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Wenn ein Sechzehnjähriger verschwindet, ist das nicht automatisch ein Fall für die Mordkommission der Londoner Polizei. Da seine Vorgesetzten Detective Tom Thorne aber für eine Weile aus dem Weg haben wollen, findet sich dieser plötzlich in einem ganz neuen Wirkungsfeld wieder. Doch es dauert nicht lange, bis neben etlichen Ungereimtheiten auch die erste Leiche auftaucht – und der raubeinige Ermittler einmal mehr in einem tödlichen Rennen gegen die Zeit steht ...
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Seitenzahl: 567
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Die Geliebte des Mörders
Die Geliebte des Mörders
© Mark Billingham 2006
© Deutsch: Jentas A/S 2021
Serie: Tom Thorne
Titel: Die Geliebte des Mörders
Teil: 6
Originaltitel: Buried
Übersetzer: Isabella Bruckmaier
© Übersetzung : Jentas A/S
ISBN: 978-87-428-2028-5
–––
Für Sarah Lutyens
Ohne die es nicht eines gäbe.
Prolog
Man denkt an die Kinder.
An nichts anderes. In dieser Situation, in dieser Lage. Wenn man nicht weiß, ob es an der Wut oder den Schmerzen liegt, dass man sich krümmt und nicht hinausbrüllen kann, was man sagen möchte.
Man denkt nur an sie ...
»Warum, verdammt, warum, zum Teufel, erst jetzt? Warum erfahr ich das erst jetzt?«
»Es war einfach nie der richtige Zeitpunkt. Es schien am besten, damit zu warten.«
»Am besten?« Sie geht einen Schritt auf den Mann am anderen Ende ihres Wohnzimmers zu.
Instinktiv weicht er zurück, bis seine Unterschenkel gegen die Sofakante drücken und er beinahe nach hinten auf die liebevoll drapierten Kissen fällt. »Immer mit der Ruhe«, sagt er.
Der Raum riecht nach Potpourri. Der Teppich wurde erst vor kurzem gesaugt, die Streifen sind noch zu sehen. Und die alte Reiseuhr, die man zwischen dem Geschrei laut ticken hört, steht auf einem glänzend polierten Kaminsims.
»Was soll ich jetzt machen?«, sagt sie. »Das würde ich gerne wissen.«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Ich hab doch gar keine Wahl!«
»Wir müssen uns in Ruhe hinsetzen und darüber sprechen, was wir jetzt am besten machen ...«
»Allmächtiger. Da gehört was zu, einfach hier hereinzumarschieren und mir das zu erzählen. So nebenbei, wie etwas, das man vergessen hat. Hier herzukommen und mir das alles einfach so zu erzählen ... Scheiße!«
Wieder fängt sie an zu weinen, doch diesmal wischt sie sich die Tränen nicht aus dem Gesicht. Sie schließt die Augen und wartet, bis der Moment vorüber ist. Und die Wut zurückkehrt — nackt und grenzenlos.
»Sarah ...«
Ein paar Sekunden lang ist nur das Ticken und der Verkehrslärm in der Ferne und der blecherne Klang des Küchenradios zu hören, das sie leise gestellt hatte, als es an der Tür klingelte. Die Zentralheizung läuft auf vollen Touren, doch es fällt noch genug Sonne durch die Gardinen am Fenster.
»Es tut mir leid.«
»Was, hab ich das richtig verstanden?« Aber sie hat ihn sehr wohl gehört. Sie lächelt, lacht sogar. Sie zerknüllt den Stoff ihres Kleides in der Faust, die sie unwillkürlich ballt. Etwas in ihrem Bauch verkrampft sich, sie spürt ein Ziehen im Oberschenkel. »Ich muss jetzt in die Schule.«
»Den Kindern geht’s gut. Wirklich, meine Liebe. Denen geht’s wunderbar.«
Sie wiederholt seinen letzten Satz, wieder und wieder. Flüstert ihn. Diesmal kann sie die Tränen nicht zurückhalten oder den Schrei, der sich ganz tief in ihr aufbaut. Sie kann nichts dagegen tun. Auch nichts gegen den Drang, durch das Zimmer auf den Mann zuzustürzen und ihm ins Gesicht zu schlagen, es ihm zu zerkratzen.
Er hebt die Arme, um sich zu schützen. Er packt sie bei den Fingern, mit denen sie auf seine Augen einsticht. Er versucht, sie festzuhalten, sie wegzuführen.
»Wozu die Aufregung?«
»Gottverdammtes Arschloch.« Sie reißt den Kopf nach hinten.
»Ich will doch nur sagen ...« Ihre Spucke trifft ihn an der Oberlippe und läuft ihm in den Mund. Er brüllt ihr ins Gesicht. Ein Wort, das er selten benutzt.
Und er schubst sie ...
Und dann fällt sie nach hinten wie ein Sack, reißt den Mund auf, um zu schreien, und kracht durch die Glasplatte des Couchtisches.
Ein paar Sekunden lang ist das Ticken zu hören. Und der Verkehr. Und das Summen aus der Küche.
Der Mann tritt auf sie zu und erstarrt. Er erkennt auf einen Blick, was geschehen ist.
Der Rücken tut ihr weh, und der Knöchel, der gegen die Tischkante stieß, als sie stürzte. Sie versucht, sich aufzusetzen, aber ihr Kopf ist plötzlich so schwer wie eine Abrissbirne. Sie röchelt, reibt mit den Schultern die Glassplitter in den Teppich unter ihr. Nach Luft ringend liegt sie auf den blitzenden Scherben und Splittern. Sie erkennt einen Song aus dem Radio und spürt im gleichen Moment etwas Warmes und Nasses am Hinterkopf. Sie spürt es vom Hals über den Nacken in den Pulli fließen.
Scherbe ...
Ein, zwei Sekunden denkt sie über dieses Wort nach. Wie dumm dieses Wort klingt, wenn man es sich wieder und wieder sagt. Und über ihr Pech, ihr Scheißpech. Muss eine Arterie erwischt haben oder zwei. Zwar hört sie ihren Namen, hört die Verzweiflung, die Panik in der Stimme, aber die Kraft weicht bereits aus ihr, und sie konzentriert sich mit der ihr noch verbleibenden Kraft auf die Gesichter ihrer Kinder.
Auf nichts anderes.
Als das Leben aus ihr strömt — schnell und rot über die Rauchglasscherben ist ihr letzter klarer Gedanke einfach und zärtlich und voller Hass.
Wenn er meine Kinder angefasst hat, bring ich ihn um.
Erster Teil
Die Faust im Nacken
Luke
»Ich glaub, ich möchte dir eigentlich nur sagen, dass du dir keine Sorgen machen sollst. Okay, Mum? Das musst du wirklich nicht. Dabei sitz ich hier und weiß genau, dass es überhaupt nichts bringt, das zu sagen. Du hast dir immer über irgendwas Sorgen gemacht. Juliet und ich meinen, dass du dir wahrscheinlich komisch oder schlecht vorkommen würdest, wenn du dir mal keinen Kopf machst. Dass du dann das Gefühl hättest, mit dir stimmt was nicht. Wahrscheinlich ständest du vollkommen neben dir. Als wärst du ganz sicher, du hättest was Wichtiges vergessen oder könntest deine Schlüssel einfach nicht finden. Wenn du dir keine Sorgen machen würdest, würden wir uns Sorgen machen, dass du dir keine machst!
Aber es ist okay. Mir geht’s ganz gut. Sogar besser als ›ganz gut‹. Nicht dass das hier ein Fünf-Sterne-Hotel oder so was ist, aber das Essen könnte um einiges schlechter sein, und sie sind ziemlich nett zu mir. Und es ist nur das zweitschlimmste Bett, in dem ich je geschlafen habe. Weißt du noch, als wir in dieser beschissenen Pension in Eastbourne waren, wo Juliet ihr Hockey-Turnier hatte? Das Bett war echt die Härte, als ob man auf Steinen liegt. Komischerweise kann ich sogar schlafen.
Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Was ich noch sagen sollte ...
Außer ... Könntet ihr mir vielleicht die Comedyshows aufnehmen, die ich mir immer anschaue. Und vermietet mein Zimmer nicht gleich weiter. Und bitte sagt allen in der Schule, sie sollen sich nicht fertigmachen wegen mir. Ja? Ich bekomm ordentlich zu essen, kann einigermaßen schlafen, und mein Humor ist mir auch noch nicht flöten gegangen. Also, Mum, echt kein Grund, dich so aufzuregen. Mir geht’s gut. Ach ja, wenn das alles vorbei ist, könnten wir dann noch mal über das PS2-Spiel reden, das ich schon immer haben wollte? Man kann ja mal fragen ...
Es gibt noch eine Menge zu erzählen, aber ich mach mal lieber nicht zu lange, und du weißt ja eh, was ich meine, oder, Mum? Du weißt, was ich sagen will, ja?
Also, das wär’s dann ...«
Der Junge blickt weg von der Kamera, zur Seite. Ein Mann mit einer Spritze tritt ins Bild. Der Junge setzt sich auf. Er verkrampft, als der Mann ihm in den letzten Sekunden der Aufnahme die Tüte über den Kopf zieht.
Dienstag
Erstes Kapitel
Natürlich fiel ab und zu ein Witz. Der Humor war meist staubtrocken, bisweilen geradezu schwarz. Der Situation angemessen. Trotzdem hatte in letzter Zeit nicht gerade ein Witz den anderen gejagt. Und Tom Thorne hatte schon gar keiner gegolten.
Doch das hier war nun wirklich zum Lachen.
»Jesmond will mich sprechen?«, fragte er.
Russell Brigstocke lehnte sich in seinem Stuhl zurück und genoss die Überraschung, die er mit seiner schockierenden Ankündigung angerichtet hatte. Auf dieser Welt war nichts sicher. Der Metropolitan Police Service unterlag einem steten Wandel. Doch so wenig man auch für gegeben hinnehmen konnte, so sicher blieb eine Konstante — das kaum als harmonisch zu bezeichnende Verhältnis zwischen DI Tom Thorne und dem Chief Superintendent der Area West Murder Squad. »Er bestand darauf.«
»Anscheinend wird ihm der Druck zuviel«, meinte Thorne. »Er dreht langsam durch.«
Nun lag der Ball in Brigstockes Feld. »Warum muss ich plötzlich an Splitter und Balken denken?«
»Keine Ahnung. Vielleicht haben Sie einen Holztick?«
»Sie liegen mir ständig damit in den Ohren, wieder an einem Fall zu arbeiten. Also ...«
»Und mit verdammt gutem Grund.«
Seufzend spielte Brigstocke mit seiner dicken, schwarzen Brille.
Es war warm im Büro. Der Frühling machte sich bereits bemerkbar, aber die Heizkörper liefen noch auf vollen Touren, als wäre es Dezember.
Thorne stand auf und zog seine braune Lederjacke aus. »Kommen Sie, Russell, Sie wissen ganz genau, was Sache ist. Ich habe seit beinah sechs Monaten an keinem heißen Fall mehr gearbeitet.«
Sechs Monate war es her, seit er undercover in den Straßen Londons ermittelt und versucht hatte, den Mann zu fassen, der drei Obdachlose totgetreten hatte. Sechs Monate hatte er seither damit verbracht, häuslichen Gewaltdelikten nachzugehen, Beweisketten auf ihre Schlüssigkeit zu überprüfen und Prozessunterlagen zu kontrollieren. Sechs Monate, die man ihn aus der Schusslinie gehalten hatte.
»Der Fall ist heiß, sehr heiß«, erklärte Brigstocke.
Thorne setzte sich wieder und wartete auf nähere Erläuterungen des Detective Inspector.
»Es handelt sich um eine Entführung ...« Brigstocke hob die Hand, als Thorne den Kopf schüttelte, um seinen Protest abzuwehren. »Ein Sechzehnjähriger, wurde vor seiner Schule in Nordlondon entführt. Vor drei Tagen.«
Aus dem Kopfschütteln wurde ein Nicken. »Jesmond will gar nicht mich, stimmt’s? Es geht überhaupt nicht darum, was ich kann oder worin ich gut bin. Er hat nur um Unterstützung für die Kidnap Unit gebeten. Also gibt er den guten Teamplayer und räumt mich aus dem Weg. Damit schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe.«
Die welken Blätter der Grünlilie auf Brigstockes Schreibtisch verdeckten ein Foto seiner Kinder. Er riss eine Handvoll dürrer Blätter und Stängel ab und zerrieb sie zwischen den Händen. »Sie sind stinksauer, und ich weiß, dass Sie guten Grund dazu haben ...«
»Einen verdammt guten Grund. Es geht mir inzwischen schon viel besser, das wissen Sie. Ich ... bin der Sache gewachsen.«
»Sicher. Aber ich dachte, Sie wären froh darüber, ›aus dem Weg‹ zu sein, wie Sie das nennen, bis die Entscheidung durch ist, dass Sie im Team wieder eine aktivere Rolle übernehmen. Und Sie wären nicht der Einzige. Holland soll auch aushelfen ...«
Thorne starrte zum Fenster hinaus, über das Peel Centre hinweg nach Hendon, über das graue Band der North Circular und darüber hinaus. Er hatte schon hübschere Ausblicke gesehen, allerdings nicht in letzter Zeit.
»Sechzehn?«
»Er heißt Luke Mullen.«
»Der Junge wurde also am ... Freitag entführt, ja? Was ist in den letzten drei Tagen passiert?«
»Alles Weitere erfahren Sie bei Scotland Yard.« Brigstocke sah auf das Blatt auf seinem Schreibtisch. »Ihr Ansprechpartner in der Kidnap Unit ist DI Porter. Louise Porter.«
Thorne wusste, dass Brigstocke auf seiner Seite war. Dass er zwischen der Loyalität zu seinem Team und der Verantwortung gegenüber den Bonzen da oben hin und her gerissen war. Heutzutage war jeder in seiner Position zehn Prozent Bulle und neunzig Prozent Politiker. Viele in Thornes Rang arbeiteten genauso. Und Thorne würde sich mit Händen und Füßen wehren, so zu enden ...
»Tom?«
Brigstocke hatte das Richtige gesagt. Das Alter des Jungen allein genügte schon, um Thornes Interesse zu wecken. Die Opfer derjenigen, die es auf sexuelle Vergehen abgesehen hatten, waren in der Regel um einiges jünger. Nicht, dass nicht auch ältere Kinder dafür in Frage kamen, aber derartiger Missbrauch fand meist innerhalb der Institutionen oder, am tragischsten überhaupt, innerhalb der Familien statt. Dass ein Sechzehnjähriger mitten auf der Straße entführt wurde, war ungewöhnlich.
»Wenn Trevor Jesmond seine Hände im Spiel hat, dann heißt das, es gibt Druck«, sagte Thorne. Wenn ein Schulterzucken und ein schiefes Lächeln als Zeichen von Enthusiasmus gelten dürfen, dann war er Feuer und Flamme. »Ich glaube, im Moment könnte mir etwas Druck nicht schaden.«
»Sie haben noch nicht alles gehört.«
»Legen Sie los.«
Also klärte Brigstocke ihn auf. Und als er fertig war und Thorne sich erhob, um zu gehen, sah er ein letztes Mal aus dem Fenster auf die braunen, schwarzen und schmutzigweißen Gebäude gegenüber. Büroblocks und Lagerhäuser, mit dunklen Wasserpfützen auf den Flachdächern. Sie sahen aus wie die Zähne im Mund eines alten Mannes.
Bevor das Auto die Schranken am Ausgang des Parkplatzes erreicht hatte, hatte Thorne bereits eine Bobby-Bare-CD in den CD-Spieler geschoben. Ein Blick auf Hollands Gesicht genügte, und er holte sie wieder heraus. »Ich sollte darauf achten, immer ein Simply-Red-Album im Wagen zu haben«, meinte Thorne, »zur Schonung Ihrer Geschmacksnerven.«
»Ich mag Simply Red nicht.«
»Dann irgendetwas anderes.«
Holland deutete auf die CD-Anzeige im Armaturenbrett. »Ein paar Sachen sind ja in Ordnung. Nur dieses Gitarrengewimmer ...«
Thorne fuhr auf die Aerodrome Road und beschleunigte Richtung Colindale-Unterführung. Sobald sie auf der A5 waren, konnten sie nach Süden durchfahren — durch Cricklewood, Kilburn, hinein in die Stadt.
Holland gab sich mit seiner Kritik an Thornes Musikgeschmack noch nicht zufrieden, er musste seine Häme auch noch über das Auto ergießen. Der gelbe BMW — ein 1973er Drei-Liter-CS — erfüllte Thorne mit Stolz und Freude, doch für DS Dave Holland war er kaum mehr als ein willkommener Anlass für endlose Witze über die »alte Klapperkiste«.
Doch ausnahmsweise biss Thorne diesmal nicht an. Seine Laune konnte kaum noch übler werden. »Der Vater des Jungen war früher bei der Polizei«, erklärte er. Er hupte, als ein Motorroller vor ihm einscherte. Als er weitersprach, spuckte er die Worte aus, als handle es sich hierbei um etwas absolut Widerliches. »Ex-Detective Chief Superintendent Anthony Mullen.«
Holland trug seine dunkelblonden Haare ungewöhnlich lang. Er strich sie sich aus der Stirn. »Und?«
»Und das heißt, hier wäscht eine Hand die andere. Seine alten Kumpels sind in der Pflicht und tun ihm einen Gefallen. Und bevor wir uns umschauen, werden wir in eine andere Einheit versetzt.«
»Andererseits gab es nichts Besseres zu tun«, warf Holland ein.
Thorne warf ihm einen kurzen Blick zu, der jedoch seinen Standpunkt deutlich machte.
»Für uns beide, mein ich. Im Moment ist nicht gerade viel los.«
»Richtig. Im Moment. Aber man weiß nie, wann was Großes reinkommt.«
»Klingt ja, als ob Sie darauf warteten.«
»Wie bitte?«
»Als ob Sie Angst hätten, was zu verpassen ...«
Thorne sagte nichts darauf. Er sah in den Seitenspiegel, blinkte und wartete, bis er die Spur wechseln konnte.
Die nächsten Minuten sprach keiner von beiden. Regen prasselte auf die Scheiben, durch die man inzwischen nicht mehr Kilburn, sondern das wesentlich feinere Maida Vale sah.
»Hat der DCI noch mehr rausgerückt?«, fragte Holland.
Thorne schüttelte den Kopf. »Der weiß nicht mehr als wir. Den Rest erfahren wir, wenn wir dort sind.«
»Hatten Sie schon mal mit der SO7 zu tun?«
Wie viele Polizeibeamte hatte sich Holland noch nicht daran gewöhnt, dass die SO-Einheiten offiziell in SCD-Einheiten umbenannt worden waren, nachdem sie nun Teil des sogenannten Specialist Crime Directorate waren. Die meisten verwendeten noch immer die alten Abkürzungen. Schließlich war klar, dass es nicht lange dauern würde, und die Bonzen würden den Namen erneut ändern, wenn ihnen langweilig wurde. SO7 war die Abteilung für Specialist Operations. Der Aufgabenbereich ihrer Einheiten umfasste alles von Auftragsmord bis Drogenhandel. Zu diesen OCUs gehörten neben der Kidnap Unit die berühmt-berüchtigte schnelle Einsatztruppe Flying Squad, das für Geiselnahme und Erpressung zuständige Hostage and Extortion Team sowie das Projects Team, mit dem Thorne letztes Jahr an der Mafiasache zusammengearbeitet hatte, die so übel endete.
»Gott sei Dank nicht mit der Kidnap Unit. Das sind Überflieger, die wollen mit Leuten wie uns nichts zu tun haben. Die tun so geheimnisvoll.«
»Es geht wahrscheinlich nicht ganz ohne Geheimniskrämerei, wenn man berücksichtigt, was sie tun. Sie müssen wohl etwas diskreter vorgehen als wir anderen.«
Thorne schien nicht überzeugt. »Sie finden sich super.« Er beugte sich zum Radio und schaltete es an. Er stellte einen Sportsender ein.
»Dieser Mullen kennt also Jesmond.«
»Seit Jahren.«
»Gleich alt?«
»Ich glaube, Mullen ist ein paar Jahre älter«, sagte Thorne. »Sie waren beide in einer alten AMIP-Einheit südlich der Themse. Der DCI glaubt, dass Mullen Jesmond den Weg geebnet hat. Mullen hat Jesmond den Posten verschafft.«
»Okay ...«
»Erinnern Sie mich daran, dass ich dem Arsch eine verpasse, ja?«
Holland grinste unangenehm berührt.
»Was?«
»Jemand hat seinen Sohn gekidnappt«, sagte Holland.
Auf dem letzten Stück der Edgware Road, kurz vor Marble Arch, staute sich der Verkehr. Thorne wurde immer gereizter. Wenn die Staugebühr, die man den Autofahrern in der Londoner City neuerdings auferlegte, irgendeinen Unterschied machte, dann nur im Geldbeutel. Im Radio sprachen sie über das Spiel der Spurs morgen Abend. Der Experte im Studio meinte, sie seien die Favoriten und würden Fulham sicher die drei Punkte abnehmen, nachdem sie bereits dreimal in Folge gewonnen hatten.
»Das ist der Scheißtodesstoß«, sagte Thorne.
Holland war offensichtlich noch bei der Bemerkung von vorhin. »Ich glaube, man sieht das anders, wenn man Kinder hat.«
Thorne knurrte.
»Wenn jemand anderem etwas zustößt ...«
»Sie halten mich für gefühllos?«, fragte Thorne. »Weil ich das gesagt habe?«
»Na ja, schon ein wenig.«
»Falls es wirklich gefühllos war, dann war das göttliche Vergeltung.« Er musterte Holland aus den Augenwinkeln. Diesmal war es kein halbherziges Lächeln, aber es schien nicht so locker zu kommen wie früher.
Holland war nie so frisch und jung und grün hinter den Ohren gewesen, wie Thorne ihn in Erinnerung hatte. Aber etwas mehr Enthusiasmus hatte er schon an den Tag gelegt, als er vor sechs Jahren als fünfundzwanzigjähriger DC Thornes Team zugewiesen worden war. Und Überzeugung. Natürlich hatten er und seine Freundin seither einiges durchgemacht: Da war die Affäre mit einer Kollegin gewesen, die später in Ausübung ihres Dienstes ermordet wurde; dann die Geburt seiner Tochter, die in diesem Jahr zwei wurde.
Und es hatte seither einige Tote gegeben.
Eine immer größer werdende Galerie von Menschen, die man erst kennenlernt, nachdem ihnen das Leben genommen wurde. Menschen, deren dunkelste und intimste Geheimnisse einem vielleicht enthüllt wurden, doch deren Stimme man nie hören würde, die einem nie ihre Gedanken anvertrauen würden. Eine Ausstellung der Toten. Und daneben eine der lebenden Mörder. Und jener, die zurückblieben, die sich zurechtfinden mussten in einem zerstörten Leben.
Es war nicht so, dass Thorne und Holland und die anderen, die mit diesen Dingen zu tun hatten, von Gewalt und Verlusten bestimmt wurden. Dass sie damit zu Bett gingen und damit auf standen. Aber sie waren auch nicht immun dagegen. Letzten Endes änderte sich dadurch alles.
Die Überzeugung verlor ihr Strahlen ...
»Wie läuft’s denn zu Hause, Dave?«
Ein, zwei Sekunden lang wirkte Holland überrascht.
Dann erfreut und dann wieder verschlossen. Zumindest etwas. »Ganz gut.«
»Chloe muss schon groß sein.«
Holland nickte, schien wieder lockerer. »Sie verändert sich ständig und entdeckt andauernd Neues, verstehen Sie. Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, macht sie was anderes. Im Augenblick ist sie ganz wild auf Musik, singt alles mit, was sie hört.«
»Aber doch nichts mit Gitarrengewimmer.«
»Ich hab das Gefühl, ich verpasse das alles, wenn ich das hier mache ...«
Thorne vermutete, dass es wenig Sinn machte, sich nach Hollands Freundin zu erkundigen. Sophie war nicht gerade Thornes größter Fan. Ihm war klar, dass sein Name in Hollands und Sophies kleiner Wohnung in Elephant & Castle wohl eher gebrüllt als gesagt wurde. Wahrscheinlich war er sogar der Grund für die meisten Streitereien.
Auf der Park Lane beschleunigte der BMW endlich wieder auf 50. Von hier würden sie bis zur Victoria Station fahren, dann rüber zu St. James’ Cathedral und Scotland Yard.
Holland wandte sich zu Thorne, als sie an der Hyde Park Corner langsamer wurden. »Ach ja, ich soll Ihnen einen schönen Gruß von Sophie bestellen.«
Thorne nickte und fädelte sich in den Kreisverkehr ein.
Scotland Yard war nicht gerade sein Lieblingsort.
Er hatte im letzten Jahr hier ein paar schreckliche Wochen verbracht, vielleicht die furchtbarsten seines Lebens. Als er damals — wie man es so schön nannte — aus seinem Team »freigestellt« worden war. Sie hatten ihm vorgeschlagen, die freie Zeit doch zum Gärtnern zu nutzen. Thorne wusste genau, dass er nicht ganz er selbst war, dass er einfach nicht über den Tod seines Vaters hinwegkam. Aber dies aus dem Mund von jemandem wie Trevor Jesmond zu hören, war etwas anderes. Sich anhören zu müssen, man sei »zu nichts zu gebrauchen«, und wie ein benutztes Taschentuch weggeworfen zu werden. Erst der Undercoverjob hatte ihm dankenswerterweise einen Ausweg geboten. Und die Wochen, die er auf der Straße schlief, waren um Längen besser gewesen als die, die er in einer fensterlosen Besenkammer im New Scotland Yard geschmort hatte.
Als sie auf den Eingang zuliefen, warf Thorne einer Touristengruppe, die sich gegenseitig vor dem berühmten sich drehenden Wahrzeichen fotografierten, einen finsteren Blick zu.
»Was haben Sie gemacht, als Sie hier waren?«, wollte Holland wissen.
Thorne holte seinen Polizeiausweis hervor und zeigte ihn einem der diensthabenden Beamten an der Tür. »Ich hab versucht herauszufinden, wie viele Fläschchen Tipp-Ex eine tödliche Dosis abgeben ...«
Kidnapping and Special Investigation war eine von mehreren SO-Einheiten im Central 3000 — einem riesigen Großraumbüro, das sich über den halben fünften Stock erstreckte. Jede Einheit hatte ihren eigenen, farbcodierten Bereich, der durch eine rechteckige, von der niedrigen Decke hängende Fahne gekennzeichnet war. Die Fahne der Tactical Firearms Unit war schwarz, die der Surveillance Unit grün, und die der Kidnap Unit war rot. Andere Fahnen kündeten von der Anwesenheit der Technical Support sowie der Intelligence Unit, die beide über einen gigantischen Pool von Fernsehbildschirmen verfügten. Damit konnten sie sich in jede Video-Überwachungskamera im Großraum London einschalten oder live die Aufnahmen der Polizeihubschrauber abrufen.
Thorne und Holland sahen sich um. »Und wir haben uns gefragt, warum für uns kein neuer Wasserkocher drin ist«, sagte Holland.
Eine kleine, dunkelhaarige Frau erhob sich hinter ihrem Schreibtisch im roten Bereich und stellte sich als DI Louise Porter vor. Holland brachte seinen Wasserkocherwitz an, nachdem sie sich vorgestellt hatten. Er grinste zufrieden, als sie darüber lachte. Thorne war beeindruckt, wie viel Mühe sie sich gab.
Porter erklärte ihnen kurz die Zusammensetzung des Teams — eines von dreien in der Einheit. Die Struktur der Einheit entsprach mehr oder weniger dem Standard. Sie war eine von zwei DIs an der Spitze, dazu kam etwa ein Dutzend Beamte. Sie alle unterstanden einem Detective Chief Inspector. »DCI Hignett bat mich, ihn zu entschuldigen, weil er Sie nicht persönlich begrüßt«, erklärte Porter. »Er wird das nachholen. Und natürlich sind es jetzt drei DIs.« Sie nickte Thorne zu. »Danke, dass Sie uns aushelfen.«
»Keine Ursache«, sagte Thorne.
»Nicht dass Sie die Wahl gehabt hätten, richtig?«
»Absolut.«
»Tut mir leid, wegen der Sache. Aber wir können immer Hilfe gebrauchen.« Sie sah zu Boden. »Ist alles in Ordnung?«
Thorne hörte auf, von einem Bein auf das andere zu treten. Anscheinend hatte er vor Schmerz das Gesicht verzogen. »Probleme mit dem Rücken«, erklärte er. »Muss mir irgendwas verrissen haben.« Die Wahrheit war, dass sein Rücken ihm bereits seit einiger Zeit ziemlich wehtat. Besonders, wenn er länger im Auto oder — was Gott verhüten möge — hinter dem Schreibtisch saß, waren die Schmerzen im linken Bein kaum auszuhalten. Anfangs hatte er gedacht, dass irgendwas mit den Muskeln sei — vielleicht ein Andenken an die Nächte, die er unter freiem Himmel geschlafen hatte. Mittlerweile vermutete er jedoch, dass etwas anderes, Schwerwiegenderes dahintersteckte. Sicher würde sich das mit der Zeit wieder geben, und bis dahin warf er eben Schmerzmittel ein.
Porter stellte Thorne und Holland den anwesenden Teammitgliedern vor. Die meisten schienen in Ordnung zu sein. Und alle machten einen beschäftigten Eindruck.
»Versteht sich von selbst, die meisten sind unterwegs«, fuhr Porter fort. »Gehen dem nach, was wir lachhafterweise als ›Spur‹ bezeichnen.«
Holland lehnte sich an einem leeren Schreibtisch an. »Immerhin haben Sie so was.«
»Eigentlich nur eine. Ein paar Zeugen sahen Luke Mullen an dem Nachmittag, an dem er verschwand, in ein Auto steigen.«
»Autotyp und Kennzeichen?«, fragte Thorne.
»Unvollständig. Blau oder schwarz. Und es könnte ein Passat gewesen sein. Die Aussagen stammen von den anderen Kindern an der Schule. Die Schule war gerade vorbei, und sie waren zu sehr damit beschäftigt, über Musik oder Skateboards zu reden, oder was immer Kinder heutzutage so treiben.«
Holland grinste. »Dann haben Sie also selber keine Kinder?«
»Er stieg in ein Auto«, warf Thorne ein. »Es sah also nicht so aus, als habe man ihn dazu gezwungen?«
»Er stieg in das Auto zu einer jungen Frau. Attraktiv. Ich glaube, die anderen Jungs waren zu sehr damit beschäftigt, sie mit den Augen zu verschlingen, als dass sie noch was von dem Auto mitbekommen hätten.«
»Vielleicht hatte Luke eine neue Freundin«, meinte Holland.
»Zumindest denken das einige von den Jungs. Sie hatten ihn bereits früher mit ihr gesehen.«
»Was spricht dagegen?«, fragte Thorne. »Er ist ein sechzehnjähriger Kerl. Vielleicht steckt er einfach nur in einem Hotel mit einer attraktiven, älteren Frau und stößt sich die Hörner ab.«
»Das ist möglich.« Porter sammelte ein paar Sachen auf ihrem Schreibtisch ein und griff nach ihrer Handtasche, die über dem Stuhl hing. »Aber das war am letzten Freitag. Warum hat er sich nicht gemeldet?«
»Er hat wahrscheinlich Besseres zu tun.«
Porter legte den Kopf schief und nahm die Theorie zur Kenntnis, die sie offensichtlich längst fallen gelassen hatte. »Wer verabschiedet sich für ein längeres Wochenende mit seiner Geliebten und nimmt dazu nichts als einen Schulblazer und verschwitzte Sportsachen mit?« Sie beließ es dabei und ging wortlos an Thorne und Holland vorbei zur Tür, so dass die beiden nicht wussten, ob sie ihr folgen sollten.
Holland wartete, bis sie außer Hörweite war. »Eingebildet scheint sie ja nicht zu sein ...«
Draußen in der Lobby trat ein weiteres Teammitglied aus dem Aufzug. Porter stellte Thorne und Holland die Frau vor, bevor die drei in den Aufzug stiegen. Porter wechselte noch schnell ein paar Worte mit ihrer Kollegin, drückte auf eine Taste und sah zu Thorne, als sich die Türen schlossen. »Sie ist eine von zwei Familienbeauftragten, die sich in der Familie abwechseln, seit wir hinzugezogen wurden. Den anderen Kollegen lernen Sie kennen, wenn wir dort sind.«
»Okay.«
Porters Blick wanderte zu der blinkenden Ziffernabfolge über den Türen. Thorne fragte sich, ob sie wohl immer so nervös und unter Druck war.
»Ich möchte mich heute ein paar Stunden mit den Mullens unterhalten, wenn es geht. Die ersten Gespräche mit der Familie sind immer wichtig, das versteht sich von selbst.«
Es dauerte etwas, bis es Thorne dämmerte. »Die ersten Gespräche!«
Porter drehte sich zu ihm.
»Das versteh ich nicht ganz ...«
»Wir wurden erst gestern Nachmittag hinzugezogen«, sagte sie. »Die Entführung wurde nicht sofort gemeldet.«
Thorne fing Hollands Blick auf, der offensichtlich genauso verwirrt war. »Hat es eine Drohung gegeben? Wurde die Familie unter Druck gesetzt, die Polizei herauszuhalten?«
»Wer immer Luke entführt hat, hat die Familie bislang noch nicht kontaktiert.«
Der Aufzug kam unten an, und die Türen gingen auf, doch Thorne machte keine Anstalten, den Lift zu verlassen.
»Im Augenblick spricht so viel für Ihre Theorie wie für meine«, sagte Porter.
»Und die wäre?«
»Was soll das Herumgerate? Fest steht, Luke Mullen wurde am Freitagnachmittag entführt. Doch aus Gründen, die nur ihnen bekannt sind, beschlossen die Eltern, ein paar Tage zu warten, um damit an die Öffentlichkeit zu gehen.«
Conrad
Angenommen, du wärst ein Zwerg, okay?
Das heißt längst nicht, dass du nur auf Zwerge stehst. Dass es dich nicht anmacht, mit jemandem herumzuknutschen, bei dem du dich auf einen Stuhl stellen musst, um richtig ranzukommen. Einfach nur, um zu wissen, wie das so ist.
Ihm war absolut klar, dass er dazu eigentlich mit einer Frau zusammen sein müsste, die an der Kasse im Supermarkt sitzt und nachgemachte Burberryklamotten und Billigparfüm trägt. Als aber Amanda auftauchte mit ihren Prollausdrücken und ihren Alkopops, die sie in sich hineinschüttete, als gäbe es kein Morgen, war er hin und weg wie die Ratte am Abflussrohr. Klar, oder? Er hatte schon immer von einer schicken Tussi geträumt, und obwohl er in seinem tiefsten Inneren wusste, dass das für sie nur ein Abenteuer in Prollland war, lief es anfangs super.
In letzter Zeit aber hatte er das Gefühl, als ob etwas fehlte. Und damit war nicht nur der Sex gemeint, der nicht mehr ganz so war wie früher, was andererseits nach ein paar Monaten auch wieder normal war. Nein, es war mehr als das. Ihm erschien plötzlich alles so unwirklich. Sie konnte sich Mandy nennen und sich trashig anziehen, aber deshalb blieb sie doch eine »Amanda«, und er schaffte es nie in ihre Liga, was Herkunft oder Hirn anging. Nicht dass er dumm war, nein, das war es nicht. Er wusste schon, wo’s lang geht, zumindest meistens. Aber wenn es darauf ankam, etwas durchzuziehen, Kohle zu machen und das alles, dann gehörte er zu den Typen, die das machten, was die anderen ihnen sagten. Was völlig in Ordnung war, er kannte seine Grenzen. Und das zeigte, dass er nicht blöd war. Fand er.
Jetzt aber fing er an, an andere Frauen zu denken. An keine bestimmte, einfach an einen anderen Frauentyp. Seinen Typ. Seine Tagträume gingen mit ihm durch, sogar bei entscheidendem Kram wie der Frage, was man mit dem Jungen machen soll und so. Er sah sich dann zusammen mit Frauen, die schmuddlige BHs trugen und Klatschzeitschriften lasen. Er dachte an Frauen, die laut im Bett waren und ihn anständig behandelten und ihm nicht ständig erklärten, wohin mit den Händen. Anfangs hatte er deshalb Schuldgefühle, aber später sagte er sich, dass es ihr bestimmt genauso ging. Wahrscheinlich träumte sie, wenn sie im Bett lagen, von harten Burschen, die Giles oder Nigel hießen. Und vielleicht ging ihr sein Akzent genauso auf die Nerven wie ihm der ihre ...
Gut möglich, dass diese Sache mit dem Jungen daran schuld war. Zunächst hatte sich das nach schnellem Geld angehört, und es hatte nicht viel Überredung gebraucht. Aber, Kacke, es war viel stressiger, als einer alten Lusche eins überzuziehen oder einer Rentnerin so lange was vorzuquasseln, bis sie einen in ihre Wohnung ließ. Sie benahmen sich beide ein bisschen komisch. Gut möglich, dass er sich wieder wohler in seiner Haut fühlte, wenn das alles vorbei war und sie die Kohle in der Tasche hatten. Vielleicht könnten sie dann irgendwo hinfahren.
Aber klar, Mann. Es wär verdammt angebracht, dann wegzufahren. Und vielleicht würde er ja dann aufhören, ständig an diese anderen Mädchen zu denken ...
Als Amanda fünf Minuten später ins Zimmer kam, fürchtete er eine schreckliche Minute lang, sie könne seine Gedanken lesen. Dass es so offensichtlich sei wie der Halbsteife in seiner Hose, den er schnell mit dem Daily Star verdeckte. Es war aber alles cool. Sie fragte ihn, ob alles okay sei, und küsste ihn auf die Stirn, als er sie dasselbe fragte. Sie bediente sich bei seinen Zigaretten und sah nach, ob was Ordentliches im Fernsehen lief.
Dann setzte sie sich auf die Bettkante und redete darüber, was sie mit dem Jungen machen sollten.
Zweites Kapitel
»Er ist ja kein Baby mehr, oder?« Holland beugte sich vor und stützte sich an den beiden Kopfstützen ab. »Wahrscheinlich warteten sie einfach drauf, dass er wieder zu Hause aufkreuzt.«
»So haben sie es mehr oder weniger erklärt.«
»Es war vielleicht nicht das erste Mal.«
»Nein, das glaub ich nicht«, sagte Porter. Sie überholte mit dem Saab Turbo, der kein Polizeinummernschild hatte, einen silbernen Wagen und bedachte die Frau am Steuer, die lebhaft in ihr Handy plauderte, mit einem bösen Blick. »Aber wie gesagt, wir haben uns noch nicht so ausführlich mit den Eltern unterhalten. Hoffen wir, dass wir in den nächsten Stunden mehr erfahren.«
»Vorausgesetzt, wir kommen dort unbeschadet an.« Thorne saß etwas angespannt auf dem Beifahrersitz. Es beunruhigte ihn, dass Porter hinter dem Lenkrad genauso hektisch war wie im Büro. Ihre ständigen Blicke in den Rückspiegel hatten mehr mit dem Fall als mit der Fahrt und ihrer Sicherheit zu tun.
»Versteht sich von selbst, wenn es irgendeine Art von Drohung gegeben hätte, würden wir uns mit der Familie nicht zu Hause unterhalten. Wir würden uns fernhalten und nach einem Weg suchen, auf neutralem Gebiet mit ihnen zu sprechen.«
»Das ist sicher nicht immer einfach«, meinte Holland.
»Nein, das ist nicht immer einfach. Aber wenn man die
Familie zu Hause besuchen muss, gibt es dazu immer Mittel und Wege. Man muss nur etwas erfinderisch sein.«
»Wie, mit Verkleidungen und solchen Tricks?«
Thorne wandte sich zu Holland um und schnitt eine Grimasse. »Verkleidungen! Wie alt sind Sie denn, sechs?«
»»Genau«, sagte Porter. »Wir haben eine riesige Kostümkiste im Büro. Gasmänner- und Postbotenuniformen, alles da.« Wieder sah sie lange in den Rückspiegel. »Es spricht nichts dafür, dass ein Besuch bei den Mullens Luke zusätzlich in Gefahr bringt. Dennoch gilt es, bestimmte Vorsichtsmaßnahmen zu befolgen. Die Situation darf nicht außer Kontrolle geraten. Keine Polizisten in Uniform.« Wieder ein Blick in den Rückspiegel. »Und immer die Augen offen halten.«
Der Crashkurs in Ermittlungsmethoden bei Entführungen hatte vom Scotland-Yard-Parkplatz bis Arkley gedauert — eine grüne Vorstadtidylle in Hertfordshire, etwa zwanzig Kilometer nördlich vom Londoner Stadtzentrum. Ihnen war klar geworden, wie ungleich flexibel die Vorgehensweise dieser Einheit war und um wie viel schneller hier alles geschah als in anderen Einheiten. Zwar unterschieden sich Entführungen nicht allzu sehr von Mordfällen — wenn es so etwas wie einen »typischen« Fall überhaupt gab — , aber Thorne war dennoch überrascht über die große Bandbreite an Fällen. Obwohl ein Großteil der Entführungen einer Pressesperre unterlag, also nicht an die Öffentlichkeit gelangte, bestand kein Zweifel, dass es sich hier um eine Wachstumsindustrie handelte.
»Und eine relativ sichere Verdienstmöglichkeit«, sagte Porter. Sie erzählte ihnen, dass bei der Hälfte ihrer Fälle die ausländische Drogenmafia die Hände im Spiel hatte und dass es bei weniger als einem von fünf Fällen zu einer Verurteilung kam. »Die meisten Opfer sagen nie aus, diese undankbaren Dreckskerle. Letztes Jahr haben wir so einen alten Typen gerettet, den sie gefesselt und in einem Lagerhaus gefoltert hatten. Sie haben dem Mistkerl beide Ohren abgeschnitten, und trotzdem hat er sich geweigert auszusagen. Er hatte einfach Schiss, die anderen aus der Bande könnten es ihm heimzahlen.«
»Ist doch verständlich, dass er Angst hatte«, sagte Holland. »Er würde sie ja nicht kommen hören.«
Thorne seufzte und setzte sich anders hin. »Klingt nach einer Menge Überstunden.«
Porter brummte zustimmend. »Die schweren Jungs unter den Dealern werden ständig hochgenommen. Knastis, Russen, Albaner, was auch immer. Eine schnelle Möglichkeit, Geld zu machen oder an Stoff zu kommen — den Konkurrenten ordentlich einzuheizen. An Arbeit mangelt es uns wahrlich nicht, auch wenn die Mühlen bei unseren weniger gesetzestreuen Entführungsopfern vielleicht nicht ganz so schnell arbeiten.«
Thorne wusste genau, wovon sie sprach. Vor einem Jahr hatte er an so einem Fall gearbeitet. Während der Ermittlungen war sein Vater gestorben. Die Squad, und vor allem Thorne, hatten sich in einem blutigen Mafiakrieg verfangen. Er erklärte Porter, dass eine Bande in Menschenschmuggel verwickelt war und dass, obwohl nicht wenige aus der Bande umgebracht worden waren, niemand sich daran besonders zu stören schien. Sondern die meisten vertraten eher die Meinung, dass die Stadt dadurch gewonnen hätte.
»Damit schlagen wir uns auch ständig herum«, sagte Porter. »Wenn Menschen hier eingeschleust und anschließend für Sklavenarbeit missbraucht werden, sind sie letztlich Geiseln. Sie werden gegen ihren Willen festgehalten, und meistens werden ihre Familien zu Hause mehr oder weniger offen bedroht.« Sie bremste und parkte dreißig Meter von einer Einfahrt entfernt. »Das ist übrigens auch der Hauptgrund, warum die Leute bei unserer Unit Schlange stehen«, fuhr sie fort. »In diesem Jahr war ich bereits in China, der Türkei und der Ukraine. Immer Businessklasse, und die Meilen bekommen wir auch.«
Holland sog die Luft ein. »Ich bin mal nach Aberdeen gefahren, um einen Vergewaltiger zu interviewen ...«
Porter musterte einen Jaguar, der an ihnen vorbeifuhr, wartete ein, zwei Minuten, bis er nicht mehr zu sehen war, bevor sie langsam mit dem Saab anfuhr und in die Einfahrt einbog.
»So ein Fall ist also eher selten?«, fragte Thorne. »Dass Durchschnittsbürger gekidnappt werden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es kommt immer wieder mal vor, dass die Familie eines Bankangestellten entführt und festgehalten wird, bis der Safe offen ist. Aber das ist selten. In Spanien oder Italien gibt’s das vielleicht öfter, aber hier bei uns kommt das so gut wie nie vor. Gott sei Dank.«
»Und warum gibt es für Luke Mullen keine Lösegeldforderung? «
»Da bin ich überfragt.«
»Ich versteh immer noch nicht, warum das eine Entführung sein soll.«
»Muss es auch nicht. Es gibt andere Erklärungsmöglichkeiten.«
»Zum Beispiel, dass Luke freiwillig zu der Frau ins blaue Auto stieg?«
»Oder einfach abgehauen ist«, sagte Porter. »Aber Eltern geben nie gern zu, dass ihr kleiner Schatz zu so was fähig wäre.«
Holland öffnete den Gurt. »So wie Eltern ihre Kinder nie dumm oder hässlich finden.«
»Haben Sie Kinder?«
»Ich habe ein kleines Mädchen.« Holland grinste breit. »Sie ist umwerfend und sehr intelligent.«
»Vielleicht geht es hier überhaupt nicht um Geld«, sagte Thorne.
Porter dachte darüber nach, als sie den Motor abwürgte. »Auf alle Fälle ist die Sache ... ungewöhnlich.«
»Wer weiß ...« — Thorne öffnete die Tür und schwang die Beine hinaus. Er stöhnte auf vor Schmerzen, als er sich hochstemmte — »bei einer Lösegeldforderung hätten sich die Eltern vielleicht schneller ans Telefon bewegt.«
Holland stieg aus und trat zu Thorne. Sie sahen zu dem Haus im nachgemachten Tudorstil, in dem Tony Mullen mit seiner Frau lebte. »Ganz schön groß, die Hütte«, sagte er.
Porter sperrte den Wagen zu, und die drei gingen gemeinsam zum Eingang. »Und zur Zeit erscheint es ihnen wahrscheinlich noch einen Tick größer«, sagte sie.
Ein paar Minuten zuvor hatte Thorne die Erleichterung über Tony Mullens Gesicht huschen sehen. Doch nun, als er Thorne in einem unbequem aussehenden Sessel gegenübersaß, hatte sich bereits wieder ölige Blässe über sein Gesicht gelegt. Er sah aus wie ein Mann, der sich aufs Schlimmste gefasst machte.
Er war vor ihnen an der Haustür gewesen, hatte sie eindringlich gemustert, als wolle er ihrem Gang entnehmen, was sie ihm zu sagen hatten. Porter hatte leicht den Kopf geschüttelt, eine kaum wahrnehmbare Bewegung, aber sie hatte gereicht.
Mullen hatte tief Luft geholt und für ein, zwei Sekunden die Augen geschlossen. Da war so etwas wie ein Lächeln, als er sie wieder öffnete, als er seine Hand, die flach und weiß an den Türrahmen gepresst war, hob und sie ihnen — die Handfläche nach oben — entgegenstreckte.
»Das Herz rutscht einem in die Hose«, sagte er, »wenn das Telefon oder die Türglocke läutet. Vor allem, wenn ihr es seid. Als spüre man die Faust im Nacken. Verstehen Sie?«
Sie stellten sich einander an der Haustür vor.
»Trevor Jesmond sagte, er würde noch ein paar zusätzliche Leute aussuchen«, sagte Mullen. Er berührte Thorne am Arm. »Sagen Sie ihm, dass ich mich bedanke, ja?«
Thorne fragte sich, ob Jesmond Mullen gesagt hatte, was er wirklich über den Mann dachte, den er da für ihn ausgesucht hatte. Falls ja, dann war er wahrscheinlich nicht ganz ehrlich gewesen. Er wollte sicher nicht, dass sein alter Freund glaubte, er fertige ihn mit beschädigter Ware ab. Wahrscheinlich war es besser, das Thema nicht anzusprechen und die Stimmung damit nicht zu belasten. Solange dies möglich war.
Mullen hatte weniger graue Haare als er selbst, fand Thorne. Und obwohl die Sache nicht spurlos an ihm vorübergegangen war, sah er auch sonst noch ziemlich fit aus. »Also entweder sind Sie um einiges älter, als Sie aussehen, oder Sie sind ziemlich früh in den Ruhestand gegangen«, sagte er.
Mullen schien etwas vor den Kopf gestoßen, aber er klang nicht unfreundlich, als er antwortete: »Und beides geht nicht?«
»Ich hab’s zumindest vor«, sagte Porter und hängte ihre Jacke auf.
»Aber Sie haben recht, ich hab mich früh verabschiedet«, sagte Mullen. Er musterte Thorne von oben bis unten. »Wie alt sind Sie? Siebenundvierzig, achtundvierzig?«
Thorne verzog keine Miene. »Ich werde in ein paar Monaten fünfundvierzig.«
»Okay. Ich werde dieses Jahr fünfzig, und mir ist klar, ich würde um einiges älter aussehen, wenn ich in dem Job geblieben wäre. Sie wissen ja Bescheid. Ich hatte schon ganz vergessen, wie Maggie und die Kinder aussehen.«
Thorne nickte. In den letzten paar Jahren hatte es niemanden mehr gegeben, dessen Aussehen er hätte vergessen können, aber er wusste, was Mullen meinte.
»Ich schaffte es, mich ein bisschen zurückzuziehen, und dachte mir: Warum nicht? Ich wollte weg, und Maggie war auch ganz versessen darauf, dass ich aufhörte. Sie gewöhnte sich sogar daran, dass ich hier eine Weile ständig rumhing.«
Als habe sie nur auf ihr Stichwort gewartet, kam Maggie Mullen die Treppe herunter. Und ihr war jedes ihrer vermutlich gut fünfzig Jahre anzumerken. Aus den Falten waren tiefe Furchen geworden. Das frisch aufgetragene Makeup hatte nur wenig gegen die geschwollenen und rotgeränderten Augen ausgerichtet. »Ich hab mich noch kurz etwas hingelegt«, erklärte sie.
Es war Holland, der mit seiner Bemerkung verhinderte, dass eine längere Pause entstand. Mit einem kurzen Nicken zu Mullen griff er den Gesprächsfaden wieder auf. »Das sagen die Politiker immer.«
Mullen sah ihn an. »Wie bitte?«
»Wenn sie ihr Amt niederlegen. Egal, was der Grund dafür ist, sie sagen immer, sie möchten mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen.«
Sie standen verlegen herum, nicht als ob sie die Eltern eines entführten Kindes und die Polizisten wären, die damit betraut waren, dieses Kind wiederzufinden. Sondern als ob sie höflich darauf warteten, dass jemand auf tauche und verkündete, das Essen sei angerichtet.
Jetzt, im Wohnzimmer, war diese Steifheit noch immer zu spüren. Die Anordnung der Sitzgelegenheiten trug dazu das ihre bei. Das Zimmer war groß, und die Sofas und Sessel waren um einen rechteckigen Teppich im chinesischen Stil gruppiert. Thorne und Porter saßen auf einer cremefarbenen Ledercouch, und Mullen und seine Frau saßen mindestens drei Meter entfernt in unbequem wirkenden Sesseln, die wiederum ein gutes Stück auseinanderstanden. Von oben war Musik zu hören, und aus der Küche drang etwas Lärm. Holland kochte dort mit DC Kenny Parsons — dem diensthabenden Familienbeauftragten — Kaffee.
Thorne blickte durch die französischen Fenster in den Garten. Verglichen mit den briefmarkengroßen Grundstücken in London war er gigantisch. Er wandte sich wieder Mrs Mullen zu. »Ich kann verstehen, warum Sie hierhergezogen sind. Aber ich wär nicht wild darauf, den Rasen zu mähen.«
Tony Mullen antwortete. »Das Haus war eigentlich ein Kompromiss. Ich war dafür, die Zelte vollkommen abzubrechen und aufs Land zu ziehen, aber Maggie wollte nicht wirklich weg aus London. Hier hat man das Gefühl, man lebe auf dem Land, aber die High-Barnet-U-Bahn ist nur ein paar Minuten weg, und mit dem Zug sind es zwanzig Minuten bis King’s Cross.«
Thorne machte die richtigen Geräusche und dachte insgeheim: Zwischen hier und King’s Cross liegen Welten.
»Und die Schulen«, warf Maggie Mullen ein. »Wir zogen wegen der Schulen um.«
Durch dieses eine bedeutungsschwere Wort war der entsetzliche Grund für ihre Anwesenheit plötzlich im Raum, und der Smalltalk hatte sich ein für alle Mal erledigt.
Tony Mullen klatschte mit den Handflächen auf die Beine, was seine Frau zusammenzucken ließ. »Gut, Sie bringen keine schlechten Neuigkeiten, Dank sei Gott. Vermute ich richtig, dass Sie auch keine guten Nachrichten für uns haben?«
Porter rutschte vor zur Sofakante. »Wir tun, was wir können, aber ...«
»Bitte!« Mullen hob die Hand. »Ich bin wirklich nicht interessiert an einer Trostrede. Vergessen Sie nicht, ich kenne das Spiel. Also verschwenden wir keine Zeit mit so was. In Ordnung, Louise.«
Thorne entging nicht, dass dieser vertrauliche Ton bei Porter nicht gut ankam, aber wahrscheinlich war sie nicht der Typ, der deshalb gleich hochging. Zumindest nicht gleich beim ersten Mal. Stattdessen sah sie zu Mullens Frau und sagte leise zu ihr: »Das war keine Rede.«
»Ich bin der Neue«, sagte Thorne. »Verzeihen Sie daher bitte, wenn wir das eine oder andere zum wiederholten Male durchkauen, aber mir war nicht klar, warum die Polizei erst so spät benachrichtigt wurde.«
Mullen erwiderte seinen Blick. Eine widerstrebende Aufforderung für Thorne, etwas ins Detail zu gehen.
»Luke verschwand am Freitag nach der Schule, aber der erste Anruf bei der Polizei ging gestern Morgen kurz nach neun Uhr ein. Warum haben Sie so lange gewartet?«
»Das haben wir doch schon alles erklärt«, sagte Mullen. Sein gereizter Ton gab einen leichten Midlands-Akzent preis. Thorne erinnerte sich, dass Porter erwähnt hatte, Mullen stamme ursprünglich aus Wolverhampton. »Wir dachten einfach, Luke sei irgendwo unterwegs.«
»Aber doch nur am Freitagabend?«
»Er hätte in einen Club gehen und dann bei einem Freund übernachten können. Freitags sehen wir das nicht so eng.«
»Das war ich.« Maggie Mullen räusperte sich. »Ich hab gedacht, wir müssten uns keine Sorgen machen. Ich habe Tony überredet, einfach zu warten, bis Luke nach Hause kommt.«
»Warum haben Sie das gestern nicht erwähnt?«, fragte Porter.
»Ist das wirklich wichtig?«, fragte sie zurück.
»Das nicht, aber ...«
»Wir warteten. Nur das ist wichtig. Wir warteten, als wir längst nicht mehr hätten warten sollen. Und damit muss ich leben.«
»Es hatte Streit gegeben«, sagte Mullen.
Thorne beobachtete Maggie Mullen genau. Sie ließ den Kopf hängen und starrte auf ihre Füße.
Mullen richtete sich in seinem Sessel auf und fuhr fort. »Luke und ich hatten uns am Morgen gestritten. Wir haben uns angebrüllt und beschimpft, das Übliche.«
»Worum ging es bei dem Streit?«, fragte Thorne.
»Um die Schule«, antwortete Mullen. »Wahrscheinlich haben wir ihn etwas unter Druck gesetzt. Ich habe ihn unter Druck gesetzt.«
»Luke und sein Dad vertragen sich eigentlich wunderbar.« Maggie Mullen sah zu Porter und redete, als befinde sich ihr Mann nicht mehr im Zimmer. »Wirklich wunderbar. Es ist nicht normal, dass sie sich derart in die Haare kriegen.«
Porter lächelte. »Wenn ich daran denke, wie ich mich mit meinen Eltern gezofft habe ...«
»Manchmal hab ich das Gefühl, Luke steht seinem Dad näher als mir, verstehen Sie?«
»Sei nicht albern«, sagte Mullen.
»Ich werde ehrlich gesagt richtiggehend eifersüchtig.«
»Komm, Schatz ...«
Maggie Mullen starrte vor sich hin.
Thorne folgte ihrem Blick zu dem aufwändig gearbeiteten Kamin, dem künstlichen Feuer darin und dem fast lebensgroßen Keramikgepard, der auf der Seite saß. »War dieser Streit wirklich ernst?«, fragte er. »So ernst, dass Luke ohne ein Wort verschwindet?«
»Niemals«, sagte Mullen mit Nachdruck und wiederholte es, um ja keinen Zweifel offenzulassen.
»Mrs Mullen?«
Ein paar Sekunden schien der Drum and Bass von oben lauter zu werden. Den Blick noch immer auf den Kamin gerichtet, schüttelte Maggie Mullen den Kopf.
»Ob Lukes Verschwinden nun mit diesem Streit zusammenhängt oder nicht, es kann dafür noch immer eine ganz einfache Erklärung geben.« Porter wartete, bis alle Augen auf sie gerichtet waren, bevor sie fortfuhr. »Diese Möglichkeit müssen wir zumindest in Betracht ziehen.«
Maggie Mullen stand auf und strich sich den Rock hinten glatt. »Diese Möglichkeit ziehe ich nur zu gern in Betracht, meine Liebe. Ich bete, dass sie zutrifft.« Sie trat zu dem Kamin und griff nach einem Päckchen Silk Cut auf dem Sims.
»Versteht sich von selbst, dass wir alle seine Freunde überprüft haben«, sagte Porter. »Aufgrund der Tatsache, dass bislang keine wie auch immer geartete Kontaktaufnahme seitens möglicher Entführer Lukes vorliegt, müssen wir auch in Betracht ziehen, dass er einfach mit jemandem verschwunden ist.«
»Meinen Sie diese Frau?«, fragte Mullen.
»Er wurde mit »dieser Frau‹ bei anderen Gelegenheiten gesehen.« Thorne stand auf und trat hinter das Sofa. Der Schmerz im Bein ließ sofort nach. »Wenn Luke sich mit einer älteren Frau trifft, hätte er es Ihnen sagen sollen.«
Die Mutter des Jungen war offensichtlich nicht überzeugt. »Ich kann es mir nicht vorstellen.« Sie zog sich umständlich eine Zigarette aus der Packung. »Ich kann mir Luke noch nicht mal mit einem Mädchen seines Alters befreundet vorstellen, geschweige denn mit einer älteren Frau. Er hat Mädchen gegenüber Hemmungen. Er ist ein bisschen schüchtern.«
»Komm, Maggie«, sagte Mullen. »Da könnte alles Mögliche laufen. Ich rede jetzt nicht von Drogen oder so was, aber die Kids haben nun mal Geheimnisse, oder?«
»Da hat Ihr Mann recht«, sagte Thorne. »Wie gut kennen Eltern ihre heranwachsenden Kinder?«
Maggie Mullen zündete sich die Zigarette an und zog daran, als fülle sie sich die Lungen mit reinstem Sauerstoff. »Das frage ich mich ständig«, sagte sie. »Seit ich mich damit herumquäle, ob ich meinen Sohn jemals wieder lebend sehe.«
In der Küche öffnete DC Kenny Parsons den nächsten Küchenschrank und sah hinein. »Vielleicht sollten wir es einfach lassen.«
Holland saß am Tisch und blätterte im Daily Express. »Nur nicht nervös werden, Kumpel, als Familienbeauftragter stehen Ihnen bestimmt ein paar Kekse zu.«
»Bingo. Da sind sie ja.« Parsons zog eine noch verschlossene Packung heraus und legte sie auf ein Tablett neben die Tassen. Das Kaffeepulver war bereits in den Tassen, und der Wasserkessel hatte vor Minuten gepfiffen, war aber ignoriert worden.
»Was glauben Sie, wie es zwischen den beiden steht?«, fragte Holland mit einem Kopfnicken zum Wohnzimmer. »Normalerweise, mein ich.«
Parsons erhitzte das Wasser noch einmal und trug das Tablett zum Tisch. Er war Mitte dreißig, vermutete Holland, ein Schwarzer, der die Haare extrem kurz geschnitten, beinahe eine Glatze, trug und den Trick beherrschte, in einem absolut präsentablen Anzug irgendwie unordentlich auszusehen. »Sie wissen doch, dass sich die beiden vor Jahren eine Weile getrennt hatten?«
Holland nickte. Porter hatte es ihnen erzählt. Das Team nahm natürlich die Familie unter die Lupe, aber nicht so genau, wie sie es vielleicht getan hätten, wäre Luke etwas jünger gewesen. Oder es sich nicht so offensichtlich um eine Entführung gehandelt hätte. Die Familie stand nicht unter Verdacht, das war klar, zumindest nicht in diesem Stadium. Dennoch hatten sie ein paar diskrete Informationen eingeholt.
»Die Trennung ging von ihr aus, oder?«, fragte Holland.
»Ja, aber sie kam bald wieder zurück.«
»Glauben Sie, er hatte was am Laufen?«
»Ist ja oft so, oder?«
»Und wie ist es jetzt?«
Parsons dachte darüber nach. »Ich glaube, es läuft ganz gut.«
Holland hatte rasch gemerkt, dass sein neuer Kollege zu allem und jedem was zu sagen hatte. Er hielt sich nicht zurück, was seine Teamkollegen anging, und hatte auch weitaus weniger Hemmungen, über die Mullens zu sprechen, als sich bei ihren Keksen zu bedienen.
Holland war froh, den Fall aus einer anderen Perspektive betrachten zu können.
»Man darf nicht vergessen, dass wir, selbst wenn wir uns abwechseln, nicht rund um die Uhr hier sind«, sagte Parsons. »Mullen machte es von Anfang an klar, dass er uns nachts nicht hier haben will. Nach dem, was ich bisher mitbekommen habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass er die Hosen anhat. Er ist es gewohnt, den Leuten zu sagen, was sie zu tun haben. Verständlich.«
»Und tun sie auch, was er ihnen sagt? Seine Frau macht ja nicht gerade den Eindruck, als sei sie sein Fußabstreifer.«
»O nein, das ist sie ganz bestimmt nicht.«
»Wirkt aber ziemlich nett«, sagte Holland. »Ich meine, natürlich ist sie im Augenblick ziemlich durch den Wind ...«
»Die ist zäher, als sie aussieht, wenn Sie mich fragen.« Parsons schob die Tassen auf dem Tablett zusammen, um Platz für Milch und Zucker zu machen. »Ehemalige Lehrerin, richtig?« Er hob die Hände, als sei damit alles gesagt.
»Richtig.«
»Ich vermute, sie kann ebenso gut austeilen wie einstecken. Ich wette, es kommt immer wieder vor, dass sie ihm sagt, wo’s langgeht.« Er wartete vergeblich auf eine Reaktion, bevor er fortfuhr. »Ich glaube, die Familie versteht sich gut darauf, dem Alten vorzumachen, dass sie das tut, was er sagt. Wissen Sie, was ich meine? Sie sind gut darin, ihm das Gefühl zu geben, er sei der Chef. Wahrscheinlich war es nicht anders, als er noch bei der Polizei war.«
Trotz Parsons offensichtlicher Vorliebe für Klatsch und Tratsch hatte er nicht ganz unrecht. Hollands Vater war selbst Polizist gewesen. Und in den wenigen Jahren zwischen seiner Pensionierung und seinem Tod war seine Beziehung zu Hollands Mutter nach genau dem von Parsons beschriebenen Muster verlaufen.
»Was ist mit dem Jungen?«
»Haben Sie sein Zimmer gesehen?«
»Noch nicht.«
»Es sieht völlig anders aus als das von meinem Sohn, kann ich Ihnen sagen. Ich glaube nicht, dass er ein durchschnittlicher Sechzehnjähriger ist.«
»Der durchschnittliche Sechzehnjährige wird auch nicht gekidnappt«, warf Holland ein.
»Es ist alles eine Spur zu ordentlich und aufgeräumt.« Parsons zog ein Gesicht, als sei allein die Vorstellung schon unangenehm. »Und ich würde kein Geld darauf setzen, dass wir unter dem Bett eine Wichsvorlage finden.« Er hielt inne, als sich Hollands Gesichtsausdruck plötzlich veränderte, und wandte sich um. Das Mädchen stand in der Tür. »Juliet ...«
Holland hatte keine Ahnung, wie lange Juliet Mullen bereits dort stand, wie viel sie von ihrem Gespräch mitbekommen hatte. Ob sie sich so verhielt und diesen Ton draufhatte, weil sie wütend auf sie war oder weil ihr die Sache mit ihrem Bruder zu schaffen machte oder einfach, weil sie eine durchschnittliche Vierzehnjährige war.
Das Mädchen hatte sich bereits halb umgewandt, um zu gehen, als sie mit einer leichten Kopfbewegung auf das Tablett deutete und, als wolle sie die beiden Polizisten in einem Geheimcode beleidigen, wie beiläufig erklärte: »Ich trinke eine Tasse Tee. Milch und zwei Stück Zucker.«
»Um wie viel Uhr kommt bei Ihnen die Post?«, fragte Thorne.
»Wie bitte?«
»»Wann kommt morgens die Post? Bei mir ist das absolut chaotisch. Jeden Tag zu einer anderen Zeit, und die Hälfte fehlt.«
Falls Tony Mullen wusste, worauf Thorne hinauswollte, zeigte er es nicht. »Normalerweise zwischen acht und neun. Ich verstehe nicht ...«
»Ihre Frau sagte, sie habe Sie von Anfang an daran gehindert, die Polizei anzurufen.«
»Sie hat mich nicht daran gehindert ...«
»Dass sie geglaubt hatte, es gäbe nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsse.«
»Ich hätte ohnehin nicht sofort bei der Polizei angerufen. Dafür gab es ja auch keinen Grund.«
Thorne ging um das Sofa, zur anderen Seite des Kamins, wo Maggie Mullen ihre Zigarettenkippe im Aschenbecher ausdrückte. »Entschuldigung, vielleicht liege ich da falsch. Aber Ihre Frau hat doch zu verstehen gegeben, dass Sie besorgt waren. Zumindest beunruhigt.« Thorne fing Porters Blick auf, sah, dass sie ihn verstand. »Ich denke, Sie erwarteten eine Lösegeldforderung. Ich denke, Sie gingen davon aus, dass sich jemand Luke geschnappt hat und Sie von ihm hören würden. Spätestens bis gestern Morgen. Ich denke, dass Sie wahrscheinlich warteten, um herauszufinden, was die Typen von Ihnen wollen, um es dann selbst zu regeln. Erst als Sie im Briefkasten nichts fanden, begannen Sie, sich wirklich Sorgen zu machen. Sie fragten sich, was wohl passiert war. Und riefen uns an.«
Maggie Mullen ging zu ihrem Mann und setzte sich auf die Armlehne seines Sessels. Sie strich ihm kurz über die Hand. »Tony neigt dazu, die Dinge meist sehr schwarz zu sehen.«
»Das bringt unser Beruf mit sich«, sagte Porter.
»Ich kann das durchaus nachvollziehen.« Thorne versuchte noch immer, Tony Mullen zu erreichen. »Sicher hätte ich genauso gehandelt.«
»Mir war bereits Freitagabend, bevor ich ins Bett ging, klar, dass er gekidnappt wurde«, sagte Mullen. Er blickte auf zu Thorne, und so etwas wie Erleichterung spiegelte sich in seinem Gesicht. »Ich putzte mir die Zähne, und Maggie kümmerte sich unten um den Hund. Mir war klar, er war entführt worden, er wurde festgehalten. Luke ist nicht der Typ, der einfach abhaut. Und schon gar nicht, ohne uns zu sagen, wo er ist.«
»Wie gesagt, durchaus nachvollziehbar. Ihr Beruf berechtigt diese Befürchtung durchaus, dass es da draußen Leute geben könnte, die darauf aus sind, Ihnen zu schaden. Oder jedem, der Ihnen nahesteht.«
Mullen antwortete darauf, doch Thorne konnte es nicht verstehen.
Ein, zwei Sekunden lang konnte er nicht richtig zuhören.
Er war damit beschäftigt, die Stimme seines Vaters über dem Tosen der längst erloschenen Flammen auszumachen ...
»Wir brauchen eine Liste«, sagte er schließlich. »Von allen, die einen Hass gegen Sie haben könnten. Die Sie irgendwann einmal bedroht haben.«
Mullen nickte. »Ich habe mich am Wochenende darangesetzt.« Der Ton, in dem er dies sagte, und der Blick, den er dabei seiner Frau zuwarf, zeugten von seinem Schuldgefühl. Als bedeute allein die Tatsache, dass er über derlei nachdachte, dass er das Schlimmste annahm. »Aber ich glaube nicht, dass Ihnen das sehr viel weiterhilft. Entweder lässt mein Gedächtnis nach, oder ich habe mir nicht so viele Feinde gemacht, wie ich dachte.«
»Unsere Arbeit wird dadurch nur leichter«, sagte Porter.
»Okay, gut.« Thorne versuchte, einen ebenso positiven Ton anzuschlagen, aber anscheinend war ihm sein Unbehagen anzusehen.
Mullen reagierte umgehend. »Erinnern Sie sich noch an jeden?«
Thorne versuchte, die Fassung zu bewahren und freundlich zu bleiben. Er versuchte, die Schärfe in Mullens Stimme auf den Stress zurückzuführen, auf seine Schuldgefühle und seine Angst. »Wahrscheinlich nicht.«
»Wie vielen Leuten sind Sie schon auf die Zehen getreten, Detective Inspector Thorne? Abgesehen von denen, mit denen Sie arbeiten?«
Anscheinend war Jesmond doch etwas offener in seiner Beschreibung gewesen, als Thorne ursprünglich gedacht hatte. Oder Tony Mullen zeichnete sich durch besondere Menschenkenntnis aus. Er sagte nichts darauf, sondern dachte nur darüber nach, was Mullen über seine Schwierigkeiten beim Zusammenstellen der Liste gesagt hatte. Thorne würde es nicht schwerfallen. Und er bezweifelte, in dieser Hinsicht ein Einzelfall zu sein. Wenn es um die ging, die ihn oder ihm nahestehende Menschen ernsthaft bedrohen könnten, hätte Thorne kein Problem, jeden Einzelnen zu benennen.
Holland und Parsons tauchten genau in dem Moment in der Tür auf, als das Telefon klingelte. Jeder, einschließlich Thorne, schoss etwas in die Höhe, und Maggie Mullen war die Erste, die auf den Beinen war.
»Es ist wichtig, so ruhig wie möglich zu bleiben ...«
»Schatz ...«
Falls sie hörte, was Porter und ihr Ehemann zu ihr sagten, entschied sich Maggie Mullen dafür, es zu ignorieren. Ihre Augen waren ans Telefon geheftet, als sie zu dem niedrigen Tisch am Fenster trat, auf dem es stand.
Natürlich war sofort eine Fangschaltung gelegt worden, als die Kidnap Unit eingeschaltet worden war. Sämtliche eingehenden Anrufe wurden vom Technical Support im Scotland Yard auf gezeichnet. Falls, was am wahrscheinlichsten war, der entscheidende Anruf von einem nicht angemeldeten Handy gemacht wurde, würde die Telephone Unit sich sofort daranmachen, den Anruf zu lokalisieren, und falls nötig mit einem mit allem technischen Schnickschnack ausgerüsteten Lieferwagen zu verfolgen. Bei dessen Ausrüstung weder Kosten noch Mühen gescheut wurden, weshalb er einfach unter dem Namen »Costa« firmierte.
Am Telefon angelangt streckte Mrs Mullen die Hand aus, wandte sich jedoch noch einmal zu ihrem Mann um und anschließend zu Porter und Thorne.
Porter nickte.
Mrs Mullen holte tief Luft und hob ab. Sie nannte schnell die Nummer, wartete und schüttelte den Kopf. Sie schloss die Augen und wandte sich um, murmelte in die Sprechmuschel und fuhr sich dabei mit den Fingern durch die langen braunen Haare, bevor sie auflegte.
»Mags?«
Sie ging langsam zum Sessel ihres Mannes. Ihre Stimme war gebrochen. In ihrer Mimik, ihrer Haltung waren Erleichterung und Enttäuschung erkennbar. Untrennbar miteinander verbunden, kämpften sie um die Oberhand. Wie gut und zugleich brutal diese beiden Gefühle einander doch ergänzten.
»Hannah. Eine von Juliets Freundinnen.«
»Ist schon gut, Schatz.« Mullen war aufgesprungen und ging ihr entgegen.
»Natürlich baten wir alle, die uns einfielen, möglichst nicht anzurufen. Für den Fall, dass Luke sich meldet. Oder wer immer ihn hat. Wir haben versucht, an alle zu denken, aber anscheinend haben wir ein paar vergessen ...«
Mullen zog sie in seine Arme, drückte sie an seine Brust. Ihre Arme hingen kraftlos nach unten. Sie grub den Kopf in seinen Nacken und schluchzte hemmungslos.
Thorne winkte Holland und Parsons, doch mit dem Tablett herzukommen, bevor er zu Porter blickte, die soeben vom Boden aufsah. Ihre Blicke trafen sich. Er war froh, dass sie mit dieser Umarmung offensichtlich ebenso Probleme hatte wie er.
Amanda
Als Conrad ihr in dieser Tankstelle in Tooting eine Knarre an den Kopf setzte, änderte sich alles.
Die Sache hatte mit Sicherheit echt ausgesehen. Und sie hatte die Geisel überzeugend genug gespielt. Also hätte er nicht so übertreiben müssen: sie nicht an den Haaren herumzerren und ihr den Lauf der Spielzeugpistole nicht derart in die Schläfe rammen müssen. Später an dem Abend, nachdem sie das Geld gezählt und ordentlich einen draufgemacht hatten, hatte sie ihm Bescheid gestoßen. Klar, natürlich mussten sie echt rüberkommen, aber das hieß noch lange nicht, dass sie so scheiß Method-Actors waren! Sicher, er hatte nicht genau kapiert, was sie meinte. Also hatte sie es ihm in einfachen Worten erklärt, bis er es verstand. Es tat ihm schrecklich leid, und er war nur zu bereit, ihr zuzuhören, als sie ihm sagte, wie sie es nächstes Mal besser machen könnten.
Da dämmerte ihr, dass sie es war, die die Fäden in der Hand hielt.