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Nachdem die Second Chance die Barriere im All rings um das Dyson Paar zum Einsturz gebracht hatte, wurde nur allzu deutlich, was sich dahinter verbarg - eine außerirdische Spezies, der das Konzept der menschlichen Individualität völlig fremd ist und die nur eines will: zerstören. Sie bricht über die Menschheit herein, die auf vieles vorbereitet ist, nur nicht auf einen Krieg. Inmitten der Gewalt und Zerstörung stellen sich zwei existenzielle Fragen: Existiert das mysteriöse Wesen namens Starflyer wirklich? Und versucht es tatsächlich schon seit Urzeiten, die Menschheit zu vernichten?
Die spannungsgeladene Science Fiction Saga des Bestseller-Autors Peter F. Hamilton:
Band 1: Der Stern der Pandora
Band 2: Die Boten des Unheils
Band 3: Der entfesselte Judas
Band 4: Die dunkle Festung
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Seitenzahl: 923
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Über den Autor
Alle Titel des Autors bei Bastei Lübbe
Impressum
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Nachdem die Second Chance die Barriere im All rings um das Dyson Paar zum Einsturz gebracht hatte, wurde nur allzu deutlich, was sich dahinter verbarg - eine außerirdische Spezies, der das Konzept der menschlichen Individualität völlig fremd ist und die nur eines will: zerstören. Sie bricht über die Menschheit herein, die auf vieles vorbereitet ist, nur nicht auf einen Krieg. Inmitten der Gewalt und Zerstörung stellen sich zwei existenzielle Fragen: Existiert das mysteriöse Wesen namens Starflyer wirklich? Und versucht es tatsächlich schon seit Urzeiten, die Menschheit zu vernichten?
PETER F. HAMILTON
DIE COMMONWEALTH-SAGA
DIE BOTENDES UNHEILS
ROMAN
Aus dem Englischen von Axel Merz
Die Lifttüren öffneten sich mit einem leisen Zischen, und Police Captain Hoshe Finn trat in das vertraute Vestibül hinaus. Endlich einmal musste er sich nicht vorher anmelden; die Doppeltür zu Mortons Penthouse stand weit offen. Mehrere große Flachbett-Trolleys waren durch den großen, sich über zwei Ebenen erstreckenden Wohnzimmerbereich gerollt und hatten große Packkisten aus Plastik abgeliefert, die nun an den Wänden gestapelt standen. Das Einpacken und Verladen des luxuriösen Mobiliars hatte bereits begonnen, zusammen mit kleineren Haushaltsgegenständen, die in Schaumstofffolien eingewickelt waren. Doch nach erst drei beladenen Kisten war der Prozess zum Stillstand gekommen. Sämtliche Gpbots, die mit der Arbeit beschäftigt gewesen waren, standen reglos herum, einige noch mit Gegenständen beladen, die sie zum Zeitpunkt des Angriffs mit dem Ultraschallmesser getragen hatten. Zwei Junior-Manager von der Darklake National Bank sowie der vom Gericht bestellte Schuldenverwalter warteten nervös neben dem letzten verbliebenen Sofa im Wohnzimmerbereich. Der Supervisor der Speditionsfirma saß auf der gemauerten Einfassung des Kamins, trank Tee aus seiner Thermoskanne und grinste vielsagend.
»Wo ist sie?«, fragte Hoshe. Es verriet Einiges über die Macht der Publicity, die er durch die Unisphäre erlangt hatte, dass er nicht seine neue Dienstmarke eines Police Captains zeigen musste. Alle wussten, wer er war.
»Dort drinnen.« Einer der Bankangestellten deutete in Richtung Küche.
Hoshe hob eine Augenbraue, während es ihm gleichzeitig glückte, gelangweilt dreinzublicken – etwas, das er von Paula Myo abgeschaut hatte und das bei mehreren Gelegenheiten sehr effektvoll gewesen war.
Erfreulicherweise zuckte der Banker auch tatsächlich zusammen. »Sie hat uns bedroht«, empörte er sich. »Und sie hat einen der Gpbots beschädigt. Wir verlangen Schadensersatz dafür.«
»Stark beschädigt?«
Der Supervisor blickte von seinem Tee auf. »Ich weiß es nicht. Ich gehe nicht da rein. Psychos gehören nicht zu meinem Job.« Er klang amüsiert, obwohl er in Gegenwart der Banker ein ernstes Gesicht aufsetzte.
»Kann ich Ihnen nicht verdenken«, sagte Hoshe. Die Tür zur Küche stand ein Stück weit offen. »Mellanie? Ich bin es – Hoshe Finn. Erinnern Sie sich noch an mich? Ich muss mit Ihnen reden!«
»Gehen Sie weg!«, kreischte das Mädchen. »Ihr alle, verpisst euch!«
»Kommen Sie schon, Mellanie … Sie wissen, dass ich das nicht kann. Wir müssen reden. Nur Sie und ich, ganz allein. Keine Constables, niemand außer uns. Sie haben mein Wort darauf.«
»Nein. Ich will nicht. Es gibt nichts zu reden.«
Ihre Stimme brach fast. Hoshe seufzte und stellte sich unmittelbar vor die Küchentür. »Sie könnten mir wenigstens einen Drink anbieten. Man hat mir immer etwas angeboten, wenn ich hier war. Wo ist eigentlich der Butler?«
Lange Zeit war nichts zu hören, dann folgte ein Schniefen. »Weg«, sagte Mellanie leise. »Sie sind alle weg. Alle sind weggegangen.«
»Okay, dann mache ich mir eben selbst einen Drink. Ich komme jetzt rein.«
Noch immer misstrauisch schob Hoshe sich durch den Türspalt – nicht dass er wirklich an eine Gefahr geglaubt hätte.
Die Küche war wie der Rest des Penthouses auch groß und luxuriös ausgestattet. Jede Arbeitsfläche bestand aus rosa und grauem Marmor, und die Schranktüren darunter aus poliertem Wurzelholz. Die Schränke über den Arbeitsflächen besaßen transparente Türen und gaben den Blick frei auf das kostspielige Porzellan und Glas dahinter. Hoshe musste die riesige mittlere Arbeitsfläche umrunden, bevor er Mellanie sehen konnte. Sie saß in einer Ecke auf dem Fußboden, die Knie an den Leib gezogen, als wollte sie sich rückwärts durch die Wand drücken. Vor ihr auf dem Terracotta-Boden lag ein Ultraschall-Tranchiermesser.
Hoshe hätte sich am liebsten vor sie hingehockt, um unterstützendes Mitgefühl und Freundschaft zu demonstrieren, genau wie es in den Trainingsszenarien immer wieder gezeigt wurde, doch er hatte noch nicht genug abgenommen, um sich in dieser Haltung wohl zu fühlen. Also trat er einen Schritt zurück und setzte sich auf die Kante der marmornen Arbeitsfläche. »Sie sollten vorsichtig sein mit diesem Ultraschallmesser«, bemerkte er beiläufig. »Diese Dinger können in den falschen Händen ziemlich gefährlich sein. Jede Menge unschuldiger Schuldenverwalter könnten Körperteile verlieren.«
Mellanie blickte auf. Ihr kastanienbraunes Haar war vollkommen wirr. Sie hatte stark geweint – auf ihren Wangen zeigten sich verschmierte Tränenspuren. Nichtsdestotrotz war sie wunderbar anzusehen – vielleicht sogar noch mehr als für gewöhnlich: die klassische Jungfrau in Not. »Was?«
Hoshe grinste melancholisch. »Schon gut. Sie wissen, warum diese Leute hier sind, oder?«
Mellanie nickte und ließ den Kopf wieder sinken.
»Das Penthouse gehört jetzt der Bank, Mellanie. Sie müssen sich eine andere Wohnung suchen.«
»Das ist mein Zuhause«, heulte sie.
»Es tut mir wirklich Leid. Möchten Sie, dass ich Sie nach Hause zu Ihren Eltern bringe?«
»Ich wollte hier auf ihn warten. Und wenn er wieder zurück ist, wird alles wie früher.«
Diese Worte entsetzten Hoshe mehr als alles andere, was er während der Ermittlungen zu diesem Fall erlebt hatte. »Mellanie … der Richter hat ihn zu hundertzwanzig Jahren verurteilt.«
»Das ist mir egal. Ich warte auf ihn. Ich liebe ihn.«
»Er hat Sie nicht verdient«, sagte Hoshe aufrichtig.
Mellanie blickte erneut auf, und ihr Gesicht sah verwirrt aus, als wüsste sie nicht, mit wem sie redete.
»Wenn Sie auf ihn warten wollen«, sagte Hoshe, »dann ist das Ihre Entscheidung, und ich respektiere sie, obwohl ich Ihnen diesen Gedanken liebend gerne ausreden würde. Wie dem auch sei, hier können Sie nicht auf ihn warten, wirklich nicht. Ich weiß, wie schrecklich es für Sie sein muss zuzusehen, wie die Bank hereinmarschiert und die gesamte Wohnung ausräumt; aber es hilft Ihnen auch nicht, einfach einen Bot zu zerstören. Dadurch werden Sie die Bank nicht los. Diese Idioten dort draußen machen nur ihre Arbeit. Sie zu ärgern, bedeutet, dass Leute wie ich auftauchen und ihnen die schmutzige Arbeit abnehmen müssen, weiter nichts.«
»Sie sind ein sehr merkwürdiger Polizist«, sagte Mellanie leise. »Sie haben Mitgefühl. Nicht wie diese …« Sie biss sich auf die Lippen.
»Paula Myo ist nicht mehr da. Sie hat den Planeten unmittelbar nach der Verhandlung verlassen. Sie werden Paula niemals wiedersehen.«
»Gut!« Mellanies Blick fiel auf das Tranchiermesser. Sie streckte das Bein aus und schob es mit der Fußspitze weiter von sich weg. »Es … Es tut mir Leid«, sagte sie dümmlich. »Aber alles Schöne und Freundliche, das ich je im Leben gehabt habe, war genau hier in diesem Haus – und diese Leute platzen einfach herein und fangen an … Sie waren so gemein zu mir.«
»Kleine Leute sind immer so, wenn sie einem gefallenen Großen an den Kragen können. Geht es wieder?«
Sie schniefte laut. »Ja. Ich glaube schon. Es tut mir Leid, dass man Sie gerufen hat.«
»Kein Problem, Mellanie, glauben Sie mir-jede Entschuldigung, den Schreibtisch zu verlassen, ist mir willkommen. Warum packen wir nicht gemeinsam einen Koffer für Sie, und ich bringe Sie nach Hause zu Ihren Eltern, ja? Was halten Sie davon?«
»Ich kann nicht.« Mellanie starrte mit leeren Augen geradeaus. »Ich gehe nicht zu meinen Eltern zurück. Ich kann das einfach nicht. Bitte.«
»Also schön, das geht schon in Ordnung. Was halten Sie dann von einem Hotel?«
»Ich habe kein Geld«, flüsterte Mellanie. »Ich habe seit der Gerichtsverhandlung von dem gelebt, was im Kühlschrank und der Gefriertruhe eingelagert war. Jetzt ist fast alles aufgebraucht. Deswegen ist auch das Personal gegangen. Ich konnte es nicht mehr bezahlen. Mortys Firma will mir nicht helfen. Keiner der Direktoren will mich auch nur sehen. Gott! Diese Bastarde! Vorher sind sie um mich herum scharwenzelt, wissen Sie? Ich war bei ihnen zu Hause, habe mit ihren Kindern gespielt, war bei ihnen auf Partys. Waren Sie schon einmal reich, Detective?«
»Nennen Sie mich ruhig Hoshe – und nein, ich war niemals reich.«
»Die Reichen leben nicht nach den gleichen Regeln wie alle anderen. Sie tun, was immer sie wollen, einfach so. Ich fand das faszinierend. Es war so wundervoll, dazu zu gehören, keine Schranken zu kennen, so frei zu leben. Und jetzt … Sehen Sie mich an! Ich bin ein Nichts!«
»Seien Sie nicht albern, Mellanie. Jemand wie Sie kann alles erreichen, was er sich als Ziel setzt. Sie sind einfach noch jung, das ist alles. So große Veränderungen machen Ihnen Angst, und das ist in Ihrem Alter durchaus verständlich. Sie werden es überstehen, glauben Sie mir. Wir alle überstehen es irgendwie.«
»Sie sind so süß, Hoshe, aber ich verdiene das nicht.« Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. »Werden Sie mich jetzt verhaften?«
»Nein. Aber wir müssen Ihnen eine Unterkunft für die Nacht besorgen. Haben Sie vielleicht Freunde?«
»Ha!« Ein verbittertes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich habe keine. Vor der Verhandlung hatte ich Hunderte. Jetzt gibt es keinen einzigen mehr, der noch mit mir reden würde. Ich habe letzte Woche Jilly Yen gesehen. Sie hat den Laden verlassen, nur um nicht mit mir reden zu müssen!«
»Okay, hören Sie, ich kenne die Managerin eines B&B nicht weit von hier. Bleiben Sie ein paar Nächte auf meine Rechnung dort, während Sie Ihre Situation klären. Sie könnten sich beispielsweise einen Job als Kellnerin besorgen oder etwas in der Art; es gibt genügend Bars in der Stadt. Und in drei Wochen sind die Semesterferien zu Ende, und Sie können wieder auf ein College gehen. Sie müssen doch irgendwelche Karrierepläne gehabt haben, bevor das alles losgegangen ist.«
»O nein, nein, ich kann kein Geld von Ihnen nehmen!« Mellanie erhob sich aus ihrer Ecke und strich verlegen ihr wirres Haar glatt. »Ich will keine Almosen!«
»Das ist kein Almosen. Mir geht es gerade finanziell zufälligerweise ganz gut. Zu meiner Beförderung hat auch eine anständige Gehaltserhöhung gehört.«
»Sie sind befördert worden?« Ihr freudiges Lächeln verschwand rasch wieder, als ihr der Grund für die Beförderung dämmerte. »Oh.«
»Sie müssen irgendwo unterkommen. Und glauben Sie mir, dieses B&B ist nicht teuer.«
Mellanie senkte den Kopf. »Eine Nacht. Mehr nicht. Auf keinen Fall. Nur eine Nacht.«
»Sicher. Kommen Sie. Gehen wir und packen Ihnen einen Koffer.«
Sie schielte zur Tür. »Sie haben gesagt, ich dürfe nichts mitnehmen. Dass mir nichts in diesem Haus gehören würde. Morty hätte für alles bezahlt, und deswegen würde jetzt alles der Bank gehören. Das ist auch der Grund, warum ich … Na ja, Sie wissen schon.«
»Sicher. Ich kläre das.« Hoshe führte Mellanie zur Wohnzimmertür. »Die junge Lady packt jetzt einen Koffer mit Kleidung und wird die Wohnung anschließend verlassen«, sagte er zu den Bankern.
»Wir können nicht zulassen, dass sie Eigentum der Bank …«, begann einer von ihnen.
»Ich habe Ihnen gesagt, was wir tun werden«, schnitt Hoshe ihm das Wort ab. »Möchten Sie deswegen Schwierigkeiten machen? Möchten Sie mich vielleicht einen Lügner nennen?«
Die beiden schauten einander betreten an. »Nein, Officer.«
»Danke sehr.«
Hoshe unterdrückte ein Grinsen, als er mit Mellanie ins Schlafzimmer ging. Nicht wegen des klischeehaften Playboy-Dekors, des runden Betts mit den schwarz glänzenden Laken und dem Spiegelportal an der Decke, sondern wegen des armen Gpbots, der mit einer Beule im Rumpf am Boden lag; zwei der Elektromuskel-Gliedmaßen waren sauber an der Basis abgetrennt, die restlichen drei um die Beine der Maschine herum verknotet. Man musste schon eine Menge Kraft besitzen, um so etwas zu bewerkstelligen.
Mellanie nahm eine bescheidene Umhängetasche aus einem der begehbaren Kleiderschränke und warf sie aufs Bett.
»Ich darf nicht zulassen, dass Sie irgendwelchen Schmuck einpacken«, sagte Hoshe, »und ich vermute, dass einige Ihrer Kleidungsstücke ebenfalls sehr kostspielig waren.« Er blickte an Mellanie vorbei auf das große Regal voller Garderobe. Es mussten Hunderte von Kleidern sein. Auch die anderen begehbaren Schränke waren randvoll mit Anzügen, Kostümen und einer Unmenge an Schuhen und Stiefeln.
»Keine Sorge«, entgegnete Mellanie. »Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass teuer nicht unbedingt praktisch ist.« Sie packte ein paar Jeans in die Umhängetasche. Der Stapel auf dem Bett bestand hauptsächlich aus T-Shirts.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Hoshe, während er ihr beim Packen zusah. »Es ist vielleicht ein letzter Ausweg, was Geldverdienen angeht, aber Ihr Leben war ziemlich interessant, um es vorsichtig auszudrücken, wenn auch vielleicht aus den falschen Gründen. Es gibt Mediengesellschaften, die eine Menge Geld für Ihre Story bezahlen würden.«
»Ich weiß. Ich habe Hunderte solcher Angebote in der Datenbank meines E-Butlers. Ich habe mich nicht mit ihnen in Verbindung gesetzt, weil mein Account gesperrt wurde.«
»Warum wurde Ihr Account gesperrt?«
»Habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich besitze kein Geld. Das war kein Witz.« Sie hob ein schickes, schwarzes tragbares Array hoch und blickte ihn fragend an.
»Sicher.« Hoshe hatte noch nie gehört, dass ein Cybersphären-Account gesperrt worden wäre -wirklich jeder hatte Zugriff auf die Cybersphäre.
Das Array verschwand in der Seitentasche. Dann setzte Mellanie sich auf die Bettkante, um ihre Sportschuhe zuzuschnüren.
»Ich werde Ihren Account reaktivieren lassen«, sagte Hoshe. »Daten und Nachrichten, für einen Monat. Keine Unterhaltungsströme. Es kostet nicht mehr als ein paar Dollar.«
Mellanie blickte ihn neugierig an. »Möchten Sie mit mir schlafen, Hoshe?«
»Nein! Äh, ich meine, dass ist nicht der Grund … Ich will nicht … Darum geht es nicht.«
»Die Leute wollen alle mit mir schlafen. Ich weiß es. Ich bin schön, und ich bin eine junge Firstliferin. Und ich liebe den Sex. Morty war ein sehr erfahrener Lehrer; er hat mich zu Experimenten ermutigt. Was ich mit meinem Körper tun kann, ist nichts, weswegen man sich schämen müsste, Hoshe. Vergnügen ist niemals eine Sünde. Und ich hätte nichts dagegen, wenn Sie sich mit mir vergnügen.«
Hoshe wusste, dass er knallrot anlief. Mellanie so klinisch darüber sprechen zu hören, war so peinlich wie der Versuch seines Vaters, ihm zu erklären, was die Bienen mit den Blumen machten. »Ich bin verheiratet, danke sehr«, brachte er stockend hervor. Lahmer ging es kaum.
»Ich verstehe das nicht. Wenn Sie keinen Sex mit mir haben wollen, warum tun Sie dann all das für mich?«
»Er hat zwei Menschen getötet und zwei Leben ruiniert«, antwortete Hoshe leise. »Ich möchte nicht, dass er noch ein drittes Opfer findet. Weiter nichts.«
Mellanie nahm eine Bürste von der Kommode und begann, damit ihr Haar zu ordnen. »Morty hat niemanden umgebracht. Sie und Paula Myo haben sich geirrt.«
»Das denke ich nicht.«
»Die Verbrecherbande hat ihr Gedächtnis analysiert und herausgefunden, welche Sachen ihr gehört haben. Entweder das, oder sie wurde gefoltert. Morty war es jedenfalls nicht.«
Im Bericht des Pathologen waren keine Spuren von Folter erwähnt; sie hat kurz zuvor gebadet, und ihr Memorycell Insert ist zerstört worden, dachte Hoshe, sagte es aber nicht. »Wir sind uns also einig, dass wir uns in dieser Frage nicht einig sind.«
»Sie sind viel zu nett für einen Polizisten, wissen Sie das?«
Hoshe wartete, bis Mellanie sich frisch gemacht und fertig gepackt hatte; dann brachte er sie zu der Pension. Er zahlte für eine Woche im Voraus; anschließend fuhr er davon, nachdem es ihm gelungen war, Mellanies Versuch zu entgehen, ihn zum Abschied zu küssen. Er war nicht sicher, ob er stark genug gewesen wäre, ihr auch noch nach direktem körperlichen Kontakt zu widerstehen.
Fünf Tage später brachte ein Taxi Mellanie zu einem großen, lagerhausartigen Komplex im Thurnby Distrikt von Darklake City, einem alten, heruntergekommenen Industriegebiet. Alle Grundstücke waren von hohen Zäunen umgeben, und die Hälfte der Fabriken und Lager waren stillgelegt. Abfall sammelte sich an den Maschendrahtzäunen und bildete kleine Wanderdünen aus Papier und Plastik. Maklerschilder an zahlreichen Gebäuden verkündeten, dass sie zu vermieten oder verkaufen seien. Die einspurige Gleisanlage entlang der Hauptstraße war von Unkraut überwuchert und die Schienen rostig.
Mellanie schaute sich nervös um. Nicht, dass es irgendwo eine Stelle gegeben hätte, wo Schläger ihr hätten auflauern können. Ein rotes Schild neben der Tür des Gebäudes trug die Aufschrift: Wayside Productions. Mellanie atmete tief durch und betrat das Gebäude.
Hoshe Finn hatte sein Wort gehalten und ihren Cybersphären-Account reaktiviert. Die Anzahl der nicht-kommerziellen Nachrichten in der Datenbank ihres E-Butlers betrug mehr als siebzigtausend. Mellanie löschte alle und wechselte den Kode ihres persönlichen Interfaces. Dann rief sie Rishon an, einen Reporter, den sie aus ihrer Zeit mit Morton kannte. Er war sehr erfreut gewesen, von ihr zu hören, und hatte augenblicklich ein Treffen arrangiert. Ihre Story sei enorm wertvoll, versicherte er Mellanie, und die Menschen überall im Commonwealth würden das Drama verfolgen. Das war der Augenblick gewesen, als sie ihm ihre wirklich großartige Idee unterbreitet hatte, selbst ihre Rolle zu spielen. Zu ihrer Überraschung hatte Rishon höchst erfreut auf diesen Vorschlag reagiert und gemeint, damit würde sie noch mehr Geld machen.
Zwei Tage lang hatte Mellanie mit ihm zusammengesessen und ihm ihr Herz ausgeschüttet, ihm alles über jene goldenen Tage erzählt von dem Augenblick an, wo sie Morton bei einem Galadiner für Sponsoren ihrer Schwimmmannschaft kennen gelernt hatte. Sie hatte ihm erzählt, wie es gewesen war, ihm die Faszination und Aufregung ihrer Liebesaffäre beschrieben, die Feindseligkeit ihrer Eltern, die Partys, das luxuriöse, hedonistische Leben, die Mitglieder der High Society von Oaktier, mit denen sie freimütig verkehrt hatte, und dann die schreckliche Gerichtsverhandlung mit ihrem grauenvollen und falschen Urteil. Rishon hatte alles aufgezeichnet und damit begonnen, es in ein spektakuläres Drehbuch für ein achtteiliges Drama umzuarbeiten, das sich über Tage hinziehen würde. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte er es verkauft.
Gegenüber dem Eingang von Wayside Productions gab es einen winzigen Empfangsschalter – Wandpaneele aus Komposit und eine Decke mit ein paar alten Sofas in der künstlich geschaffenen Nische mit abgegriffenen Chromlehnen und verschrammten Beinen. Eine junge Frau saß auf einem davon und kaute emsig auf einem Kaugummi, während sie einen Paperscreen studierte. Sie trug einen extrem kurzen Lederrock und eine weiße Bluse mit tiefem Ausschnitt zwischen zwei massiven Brüsten. Ihr Make-up war grauenhaft: dickes Maskara wie die Ringe um die Augen von Pandabären und Lippen, die lavendelfarben leuchteten, und viel zu kräftiges weißblondes Haar, das in Locken wie überdrehte Federspiralen über ihre Schultern hing. Sie hob den Kopf und lächelte Melanie breit an. »Oh, hallo … Du bist sicher Mellanie. Ich kenne dich von der Gerichtsverhandlung.« Ihre Stimme klang hoch und schrill. Irgendwie hatte Mellanie auch nichts anderes erwartet.
»Das bin ich.«
»Ich bin Tiger Pansy. Jaycee hat gesagt, dass ich mich um dich kümmern soll. Er hat gesagt, ich soll dich direkt zum Set rüberbringen.« Tiger Pansy stand auf. Sie war ein paar Zentimeter größer als Mellanie – allerdings nur, weil ihre Füße in fünfzehn Zentimeter hohen silbern glitzernden Stilettos steckten.
»Tiger Pansy?« Mellanie musste sich beherrschen, um nicht lauthals aufzulachen.
»Sicher, Honey. Gefällt dir mein Name? Ich hab ihn mir gerade erst zugelegt. Mein Agent wollte eigentlich lieber Slippy Trixie, aber das hat mir nicht gefallen.«
»Tiger Pansy ist viel besser, ehrlich.«
»Danke. Du siehst klasse aus, weißt du das? Echt jung, so süß und alles. Sie werden dich draußen in der Cybersphäre lieben.«
»Äh, danke.« Mellanie eilte hinter Tiger Pansy her.
Das Studio war tatsächlich ein altes Lagerhaus. Wayside Productions hatte es in mehrere Hallen unterteilt, um die verschiedenen Sets voneinander zu trennen. Dazwischen verliefen Korridore mit hohen Wänden aus Komposit und ohne Decken. Das Dach bestand aus Metallträgern mit einem alten Sonnenkollektordach, das bei jeder leichten Windbö klapperte. Menschen eilten durch die Korridore. Mellanie musste sich mehrmals flach an die Wand drücken, als ein paar Bühnenhelfer mit großen Hologrammportalen an ihr vorbei wollten. Sie bedachten Mellanie mit lüsternen Blicken und grinsten sie unverhohlen an. Mellanie ignorierte sie, während sie Tiger Pansy folgte. Die neuen OCTattoos juckten sie am ganzen Leib. Es hatte drei Tage gedauert, sie anzubringen, so ausgedehnt waren sie, und es fiel Mellanie höllisch schwer, sich nicht zu kratzen. Sie wusste, wenn sie es dennoch tat, würde ihre Haut überall rot und fleckig werden – und das war ein Ding der Unmöglichkeit für eine Schauspielerin, insbesondere dann, wenn die Aufzeichnungen das gesamte Sensorium umfassten. Sie wusste, dass die anderen Schauspieler am Set sie skeptisch beobachten und an ihren Fähigkeiten zweifeln würden – Mellanie würde hart arbeiten müssen, um jeden zu beeindrucken.
Sie kamen an einer Doppeltür vorbei, hinter der eine ganze Truppe von Schauspielerinnen in Schulmädchenuniformen herumalberten. Trotz zellularem Reprofiling sahen einige von ihnen aus, als wären sie weit über dreißig. Mellanie musterte sie misstrauisch. Das waren doch sicher keine …
»Da wären wir«, sagte Tiger Pansy schließlich mit einem Anflug von Stolz in der Stimme und blieb stehen. »Dieses Set kostet eine Menge Geld. Du bist eine ganz große Nummer, wusstest du das?« Sie deutete auf eine Polyphoto-Notiz neben der Tür, auf der in leuchtenden Buchstaben zu lesen stand: Mörderische Verführung. »Guter Name, wie?«
»Ja.«
Tiger Pansy öffnete die Tür und trat ein. Das Set zeigte Mortons Penthouse. Beinahe. Es war in zwei Teile geteilt, mit dem Wohnzimmer auf der einen Seite. Den meisten Platz nahm die Sitzecke ein, mit breiten Sofas, die fast genauso aussahen wie in Mortons Penthouse. Der Kamin befand sich an der richtigen Stelle dahinter, doch er bestand aus einer Reihe sehr eigenartiger Tierskulpturen aus Fiberglas, die mit Farbe angesprüht worden waren, damit sie aussahen wie Stein. Die Wände rings um die Sitzecke herum waren Hologramme, die den Rest des Penthouses zeigten. Ein Holokameraring mit einem Durchmesser von drei Metern hing von der Decke herab und baumelte einen Meter über den Sofas. Drei Techniker standen an einem offenen Paneel an der Seite und murmelten miteinander, während ein Bot, der aussah wie ein armlanger Hundertfüßler, sich seinen Weg durch die freiliegende Elektronik bahnte.
Die andere Hälfte des Sets war eine Nachbildung des Schlafzimmers. Zumindest das war im Originalmaßstab, auch wenn die Wände wiederum nur Hologramme waren, und die schwarzen Laken aus Baumwolle bestanden nicht aus Seide. Zwei Männer saßen auf der Matratze.
Einer von ihnen war Morton.
Mellanie stieß einen überraschten Laut aus – dann fielen ihr ein paar Ungereimtheiten auf, und sie erkannte, dass es sich um zellulares Reprofiling handelte. Es war eine gute Arbeit, wie sie sich eingestehen musste; die meisten Menschen hätten sich von der Ähnlichkeit täuschen lassen. Der Mann neben dem falschen Morton war Jaycee, der Chef von Wayside Productions. Er war ganz in Schwarz gekleidet, was den meisten Leuten gut stand, nicht jedoch ihm. Er sah ein gutes Stück älter aus als seine tatsächlichen einundfünfzig Jahre, wie irgendein peinlicher, verschrobener Junggesellenonkel. Sein Kopf war kahl rasiert, auch wenn ein schwacher grauer Flaum an den Seiten die Mönchsglatze verriet. Mellanie versuchte, ihn nicht anzustarren, während sie sich näherte, auch wenn sie sich beim besten Willen nicht daran erinnern konnte, jemals einen kahlköpfigen Firmenchef gesehen zu haben, ganz bestimmt nicht bei einer Mediengesellschaft.
»Mellanie! Wie schön, dass wir uns endlich persönlich kennen lernen!« Jaycee drückte ihre Hand ein wenig zu fest, während er lange Zeit damit verbrachte, sie unverhohlen von Kopf bis Fuß zu mustern. »Und was für ein geiler Körper das ist! Du siehst großartig aus, Mädchen, einfach köstlich!« Sein Plastikgrinsen wurde ein wenig sachlicher. »Ich dachte allerdings, du wärst noch ein wenig jünger.«
»Oh?« In Mellanie keimte allmählich ein ungutes Gefühl auf hinsichtlich Wayside Productions.
»Das soll keine Kritik sein, Süße! Ich hab einen absolut scharfen Kosmetiker hier; wir können dich ohne Probleme ein paar Jahre jünger machen. Sieh dir nur mal an, was er mit Joseph gemacht hat!«
Der Mann mit Mortons Gesicht grinste aggressiv. »Hi Baby. Ich freu mich schon darauf, es mit dir zu treiben.« Er legte eine Hand in den Schritt und drückte munter zu. Mellanie konnte seine Erektion unter dem Stoff der Hose sehen. »Keine Sorge, du wirst nicht enttäuscht sein. Nicht mit dieser Ausrüstung.«
»Du bist so ein Arschloch, Joseph«, schnaubte Tiger Pansy. »Mellanie, gib ihm ja nicht deinen Arsch, Süße, ganz gleich, was Jaycee in seinem Skript auch schreiben mag. Er hat sich eine Vergrößerung machen lassen, die einfach nur noch dämlich ist. Es wird dir noch bis Mitte nächster Woche wehtun.«
»Hey!« Joseph zeigte Tiger Pansy den erhobenen Mittelfinger. »Bei dir passt ja nicht mal der hier zwischen deine alten Hängetitten, du dämliches Miststück.«
»Fick dich.«
»Was zur Hölle hat das zu bedeuten?«, fragte Mellanie. »Wir verfilmen doch meine Geschichte, oder? Die Geschichte zwischen mir und Morton, nicht irgendeinen Porno.«
»Selbstverständlich tun wir das, Zuckerpuppe«, sagte Jaycee. »Ihr beiden«, grollte er Joseph und Tiger Pansy an. »Macht, dass ihr hier wegkommt. Ich will mit Mellanie reden.«
»Was soll das werden?«, fragte Mellanie, nachdem die anderen das Set verlassen hatten.
»Okay, als Erstes möchte ich mich für Joseph entschuldigen, aber er ist einer meiner besten Schwänze.«
»Schwänze?«
»Ja. Manche Kerle haben trotz aller modernen Medikamente und Drogen ein verdammtes Problem, für die Dauer der Aufnahme durchzuhalten. Es ist eine psychologische Sache oder irgend so ein Mist. Aber nicht bei Joseph. Er kann ständig, Mann. Er ist absolut unglaublich. Und hör nicht auf das, was diese abgehalfterte, alte Nutte Tiger dir erzählt. Joseph weiß ganz genau, was er mit den Mädchen macht. Es wird dir sicher eine Menge Spaß machen, auf seinem Monsterschwanz zu reiten, glaub mir.«
»Nein, das wird es nicht! Das muss alles ein gewaltiger Irrtum sein, Mister! Ich bin nicht hier, um einen Porno zu drehen. Auf Wiedersehen.« Sie wandte sich ab und wollte gehen.
»Hey, warte, verdammt! Warte!«Jaycee versperrte ihr den Weg und hob abwehrend die Arme. »Das ist kein beschissener Porno, hörst du? Wir drehen hier ein echtes True-Life-Drama, kapiert, Mann?«
Sie warf einen geringschätzigen Blick auf das Set. Selbst die Statuen beim Kamin ergaben jetzt plötzlich einen Sinn. »Aber sicher doch.«
»Hör doch mal zu, verdammt! Ich habe die Story gelesen, mit der Rishon zu mir gekommen ist. Du warst eine dämliche Schwimmerin, als Morton in dein Höschen gestiegen ist, und das hat dir deine Chancen bei der Nationalmannschaft versaut. Es ist ein beschissener Klassiker: Du bist jung und er ist reich – nur dass sich herausstellt, dass er auch noch eine Reihe von Leuten umgelegt hat. Er hat dich betrogen, Zuckerpuppe. Die Zuschauer lieben so einen Scheiß. Wir haben sogar eine Verfolgungsjagd rund um das Penthouse eingebaut, nachdem du herausgefunden hast, was er getan hat. Er kommt mit einem Messer hinter dir her. Es ist echt aufregend, echt geil, Mann!«
»Das ist doch Schwachsinn!«, schnappte Mellanie. »Nichts davon habe ich Rishon erzählt. Morton hat niemanden umgebracht! Sie sind nicht daran interessiert, seine wahre Geschichte zu erzählen!«
»Aber natürlich bin ich das, Zuckerpuppe. Mann, ich will die verdammte beschissene Geschichte, glaub mir. Hör mal, wir schießen einfach zuerst die Sex-Szenen und schaffen die Kerle aus dem Weg; das ist alles. Danach können wir uns auf die anderen Sachen konzentrieren. Wir machen es im großen Stil, an Originalschauplätzen, genau da, wo es passiert ist, okay, Mann?«
»Was für ein absoluter Schwachsinn!«
»Magst du Joseph vielleicht nicht? Meinetwegen, kein Problem, verdammt. Ich lass mich reprofilieren, bis ich wie dein Morton aussehe, und fick dich eben selbst.«
»Ich glaub, ich werde wahnsinnig!« Mellanie stürmte an ihm vorbei zur Tür.
Jaycee packte sie an der Schulter und riss sie herum. Sein Gesicht war rot vor Wut, und rote Flecken zeigten sich an jenen Stellen, wo im Laufe der Jahrzehnte zu viel zellulares Reprofiling durchgeführt worden war. »Hör auf, hier die verwöhnte Prinzessin zu spielen! Du hast diesen beschissenen Vertrag unterschrieben, und du hast verdammt noch mal genau gewusst, was drin stand. Du hast dich sogar speziell für diese Geschichte mit neuer Wetware aufgerüstet, verflucht! Wenn du dich plötzlich anscheißt, weil es dein erstes Mal ist, dann kann ich nichts dafür. Da musst du eben durch, Zuckerpuppe. Ich kann dir eine Dosis Coolant verabreichen, kein Problem, echt nicht. Du wirst den ganzen Dreh über absolut entspannt sein. Aber komm mir nicht hier reinmarschiert und erzähl mir, es wäre nicht das, was du gewollt hättest, verdammt!«
»Das habe ich aber nicht gewollt, verdammt!«, entgegnete Mellanie aufgebracht. »Ich habe mir diese OCTattoos machen lassen, weil alle Schauspielerinnen sie haben, und weil wir alle wissen, dass wir sie brauchen. Sex ist ein integraler Bestandteil unseres Lebens, und Liebesszenen tragen zur Glaubwürdigkeit eines Dramas bei – aber sie sind nur ein Teil davon. Du willst nur Sex und sonst gar nichts!«
»Schauspielerin? Ich werd’ weich in der Birne! Wenn du dich unbedingt so nennen willst, dann meinetwegen! Aber ich habe für deine OCTattoos bezahlt, weil du so ein phantastischer Schuss bist, Prinzessin Hartarsch. Du bist die echte Mellanie, die Art von Kick, um die diese traurigen Schwänze draußen in der Unisphäre reiche Kerle wie Morton nur beneiden können. Tussis von deiner Sorte ziehen sich nicht aus für einen Kerl, wenn er nicht wenigstens hundert Millionen auf der Bank hat. Und jetzt zeige ich ihnen, wie du wirklich schmeckst, Mädchen. Sie werden uns lieben dafür.«
»Nein! Ich mache das nicht!«
»Hast du im Vertrag vielleicht irgendwo Kästchen zum Ankreuzen gesehen, was du machst und was nicht, du dämliches Miststück? Ich hab dich verdammt noch mal bezahlt, und ich werde bekommen, wofür ich bezahlt habe. Unser Vertrag besagt, dass du die Beine breit machst, wenn ich es dir sage, und dass wir jedes verdammte Gefühl in deinem engen, kleinen Arsch aufzeichnen, wenn mein Schwanz in dir an die Arbeit geht. Und hör mir auf mit diesem Scheiß von wegen Drama und was weiß ich noch, sonst sorge ich dafür, dass du neben deinem Killerfreund in der Suspension landest. Wir haben einen legalen Vertrag!«
Jaycee starrte ihr triumphierend in die Augen und suchte nach den ersten Anzeichen von Resignation und Unterwerfung.
Mellanie war schnell. Jahre des erbarmungslosen, langweiligen Trainings bei der Schwimmmannschaft hatten ihr jene Art von Muskeln und Reflexen verliehen, die moderne Athleten sich in ihre DNS retrosequenzieren oder durch Wetware einbauen ließen. Ihr Knie zuckte nach oben, und die kraftvollen Muskeln beschleunigten es, als wolle es bis zu Jaycees Kinn – nur dass da vorher seine Hoden waren.
Sie sah, wie sein Unterkiefer herabklappte. Kein Laut kam über seine Lippen. Seine Augen weiteten sich und schwammen plötzlich in Tränen. Er kippte zur Seite, wo er ein leises, würgendes Geräusch von sich gab; dann brach er vollends zusammen.
»Ich werde jetzt meinen Agenten anrufen«, sagte Mellanie ihm in teilnahmslosem Tonfall. »Wenn du wieder aus dem Krankenhaus bist, müssen wir wirklich mal zusammen Essen gehen.«
Das Taxi brachte Mellanie in den Glyfada District am Seeufer. Dort setzte sie sich auf eine Holzbank unmittelbar am Wasser und beobachtete die Segelyachten, die aus der Marina von Shilling Harbor ausliefen, um den frühen Morgenwind einzufangen. Die Bars und Restaurants hinter ihr waren größtenteils noch geschlossen; Lieferwagen parkten vor den Türen und Cargobots entluden frische Ware. Noch war es zu früh, um irgendwo einzukehren.
Mellanies Karriere als Schauspielerin hatte gerade einmal fünfundvierzig Minuten gedauert.
Das Zittern setzte ein, als sie darüber nachdachte, was sie mitJaycee gemacht hatte. Ein ungläubiges Lachen brach aus ihr hervor, mehr aus Erleichterung als alles andere. Niemand bei Wayside Productions hatte sie aufzuhalten versucht. Sie hatten sie nur angestarrt, als wäre sie eine irre Serienkillerin … mit Ausnahme von Tiger Pansy, die ihr zugezwinkert hatte.
Ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe.
Was sie auf einen entsetzlichen Gedanken brachte. Wenn die Fähigkeit zu einer solchen Tat in jedem Menschen schlummerte, dann könnte Morton tatsächlich …
Mellanie verdrängte diesen Gedanken mit aller Macht aus ihrem Kopf.
Aber es hat so gut getan! Ich habe mich tatsächlich zur Wehr gesetzt.
Allerdings hatte sie in der Hitze des Augenblicks gehandelt, und Jaycee würde zweifellos vor Gericht ziehen, sobald er wieder gehen konnte. Und sie hatte den Kontrakt ja tatsächlich unterzeichnet. Es war ihr so wunderbar erschienen, die perfekte Lösung für ihre Lage. Der Vorschlag des lieben, alten Hoshe, sich als Kellnerin zu versuchen, führte geradewegs in eine Sackgasse. Er würde es nicht verstehen, aber Mellanie konnte einfach keine derartigen Arbeiten verrichten. Nicht nach dem Leben, das Morton ihr gezeigt hatte. Und das schränkte ihre Möglichkeiten ganz beträchtlich ein.
Ein junger Mann, ganz offensichtlich auf dem Weg zu seiner Jacht, gekleidet in Shorts und ein Rugby-Hemd, schlenderte am Ufer entlang und bemühte sich, nicht allzu offensichtlich zu Mellanie zu blicken. Mellanie schob ihr Haar zurück und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Das Lächeln, das sie zur Antwort erhielt, war so voller welpenhafter Hoffnung und Verlangen, dass sie Mühe hatte, nicht laut aufzulachen. Mein Gott, Männer sind ja so naiv! Nicht, dass es Männer hätten sein müssen, ganz sicher nicht angesichts ihrer gegenwärtigen Stimmung. Eine Frau wäre so viel sanfter im Bett, so viel aufmerksamer und empfänglicher.
Es wäre schön, wenn sich jemand um sie kümmern, sie verwöhnen und bewundern würde. Aber ich war schwach, und ich werde nicht wieder schwach sein – nie wieder. Erneut drohte sie in Tränen auszubrechen. Sie hatte unendlich viel geweint seit jener Verhandlung. Sie ballte die Fäuste und drückte die Nägel in ihre Handflächen, bis der Schmerz sie zusammenzucken ließ. Ich werde nie wieder weinen.
Jetzt blieb ihr nur noch eine Möglichkeit. Sie hatte es vorher nicht versuchen wollen, weil die Chancen so gering waren – eigentlich kaum mehr als eine Phantasievorstellung; das psychologische Sicherheitsnetz, das man niemals benutzen möchte.
Mellanie zog das kleine Array hervor, das sie aus Mortons Penthouse mitgenommen hatte. Das Array mit dem nahezu unglaublich teuren Gehäuse aus schwarzem Foroxy – nicht, dass der gute alte Hoshe es bemerkt hätte. »Ich möchte eine Verbindung zur SI«, befahl sie ihrem E-Butler. Ihre neuen OCTattoos dienten ausnahmslos sensorischer Rezeption – Jaycee hatte nicht für ein virtuelles Interface bezahlt.
»Aus welchem Grund?«, fragte der E-Butler. Die SI war für ihr zögerndes Verhalten bekannt, was die Entgegennahme von Anrufen menschlicher Individuen anging. Abgesehen von ihrem umfassenden Bankservice waren Notfälle und offizielle Anfragen von Seiten der Regierungen so ungefähr der einzige Kontakt, den die SI mit dem Commonwealth hatte.
Mellanie brachte das kleine Array dicht vor ihr Gesicht. »Sag einfach nur, wer ich bin«, flüsterte sie. »Und frag sie, ob ich … ob Großvater sich an mich erinnert.«
Der kleine Bildschirm des Arrays leuchtete augenblicklich auf und zeigte orange- und türkisfarbene Sinuswellen, die sich bis hin zu einem imaginären Fluchtpunkt in der Mitte zogen. »Hallo, Baby Mel.«
»Großvater?« Das Wort kam nur mühsam aus ihrer zusammengeschnürten Kehle. Erneut drohte sie, in Tränen auszubrechen. Mellanie hatte ganz ehrlich nicht damit gerechnet, dass es funktionieren würde.
»Er ist bei uns, ja.«
Mellanie erinnerte sich an jenen letzten, schmerzhaften und langen Tag in der Klinik, als sie an seinem Bett darauf gewartet hatte, dass er starb. Sie war damals erst neun Jahre alt gewesen und hatte nicht begriffen, warum er nicht in die Rejuvenation gegangen war wie jeder andere auch. Ihre Eltern hatten sie nicht dort haben wollen, doch sie hatte darauf bestanden – selbst damals war sie schon halsstarrig gewesen. Ihr Großvater (oder besser: Ururgroßvater) war immer der netteste Verwandte gewesen, den sie hatte. Er hatte stets Zeit für sein Baby Mel gefunden, obwohl er einer der bedeutendsten Bewohner des Planeten gewesen war. Sämtliche Geschichtslektionen in der Schule erwähnten seinen Namen; er war einer der Programmierer gewesen, die Sheldon und Isaac dabei geholfen hatten, das Steuerungsprogramm für ihr erstes Wurmloch zu schreiben. »Bist du noch du, Großvater?«
»Das ist eine schwierig zu beantwortende Frage, Mellanie. Wir sind die Erinnerungen deines Großvaters, aber wir sind gleichzeitig auch mehr, ein Universum mehr, was uns zu weniger macht als dem Individuum, das du zu sprechen wünschst.«
»Du hattest immer Zeit für mich, Großvater. Du hast mir immer zugehört, und du hast immer gesagt, du würdest mir helfen, wenn es in deiner Macht steht. Und jetzt brauche ich deine Hilfe, ehrlich.«
»Wir sind nicht physisch, Mellanie; wir können dir nur mit Worten helfen.«
»Das ist es, was ich brauche: Rat. Ich muss wissen, was ich tun soll, Großvater. Ich habe mein Leben gründlich in den Sand gesetzt.«
»Du bist erst zwanzig, Mellanie. Du bist fast noch ein Kind. Du hast doch noch gar nicht richtig angefangen zu leben.«
»Und warum fühle ich mich dann, als wäre mein Leben schon vorbei?«
»Gerade weil du jung bist, was sonst? Alles, was du erlebst, nimmt in deinem Alter geradezu epische Dimensionen an.«
»Wahrscheinlich hast du Recht. Wirst du mir helfen, Großvater?«
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich habe kein Geld.«
»Das sehen wir. Die Darklake Bank ist effizient wie üblich und verteilt das Vermögen deines ehemaligen Liebhabers unter den Gläubigern. Der Rest wird zwischen Tara Jennifer Shaheef und Wyobie Cotal aufgeteilt, nachdem die exorbitanten Gebühren der Offiziellen, der Anwälte und Institutionen beglichen sind. Wir glauben nicht, dass du Aussichten auf Erfolg hättest, solltest du versuchen, einen Anteil davon zu erstreiten. Juristisch betrachtet hast du kaum Ansprüche.«
»Ich will auch nichts davon!«, erklärte Mellanie mit Nachdruck. »Ich habe beschlossen, dass ich nie wieder von irgendjemandem abhängig sein will. Ich werde in Zukunft mein Leben selbst bestimmen.«
»Das ist das Baby Mel, an das wir uns erinnern. Wir waren immer stolz auf dich.«
»Ich habe versucht, meine Geschichte mit Morton zu verkaufen, aber es hat nicht richtig funktioniert. Ich war töricht und naiv, schätze ich. Ich habe einem Reporter vertraut. Es ist nichts Gutes dabei herausgekommen, und vielleicht werde ich verhaftet. Da war dieser schreckliche Mann, ein Porno-Produzent. Ich habe ihn körperlich angegriffen.«
»Das kommt dabei heraus, wenn man einem Reporter vertraut. Das war tatsächlich dumm von dir; doch die Situation lässt sich wahrscheinlich lösen. Porno-Produzenten sind nicht gerade dafür bekannt, ständig vor Gericht zu ziehen.«
»Ich wollte mir einen Namen machen, Großvater. Ich hatte die Idee, dass ich vielleicht berühmt werden könnte, eine Medienpersönlichkeit. Ich sehe gut aus, und ich bin sicher, dass ich auch entschlossen genug bin, um es zu schaffen. Ich brauche lediglich ein wenig Führung; das ist alles. Meine Geschichte sollte nur der Anfang sein. Nachdem sie veröffentlicht ist, kennen die Leute meinen Namen. Das kann ich einsetzen. Wenn es mir gelingt, in der Unisphäre präsent zu bleiben, dann bin ich eines Tages vielleicht so berühmt wie Alessandra Barron, wer weiß?«
»Das könntest du tatsächlich schaffen. Du hast das Potential dazu. Und wo genau passen wir in deine Zukunftspläne?«
»Ich möchte, dass du mein Agent bist, Großvater. Ich möchte meine Story von Rishon zurück und sie erneut verkaufen, diesmal an einen respektablen Produzenten. Ich muss Wayside Productions die Auslagen für die OCTattoos bezahlen. Du kannst den besten Vertrag für mich aushandeln. Du bist ehrlich; du würdest mich nie aufs Kreuz legen. Und du bist außerdem eine Bank. Mein Geld ist bei dir sicher.«
»Wir verstehen. Nun gut, wir sind einverstanden. Allerdings wäre da noch die Frage unserer Provision.«
»Ich weiß. Zehn Prozent, nicht wahr? Oder sind es inzwischen mehr?«
»Wir dachten nicht an eine finanzielle Vergütung.«
»Oh.« Mellanie runzelte die Stirn und starrte auf den kleinen Bildschirm mit seinem Zufallsmuster. »An was dann?«
»Wenn du es ernst meinst mit deiner Absicht, eine Karriere in den Medien zu beginnen, dann benötigst du ein qualitativ sehr hochwertiges Sensorien-Interface, ganz gleich, was sonst noch erforderlich sein mag.«
»Ein professionelles Interface, ich weiß. Ich verfüge bereits über einen einigermaßen vernünftigen Grundstock. Ich hatte gehofft, mit meinem Vorschuss Aufrüstungen bezahlen zu können, und ich möchte auch noch eine Reihe von Inserts. Ich möchte virtuell gehen können.«
»Wir werden für die Erweiterungen bezahlen; doch es wird Gelegenheiten geben, da wir sie mitbenutzen möchten.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Viele Menschen glauben, unsere Präsenz im Commonwealth wäre total, und wir würden durch die Unisphäre an allem teilhaben; aber selbst wir haben Grenzen. Es gibt zahlreiche Orte, die unerreichbar für uns sind. Einige werden absichtlich vor uns abgeschirmt, während andere einfach nicht die erforderliche elektronische Infrastruktur besitzen. Du könntest uns bei speziellen Gelegenheiten Zutritt zu diesen Orten verschaffen.«
»Du meinst, damit du uns beobachten kannst? Ich dachte immer, das wäre nur eine alberne Verschwörungstheorie.«
»Wir beobachten nicht jeden; doch unsere Interessen gehen mit euren konform, und ihr seid durch zahllose Erinnerungsdownloads ein Teil von uns. Um es mit einem alten Sprichwort zu sagen: Unsere Schicksale sind miteinander verknüpft. Der einzige Weg, sie zu entwirren, bestünde darin, dass wir uns völlig aus der Sphäre menschlicher Aktivitäten zurückziehen. Wir haben beschlossen, dies nicht zu tun.«
»Warum nicht? Ich wette, euer Leben wäre dadurch viel einfacher.«
»Und du glaubst, das wäre gut so? Keine Wesenheit kann sich in der Isolation weiterentwickeln.«
»Also beobachtet ihr uns. Manipuliert ihr uns auch?«
»Indem wir als dein Agent handeln, kontrollieren wir den Verlauf deines Lebens. Ist das Manipulation? Wir sind Daten. Es ist unsere Natur, mehr Daten zu erlangen, unser Wissen ständig auszuweiten und es zu gebrauchen. Es ist sowohl unsere Sprache als auch unsere Währung. Die Geschicke der Menschen bilden nur einen sehr kleinen Teil der Informationen, die wir absorbieren.«
»Ihr studiert uns also, ist das richtig?«
»Nicht als Individuen, nein. Es ist eure Gesellschaft und die Art und Weise, wie sie sich entwickelt, was uns interessiert. Was euch berührt, berührt auch uns.«
»Und ihr mögt keine Überraschungen.«
»Du etwa?«
»Ich schätze nicht.«
»Dann haben wir uns offensichtlich verstanden. Möchtest du immer noch, dass wir als dein Ratgeber und Agent agieren, Baby Mel?«
»Ich wäre eher eure Geheimagentin, oder?«
»Die Rolle besitzt gewisse Parallelen, ja; doch es ist nicht mit Gefahren verbunden. Du bist lediglich Auge und Ohr für uns an abgelegenen Orten. Rechne nicht damit, dass wir dir exotische Apparaturen und fliegende Autos zur Verfügung stellen.«
Sie lachte – zum ersten Mal seit langer Zeit. Trotzdem, schade das mit den fliegenden Autos. Das hätte Spaß gemacht. »Dann machen wir es so.« Denn wenn Großvater es tatsächlich ernst meinte, dann musste die SI dafür sorgen, dass Mellanie erfolgreich wurde.
Die letzten Abschnitte Kupferleitungen in der Espressomaschine kamen mit einem Klicken an ihren Platz, und Mark Vernon benutzte eine Elektromuskel-Zange, um die Siegel anzuziehen. Er schraubte die Chromabdeckung zurück auf den Apparat und schaltete ihn ein. Drei grüne Lampen leuchteten auf.
»Fertig. Alles funktioniert wieder so, wie es funktionieren soll.«
Mandy klatschte glückstrahlend in die Hände. »Oh, danke, Mark! Ich habe Dil immer wieder gesagt, dass dieses Ding spinnt, aber er hat nichts dagegen unternommen und uns in unserem Mist schmoren lassen. Sie sind mein persönlicher Held!«
Mark lächelte die junge Kellnerin an. Sie hatte frische Panini zum Frühstück gemacht und unter dem Glastresen ausgelegt, bereit für die morgendliche Kundschaft: große Hälften des krustigen, italienischen Brotes mit ganzen Mahlzeiten aus hartgekochten Eiern, Würstchen, Kyias und Tomaten oder Schinken, Käse und Ananas oder vegetarisches Omelette. Ihre Kollegin Julie arbeitete hinten in der Küche und klapperte mit Töpfen und Pfannen. Der Geruch von gegrilltem Honigschinken drang durch die Tür in den Laden.
»War ganz einfach, wirklich«, sagte Mark bescheiden. Die beengte Fläche hinter dem Tresen bedeutete, dass Mandy ein wenig zu nah bei ihm stand; außerdem bewunderte sie ihn ein wenig zu offensichtlich. »Ich, äh, pack dann wohl mal zusammen und mach mich auf den Weg.« Er schob sein Werkzeug in den kleinen Koffer zurück, den er stets bei sich trug. Mit der anderen Hand hielt er den Koffer wie einen abwehrenden Schild vor sich.
»Nein, das werden Sie nicht. Sie werden sich hier hinsetzen, und ich mache Ihnen ein anständiges Frühstück. Das ist das Wenigste, was ich für Sie tun kann! Und stellen Sie bloß sicher, dass Sie Dil eine saftige Rechnung schreiben. Dieser elende Geizkragen.«
»Richtig.« Mark nickte resigniert. Er hatte tatsächlich Hunger. Es war eine Viertelstunde Fahrt nach Randtown von Ulon Valley aus, wo die Vernons ihr Weingut hatten. Mandys panischer, morgendlicher Anruf hatte ihm keine Zeit für einen Bissen gelassen, bevor er aufgebrochen war. Er hatte sich nicht mal die Zeit zum Zähneputzen genommen.
Mark setzte sich an einen großen Marmortisch in einem der großen geschwungenen Panoramafenster des Café Two For Tea. Auf der anderen Seite der Tür hatte bereits ein Paar an einem ähnlichen Tisch Platz genommen. Sie trugen Skianzüge und unterhielten sich munter, während sie sich verliebt anstarrten und den Rest der Welt ringsum nicht wahrzunehmen schienen.
Helles Sonnenlicht kroch über die Dau’sing Mountains, die Randtown im Norden umgaben. Mark setzte seine Sonnenbrille auf und entrollte einen Paperscreen – er hatte noch nie gerne direkt aus der virtuellen Sicht heraus gelesen. Die Buchstaben in seinem Gesichtsfeld verursachten ihm regelmäßig Kopfschmerzen. Ein Dutzend Schlagzeilen scrollte über die linke Seite nach unten, daneben lokale Nachrichten, die vom Randtown Chronicle in die Cybersphäre geladen wurden, der einzigen Mediengesellschaft auf dieser Seite des Planeten. Trotz allem guten Willen und aller Loyalität der Welt brachte Mark es nicht über sich, den Bericht über die neue Umgehungsstraße im Westen der Stadt zu lesen oder das geplante Aufforstungsprojekt im Oyster Valley. Also befahl er seinem E-Butler, die commonwealthweiten Nachrichten vom Vortag zu laden und verfolgte den Beginn der Präsidentschaftskampagne und die Finanzierungsanstrengungen. Zwischen den Zeilen las er, dass Doi bisher weder die Sheldons noch die Halgarths oder die Singhs auf ihre Seite hatte ziehen können.
»So, bitte sehr«, strahlte Mandy, als sie einen Teller vor ihm absetzte. Er war mit Pfannkuchen, Speck und Ahornsirup geradezu überladen, der aus jeder Schicht hervorquoll, und die Erdbeeren und Lolabeans oben drauf waren zu einem Smiley arrangiert. Daneben stellte Mandy ein großes Glas mit Apfel- und Mangosaft auf zerstoßenem Eis. »Ich bringe Ihnen noch Toast und Kaffee, sobald er fertig ist.« Sie zwinkerte ihm keck zu und eilte davon, um die Bestellung des Skifahrerpaares aufzunehmen. Hinter dem Tresen gurgelte und dampfte die Espressomaschine munter vor sich hin.
Der Essensgeruch zog durch die gesamte Straße. Immer mehr Menschen betraten das Café, während Mark vor seinem Frühstück saß. Einige sahen aus wie Touristen auf der Suche nach einem anständigen Frühstück vor den hektischen Aktivitäten des Tages. Sie blickten sich anerkennend um und bestaunten das imitierte römische Ambiente, bevor sie einen freien Tisch ansteuerten. Einheimische standen am Tresen und warteten auf ihre in der Mikrowelle aufgeheizten Panini und heißen Getränke für unterwegs. Mandy fand zwischendurch kaum noch Zeit, Mark seine vier dicken Scheiben Toast mit Butter und Vanille-Rhabarbercreme zu bringen, die er so sehr mochte. Auf dem Tellerrand lag außerdem noch ein Pain au chocolat, nur für den Fall.
Um halb neun schließlich gelang es Mark, das Café zu verlassen. Draußen erwartete ihn ganz genau die Sorte von Morgen, für die er dreihundert Lichtjahre weit gereist war, um sie für den Rest seines Lebens jeden Tag zu genießen. Er atmete die Luft, die jene einmalige, steife Kälte aufwies, wie sie nur am Fuß schneebedeckter Berge zu finden war. Die höheren Gipfel und Plateaus der Dau’sings waren noch immer schneebedeckt, einschließlich der beiden Skipisten. Mark blickte zu ihnen hinauf, und die Gläser seiner Sonnenbrille wurden automatisch dunkler, um seine Augen vor dem Licht von Elans heller G-9-Sonne zu schützen, die aus einem wolkenlosen Himmel auf ihn herabbrannte. Die Berge beherrschten die Landschaft jenseits der Stadt und bildeten eine beeindruckende Barriere aus verwitterten Gipfeln. Jetzt, nachdem auf Elans südlicher Hemisphäre der Frühling angebrochen war, strömte Schmelzwasser von den Hängen und füllte jede Spalte mit reißenden kleinen Wildbächen. Pinienarten von überall aus dem Commonwealth hatten die unteren Hänge besiedelt und erzeugten eine dringend nötige Kaskade aus üppigem Grün. Darüber gedieh noch immer das einheimische Boltgras, ein charakterloses grün-gelbliches Gewächs mit dürren Stängeln und Blättern. Abgesehen von der kleinen Oase fremder Vegetation, die Menschen in diese Gegend gebracht hatten, war es ausschließlich Boltgras, das jeden Hügel und jeden Hang dieses Gebirges bedeckte, welches fast ein Viertel des gesamten Kontinents einnahm.
Kleine, längliche Dreiecke aus goldenem Gewebe glitten bereits jetzt träge durch die Luft; die ersten Drachenflieger waren bereits auf der Suche nach thermischen Strömungen unterwegs. Normalerweise starteten sie von den Klippen des Backwater Crag, der sich im Osten der Stadt erhob. Ein Seilzugwagen schnitt geradewegs durch den Wald, der den Felsen bedeckte, und führte von der Basisstation hinter den Sportanlagen der High School bis zu dem halbkreisförmigen Orbit Building hinauf, das auf dem Gipfel des Felsens sechshundert Meter oberhalb der Stadt stand und aussah wie eine Fliegende Untertasse, die halb aus der Kante herausragte. Das Restaurant im Orbit Building war eine überteuerte Touristenfalle, auch wenn der Ausblick unschlagbar war, der sich dem Besucher von dort aus über die Stadt und den See bot.
Tag für Tag trugen kleine chromblaue Waggons Touristen, Flieger und Extremsportsüchtige auf den Felsen und zum Orbit hinauf. Von dort aus wanderten sie über Waldwege zu den Klippen, die genau in der richtigen Windrichtung standen, stiegen in ihre Da-Vinci-Anzüge und flogen los. Die richtigen Profis verbrachten den ganzen Tag hoch oben in den thermischen Strömungen und landeten erst wieder bei Einbruch der Dunkelheit.
Ein Da-Vinci-Anzug war ziemlich einfach zu benutzen: Er bestand im Grunde genommen aus einer sich verjüngenden schlafsackähnlichen Röhre mit Vogelschwingen, die eine Spannweite von bis zu acht Metern aufwiesen. Man stellte sich mit diesem Anzug an den Rand der Klippe, breitete die Arme aus und warf sich nach vorn in den Abgrund. Elektromuskelbänder in den Flügeln imitierten und verstärkten die Armbewegungen und gestatteten es dem Träger, mit den Flügeln zu flattern und zu manövrieren wie ein Vogel. Es war praktisch die vollkommenste Art, die die Menschheit je entwickelt hatte, wie ein Vogel zu fliegen.
Mark war selbst einige Male dort oben gewesen und mit einem Freund, der in der Stadt wohnte, zusammen in einen Instruktor-Anzug gestiegen. Es war wirklich ein faszinierendes Gefühl, doch er war nicht bereit, seine Arbeit aufzugeben und als Vollzeit-Lehrer einzusteigen.
Mark ging die Main Mall in Richtung Ufer hinunter. Die Läden zu beiden Seiten der Straße waren eine Ansammlung commonwealthweiter Franchise-Unternehmen wie Bean Here und das unvermeidliche Bab’s Kebabs Fastfood, durchsetzt mit lokalen Handwerksgeschäften, Bars und Cafés, alles in allem ein wenig origineller Mix.
Überall wurden Ladentüren für das tägliche Geschäft geöffnet, und Mark winkte vielen Angestellten zu und sagte häufig Hallo. Sie waren ausnahmslos junge Leute und sahen merkwürdig gleich aus; wären nicht ihre unterschiedlichen Hautfarben gewesen, sie hätten glatt Vettern sein können. Die Jungen hatten dicke, kurz geschorene Haare und Dreitagebärte, und sie waren durchtrainiert und richtig fit, nicht nur einfach in einem Studio aufgepumpt. Sie trugen weite Pullover oder noch weitere, wasserdichte Mäntel mit knielangen Shorts und Sportsandalen. Die Mädchen waren hübsch anzusehen in ihren kurzen Röcken und engen Hosen und T-Shirts, die den festen schlanken Bauch frei ließen, ganz gleich, wie kalt es draußen noch war. Sie alle arbeiteten nur aushilfsweise in den verschiedenen Läden, bedienten Kundschaft, kellnerten, verdingten sich als Pagen oder Barmann, als Personal an Bord der Taucherboote, als Führer bei den Rundfahrten oder als Kindergärtner für die ständigen Einwohner. Und sie taten es nur aus einem einzigen Grund: um genügend Geld für ihre nächsten Extremtouren zusammenzusparen. Randtowns größter Industriezweig war der Tourismus, und was die Stadt von zahllosen anderen Ferienorten überall im Commonwealth unterschied, waren die Sportarten, die in der wilden Landschaft rings um die Stadt herum ausgeübt wurden. Sie zogen Firstlifer an, die Sorte von Leuten, die sich ein wenig abgestoßen fühlten vom Mainstream des Lebens im Commonwealth, keine Rebellen, sondern Junkies auf der Suche nach dem nächsten Kick, fest entschlossen, einen noch schnelleren Weg den Berg hinunter zu finden, eine rauere Strecke über die Stromschnellen, eine Möglichkeit, auf ihren Jetskis noch engere Kurven zu fahren, oder noch höher aufzusteigen, um aus dem Hubschrauber zu springen. Ältere, konservativere Multilifer kamen ebenfalls hierher, stiegen in schicken Hotels ab und wurden tagtäglich aufs Neue mit klimatisierten Bussen zu ihren Ausflugszielen gekarrt. Sie waren diejenigen, welche die Dienstleistungswirtschaft in Anspruch nahmen, die Hunderte von schlecht bezahlten Jobs für junge Leute wie Mandy und Julie bereitstellte.
Mark überquerte die einspurige Fahrbahn am Ende von Main Mall und spazierte die Waterfront Promenade entlang. Randtown war um eine hufeisenförmige Bucht an der Nordküste des Lake Trine’ba errichtet worden. Mit einer Länge von einhundertachtzig Kilometern stellte der See die größte Frischwasserquelle auf dem gesamten Planeten dar. Und passend zu den Bergen, die den See in ihrer Mitte einschlossen, war er an verschiedenen Stellen mehr als einen Kilometer tief. Unter der erstaunlich blauen Oberfläche lauerte eine einzigartige Ökologie, die sich in Dutzenden von Millionen Jahren völliger Isolation ausgebildet hatte. Atemberaubend schöne Korallenriffe dominierten die Untiefen, während konische Atolle sich aus den tieferen Regionen hoben wie Miniaturvulkane. Sie waren die Heimat Tausender verschiedener Fischspezies, von bizarr bis majestätisch, auch wenn sie genau wie ihre Salzwasserkollegen auf diesem Planeten tödlich aussehende Spindeln und Stacheln anstatt Flossen benutzten, um sich fortzubewegen.
Nach dem winterlichen Ski- und Snowboardfahren war Tauchen die zweitgrößte Touristenattraktion von Randtown. Am Ufer gab es Dutzende von Stegen, wo die kommerziellen Tauchboote vertäut lagen. Selbst heute, obwohl die Temperaturen im Trine’ba nur knapp oberhalb des Gefrierpunkts lagen, waren zehn der Tauchfirmen mit ihren Booten draußen. Mark beobachtete einen großen Katamaran von Celestial Tours, der mit schäumender Gischt an jedem Heck hinter den Impellern vorüberglitt. Zwei Mann der Besatzung winkten ihm zu und riefen etwas, das er aufgrund des Motorenlärms jedoch nicht verstand.
Mark wanderte weiter an der Ufermauer mit ihrer einzelnen Zeile von Poesie entlang, die sich über die gesamte Länge hinzog. Eines Tages würde er sie von Anfang bis Ende lesen. Die Ables Motors Garage, sein eigener Franchise-Laden, befand sich ein paar Straßen jenseits des Ostendes der Promenade. Mark kam gegen Viertel vor neun dort an. Randtown war, obwohl es sich um die einzige Stadt im Umkreis von achthundert Kilometern handelte, nicht besonders groß. Ohne die Touristen und die jugendlichen Durchreisenden besaß die Stadt nur wenig mehr als fünftausend Einwohner. Man konnte in weniger als einer Viertelstunde von einem Ende zum anderen spazieren.
Draußen in den umliegenden Tälern und den Ebenen im Nordwesten lebte noch einmal die gleiche Anzahl Menschen, die Acker-, Weinbau und Viehzucht betrieben. Für die Bewältigung der Naturpisten des Distrikts benötigten sie anständige allradgetriebene Fahrzeuge. Das war es, worauf sich Ables Motors spezialisiert hatte. Es war ein Ableger von Farndale, der Fahrzeuge für raues Terrain herstellte. Auf der Suche nach einem neuen Heim und einem neuen Beruf war es Mark wie die perfekte Lösung erschienen. Er verstand etwas von Maschinen und konnte den größten Teil der leichteren Reparaturen selbst durchführen; der Handel mit neuen und gebrauchten Fahrzeugen würde sein Einkommen zusätzlich beträchtlich erhöhen. Unglücklicherweise jedoch war Ables Motors ein relativ neuer Geschäftszweig von Farndale, eine unbekannte, noch nicht etablierte Marke, während die altvertrauten Mercedes, Ford, Range Rover und Telmar den Löwenanteil des Marktes unter sich aufteilten. Wenig hilfreich war darüber hinaus, dass die Werkstatt von Ables erst zwei Jahre alt war. Vielleicht hätte er darüber nachdenken sollen, als er die Niederlassung zusammen mit den Hypotheken übernommen hatte. Die Verkäufe liefen schleppend, und angesichts der Zahl von verkauften Ables in der Gegend gab es gleichermaßen wenig mit Reparaturen und Inspektionen zu verdienen.
Es hatte weniger als zwei Wochen gedauert, bis Mark eingesehen hatte, dass das Geschäft mit den Geländewagen nicht annähernd dafür geeignet war, ein anständiges Einkommen für die Familie zu verdienen. Als er anfing, sich nach zusätzlicher Arbeit umzusehen, fand er rasch heraus, dass die Leute in der Stadt und auf den umliegenden Farmen eine Menge kaputter Gerätschaften herumstehen hatten, die jeder mit einer auch nur halbwegs vernünftigen Mechanikerausbildung reparieren konnte. Und Mark hatte sogar eine verdammt gute Mechaniker- und Elektronikerausbildung genossen, und überdies verfügte er über eine vollständig ausgestattete Werkstatt. Zu Beginn der dritten Woche nahm er ein paar defekte Apparate mit in die Werkstatt: zwei Janitorbots, eine Klimaanlage, das Sonar aus einem Tauchkatamaran, einen Herd und Solarwärmetauscher.
Randtown war eine verschworene, enge Gemeinschaft; die Menschen erfuhren unweigerlich von jemandem mit dieser Sorte von Talent. Schon bald wurde Mark mit Dingen überhäuft, die repariert werden mussten. Den Großteil seiner Arbeit erledigte er gegen Barzahlung. Wenn das Geschäft so weiter lief, würden er und Liz die Hypothek für das Weingut und die Werkstatt viel früher abbezahlen können, als sie ursprünglich geplant hatten.
An jenem Morgen warteten drei Autopflücker in der Werkstatt auf ihre Reparatur. Jede der Maschinen war so groß wie ein Auto und besaß eine ganze Reihe von Elektromuskel-Gliedmaßen. Sie gehörten Yuri Conant, der drei Weingüter im Ulon Valley besaß und inzwischen ein guter Freund und Nachbar war. Eines von Yuris Kindern war im gleichen Alter wie Barry.
Mark schlüpfte in seinen Overall und startete die Diagnoseroutinen bei der ersten Maschine. Die magnetischen Lager waren hinüber. Er lag noch immer unter der Maschine und untersuchte die Supraleiterverbindungen, als seine Verkaufsassistentin Olivia in die Werkstatt platzte.
»Hast du die Neuigkeiten schon gehört?«, fragte sie aufgeregt.
Mark schob sich auf seinem Rollwagen unter dem schlammverkrusteten Autopflücker hervor und bedachte sie mit einem verletzten Blick. »Wolfram hat gestern Abend endlich gefragt, ob er auf einen Kaffee mit reinkommen darf?« Es war die Saga einer frustrierten Liebesbeziehung, die inzwischen schon seit zwei Wochen lief; üblicherweise erhielt Mark jeden Morgen einen ausführlichen Bericht über die jüngsten Entwicklungen.
»Nein! Die Second Chance ist zurück! Sie ist vor vierzig Minuten über Anshun aus dem Hyperraum gekommen!«
»Gottverdammt! Tatsächlich?« Mark konnte sein Interesse nicht verbergen. Wäre er nicht verheiratet gewesen und hätte er keine Verantwortung für eine Familie gehabt, er hätte sich selbst für diese Reise beworben – eine Reise in ein interessanteres Universums, das jenseits von Augusta existierte. Wie die Dinge standen, hatte er sich jedoch damit begnügen müssen, die unterschiedlichsten Informationen über das Projekt auszugraben, bis er imstande war, alle möglichen Leute mit den Statistiken und trivialen Fakten zu langweilen. Sein E-Butler hatte den Auftrag, ihn über jede neue Entwicklung in Verbindung mit der Reise der Second Chance auf dem Laufenden zu halten, doch an diesem Morgen während der Fahrt in die Stadt hatte er einen Blocker aktiviert, um weitere Anrufe wie vom Café Tea For Two zu vermeiden. Nur die Familie konnte ihn erreichen, sonst niemand. Später hatte Mark vergessen, den Blocker zu deaktivieren, als er in der Werkstatt angekommen war. »Was haben sie herausgefunden?«, fragte er, während er rasch den Blocker deaktivierte.
»Sie ist verschwunden, glaube ich.«
»Was ist verschwunden?« Die Daten bauten sich in seiner virtuellen Sicht auf.
»Die Barriere. Sie ist verschwunden, als sie angefangen haben, sie zu untersuchen.«
»Heiliger Bimbam!« Marks virtuelle Hand huschte über Symbole und brachte Informationen in die virtuelle Sicht. Am Ende waren es so unübersichtlich viele, dass er sich in sein kleines Büro im hinteren Teil des Verkaufsraums zurückzog, um die Bilder in einem holographischen Portal zu betrachten. CST veröffentlichte Videoausschnitte über die Erkundungsflüge, noch während das Raumschiff seine Daten übertrug. Die Medienkonzerne stürzten sich gierig auf jeden noch so kleinen Happen und stellten ihre eigenen Teams von Analysten und Kommentatoren in den Studios zusammen.
Olivia hatte Recht gehabt – die Barriere war verschwunden. Diese Tatsache an sich war schon schockierend genug; sie ging Mark so nahe wie ein unerwarteter Todesfall in der Familie. Das war etwas, womit er absolut nicht gerechnet hatte – genauso wenig wie irgendeiner der Experten in den Studios, der Art und Weise nach zu urteilen, wie sie sich bemühten, einen Sinn darin zu erkennen.
Draußen auf der Straße vor Ables Motors herrschte nur wenig Verkehr. Das russische Schokoladenhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite zeigte die gleichen Bilder in den Portalen über der Theke. Gäste saßen an den Tischen und vergaßen ihre Getränke, während sie verständnislos auf die gezeigten Bilder starrten. Mark rief bei seiner Frau Liz an, um sie zu fragen, ob sie die Nachrichtenströme verfolge. Sie sagte ja, sie säße zusammen mit dem restlichen Personal in einem der Büros der Dunbavand Vine Nursery, wo sie arbeitete, und würde die Bilder verfolgen.
Ehrfurchtsvoll beobachtete Mark, wie die gigantischen Ringe in der Dunklen Festung sich im Portal auf seinem Schreibtisch drehten. Die Dimensionen waren beinahe unbegreiflich. Dann die Dyson-Zivilisation, die sich über das gesamte System hinter der Barriere ausgebreitet hatte. Die Spannung bei dem nuklearen Schlagabtausch zwischen den Schiffen erweckte in Mark das Gefühl, etwas Unmoralisches zu tun. Keiner der Kommentatoren, die Alessandra Barron in ihr Studio eingeladen hatte, mochte die Implikationen, die sich aus dieser Schlacht ergaben. Sie wandte sich an einen Kulturanthropologen und bat ihn um eine Erklärung, warum eine raumfahrende Spezies sich derartige Kämpfe lieferte. Der Anthropologe hatte eindeutig nicht die geringste Ahnung.