Die Blumen des Todes - Mark Billingham - E-Book + Hörbuch

Die Blumen des Todes E-Book und Hörbuch

Mark Billingham

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Beschreibung

Als er zu einem Tatort in ein heruntergekommenes Londoner Hotel gerufen wird, ahnt Detective Tom Thorne noch nicht, dass er der gefährlichsten Herausforderung seiner bisherigen Laufbahn gegenübersteht. Doch schon bald häufen sich die Mordfälle, und das Muster ist stets dasselbe: Bei den Opfern handelt es sich um kürzlich entlassenen Häftlinge, die sich offenbar freiwillig zu ihrem Rendezvous mit dem Tod begeben haben – und jedes Mal hat bereits jemand den Blumenschmuck für die Bestattung geordert ...

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Seitenzahl: 516

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Zeit:11 Std. 55 min

Sprecher:Wolfgang Berger
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Die Blumen des Todes

Die Blumen des Todes

© Mark Billingham 2003

© Deutsch: Jentas A/S 2021

Serie: Tom Thorne

Titel: Die Blumen des Todes

Teil: 3

Originaltitel: Lazybones

Übersetzer: Isabella Bruckmaier

© Übersetzung : Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2022-3

–––

Für Pat und Tony Thompson

Jeff und Pam Billingham

–––

Doch in fremder Nacht so leis

erscheint der Gärtner ganz in Weiß,

Und alle Sträuße werden welk ...

James Elroy Flecker, Yasmin

Prolog

13. März

Lieber Dougie,

Es tut mir Leid, dass du wieder nur so einen getippten Brief von mir bekommst,aber wie ich dir bereits erklärt habe, kann ich dir schlecht von zu Hause aus schreiben. Also schreibe ich im Büro,wenn mein Chef gerade nicht hersieht, in der Mittagspause (wie heute!) oder wenn es sonst irgend geht. Tut mir Leid,falls es deshalb ein bisschen förmlich wirkt. Aber glaub mir, wenn ich dir schreibe,fühle ich mich alles andere alsförmlich!

Ich hoffe, bei dir ist alles so weit in Ordnung, trotz der nicht gerade optimalen Situation, in der du dich befindest. Und ich hoffe, meine Briefe helfen dir darüber etwas hinweg. Ich stelle mir gerne vor, dass du dich auf sie freust und dass du an mich denkst. Dir vorstellst, wie ich hier sitze und an dich denke. Wenigstens hast du inzwischen die Fotos bekommen (gefallen sie dir?) und musst dich nicht zu sehr auf deine Vorstellungskraft verlassen ... (anzügliches Grinsen!)

Ich weiß,da drin ist es wirklich entsetzlich. Du musst einfach ganz fest daran glauben, dass es wieder besser wird. Eines Tages kommst du raus und hast deine ganze Zukunft vor dir. Ist es albern, wenn ich davon träume, vielleicht eine Rolle in dieser Zukunft zu spielen? Ich weiß, dass du nicht da drinnen sitzen solltest. Es ist ungerecht,dass du eingesperrt bist!!

Ich werde dir bald wieder schreiben, Dougie, und dir vielleicht ein neues Foto schicken. Heftest du sie an die Wand? Ich weiß nicht einmal, ob du eine Zelle für dich allein hast. Falls nicht, wünsche ich mir für dich, dass dein Zellengenosse, wer immer es auch ist, wenigstens nett ist. Er hat Glück gehabt!!

Bald hast du’s hinter dir, und wer weiß, vielleicht sehen wir uns endlich persönlich, wenn du rauskommst. Dann hätte sich das Warten zweifellos gelohnt.

Pass bitte auf dich auf, Dougie. Und denk an mich.

Ganz liebe Grüße,

deine sehr frustrierte

Jane

Erster Teil

Geburten, Hochzeiten

und Todesfälle

10. August 1976

Zentimeter um Zentimeter tastete er sich vor, die kleinste Muskelkontraktion brachte ihn weiter über den Rand des schmalen, glänzenden Stiegengeländers. Er verdrehte seine Handgelenke, wickelte sie ein weiteres Mal fest in das Handtuch. Verbaute sich jedes Entkommen, denn er wusste, sein Körper würde verzweifelt danach suchen. Würde instinktiv kämpfen, um freizukommen.

Seine Fersen schlugen rhythmisch gegen die Geländersprossen unter ihm. Das blaue Abschleppseil, das er hinten in der Garage gefunden hatte, juckte ihn am Hals. Er lächelte innerlich. Selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, sich zu kratzen, es wäre albern gewesen. Ungefähr so, als betupfe man die Einstichstelle, um sie zu desinfizieren, bevor man die tödliche Dosis injizierte.

Er schloss die Augen, senkte den Kopf und ließ sich von seinem Gewicht nach vorn und dann nach unten ziehen.

Ein Gefühl, als reiße ihm der Ruck den Kopf von den Schultern, dabei reichte er nicht mal aus, ihm einen Knochen zu brechen. Er hatte nicht die Zeit gehabt, um alles durchzurechnen, die ideale Fallhöhe für sein Gewicht zu kalkulieren. Selbst wenn er die Zeit gehabt hätte, hätte er das richtige Verhältnis wohl nicht gewusst. Er erinnerte sich, irgendwo einmal gelesen zu haben, den richtigen Henkern — hießen sie nun Pierrepoint wie der berüchtigte Henker mit seinen vierhundert Hinrichtungen oder sonst wie — habe für ihre Berechnung der nötigen Fallhöhe genügt, dem Verurteilten die Hand zu schütteln.

Freut mich, Sie kennen zu lernen, vier Meter, schätz ich, reichen ...

Er biss die Zähne gegen die Schmerzen zusammen. Er hatte sich beim Sturz an der Treppenkante die Haut am Rückgrat abgeschürft. Er spürte, wie ihm Blut warm über das Kinn lief. Offensichtlich hatte er sich die Zunge durchgebissen. Der Geruch von Motoröl stieg ihm in die Nase, das musste der Strick sein.

Er dachte an die Frau auf dem Bett, keine drei Meter entfernt von ihm.

Es wäre wunderbar gewesen, ihr Gesicht sehen zu können, wenn sie ihn fand. Ihr verlogener Mund würde aufklappen, sie würde nach oben fassen, um seine schaukelnde Leiche anzuhalten. Perfekt wäre das gewesen, aber natürlich unmöglich. Sie würde ihn nicht finden.

Jemand anders würde sie beide finden.

Der Gedanke drängte sich ihm auf, welchen Reim sich wohl die Behörden darauf machen würden. Was die Zeitungen darüber schreiben würden. Ihre Namen würden fallen, würden wieder in bestimmten Büros und Wohnzimmern hinter vorgehaltener Hand geflüstert werden. Sein Name, der Name, den er ihr gegeben hatte, würde im Gericht widerhallen wie bereits so häufig, würde durch den Schmutz gezogen werden, durch den Dreck, der sich um sie gelegt hatte wie ein Ölteppich. Dieses Mal wären sie beide Gott sei Dank nicht anwesend, wenn man sich über sie das Maul zerriss, über diese Tragödie, über ihren verwirrten Geisteszustand. Wogegen sich schlecht etwas einwenden ließ, in diesem Augenblick. In dem er auf seinen Tod wartete und sie oben lag, ihm dreißig Minuten voraus, in ihrem Schlafzimmer, wo sich der hellbeige Teppich voll sog mit ihrem Blut.

Der verwirrte Geisteszustand, unter dem sie beide gelitten hatten — das war sie gewesen. Es war alles ihre Schuld.

Vor einer halben Stunde hatte sie versucht, sich mit den Händen zu schützen.

Acht Monate zuvor hatte sie auf dem Boden im Lager die Hände ausgestreckt, die Beine gespreizt.

Es war ihre Schuld ...

Es würgte ihn, er spuckte Blut, spürte, wie sich ein Schatten über ihn zu senken begann, wie das Leben — dankenswerterweise — anfing, aus ihm zu weichen. Wie viel Zeit war vergangen! Zwei Minuten! Fünf! Er stieß mit den Füßen nach unten, als könne er kraft seines Willens sein Gewicht zwingen, dieses Werk schneller zu Ende zu bringen.

Er hörte etwas wie ein Quietschen und dann ein erstauntes Murmeln. Er schlug die Augen auf.

Die Eingangstür war in seinem Rücken, in seiner Blickrichtung lag die Treppe. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung der Schultern versuchte er genug Schwung für eine Drehung aufzubringen. Nachdem er sich, Sekunden bevor er starb, langsam um sich selbst gedreht hatte, blickte er, die hervorquellenden Augäpfel blutunterlaufen, in die unschuldigen braunen Augen eines Kindes.

Erstes Kapitel

Die Turnschuhe vermasselten alles.

Der Mann mit der Proletenfrisur und den Schweißperlen über der Oberlippe trug einen schicken blauen Anzug, den er sich ohne Zweifel extra für diesen Anlass gekauft hatte. Doch die strahlend weißen Nike Airs verrieten ihn. Sie quietschten auf dem Parkettboden der Turnhalle, als er unter dem Tisch nervös mit den Füßen scharrte.

»Es tut mir Leid«, erklärte er. »Es tut mir wirklich Leid.«

Ihm gegenüber saß ein älteres Ehepaar. Der Mann wirkte so steif, als hätte er einen Stock verschluckt. Seine milchig blauen Augen suchten ständig den Blick des Mannes in dem Anzug. Die Frau neben ihm fasste nach seiner Hand. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann sah sie überallhin, nur nicht zu dem jungen Mann, der sie, als er ihnen das letzte Mal nahe gekommen war, in ihrem eigenen Haus gefesselt und geknebelt hatte.

Das Zittern nahm seinen Anfang in der Mitte von Darren Ellis’ sorgfältig rasiertem Kinn. Seine Stimme schwankte leicht. »Wenn ich irgendetwas tun könnte, um das alles wieder gutzumachen, täte ich es«, erklärte er.

»Das geht nicht«, entgegnete der Alte.

»Ich kann das, was ich getan habe, nicht ungeschehen machen, aber mir ist klar, wie falsch es war. Ich weiß, was Sie wegen mir durchgemacht haben.«

Die alte Frau fing an zu schluchzen.

»Woher wollen Sie das wissen?«

Darren Ellis fing an zu schluchzen.

In der letzten Sitzreihe, den Rücken an der Sprossenwand, saß ein stämmiger Mann um die vierzig in einer schwarzen Lederjacke. Er hatte dunkle Augen, und seine Haare waren auf einer Seite grauer als auf der anderen. Er wirkte etwas irritiert und fühlte sich anscheinend nicht wohl in seiner Haut. Er wandte sich an den Mann neben ihm.

»Kompletter Schwachsinn«, sagte Thorne.

Detective Inspector Russell Brigstocke warf ihm einen finsteren Blick zu. Und von einem rothaarigen Typen mit militärischem Aussehen ein paar Reihen vor ihnen kam ein Pssst. So wie er aussah, war er auf Ellis’ Seite.

»Schwachsinn«, wiederholte Thorne.

An einem Montagmorgen zu dieser unchristlichen Stunde wäre die Turnhalle am Peel Centre normalerweise voller eifriger Polizeischüler. Da sie jedoch der geräumigste Ort war, der für diese »Restorative Justice Conference« verfügbar war, machten die jungen Polizisten ihre Liegestütze und ihre Strecksprünge woanders. Den Boden der Turnhalle hatte man mit grünem Segeltuch ausgelegt und darauf etwa fünfzig Stühle aufgestellt, die sich die Sympathisanten der Opfer wie des Täters zusammen mit den eingeladenen Polizisten teilten. Von denen man annahm, sie würden die Gelegenheit begrüßen, sich mit diesem neuen Projekt vertraut zu machen.

Becke House, in dem Thorne und Brigstocke ihre Büros hatten, gehörte zum selben Gebäudekomplex. Noch vor einer halben Stunde hatte Thorne sich die fünf Minuten, die sie zur Turnhalle brauchten, ohne Atem zu holen, darüber ausgelassen.

»Es ist eine Einladung, warum kann ich sie dann nicht einfach ablehnen?«

»Klappe«, sagte Brigstocke. Sie waren spät dran, und er versuchte, schnell zu gehen und dabei nichts von dem heißen Kaffee in dem Styroporbecher zu verschütten. Thorne lief zwei, drei Schritte hinter ihm.

»Scheiße, ich hab den Papierwisch liegen lassen, vielleicht lassen sie mich nicht rein.«

Brigstocke, der das keineswegs witzig fand, verzog das Gesicht.

»Und wenn ich nicht schick genug angezogen bin? Könnte ja so was wie eine Kleiderordnung geben ...«

»Ich hör dir gar nicht zu, Tom ...«

Thorne schüttelte den Kopf und kickte wie ein schmollender Schuljunge einen Stein weg. »Ich will es ja nur verstehen. Dieser Wichser fesselt ein altes Ehepaar mit einem Elektrokabel, tritt obendrein den alten Mann und bricht ihm ... wie viele Rippen gleich wieder?«

»Drei ...«

»Drei. Danke. Er pisst auf ihren Teppich und macht sich mit ihren Ersparnissen aus dem Staub. Und jetzt sollen wir da hingehen und uns ansehen, wie Leid ihm das alles tut?«

»Sie probieren das nur mal aus. In Australien hatten sie große Erfolge mit diesen RJCs. Die Rate bei Wiederholungstätern ist eindeutig zurückgegangen ...«

»Im Grunde genommen heißt das, man setzt sich vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung zusammen, und wenn alle sich einig sind, der Angeklagte fühle sich wirklich schuldig, bekommt er etwas weniger aufgebrummt. Ist es so?«

Brigstocke nahm noch einen Schluck von dem brühheißen Kaffee, bevor er den halb vollen Becher in einen Abfalleimer warf. »Ganz so simpel ist es nicht.«

Die zweite Juniwoche — und dieser Juni war schwül —, aber es war noch zu früh am Morgen, um heiß zu sein. Thorne grub die Hände tiefer in seine Lederjacke.

»Stimmt. Aber wer immer sich das ausgedacht hat, denkt simpel.«

In der Turnhalle wurden die Zuschauer Zeuge, wie Darren Ellis die Fäuste aus seinem Gesicht nahm und den Blick auf feuchte, gerötete Augen freigab. Thorne sah sich um. Einige der Zuschauer wirkten betroffen und schüttelten den Kopf. Ein paar machten sich Notizen. Vorne in der ersten Reihe schoben Ellis’ Verteidiger Zettel hin und her.

»Ich weiß nicht, würden Sie mich auslachen, wenn ich Ihnen sage, dass ich mich wie das Opfer fühle?«, fragte Darren.

Der Alte sah ihn ruhig an. Fünfzehn Sekunden oder länger. Bevor er tonlos entgegnete: »Ich würde Ihnen am liebsten die Zähne ausschlagen.«

»Manchmal sind die Dinge kompliziert«, erklärte Darren.

Der Alte beugte sich über den Tisch. Sein Mund war angespannt. »Ich sag Ihnen, was kompliziert ist.« Aus dem Augenwinkel beobachtete er seine Frau, während er fortfuhr. »Seit der Nacht, als Sie in unser Haus kamen, hat sie nicht mehr geschlafen. Fast jede Nacht macht sie ins Bett.« Seine Stimme zitterte. »Sie ist so verdammt schmal geworden ...«

Die Anwesenden schienen die Luft anzuhalten, als Darren den Kopf in den Händen barg und seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Ein Rechtsanwalt stand auf. Ein hochrangiger Kriminalbeamter trat an den Tisch. Zeit für eine Unterbrechung.

Thorne beugte sich vor und flüsterte Brigstocke laut ins Ohr: »Er ist sehr gut. Wo hat er das geübt? Auf der Schauspielschule?« Dieses Mal kamen die Blicke, die ihn durchbohrten, von seinen Vorgesetzten ...

Einige Minuten später trafen sich alle draußen im Foyer wieder. Man nickte sich zu und unterhielt sich leise. Dazu gab es Mineralwasser und Kekse.

»Man erwartet von mir einen Bericht darüber«, brummte Brigstocke.

Thorne winkte ein paar Leuten von Team 6 zu, die auf der anderen Seite des Foyers standen. »Besser Sie als ich.«

»Ich suche gerade nach dem richtigen Wort, um das Verhalten gewisser Mitarbeiter meines Teams adäquat zu beschreiben. Destruktiv? Anmaßend? Fällt Ihnen was ein ...?«

»Also ich hab selten so was Bescheuertes gesehen. Ich kann es nicht fassen, dass die Leute einfach so dasitzen und das ernst nehmen. Mir geht es am Arsch vorbei, was die in Australien für tolle Ergebnisse haben. Nein, bescheuert trifft es nicht, es war obszön. Wie diese Holzköpfe jeden Gesichtsausdruck dieser Kanalratte studierten. Wie viele Tränen hat er vergossen? Wie groß waren sie? Wie sehr schämte er sich?« Thorne nahm einen Schluck Wasser und behielt ihn ein paar Sekunden im Mund, bevor er ihn hinunterschluckte. »Haben Sie sich ihr Gesicht angesehen? Das Gesicht der alten Frau?«

Brigstockes Handy läutete. Das Gespräch dauerte nicht lange, doch Thorne ließ sich davon ohnehin nicht aufhalten. »Restorative Justice? Wem soll da durch Gerechtigkeit geholfen werden? Dem alten Mann und seiner völlig abgemagerten Frau?«

Brigstocke schüttelte gereizt den Kopf und wandte sich ab.

Thorne stellte sein Glas auf einem Fensterbrett ab. Er stürmte los, an mehreren Leuten vorbei auf eine Gruppe zu, die soeben auf der gegenüberliegenden Seite das Foyer betreten hatte.

Darren Ellis hatte seine Jacke und die Krawatte abgenommen. Er war in Handschellen, und links und rechts von ihm stand jeweils ein Kriminalbeamter, die Hand auf seiner Schulter.

»Super Auftritt, Darren«, sagte Thorne. Er hob die Hände und begann zu klatschen.

Ellis starrte ihn mit offenem Mund an. Er war verunsichert. Dieser Ausdruck war definitiv nicht einstudiert. Er suchte Hilfe bei den beiden Polizisten links und rechts von ihm.

Thorne lächelte. »Was gibt’s als Zugabe? Vielleicht ein kleines Liedchen?«

Der Beamte zu Ellis’ Linker, eine klapperdürre Ausgabe mit Schuppen auf der braunen Polyesterjacke, bemühte sich, auf lässige Weise einschüchternd zu wirken. »Verziehen Sie sich, Thorne.«

Bevor Thorne etwas erwidern konnte, zog Russell Brigstocke seine Aufmerksamkeit auf sich, der quer durch den Raum zielstrebig auf ihn zumarschierte. Thorne beachtete die beiden Beamten nicht länger, die Ellis in die andere Richtung abführten. Bei dem Gesichtsausdruck des Detective Inspector krampfte sich sein Magen zusammen.

»Möchten Sie was für die Gerechtigkeit tun?«, sagte Brigstocke. »Jetzt haben Sie Gelegenheit dazu.« Er streckte Thorne sein Handy entgegen. »Eine gute Gelegenheit ...«

Es bezeichnete sich als Hotel. Politiker bezeichnete man auch als »Gentlemen« und »ehrenvoll« ...

Auf dem Schild draußen stand »Hotel«, doch Thorne wusste genau, dass man in den weniger attraktiven Londoner Stadtteilen nicht alles für bare Münze nehmen durfte. Würde in sämtlichen Etablissements genau das geboten, was draußen draufstand, säßen eine Menge frustrierter Geschäftsleute in Saunas und würden vergeblich auf Mädchen warten, die ihnen einen runterholten.

Auf dem Schild hätte eigentlich »Das letzte Loch« stehen müssen.

Der rotbraune Teppichboden, früher einmal der beste Restposten, den das Lager zu bieten hatte, war mittlerweile an vielen Stellen durchgetreten. Der versiffte grünliche Bodenbelag darunter passte farblich zu dem Moder, der unter der schmutzig weißen Strukturtapete zum Vorschein kam. Von dickem Staub bedeckt stand eine längst eingegangene Grünlilie auf dem Fenstersims. Thorne schob den schmutzigen, orangefarbenen Vorhang zur Seite und lehnte sich gegen das Sims. Ihm bot sich ein atemberaubender Anblick. Die Autokolonnen schoben sich Zentimeter für Zentimeter an der Paddington Station vorbei Richtung Marylebone Road. Beinahe elf Uhr, und es ging noch immer nichts.

Thorne drehte sich um und holte tief Luft. Ihm gegenüber stand Detective Constable Dave Holland in der Tür und unterhielt sich mit einem Streifenpolizisten — er wartete wie Thorne auf ein Zeichen, um hineingehen und loslegen, sich in diesen Morast stürzen zu können.

In verschiedenen Bereichen des Raums waren drei Leute von der Spurensicherung an der Arbeit, krochen herum, tüteten ein, beschrifteten und suchten nach der entscheidenden Faser, dem einen Fitzelchen, das womöglich den Ausschlag gab. Die lebenslange Verurteilung lauerte in einer Wollmaus. Die Wahrheit verbarg sich im Müll.

Der Pathologe, Phil Hendricks, lehnte an der Wand und sprach in den neuen, digitalen Rekorder, auf den er so stolz war. Er warf Thorne einen Blick zu, einen fragenden Blick. Die üblichen Fragen. Ist es wieder so weit? Wann wird das endlich einfacher? Warum vergessen wir beide die Scheiße nicht einfach, setzen uns in eine Einfahrt und lassen uns für den Rest unseres Lebens mit Aftershave voll laufen? Um eine Antwort verlegen, wich Thorne seinem Blick aus. Direkt neben ihm war ein vierter Mitarbeiter der Spurensicherung damit beschäftigt, die Armaturen des braunen Plastikwaschbeckens mit Fingerabdruckpuder zu bearbeiten. Mit seiner Glatze und dem Overall sah er aus wie ein riesiges Baby.

Wenigstens war dieses Loch ein Loch mit fließend Wasser und eigener Toilette.

Alles in allem waren sie zu siebt im Zimmer. Zu acht, wenn man die Leiche mitzählte.

Widerstrebend sah Thorne hinüber zu der kalkweißen Gestalt auf dem Bett. Die Leiche war nackt und lag auf der blanken Matratze. Die Blutflecken auf dem verschossenen und abgenutzten Drillich vermischten sich mit Flecken obskureren Ursprungs. Die nach vorne ausgestreckten Hände des Toten waren mit einem braunen Ledergürtel zusammengebunden. Seine Haltung wirkte unterwürfig, er hatte die Knie unter sich angezogen. Und der Kopf, der in einer schwarzen Kapuze steckte, war in die durchhängende Matratze gedrückt.

Thorne sah zu, wie Phil Hendricks ans Bett trat, den Kopf anhob und ihn herumdrehte. Sachte entfernte er die Kapuze. Thorne, der hinter ihm stand, sah, wie sich die Schultern seines Freundes kurz verkrampften, und hörte ihn tief Luft holen, bevor er den Kopf wieder sinken ließ. Als ein Mitglied der Spurensicherung herüberkam, um die Kapuze einzutüten, trat Thorne einen Schritt näher, um einen Blick auf das Gesicht des Toten zu werfen.

Er hatte eine kleine Stupsnase, die Augen waren geschlossen. Das ganze Gesicht war mit stecknadelgroßen Blutspritzern übersät. Der Mund eine einzige Blutkruste. Die Lippen waren aufgerissen, und dieser grauenvolle getrocknete Brei war von Spuckefäden überzogen. Die braunen, schiefen Zähne lagen bloß. Er hatte sich, als er erdrosselt wurde, die Unterlippe durchgebissen.

Nach Thornes Einschätzung war der Tote Ende dreißig gewesen, doch das war nur eine Vermutung.

Irgendwo über ihnen war ein lautes Dröhnen zu hören, das sofort wieder erstarb — ein Boiler, der sich selbst ausschaltete. Thorne unterdrückte ein Gähnen und blickte nach oben, wo die Spinnweben um die Stuckatur tanzten. Ob es für die anderen Hotelgäste noch wichtig war, ob sie morgens ausreichend warmes Wasser hatten, wenn sie erfuhren, was sich in Zimmer sechs zugetragen hatte?

Thorne trat ans Bett. Hendricks redete, ohne sich umzublicken.

»Abgesehen von der Tatsache, dass er tot ist, weiß ich nichts. Also behalt deine Fragen für dich, ja?«

»Mir geht’s gut, danke der Nachfrage, Phil. Und wie geht es dir?«

»Verstehe. Dir ist wohl nach Quatschen zumute ...”

»Du bist so ein Idiot. Was hast du gegen ein paar nette Worte? Macht doch alles einfacher, oder?«

Hendricks schwieg.

Thorne beugte sich nach unten, um sich durch den Overall hindurch am Knöchel zu kratzen. »Phil ...«

»Ich hab dir bereits gesagt, ich weiß nichts. Sieh es dir selbst an. Wie er starb, scheint klar. Aber ganz so einfach ist es nicht. Da war ... noch mehr.«

»Klar. Danke ...«

Hendricks trat ein Stück zurück und nickte einem Mann von der Spurensicherung zu, der daraufhin, einen kleinen Arztkoffer in der Hand, ans Bett trat, wo er sich auf den Boden kniete und den mit blitzenden Instrumenten voll gepackten Koffer öffnete. Der Mann von der Spurensicherung griff nach einem kleinen Skalpell und beugte sich über den Nacken des Toten.

Auf der Suche nach einem Ansatzpunkt steckte er den plastikbehandschuhten Finger zwischen Schnur und Hals. Soweit Thorne es sehen konnte, war es eine Wäscheleine, wie man sie in jedem Laden bekommen konnte. Glatt, blaues Plastik. Sie hatte sich tief in den Hals des Toten eingegraben. Der Mann von der Spurensicherung nahm das Skalpell und durchtrennte die Leine, wobei er darauf achtete, den Knoten hinten am Nacken nicht zu beschädigen. Das war die normale Vorgehensweise. Vernünftig und kühl.

Eine Vorsichtsmaßnahme, falls sie noch mehr davon fänden und die Knoten vergleichen müssten.

Thorne blickte hinüber zu Dave Holland, der die Augenbrauen hochzog und die Handflächen nach oben drehte. Was ist los! Wie lang dauert das noch! Thorne zuckte mit den Schultern. Er war bereits länger als eine Stunde hier, hatte sich zusammen mit Holland das Zimmer angesehen, Notizen gemacht, Beweismaterial eingetütet, sich einen Eindruck vom Tatort verschafft. Nun waren die Techniker an der Reihe, und Thorne musste sich gedulden, was er hasste. Vielleicht wäre es ihm leichter gefallen, hätte er seine Ungeduld darauf schieben können, dass er es nicht ertrug, nicht endlich loszulegen. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte sagen können — ehrlich sagen können —, er sei wild darauf, sich in seine Arbeit zu stürzen, den Prozess loszutreten, an dessen Ende womöglich dem Mörder dieses Mannes Gerechtigkeit widerfuhr.

Aber in Wirklichkeit wollte er den Plastikanzug abstreifen, in sein Auto steigen und wegfahren.

Na ja, um ehrlich zu sein, nur ein Teil von ihm wollte das. Der andere Teil brannte. Der Teil, der zu unterscheiden wusste zwischen Tatort und Tatort, der derlei einschätzen konnte. Thorne hatte die Opfer wütender Ehemänner und eifersüchtiger Liebhaber gesehen und ermordete Geschäftsrivalen und Bandenmitglieder, die zu viel geplaudert hatten. Er wusste, wenn etwas ungewöhnlich war.

Dieser Tatort war anders. Das hier war das Werk eines Mörders, der von etwas Besonderem, etwas Außergewöhnlichem getrieben wurde.

Das Zimmer stank nach Hass und Wut. Und es stank nach Stolz.

Mit einem leisen Lächeln wandte sich Hendricks an Thorne, so als könne er dessen Gedanken lesen. »Noch fünf Minuten, ja? Hier komme ich nicht mehr viel weiter ...«

Thorne nickte. Er betrachtete den Toten auf dem Bett, seine Position, als huldige er jemandem. Wären da nicht der Gürtel gewesen, die blaurote Linie um seinen Hals, die schmalen Blutspuren, die sich über seine weißen Schenkel zogen, man hätte glauben können, er bete.

Was er am Ende wohl auch getan hatte.

Es war heiß in dem Zimmer. Als Thorne den Arm hob, um sich die Augen zu reiben, spürte er, wie ein Schweißtropfen über seine Rippen lief und an seinem Bauch einen plötzlichen Haken schlug.

Unten auf der Straße drückte ein frustrierter Autofahrer auf seine Hupe ...

Thorne war sich nicht einmal bewusst, dass er die Augen geschlossen hatte, als er das Telefon läuten hörte und sie aufriss. Einen kurzen wundervollen Moment lang war er überzeugt, aus einem schlechten Traum aufzuwachen.

Leicht verwirrt drehte er sich um und sah Holland neben dem Nachtkästchen stehen. Das Telefon war ein beigefarbenes Siebzigerjahremodell. Die Wählscheibe hatte einen Sprung, der schmuddlige Hörer bewegte sich leicht auf der Gabel. Thorne war inzwischen hellwach, aber immer noch etwas durcheinander. War der Anruf für sie? Ging es um eine Polizeiangelegenheit? Oder war es möglich, dass derjenige, der an der so genannten Rezeption saß, nichts von alldem hier wusste und einen Anrufer von draußen durchgestellt hatte? Nachdem er ein, zwei Hotelangestellte kennen gelernt hatte, war es für Thorne durchaus vorstellbar, dass diese unterbelichtet genug waren, einen Anruf für den Gast in Zimmer sechs durchzustellen, obwohl sie genau wussten, was passiert war. Ein Glückstreffer, falls dem so war ...

Thorne trat zu dem Telefon, das noch immer läutete. Das restliche Team stand wie erstarrt da und ließ ihn nicht aus den Augen.

Die Kleidung des Opfers — es war vermutlich seine — war auf dem Boden verstreut. Die Hose — ohne den Gürtel — sowie die Unterhose lagen neben dem Stuhl. Das Hemd war zusammengeknüllt. Ein Schuh unter dem Bett, am Kopfende. Die braune Kordsamtjacke, die über einem Stuhl neben dem Bett hing, hatte nichts enthalten, was über den Besitzer Auskunft gegeben hätte. Weder eine Brieftasche noch Bustickets oder verknitterte Fotos. Nichts, was hätte helfen können, den Toten zu identifizieren ...

Thorne wusste nicht, ob das Telefon bereits auf Fingerabdrücke untersucht worden war. Er streckte die Hand aus, worauf ihm das dicke Baby von der Spurensicherung eine Plastiktüte gab, die er sich um die Hand wickelte, bevor er diese langsam hob. Er brauchte Ruhe. Er musste nicht lange darum bitten.

Nachdem er tief Luft geholt hatte, hob er den Hörer ab. »Hallo ...?«

»Oh ... hi.« Eine Frauenstimme.

Thornes und Hollands Blicke trafen sich. »Mit wem wollten Sie sprechen?« Er hielt den Hörer eine Handbreit von seinem Ohr weg und verstand die Antwort nicht richtig. »Es tut mir Leid, die Verbindung ist nicht besonders gut. Könnten Sie lauter sprechen?«

»Ist es so in Ordnung?«

»Wunderbar.« Thorne versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. »Mit wem wollen Sie sprechen?«

»Oh ... da bin ich mir nicht sicher ...«

Wieder schaute Thorne zu Holland und schüttelte den Kopf. Die Stimme wirkte nun etwas angespannt. Doch durchaus selbstsicher und kultiviert. »Hören Sie, ich möchte nicht unhöflich klingen, aber es war jemand an Ihrem Ende, der mich anrief. Ohne Einzelheiten zu nennen ...«

»Hier spricht Detective Inspector Thorne von der Serious Crime Group ...«

Eine Pause. Dann: »Ich dachte, ich rufe in einem Hotel an ...«

»Sie haben in einem Hotel angerufen. Würden Sie mir bitte sagen, wie Sie heißen?« Er sah hinüber zu Holland und blies die Backen auf. Holland war, Notizbuch in der Hand, bereit, wirkte aber vollkommen verwirrt.

»Da könnte ja jeder kommen«, erwiderte die Frau.

»Hören Sie, wenn es Sie glücklicher macht, kann ich Sie zurückrufen. Besser noch, ich gebe Ihnen eine Nummer, bei der Sie anrufen und überprüfen können, was ich Ihnen erzählt habe. Fragen Sie nach Detective Inspector Russell Brigstocke. Und ich gebe Ihnen meine Handynummer ...«

»Wozu brauche ich Ihre Handynummer, wenn Sie mich zurückrufen?«

Das Gespräch nahm eine Wendung ins Lächerliche. Thorne glaubte einen amüsierten Unterton herauszuhören, vielleicht flirtete sie sogar mit ihm. So erfreulich das an einem ansonsten eher schlimmen Vormittag sein mochte, irgendwie war er nicht in der richtigen Stimmung.

»Madam, das Telefon, von dem aus ich mit Ihnen spreche, befindet sich an einem Ort, an dem soeben ein Verbrechen verübt wurde, und daher muss ich den Grund für Ihren Anruf erfahren.«

Die Nachricht kam an. Die Frau, die nun zwar leicht panisch wirkte, tat, worum er sie gebeten hatte.

»Eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Als ich heute Morgen zur Arbeit kam, hörte ich den Anrufbeantworter ab. Es war die erste Nachricht. Der Mann, der angerufen hatte, hinterließ den Namen des Hotels und die Nummer des Zimmers, für das die Lieferung bestimmt war ...«

Der Mann, der angerufen hatte. War das der Mann auf dem Bett oder ...?

»Wie lautete die Nachricht?«

»Er erteilte einen Auftrag. Ein verrückter Zeitpunkt für so was. Deshalb war ich etwas ... vorsichtig bei diesem Rückruf. Ich dachte, jemand erlaubt sich einen Scherz, verstehen Sie, irgendwelche Kids, die herumalbern. Aber Kids würden einem doch sicher nicht die richtige Adresse nennen?«

»Nannte er einen Namen?«

»Nein, das ist mit ein Grund für meinen Anruf. Und weil ich eine Kreditkartennummer brauche. Gegen bar liefere ich nicht ...«

»Was meinen Sie mit verrückter Zeitpunkt?«

»Die Nachricht wurde heute Nacht um zehn Minuten nach drei Uhr auf den Anrufbeantworter gesprochen. Sie müssen wissen, ich habe eines dieser Geräte, die den Zeitpunkt des Anrufs registrieren.«

Thorne drückte den Hörer an seine Brust und sah hinüber zu Hendricks. »Ich kenne den Zeitpunkt, als der Tod eintrat. Zehn Pfund, dass du um mehr als eine halbe Stunde danebenliegst ...«

»Hallo?«

Thorne hielt den Hörer wieder an sein Ohr. »Tut mir Leid, ein Kollege. Könnten Sie bitte das Band von Ihrem Anrufbeantworter aufbewahren, Miss ...?«

»Eve Bloom.«

»Sie sprachen von einem Auftrag?«

»Ach ja, hab ich das nicht gesagt? Ich bin Floristin. Er hat Blumen bestellt. Deshalb war ich wohl etwas neben der Kappe ...«

»Ich verstehe nicht. Neben der Kappe ...?«

»Na ja, ein solcher Auftrag und das mitten in der Nacht ...«

»Wie lautete die Nachricht denn genau?«

»Warten Sie kurz ...«

»Nein, ich wollte nur ...«

Sie war bereits weg. Nach ein paar Sekunden hörte Thorne, wie eine Taste gedrückt und die Kassette zurückgespult wurde. Eine Weile passierte nichts, dann war ein kurzes Scheppern zu hören, als sie den Hörer neben den Anrufbeantworter legte.

»Es kommt gleich«, rief sie.

Es zischte, und dann lief das Band.

Die Stimme war ohne eindeutigen Akzent, ohne Emotion. Für Thorne hörte es sich an, als bemühe sich jemand sehr darum, neutral zu klingen. Doch etwas schwang mit in dieser Stimme, sie klang irgendwie belustigt. Die Stimme des Mannes, bei dem Thorne davon ausgehen musste, dass er für diese gefesselte und blutüberströmte Leiche verantwortlich war, die kaum einen Meter von ihm entfernt auf dem Bett lag.

Die Nachricht begann ganz simpel.

»Ich möchte einen Kranz bestellen ...«

3. Dezember 1975

Zentimeter um Zentimeter fuhr er den Kombi nach vorne, bis der Stoßdämpfer beinahe das Garagentor berührte. Erst dann riss er die Handbremse hoch und stellte den Motor ab.

Er griff hinüber zu seiner Aktentasche, stieg aus dem Auto und stieß die Tür mit einer Hüftbewegung zu.

Noch nicht mal sechs und bereits dunkel. Und kalt. Es wurde langsam Zeit, morgens eine Strickweste anzuziehen.

Auf dem Weg zur Haustür begann er, wieder diese blöde Melodie zu pfeifen, die ihm nicht aus dem Kopf ging. Sie lief ständig im Radio. Was zum Teufel war eigentlich ein »silhouetto«! Und dieser bescheuerte Fandango! Und das Ding dauerte ewig. Sollten Popsongs eigentlich nicht kurz sein!

Er zog die Tür hinter sich zu und blieb kurz auf der Türmatte stehen. Wartete darauf, dass ihm der Duft seines Abendessens in die Nase zog. Auf diesen Augenblick freute er sich jeden Tag, auf diesen einen Moment, in dem er so tun konnte, als sei er eine Figur aus einer dieser Fernsehserien. Er stand da und stellte sich vor, er befände sich irgendwo im Mittleren Westen Amerikas und nicht in einer beschissenen Vorortsiedlung. Er stellte sich vor, er wäre ein hoch gewachsener Manager mit einer perfekt gestylten Frau, die — einen Schmorbraten im Rohr und einen Cocktail in der Hand — auf ihn wartete. Highballs oder wie das hieß.

Das war nicht sein kleines Privatvergnügen, diesen Spaß teilten sie miteinander. Ihr albernes kleines Ritual. Er rief von draußen, und sie antwortete ihm, dann setzten sie sich an den Tisch und aßen Pfannkuchen aus der Tiefkühltruhe oder vielleicht eines dieser Fertig-Currys, in denen immer zu viele Rosinen drin waren.

»Schatz, ich bin da ...«

Keine Antwort. Er roch auch nichts.

Er stellte die Aktentasche neben dem Tischchen im Gang ab und ging zum Wohnzimmer. Wahrscheinlich hatte sie heute keine Zeit gehabt. War wohl nicht vor drei aus der Arbeit gekommen, und dann musste sie noch einkaufen. Bis Weihnachten waren es nur noch vierzehn Tage, und es gab jede Menge zu erledigen ...

Ihr Gesichtsausdruck ließ ihn erstarren.

Sie saß auf dem Zweisitzer, mit nichts als ihrem himmelblauen Morgenmantel bekleidet. Die Beine hatte sie untergeschlagen, ihre Haare waren nass.

»Geht es dir gut, Liebes!«

Keine Antwort. Als er zu ihr gehen wollte, blieb er mit dem Schuh an etwas hängen. Da sah er das Kleid.

»Wie kommt das hier ...!«

Lachend wirbelte er es hoch und fing es auf. Er wartete auf eine Reaktion von ihr. Dann, als es in seiner Hand hing, entdeckte er den Riss. Er steckte die Finger durch das Loch in dem Gewebe.

»Himmel, was hast du damit angestellt! Verdammte Scheiße, das Ding hat fünfzehn Pfund gekostet ...«

Plötzlich blickte sie auf und starrte ihn an, als wäre er verrückt. So unauffällig wie möglich sah er sich um, ob nicht irgendwo eine leere Flasche stand. Dabei bemühte er sich, ihr ein Lächeln zu zeigen.

»Hast du heute gearbeitet, Schatz!«

Sie stöhnte leise.

»Was ist mit der Schule! Ging beim Abholen alles glatt ...!«

Sie nickte heftig, die feuchten Haare fielen ihr ins Gesicht. Dann hörte er den Lärm oben, ein Spielzeugauto, das gegen etwas krachte, oder umstürzende Klötzchen, vom Dachgeschoss, aus dem sie ein Spielzimmer gemacht hatten.

Er nickte, blies erleichtert die Backen auf.

»Hör mal, ich mach dir jetzt erst mal ...«

Er musste an sich halten, um nicht einen Schritt zurückzuweichen, als sie unvermittelt aufstand. Tränen schimmerten in ihren weit aufgerissenen Augen, als sie sich langsam bückte. Es sah aus, als wolle sie sich verbeugen.

Da rief er ihren Namen.

Und seine Frau hob den Saum ihres himmelblauen Morgenmantels, hob ihn bis über ihre Hüften, um ihm die Rötungen, die Abschürfungen und die sich dunkel verfärbenden Blutergüsse an ihren Oberschenkeln zu zeigen ...

Zweites Kapitel

Thorne verlor die Wette mit Hendricks.

Der Anruf kam keine vier Stunden, nachdem sie die Leiche gefunden hatten, und ein paar Sekunden später segelte sein halb gegessenes Sandwich durch das Büro und landete mehr als einen Meter neben dem Abfalleimer. Er kaute schnell den Rest, den er noch im Mund hatte, schließlich wusste er, dass ihm der Appetit gleich vergehen würde.

Hendricks rief aus dem Leichenschauhaus in Westminster an. »Ganz schön schnell«, sagte er. Er klang ungewöhnlich aufgedreht. »Du musst zugeben ...«

»Warum schaffst du es immer, genau dann anzurufen, wenn ich beim Mittagessen bin? Hättest du nicht eine Stunde warten können?«

»Vergiss es, Kumpel, hier geht’s um Geld. Also, bist du so weit? Ich gehe davon aus, dass der Tod ungefähr um drei viertel drei in der Früh eintrat.«

»Quatsch.« Thorne blickte zum Fenster hinaus auf eine Reihe niedriger, grauer Gebäude auf der anderen Seite der MI. »Hoffentlich ist es einen Zehner wert. Also, leg los ...«

»Okay, wie hättest du es gern? Im Medizinjargon, allgemein verständlich oder als ›Pathologie — leicht gemacht‹ für die Blödmänner unter den Bullen?«

»Das kostet dich die Hälfte von dem Zehner. Jetzt fang schon an ...«

Über den Tod und seine intimen Details sprach Hendricks weitaus weniger leidenschaftlich als über Arsenal. Dass er aus Manchester kam und dennoch nicht für den gefürchteten Club Man United brüllte, war nicht das Einzige, worin er sich von der breiten Masse unterschied. Da waren seine Klamotten in diversen Schwarzschattierungen, der kahl rasierte Schädel, die lächerlich vielen Ohrringe. Da waren die mysteriösen Piercings, eines für jeden neuen Freund ...

Vielleicht mangelte es ihm an Leidenschaft, wenn er beinahe sachlich darüber sprach, doch Thorne wusste, wie viel Hendricks die Toten bedeuteten. Wie er sich bemühte zu verstehen, was ihm ihre Leichname zu sagen versuchten. Wo ihre Geheimnisse verborgen lagen.

»Erstickungstod durch Strangulation«, sagte Hendricks. »Außerdem vermute ich, dass es am Boden passierte. Er hatte an beiden Knien Abschürfungen vom Teppich. Wahrscheinlich legte der Mörder die Leiche erst danach aufs Bett. Brachte sie dort in Position.«

»Klar ...«

»Leider kann ich noch immer nicht mit Sicherheit sagen, ob er stranguliert wurde, bevor, während oder nachdem er vergewaltigt wurde.«

»Du bist also auch nicht perfekt?«

»Eines steht fest, wer immer es getan hat, hat eine große Karriere in der Schwulenpornoszene vor sich. Unser Mörder ist bestückt wie ein Esel. Hat ihn übel zugerichtet ...«

Es war richtig gewesen, das Sandwich wegzuwerfen. Über die Jahre hinweg hatte er unzählige solcher Gespräche mit Hendricks geführt. Sein Kopf war daran gewöhnt, nur sein Magen hatte noch Probleme damit.

Thorne bezeichnete das als die H-Plan-Diät.

»Irgendwelche Körpersekrete?«

»Tut mir Leid, Fehlanzeige. Das Einzige, was da nichts zu suchen hatte, war eine geringe Menge spermatötendes Gleitmittel von dem Kondom, das er getragen hat. Er war in jeder Hinsicht vorsichtig ...«

Thorne seufzte. »Wo ist Holland? Ist er noch bei dir?«

»Der doch nicht. Der ist bei der erstbesten Gelegenheit verschwunden. Warum hast du ihn überhaupt hierher geschickt? Um die Wahrheit zu sagen, es trifft mich schon, dass du nicht mitgekommen bist, um mir bei der Arbeit zuzusehen ...«

Nachdem sie über die Leichen gesprochen hatten, flachsten sie gerne noch ein paar Takte. Redeten über Fußball, über alles Mögliche ...

»Detective Constable Holland sieht dir viel zu selten bei der Arbeit zu, Phil«, entgegnete Thorne. »Der bekommt noch immer weiche Knie davon. Ich tu ihm einen Gefallen, wenn ich ihn abhärte ...«

Hendricks lachte. »Okay ...«

Okay, dachte Thorne, wohl wissend, dass einen Skalpelle und Seziertische nie kalt ließen. Man tat nur so ...

In der Einsatzzentrale, als er vor dem Team stand, fühlte sich Thorne wie so oft in solchen Situationen: Er kam sich vor wie ein Lehrer, der gefürchtet, aber nicht sonderlich gemocht wird. Der leicht neurotische Sportlehrer. Die annähernd dreißig Leute vor ihm — Detectives, Polizisten in Uniform, Angestellte und Mitarbeiter — hätten ebenso gut Kinder sein können. Sie waren so verschieden wie die Schüler jeder x-beliebigen Klasse in einer zugigen Londoner Schule.

Da waren die, die ganz Auge und Ohr zu sein schienen, aber später bei ihren Kollegen nachfragen mussten, was man eigentlich von ihnen erwarte. Andere wiederum waren Feuer und Flamme, stellten Fragen, nickten eifrig und hatten sich dabei längst entschieden, später nur das Nötigste zu tun. Es gab die Chefs im Ring, die die anderen drangsalierten, und die, die drangsaliert wurden. Die Streber und die Dumpfbacken.

Der Metropolitan Police Service. Mit Schwerpunkt auf Service, auf Fürsorge und Effizienz. Keine Frage, die meisten in diesem Raum, nicht selten auch er, waren glücklicher gewesen, als sie sich noch Force nannten, da steckte Stärke und Kraft dahinter.

Etwas, womit man rechnen musste.

Seit diesem Gespräch mit Hendricks über die Autopsie waren vier Tage vergangen, und so schnell der Pathologe gewesen war, das Team von den Forensic Science Services hatte ihn um Längen geschlagen. Zweiundsiebzig Stunden, bis die DNS-Ergebnisse vorlagen, das war schon was. Zumal bei einem DNS-Alptraum von Tatort wie diesem Hotelzimmer. Nicht viel mehr als eine Absteige, und die Ausbeute an Spuren von Haaren und Hautschuppen hatte auf mehr als zwölf Personen schließen lassen, Männer wie Frauen. Dann hatte es noch Spuren von Katzen und Hunden gegeben sowie mindestens zwei anderen, bislang noch nicht identifizierten Tierarten.

Und dennoch hatten sie wider Erwarten eine Übereinstimmung gefunden.

Auf ihrer Suche nach dem Mörder waren sie natürlich nicht weitergekommen, aber jetzt wussten sie wenigstens, wer sein Opfer war. Die DNS des Toten war aktenkundig, aus gutem Grund.

Thorne räusperte sich, um für etwas Ruhe zu sorgen. »Douglas Andrew Remfry wurde vor zehn Tagen aus dem Gefängnis in Derby entlassen, nachdem er sieben von zwölf Jahren seiner Haftstrafe verbüßt hatte. Er war wegen Vergewaltigung dreier junger Frauen verurteilt worden. Wir sind dabei, uns ein exaktes Bild davon zu machen, wo er sich seit seiner Entlassung aufgehalten hat, aber bisher sieht es danach aus, als wäre er ständig hin und her gependelt zwischen Pub, Wettbüro und dem Haus in New Cross, in dem er mit seiner Mutter lebte und ihrem ...?« Thorne sah hinüber zu Russell Brigstocke, der drei Finger hochhielt, bevor er sich wieder an seine Zuhörer wandte. »... dritten Mann. Wir hoffen, im Lauf des Tages mehr darüber herauszufinden, wo Remfry sich möglicherweise noch aufhielt. Die Detective Constables Holland und Stone sind im Augenblick mit einem Durchsuchungsbefehl unterwegs. Mrs. Remfry zeigte sich nicht gerade kooperativ ...«

Ziemlich weit vorne schüttelte ein pickliger zukünftiger Detective den Kopf und verzog angewidert das Gesicht. Thorne fixierte ihn und sagte: »Sie hat gerade ihren Sohn verloren.« Er hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr. »Falls man der Hotelbesitzerin Glauben schenken darf und er nicht von seinem Doppelgänger umgebracht wurde, buchte Remfry das Zimmer selbst. Er hielt es nicht für notwendig, seinen Namen anzugeben, hatte aber nichts gegen Barzahlung einzuwenden. Wir müssen herausfinden, was dahinter steckt. Warum war er so wild darauf, in dieses Hotel zu gehen? Wen hat er getroffen ...«

Bei dem Gedanken an das Gespräch mit der Furcht einflößenden, wasserstoffblonden Hotelbesitzerin mit dem Joe-Bugner-Gesicht und der Drei-Schachteln-am-Tag-Stimme musste Thorne unwillkürlich grinsen.

»Und wer bezahlt mir die Bettwäsche?«, hatte sie gefragt. »Und die Kissen und Decken, die dieser Irre mitgehen ließ? Die waren aus hundert Prozent Baumwolle, das war kein billiger Ramsch ...« Thorne hatte genickt und so getan, als mache er sich Notizen. Dabei fragte er sich, ob ihr Gedächtnis wohl ebenso gut war wie ihr Talent, kompletten Schwachsinn von sich zu geben, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. »Und die Flecken auf der Matratze. Wer zahlt mir die Reinigung?«

»Ich versuche, Ihnen ein Formular zu besorgen«, erklärte Thorne, während er dachte: Den Teufel werd ich tun, du alte Schreckschraube ...

Der zukünftige Detective, den Thorne zuvor so streng fixiert hatte, hob den Finger. Thorne nickte.

»Wird die Gefängnisspur untersucht, Sir? Vielleicht war es jemand, mit dem Remfry in Derby einsaß, jemand, mit dem er zusammenstieß ...«

»Jemand, den er ganz woanders stieß!« Der Kommentar kam von einem schnauzbärtigen Detective Constable, der weit hinten zu Thornes Linker saß. Thorne kannte ihn nicht. Wie nicht wenige hier war er aus einem anderen Team zu ihnen geschickt worden, um sie zahlenmäßig aufzubessern. Seine Bemerkung trug ihm eine Menge Lacher ein. Thorne brachte ein Grinsen zustande.

»Wir kümmern uns drum. Doch bevor er ins Gefängnis kam, bevorzugte Remfry in sexueller Hinsicht eindeutig Frauen ...«

»Aber es gibt welche, die drinnen auf den Geschmack kommen, oder?« Dieses Mal wirkte das Gelächter gezwungen. Thorne wartete, bis es verklungen war, bevor er fortfuhr. Dabei senkte er die Stimme, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer und die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen.

»Die meisten unter Ihnen werden sich um die Gruppe kümmern, die nach den vorläufigen Anhaltspunkten am ehesten für die Tat in Frage kommt ...«

Der zukünftige Detective nickte verständig. Einer von den Strebern. Er hielt das für eine Art Gespräch. »Die männlichen Verwandten von Remfrys Opfern.«

»Genau«, entgegnete Thorne. »Ehemänner, Freunde, Brüder. Und nicht zuletzt die Väter. Ich will, dass Sie sie einen nach dem anderen aufspüren, verhören und ausschließen. Mit einem Quäntchen Glück schließen wir alle aus bis auf einen. Detective Inspector Kitson hat eine Liste aufgestellt und kümmert sich um die Organisation.« Thorne legte seine Unterlagen auf einem Stuhl ab und zog seine Jacke von der Lehne. Er war so gut wie fertig. »Okay, das wär’s. Remfrys Straftaten waren von der besonders üblen Sorte. Vielleicht war jemand der Meinung, er hätte nicht genug dafür bezahlt ...«

Der Detective Constable mit dem Schnauzbart grinste und flüsterte dem Streifenpolizisten in der Reihe vor ihm etwas zu. Thorne streifte sich seine Jacke über und kniff die Augen zusammen.

»Ist was?«

Und plötzlich hätte er genauso gut der Lehrer sein können, der die Hand ausstreckt und sehen will, was da herumgereicht wird.

Der Detective Constable brachte es klar auf den Punkt: »Ich glaub, wer immer Remfry umgebracht hat, hat uns allen einen Gefallen getan. Dieser Sack hat es nicht anders verdient.«

Das war beileibe nicht der erste derartige Kommentar, der Thorne zu Ohren kam, seit die DNS-Ergebnisse eingetroffen waren. Er sah hinüber zu dem Detective Constable. Ihm war klar, er sollte diesem Kotzbrocken in die Parade fahren. Sollte eine Rede halten über die Aufgaben, die ihnen als Polizisten oblagen, wie wichtig es war, dass sie diesen so emotionslos wie möglich nachkamen, egal um welchen Fall es sich handelte und wer das Opfer war. Über die Schuld, die beglichen war, und darüber, dass niemandes Leben mehr oder weniger wert war als das seiner Mitmenschen.

Doch er hatte keine Lust darauf.

Am liebsten war es Dave Holland, wenn die Rangfrage geklärt war, er sich unterordnen konnte oder ein anderer sich zur Abwechslung ihm unterordnen musste. Arbeitete er mit einem anderen Detective Constable zusammen, war ihm die Sache zu diffus, und er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut.

Es war einfach. Als Detective Constable war er rangmäßig unter einem Detective Sergeant angesiedelt, während er selbst gegenüber den sich noch in der Ausbildung befindenden jungen Detectives und den uniformierten Polizisten das große Wort führen konnte. Unterwegs mit einem ranggleichen Kollegen sollten sich die Dinge selbst regeln. Es kam auf die Persönlichkeit an, auf die Durchsetzungskraft.

Bei Andy Stone fühlte sich Holland als Befehlsempfänger. Er wusste nicht, woran das lag, und genau das nagte an ihm.

Bislang waren sie ganz gut miteinander ausgekommen, doch Stone war manchmal ein bisschen sehr von sich überzeugt. Er war cool, konnte aber auch ziemlich großkotzig sein. Vor allem, fand Holland, wenn Frauen oder Vorgesetzte in der Nähe waren. Stone war durchtrainiert und sah gut aus, keine Frage. Er hatte schwarze Haare, die er sehr kurz geschnitten trug, und blaue Augen. Und Holland war sich nicht sicher, vermutete aber, dass Stone sich seiner Wirkung durchaus bewusst war. In einer Hinsicht jedoch war sich Holland sicher: dass Stones Anzüge einen Tick besser geschnitten waren und er sich in dessen Gegenwart wie ein rotbackiger Pfadfinder fühlte. Wahrscheinlich kam Holland bei den Hausfrauen noch immer besser an, aber sie wollten ihn alle bemuttern. Er bezweifelte sehr, ob sie Andy Stone bemuttern wollten.

Stone hielt sich auch ihren Vorgesetzten gegenüber keineswegs zurück. Und obwohl Holland eigentlich nichts gegen dieses Spielchen einzuwenden hatte, hatte er Probleme, wenn es Tom Thorne betraf. Holland waren die Macken des Detective Inspector nicht unbekannt. Er hatte genug eingesteckt und war bei mehr als einer Gelegenheit gemeinsam mit ihm baden gegangen ...

Trotz alledem war es für Holland das Höchste, dass Thorne ihn schätzte, etwas für beachtenswert hielt, was er getan hatte.

Er gehörte bereits länger zum Team als Andy Stone, und das, fand Holland, zählte schließlich auch. Anscheinend aber nicht. Stone hatte das große Wort geführt, als sie morgens mit einem Durchsuchungsbefehl vor Mary Remfrys Tür aufkreuzten.

»Guten Morgen, Mrs. Remfry.« In Anbetracht seiner Größe hatte Stone eine überraschend hohe Stimme. »Wir haben einen Durchsuchungsbefehl und würden gern reinkommen ...«

Sie hatte ihnen den Rücken zugekehrt, die Tür offen stehen lassen und sich wortlos durch den Gang geschleppt. Irgendwo im Haus bellte ein Hund.

Stone und Holland gingen hinein und standen dann vor der Treppe. Sie mussten sich entscheiden, wer wo begann. Stone nahm sich das Wohnzimmer vor, in dem sie durch die halb offene Tür einen grauhaarigen Mann in einem Sessel sitzen sahen, tief versunken in Kilroy. An die Tür gelehnt, nickte Stone Holland zu und zeigte in Richtung der Küche, wohin sich Mrs. Remfry allem Anschein nach zurückgezogen hatte.

»Denkst du, eine Tasse Tee wär drin?«

Sie war nicht drin.

Holland hatte ein merkwürdiges Gefühl dabei, einen Durchsuchungsbefehl zu brauchen, um sich im Haus eines Opfers umzusehen. Andererseits hatte Stone Recht, Remfry war nun mal wegen Vergewaltigung verurteilt, und die Mutter hatte ihnen durch ihr Verhalten keine andere Wahl gelassen. Sie war nicht nur traurig über den Tod ihres Sohnes, sondern vor allem außer sich vor Wut, weil die Ermittlungen ihrer Ansicht nach in eine völlig falsche Richtung liefen. In Anbetracht der Art und Weise, wie ihr Sohn ums Leben gekommen war, musste diese Spur verfolgt werden, doch sie konnte damit rein gar nichts anfangen.

»Dougie war immer ein Frauentyp. Die standen alle auf ihn.«

Sie wiederholte es, nachdem sie plötzlich in der Tür zum Schlafzimmer ihres Sohnes aufgetaucht war, wo Holland systematisch sämtliche Schubladen und Schränke durchsuchte. Mary Remfry, eine Frau von Mitte fünfzig, zog die Strickweste, die sie über ihrem Nachthemd trug, fester vor der Brust zusammen, während sie Holland zwar zusah, aber nicht richtig wahrnahm, was er da eigentlich tat. Sie war vollkommen darauf konzentriert, was sie ihm zu sagen versuchte.

»Dougie mochte Frauen, und die Frauen mochten ihn. Das weiß jeder.«

Holland ging rücksichtsvoll zu Werke. Das hätte er auch getan, wenn Mrs. Remfry ihm nicht zugesehen hätte. Doch nun bemühte er sich umso mehr, Respekt an den Tag zu legen, während er sich durch die Schubladen voller Hosen und Pullis arbeitete und die behandschuhten Hände zwischen Kopfkissen- und Bettbezüge schob. In den wenigen Tagen seit seiner Entlassung hatte sich Remfry augenscheinlich nicht viel Neues zugelegt, weder Klamotten noch anderes, doch es war noch jede Menge da aus der Zeit, bevor er ins Gefängnis kam. Sogar noch aus der Zeit, bevor er die Schule verlassen hatte ...

»Er hatte immer genug Weiber«, fuhr Remfrys Mutter fort. »Selbst als er aus dem Knast kam, ließen sie ihn nicht in Ruhe. Ständig riefen welche an. Hören Sie mir eigentlich zu?«

Holland wandte sich halb um und nickte, bevor er, wie auf Bestellung, einen ansehnlichen Stapel Pornomagazine unter dem Bett hervorzog.

»Sehen Sie?« Mary Remfry deutete auf die Zeitschriften. »Da drinnen werden sie keinen einzigen Mann finden.« Ihr Stolz war ihr deutlich anzuhören. Als habe Holland soeben den Staub von einem Abschlusszeugnis oder einer Nobelpreisnominierung gepustet. Nachdem er schon dabei war, setzte er sich neben das Bett und sah sich den Stapel vergilbter Razzles, Escorts und Fiestas durch. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg, und wandte der stolzen Mutter in der Tür den Rücken zu. Die Zeitschriften waren alle aus der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, einige Zeit bevor Dougie zusammengesperrt mit sechshundertfünfzig anderen Männern auf Kosten Ihrer Majestät lebte.

Holland schob die Schmuddelmagazine zur Seite und langte erneut unter das Bett, um eine braune, zusammengedrehte Plastiktüte hervorzuziehen. Als er die Tüte öffnete, fiel ein von einem Gummi zusammengehaltenes Bündel Briefumschläge auf den Teppich.

Sobald er die säuberlich getippte Adresse auf dem obersten Umschlag sah, spürte Holland ein leichtes Flattern in der Magengegend. Vermutlich würde dieses Bündel sie nicht viel weiterbringen, aber höchstwahrscheinlich war es wichtiger als die fünfzehn Jahre alten Socken und die uralten Wichsvorlagen.

»Andy ...!«

Mary Remfry wickelte sich noch fester in ihre Strickweste und trat einen Schritt ins Zimmer. »Was haben Sie da?«

Holland hörte Stone die Treppe heraufkommen. Er zog den Gummi von dem Bündel herunter und holte den Brief aus dem obersten Umschlag.

»Wir können einen autoerotischen Erstickungstod also ausschließen?« Etwas verlegen blickte Detective Inspector Russell Brigstocke in die Runde an dem Tisch, zu Thorne, Phil Hendricks und Yvonne Kitson.

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir irgendetwas ausschließen können«, sagte Thorne. »Aber irre ich mich, oder bedeutet ›auto‹ nicht, dass man es selbst macht?«

»Sie wissen genau, was ich meine, Sie Klugscheißer ...«

»Mit Erotik hatte das nichts zu tun, was in dem Zimmer passierte«, erklärte Hendricks.

Brigstocke nickte. »Nicht die geringste Chance, es könnte ein extremes Sexspiel gewesen sein, bei dem was schief lief?« Thorne zog eine Grimasse. Was Brigstocke nicht entging. »Was?« Thorne sagte nichts. »Sehen Sie, ich stelle nur die Fragen ...«

»Die Jesmond Sie zu stellen bat«, unterbrach ihn Thorne. Er machte kein Geheimnis aus seiner Meinung, dass ihr Detective Chief Superintendent einem Ausbildungsprogramm entsprungen war, das politisch gewiefte, organisatorisch geschulte Dampfplauderer ausspuckte. Glatte Gesichter mit einem ordentlichen Repertoire an ebenso glatten Fragen, einem Gespür für die ökonomischen Realitäten und, wie sich zeigte, einer Aversion allem gegenüber, was Thorne hieß.

»Und die beantwortet werden müssen«, entgegnete Brigstocke. »Könnte es eine Art Sexspiel gewesen sein?«

Thorne fiel es schwer zu glauben, dass Trevor Jesmond und seinesgleichen je das getan hatten, womit er, Brigstocke und all die anderen sich tagaus, tagein herumschlugen. Einfach unvorstellbar, dass er jemals zwei Raufbolde zur Sperrstunde trennte, seine Spesenabrechnung frisierte oder sich zwischen einem Messer und dem anvisierten Opfer wiederfand.

Oder einer Mutter berichtete, ihr einziger Sohn sei in einem versifften Hotelzimmer vergewaltigt und stranguliert worden.

»Es war kein Spiel«, erklärte Thorne.

Brigstocke sah zu Hendricks und Kitson. Er seufzte. »Aus der kaum verhohlenen Verachtung in Ihren Gesichtern darf ich wohl schließen, dass Sie der gleichen Meinung sind wie Detective Inspector Thorne?« Er schob mit dem Zeigefinger seine Brille nach oben, bevor er sich mit der Hand durch die dichten schwarzen Haare fuhr, auf die er so stolz war. Die Tolle war nicht ganz so ausgeprägt wie sonst, etwas Grau begann sich darunter zu mischen. Manchmal hatte er etwas durchaus Lächerliches, aber Thorne wusste, dass Brigstocke, wenn er ausrastete, so knallhart sein konnte wie kaum ein anderer Kollege.

Thorne, Brigstocke, Kitson und Hendricks, der Zivilist unter ihnen. Diese vier bildeten zusammen mit Holland und Stone den Kern des Team 3 der Serious Crime Group (West). Diese Gruppe traf die Entscheidungen, formulierte die Strategie und führte die Ermittlungen mit — und gelegentlich auch ohne — Zustimmung derer durch, die weiter oben standen auf der Leiter.

Team 3 war bereits länger im Geschäft. Ermittelte in den gewöhnlichen Fällen, spezialisierte sich allerdings — ein Ausdruck, den Thorne nicht in den Mund genommen hätte — zusehends auf Fälle, die alles andere als gewöhnlich waren ...

»Alle Mann sind also unterwegs, um die Verwandten von Remfrys Opfern aufzuspüren. Und hinter dieser Idee steht ihr nach wie vor?«

Rundum Nicken.

»Allerdings gibt es weit und breit noch keine heiße Spur«, sagte Thorne. Da war einiges, das ihn störte, das nicht ganz in das Szenario des racheversessenen Verwandten passte. Eine derartige Wut überstieg seine Vorstellungskraft, eine Wut, die so viele Jahre mit sich herumgetragen wurde, die sich in etwas Tödliches verwandelte, etwas Zersetzendes, und sich schließlich auf eine Weise wie in diesem Hotelzimmer manifestierte. Dieses Bild, das sich ihm auf dieser versifften Matratze geboten hatte, hatte beinahe etwas Inszeniertes gehabt. In Position gebracht, hatte Hendricks es genannt.

Und da war noch dieser frühmorgendliche Anruf bei der Floristin ...

Die Nachricht war irgendwie merkwürdig gewesen. Dass es ein Versehen war, glaubte er nicht. Damit blieb nur der Schluss, dass der Mörder es darauf abgesehen hatte, dass die Polizei seine Stimme auf diesem Anrufbeantworter hörte. Als wolle er sich vorstellen.

»Was da bei dem Briefing angesprochen wurde«, meldete sich Kitson zu Wort, »die Sache, ob aus Remfry im Knast ein warmer Bruder geworden sein könnte? Soll man dem nachgehen ...?«

Thorne blickte hinüber zu Hendricks, der schwul war und sich dafür entschied, den Ausdruck zu ignorieren, den Kitson gebraucht hatte. Oder sich den Teufel darum scherte.

»Ja«, sagte Thorne. »Kümmern wir uns darum, was er da drinnen anstellte oder nicht anstellte. Jedenfalls war er nicht schwul, als er reinkam. Schließlich hat er drei Frauen vergewaltigt ...«

»Bei Vergewaltigung geht es nicht um Sex, sondern um Macht«, entgegnete Kitson.

Yvonne Kitson war zusammen mit Andy Stone zum Team gestoßen, um eine Kollegin zu ersetzen, die Thorne verloren hatte. Unter Umständen, die er jeden Tag zu vergessen suchte. Bei keinem der Mörder, die er aus dem Verkehr gezogen hatte, empfand Thorne eine solche Befriedigung darüber, dass er dreimal lebenslänglich im Gefängnis von Belmarsh absitzen musste.

Thorne blickte hinüber zu Hendricks. »Wenn wir Remfry mal außer Acht lassen, können wir sicher sein, dass der Mörder schwul ist?«

Hendricks zögerte nicht. »Keineswegs. Wie Yvonne sagt, Vergewaltigung hat nichts mit Sex zu tun. Vielleicht will der Mörder, dass wir denken, er sei schwul. Natürlich könnte er schwul sein, aber wir sollten andere Möglichkeiten im Auge behalten ...«

»Ob jetzt Remfry oder der Mörder schwul war oder nicht«, sagte Kitson, »dahinter könnte einer seiner Mithäftlinge stecken, der einen ungeheuren Hass auf ihn schiebt ...«

Brigstocke räusperte sich. Irgendwie war ihm das alles peinlich. »Aber diesen Arschfick ...?«

Hendricks schnaubte. »Arschfick?« Er schob seinen Manchester-Akzent beiseite und verfiel in die aufgeblasene, nasale Sprechweise gepflegter Herrenclubs. »Arschfick!«

Brigstocke lief rot an. »Analverkehr halt. Wie auch immer. Wer könnte das, wenn er nicht homosexuell ist?«

Hendricks zuckte mit den Schultern. »Augen schließen und an Claudia Schiffer denken ...?«

»Lieber an Kylie«, sagte Thorne.

Grinsend schüttelte Kitson den Kopf. »Schmutziger alter Mann.«

Brigstocke war nicht überzeugt. Er blickte Thorne tief in die Augen. »Jetzt mal ernst, Tom. Das könnte wichtig sein. Wärst du dazu imstande?«

»Hinge davon ab, wie versessen ich darauf wäre, jemanden umzubringen«, antwortete Thorne.

Niemand am Tisch sagte etwas. Thorne fand es besser, das Schweigen zu brechen, bevor es zu drückend wurde. »Remfry ging aus freien Stücken in dieses Hotel. Er buchte das Zimmer selbst. Er wusste, oder glaubte zumindest zu wissen, worauf er sich einlässt.«

»Und was immer das war«, fügte Hendricks hinzu, »eine Zeit lang schien er durchaus mitgemacht zu haben.«

»Stimmt«, sagte Kitson. Sie drehte ihre Fotokopie von Hendricks’ Autopsiebericht um. »Keine Verletzungen, die von einem Kampf herrühren, kein Gewebe unter den Fingernägeln ...«

Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Thorne saß am nächsten.

»Detective Inspector Thorne. Ja, Dave ...«

Die anderen sahen Thorne zu, während dieser telefonierte. Brigstocke flüsterte Kitson zu: »Warum, zum Teufel, ist Remfry in dieses Hotel gegangen?«

Thorne nickte, brummte etwas ins Telefon, zog mit den Zähnen die Kappe von einem Stift, nahm sie aus dem Mund und steckte sie wieder auf den Stift. Er lächelte, erklärte Holland, er solle seinen Arsch in Bewegung setzen, und beendete das Telefongespräch.

Dann beantwortete er Brigstockes Frage.

4. Dezember 1975

Sie saßen vor dem Haus im Auto.

Den ganzen Vormittag über hatte sie sich am Riemen gerissen, als es wirklich schlimm wurde, all das Persönliche, die Einbrüche in ihre Privatsphäre. Dann, als das Ärgste vorüber zu sein schien und er ihr die Tür aufhielt, fing sie an zu schluchzen. Sie rannte aus der Polizeiwache, eilte die Stufen hinunter auf die Straße, ihre Absätze klapperten auf dem Beton, und sie konnte nicht mehr an sich halten.

Im Auto dann, auf dem Heimweg, machte das Schluchzen allmählich einer verzehrenden Wut Platz, die sich in wüsten Schimpftiraden Bahn brach. Er hielt das Lenkrad fest umklammert, während sie auf seine Schultern und Arme einschlug. Sein Blick blieb auf die Straße gerichtet, als sie ihn mit Ausdrücken bedachte, die er noch nie aus ihrem Mund gehört hatte. Er fuhr vorsichtig, so vorsichtig, wie er es immer tat, und als er das Auto auf den schneeglatten Straßen durch den Mittagsverkehr lenkte, sog er so viel von ihrem Schmerz und ihrer Wut in sich auf, wie er ertragen konnte.

Sie blieben in dem Auto sitzen, waren zu erschüttert, um auch nur eine Tür zu öffnen. Stierten vor sich hin, weil sie Angst hatten, das Haus auch nur anzusehen. Das Haus, das nun nur noch der Ort war, an dem sie ihm am Abend zuvor erzählt hatte, was passiert war. Wo sie heulend und brüllend von Zimmer zu Zimmer gerannt waren. Wo nichts mehr so war wie früher.

Das Haus, in dem sie sich nie wieder wohl fühlen würden.

Ohne den Kopf zu wenden, schleuderte sie ihm einen Vorwurf nach dem anderen ins Gesicht. »Warum hast du nicht dafür gesorgt, dass ich gleich gestern Abend zur Polizei ging! Warum hast du zugelassen, dass ich damit warte!«

Der Motor war abgestellt, das Auto stand, doch er nahm die Hände nicht vom Lenkrad. Seine ledernen Handschuhe quietschten, als er es noch fester umklammerte. »Du wolltest einfach nicht zuhören. Du warst für kein Argument zugänglich.«

»Was hattest du denn erwartet! Himmel, ich wusste nicht einmal mehr, wie ich heiße. Ich hatte keine Ahnung, was ich tat. Ich hätte mich niemals geduscht ...«

Natürlich war sie zu aufgewühlt gewesen, um einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte versucht, das heute Morgen dieser Polizistin zu erklären, aber die hatte nur mit den Schultern gezuckt, ihrem Kollegen einen viel sagenden Blick zugeworfen und ein Kleidungsstück nach dem anderen genommen und in einen Plastikbeutel gesteckt.

»Sie hätten sich nicht duschen sollen«, sagte die Polizistin. »Das war nicht klug. Sie hätten gleich gestern Abend kommen sollen, nachdem es passiert war ...«

Der Motor war noch keine Minute abgestellt, aber im Auto wurde es bereits kalt. Die Tränen fühlten sich warm an, als sie ihm langsam über die Wangen und in den Schnauzbart rollten. »Du hast gesagt, du wolltest ... ihn abwaschen. Ich hab dir gesagt, dass ich das verstehe, aber dass du das nicht hättest tun sollen. Du hast mir nicht zugehört ...«

Dieser Augenblick im Wohnzimmer, nachdem sie es ihm erzählt hatte. Die grauenvollen Minuten und Stunden, nachdem sie ihm beschrieben hatte, was man ihr angetan hatte. Sie ließ ihn nicht viel machen. Ließ nicht zu, dass er sie in den Armen hielt. Dass er irgendjemanden anrief. Dass er den Bastard zu Hause aufsuchte und ihm das bisschen, das er zwischen den Beinen hatte, zu Matsch schlug.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Ob die Polizei Franklin von der Arbeit abholte oder erst später von zu Hause ...!

Er musste noch im Büro anrufen und ihnen sagen, dass er heute nicht käme. Und in der Schule, um zu sehen, ob alles okay war, ob man ihnen die Erklärung, warum Mummy gestern Abend so aufgelöst war, abgekauft hatte ...

»Worauf wollte diese Frau hinaus!«, sagte sie plötzlich. »Diese Polizistin! Als sie fragte, ob ich immer so hübsch angezogen in die Arbeit gehe!« Sie steckte die Hände unter ihre Oberschenkel und begann, sich auf ihrem Sitz zu wiegen.

Schneeflocken begannen zu fallen, legten sich dick über Kühlerhaube und Windschutzscheibe. Es war ihm die Mühe nicht wert, die Scheibenwischer einzuschalten.

Drittes Kapitel