wohngebäude ist voll. Und sie brauchen alle einen Arzt.«

Estelle starrte ihnen nach und sank zwischen den offenen Türen auf die Ladefläche. Dort legte sie ihr Gesicht auf die Hände und drückte die Fingerkuppen gegen die Augen. Sie war müde. So unsagbar müde.

Doch gleich darauf straffte sie sich und richtete sich auf. Schließlich hatte sie noch nie klein beigegeben, und sie würde es auch jetzt nicht tun, wenn Männer wie Alain für sie und das Land ihr Leben opferten. Also kehrte sie zum Führerhaus zurück und überprüfte den Benzintank. Der Treibstoff würde nicht ausreichen, um noch einmal zur Front und zurückzufahren. Vielleicht hatte in der vergangenen Stunde jemand Benzin aufgetrieben oder etwas mitgebracht, das …

»Estelle!« Der Klang ihres Namens ließ sie herumfahren, und sie sah, dass Rachel auf sie zurannte. Ihr dunkles Haar hatte sich fast vollständig gelöst und fiel ihr wirr auf die Schultern; ihre Uniform war genauso schmutzig wie ihr Gesicht.

Die Erleichterung, als Estelle ihre Freundin sah, wich abrupt einer erstickenden Traurigkeit. Sie schluckte.

»Estelle«, sagte Rachel erneut, als sie bei ihr ankam, und schloss sie in die Arme. »Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Die Männer, die von der Front kommen, sagen, dass einige der Granaten hinter den Linien einschlagen und …« Sie brach ab und trat einen Schritt zurück. »Du bist verletzt.« Rachel berührte Estelles Schläfe, und als sie die Hand wieder zurückzog, waren ihre Finger voller Blut.

»Mir geht es gut«, flüsterte Estelle. Sie merkte, dass die Tränen, die sie in Gegenwart von Jérôme zurückgehalten hatte, nun über ihre Wangen liefen.

»Was ist los? Was ist passiert?«

Estelle versuchte, etwas zu sagen, aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen.

Rachel wich noch einen Schritt zurück. »Alain.«

Estelle nickte.

Ihre Freundin griff Halt suchend nach der Tür des Krankenwagens.

»Ist er …«

»Es tut mir leid, Rachel«, sagte Estelle. »Es tut mir so leid.«

Rachel wankte und sank auf die Ladefläche des Krankenwagens. Sie sagte kein Wort, bewegte sich nicht, und Estelle wusste nicht, was sie tun sollte. Oder sagen.

Einen Moment später stand Rachel wieder auf und trat auf Estelle zu. »Wie viel Benzin hast du noch?«

»Was?« Estelle schüttelte verständnislos den Kopf.

»Wie viel Benzin du noch hast? Mein Krankenwagen ist hinüber; die vordere Achse ist gebrochen, als ich …«

»Rachel«, unterbrach Estelle sie. »Was hast du vor?«