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Hat die Menschheit noch eine Chance?
Wir schreiben das Jahr 2380. Das intersolare Commonwealth, ein etwa 400 Lichtjahre durchmessendes Raumgebiet, birgt über 600 Welten. Sternenschiffe sind überflüssig geworden, denn die Planeten sind durch ein Netz aus Wurmlöchern miteinander verbunden. Am äußeren Rand des Commonwealth beobachtet ein Astronom das Unmögliche: Ein Stern verschwindet einfach - von einem Moment auf den anderen. Da er zu weit vom nächsten Wurmloch entfernt liegt, wird eigens ein überlichtschnelles Schiff gebaut. Seine Mission: herauszufinden, ob das Phänomen eine Bedrohung darstellt. Bald stellt sich heraus, dass es nie eine größere Bedrohung für die Menschheit gab ...
Der packende Auftakt zur spannungsgeladenen Science Fiction Saga des Bestseller-Autors Peter F. Hamilton.
Band 1: Der Stern der Pandora
Band 2: Die Boten des Unheils
Band 3: Der entfesselte Judas
Band 4: Die dunkle Festung
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Seitenzahl: 981
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Über den Autor
Alle Titel des Autors bei Bastei Lübbe
Impressum
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Wir schreiben das Jahr 2380. Das intersolare Commonwealth, ein etwa 400 Lichtjahre durchmessendes Raumgebiet, birgt über 600 Welten. Sternenschiffe sind überflüssig geworden, denn die Planeten sind durch ein Netz aus Wurmlöchern miteinander verbunden. Am äußeren Rand des Commonwealth beobachtet ein Astronom das Unmögliche: Ein Stern verschwindet einfach - von einem Moment auf den anderen. Da er zu weit vom nächsten Wurmloch entfernt liegt, wird eigens ein überlichtschnelles Schiff gebaut. Seine Mission: herauszufinden, ob das Phänomen eine Bedrohung darstellt. Bald stellt sich heraus, dass es nie eine größere Bedrohung für die Menschheit gab …
PETER F. HAMILTON
DIE COMMONWEALTH-SAGA
DER STERNDER PANDORA
ROMAN
Aus dem Englischen von Axel Merz
Der Mars dominierte den Raum draußen vor der Ulysses, ein aufgeblähter schmutzigroter Halbmond von einem Planeten, der es nie ganz bis zu einer Welt geschafft hatte. Klein, kalt, öde, luftleer war er nicht mehr und nicht weniger als die kältere Version der Hölle des Sonnensystems. Und doch hatte seine leuchtende Präsenz am Himmel den größten Teil der menschlichen Geschichte dominiert: zuerst als Gott, der Generationen von Kriegern inspirierte, dann als Ziel für zahllose Träumer.
Und jetzt war er für NASA Captain-Pilot Wilson Kime festes Land geworden. Zweihundert Kilometer jenseits der schmalen, gebogenen Cockpitscheibe des Landefahrzeugs konnte er die dunkle Spalte des Valles Marineris ausmachen. Als Junge hatte er auf die Technofantasien der Aries Underground Group zugegriffen, verzaubert von der Vision, wie eines Tages in einer nicht näher spezifizierten Zukunft schäumendes Wasser durch dieses weite Tal schießen würde, während nicht zu bremsende menschliche Genialität das gefrorene Eis befreite, das unter der rostigen Landschaft eingesperrt lag. Heute würde er der Erste sein, der diese staubigen Krater durchwanderte, die er auf Tausenden von Satellitenphotos studiert hatte. Er würde der Erste sein, der den legendären roten Staub durch seine behandschuhten Finger rieseln ließ. Heute würde ein glorreicher Tag werden.
Wilson verfiel automatisch in eine Tiefenfeedback-Atemübung, um seinen Herzschlag zu beruhigen, bevor die Realität dessen, was im Begriff stand zu geschehen, seinen Metabolismus beeinflussen konnte. Er würde diesen gottverdammten Medizinern daheim in Houston ganz bestimmt nicht die Chance geben, seine Fitness in Frage zu stellen und die Steuerung über das Landefahrzeug zu übernehmen. Acht Jahre hatte er in der USAF gedient, einschließlich zweier Dienstzeiten im Kampfeinsatz in Japan für die Operation Deliver Peace, gefolgt von weiteren neun Jahren bei der NASA. All die Vorbereitungen und die Erwartungen, die Opfer, seine erste Frau und ein vollkommen entfremdetes Kind, das ewige VR-Training in Houston, die Pressekonferenzen, die nervenzerfressenden PR-Touren durch Fabriken – all das hatte er ertragen, weil es zu diesem einen Moment an diesem heiligsten aller Orte geführt hatte.
Zum Mars.
Endlich.
»Initiiere VKT Entfernungsmessung, vergleiche RL-Akquisitionsdaten«, befahl er dem Autopiloten des Landefahrzeugs. Die bunten Linien des holografischen Displays auf der Cockpitscheibe begannen, ihre geometrischen Muster zu ändern. Mit einem Auge behielt Wilson den Timer im Blick: acht Minuten. »Evakuiere BGA System und Verbindungstunnel zum Mutterschiff.« Mit der linken Hand legte er die Schalter auf der Konsole um, und winzige LEDs leuchteten als Bestätigung auf. Manche Dinge würde die NASA niemals einer Stimmerkennungssoftware anvertrauen. »Beginne nicht-propulsive BGA Evakuierung. Erwarte Bestätigung der Abtrennsequenz vom Primärschiff.«
»Roger that, Eagle II«, erklang Nancy Kressmires Stimme in Wilsons Kopfhörer. »Telemetrieanalyse zeigt Landefahrzeug voll einsatzbereit. Energiesysteme des Primärschiffs bereit für Abkoppelmanöver.«
»Bestätige«, meldete Wilson dem Captain der Ulysses. Türkis- und smaragdfarbene Spinnweben im Innern der Cockpitscheibe gerieten elegant in Bewegung und meldeten den internen Energiestatus des Landers. Die scharfen Primärfarben wirkten irgendwie befremdlich über der fahlen Einöde der rauen marsianischen Landschaft draußen. »Schalte auf volle interne Energiezellen. Ich habe siebenmal Grün für die Umbilikalabtrennung. Ziehe Verbindungstunnel zum Primärschiff ein.«
Alarmierend laute, metallische Geräusche dröhnten durch die kleine Kabine, als der Luftschleusentunnel des kleinen Raumfahrzeugs in den Rumpf gezogen wurde. Selbst Wilson zuckte unwillkürlich zusammen angesichts des aufdringlichen Lärms, und er kannte das mechanische Layout des Landers besser als seine Entwickler.
»Sir?«, fragte er. Laut den NASA-Vorschriften war der Lander nach dem Abtrennungsvorgang vom Mutterschiff rein technisch betrachtet ein vollkommen eigenständiges Schiff, und Wilson war nicht der kommandierende Offizier.
»Die Eagle II gehörtIhnen, Captain«, sagte Commander Dylan Lewis. »Bringen Sie uns runter, sobald Sie bereit sind.«
Im vollen Bewusstsein der aufzeichnenden Kamera im hinteren Teil der Kabine antwortete Wilson: »Danke sehr, Sir. Wir sind online und werden planmäßig in sieben Minuten vollständig abgedockt haben.« Er konnte die Aufregung in den fünf Passagiersitzen hinter sich förmlich spüren. Sie alle gehörten zu den Besten der Besten und hatten so viele Auszeichnungen und Belobigungen erhalten, dass man sie in Flaschen abfüllen konnte. Und doch, jetzt, wo der Augenblick tatsächlich gekommen war, vermochten sie sich nicht mehr zu beherrschen, sondern waren nervös wie eine Bande Schuljungen auf dem Weg zu ihrer ersten Strandparty.
Der Autopilot ging die verbliebene Preflightsequenz durch, während Wilson die Liste kontrollierte und die entsprechenden Befehle erteilte. Er hielt sich gewissenhaft an die Mensch-in-der-Kette-Tradition, die bis zu Mercury VII zurückreichte und ihren epischen Kampf darum, dass Astronauten mehr waren als nur lebendes Fleisch in einer Konservendose. Punktgenau auf die Sieben-Minuten-Marke wurde der Verriegelungsbolzen eingezogen. Wilson feuerte die RCS-Korrekturtriebwerke und schob die Eagle II sanft von der Ulysses weg. Diesmal gab es nichts, was er an seinem rasenden Herzschlag hätte ändern können.
Als sie sich vom Mutterschiff entfernten, war die Ulysses vollständig in der Cockpitscheibe zu sehen. Der Anblick ließ Wilson glückselig grinsen. Das interplanetare Raumfahrzeug war das erste seiner Art: eine unansehnliche Ansammlung zylindrischer Module, Tanks und Träger, die ein rundes Gitterwerk von zweihundert Metern Durchmesser bildeten. Aus dem Perimeter ragten lange pechschwarze Solarpaneele wie Plastik-Blütenblätter, die allesamt dem Lauf der Sonne folgten. Mehrere der Habittatmodule waren im Muster des Sternenbanners bemalt und wirkten neben dem silber-weißen Thermoschaum, der jeden Zentimeter der Aufbauten einhüllte, unmöglich schrill. Direkt im Zentrum des Fahrzeugs und umgeben von einem ausladenden Ring silberner Wärmeabstrahlpaneele befand sich die hexagonale Kammer, in welcher der Fusionsgenerator untergebracht war, der den zehn Wochen dauernden Flug erst möglich gemacht hatte, indem er die Plasmatriebwerke konstant mit Brennstoff versorgte.
Es war der kleinste Fusionsreaktor, der jemals gebaut worden war: original Made in America, ein echtes Stück modernster Hochtechnologie. Europa war immer noch mit dem Bau seiner ersten beiden kommerziellen Fusionsreaktoren unten am Boden beschäftigt, wohingegen die USA bereits fünf derartiger Kraftwerke in Dienst genommen hatten. Weitere fünfzehn befanden sich im Bau. Und die Europäer verfügten über nichts Vergleichbares zu dem hoch komplexen Generator der Ulysses.
Verdammt, manche Sachen kriegen wir noch immer richtig gut hin, wenn wir es wirklich wollen, dachte Wilson stolz, während die strahlende Ansammlung von Weltraum-Hardware immer weiter in der ewigen Nacht zurückblieb.
Es würde mit Sicherheit noch wenigstens ein Jahrzehnt dauern, bis die FESA so weit sein würde, ihre eigene Mars-Mission auf die Beine zu stellen. Bis dahin wollte die NASA eine selbsterhaltende Basis auf dem eisigen Sand von Arabia Terra errichtet haben. Hoffentlich würde die Weltraumagentur dann auch mit dem Einfangen von Eis-Asteroiden begonnen und vielleicht sogar eine Expedition zum Jupiter gestartet haben. Ich bin noch nicht zu alt, um daran teilzunehmen, dachte Wilson. Sie brauchen erfahrene Commander.
Ihn überkam ein Anflug von Neid angesichts dessen, was in der mittleren Zukunft noch alles kommen würde, die Ereignisse und Wunder, die ihm möglicherweise durch Beschränkungen im Budget und durch den Zeitplan knapp entgehen würden.
Die Europäer können es sich erlauben zu warten.
Während die USA dank des vorherrschenden Einflusses der religiösen Rechten im Verlauf der vergangenen Präsidentschaften jegliche genetische Forschung im Zusammenhang mit Stammzellen eingestellt hatte, hatte die Bundesregierung in Brüssel Unmengen von Geldern in die biogenetische Forschung gesteckt und spektakuläre Ergebnisse erzielt. Heute, nachdem die anfänglichen Mängel in der extrem kostspieligen Produktion ausgebügelt waren, hatte Europa angefangen Menschen zu verjüngen. Der erste Mensch, der der neuen Behandlung unterzogen worden war, war in einem Klimax globaler Publicity gestorben, doch im Verlauf der darauf folgenden sieben Jahre hatte es achtzehn erfolgreiche Behandlungen gegeben.
Weltraum und Leben. Die separaten Interessen sprachen Bände über die Art und Weise, wie sich die Kulturen der beiden größten westlichen Machtblöcke im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte auseinander entwickelt hatten.
Heute begannen Wilsons amerikanische Zeitgenossen zögernd damit, ihre Einstellung im Hinblick auf genetische Manipulationen zu überdenken. Es gab bereits die ersten Gerüchte über karibische und asiatische Kliniken, die Multimilliardären Verjüngungsbehandlungen anboten.
Und das Vereinte Europa bemühte sich einmal mehr, den amerikanischen Vorsprung in der Weltraumforschung zu verringern, in dem verzweifelten Bemühen, der Welt zu beweisen, dass es den Amerikanern auf jedem Feld mindestens ebenbürtig war, wenn nicht gar überlegen. Angesichts des gereizten politischen Klimas, in dem der gesamte Planet gegenwärtig verharrte, hieß Wilson den Gedanken willkommen, dass die beiden Blöcke sich endlich wieder ein Stück weit einander annäherten – allerdings erst, nachdem die Amerikaner auf dem Mars gelandet waren.
»Erste deorbitale Bremszündung in drei Minuten«, meldete der Autopilot der Eagle II.
»Bereithalten«, befahl Wilson. Fast instinktiv überprüfte er den Druck der Treibstofftanks gefolgt von der Zündungsprozedur des Hauptantriebs.
Drei hypergolische Raketentriebwerke im Heck des kleinen Raumfahrzeugs feuerten einhundert Sekunden lang und schoben den Orbit auf eine Ebene hinunter, die durch die dünne Atmosphäre des Mars führte. Das sich daran anschließende Luftbremsmanöver dauerte über neunzig Minuten lang, während derer die Marsatmosphäre sich an den ausladenden Deltaflügeln des Landers rieb und auf diese Weise seine Geschwindigkeit aufzehrte. Im Verlauf der letzten fünfzehn Minuten konnte Wilson einen ganz schwachen hellrosa Schimmer auf der stumpfen Nase der Eagle II erkennen. Es war der einzige Hinweis auf die tobenden Gewalten ultraschneller Gasmoleküle, die auf den Rumpf einhämmerten. Der Abstieg verlief unglaublich sanft, und die Gravitation nahm nach und nach zu, während sie der kraterübersäten Landschaft von Arabia Terra immer weiter entgegen sanken.
Bei einer Höhe von sechs Kilometern aktivierte Wilson die dynamischen Profilflügel. Langsam fuhren sie bis auf ihre volle Spannweite von einhundert Metern aus und erzeugten auf diese Weise so viel Auftrieb, wie in der dünnen Marsatmosphäre nur irgend möglich war. Mit ihrer Hilfe war die Eagle II sogar richtig gleitfähig, sollte es erforderlich werden. Dann zündete der Turbinenantrieb und beschleunigte das Fahrzeug langsam bis auf eine Geschwindigkeit von konstant zweihundertfünfzig Stundenkilometern. Die westlichste Ecke des gewaltigen Schiaparelli-Kraters kam in der Ferne in Sicht, steile Wände, die sich aus dem zerklüfteten Boden erhoben wie ein vom Wetter zerfressener Gebirgszug.
»Visuelle Bestätigung des Landeplatzes«, meldete Wilson. Seine Systemdiagramme zeichneten grüne und blaue Sinuswellen auf das Cockpitfenster. Das Bodenradar begann, die Aussicht mit einem dreidimensionalen Gitter von Gräben und Spitzen zu überziehen, das sich fast mit dem deckte, was Wilson durch die Scheibe sehen konnte.
»Eagle II, Systemdiagnose bestätigt alles klar zum Landen«, kam das Signal von Mission Control. »Viel Glück, Jungs. Ihr habt ein recht großes Publikum hier unten.«
»Danke, Mission Control«, antwortete Commander Lewis in formellem Ton. »Wir können den Touchdown kaum erwarten. Hoffentlich bringt Wilson uns sanft nach unten.« Es würde noch vier weitere Minuten dauern, bis irgendjemand unten auf der Erde seine Worte hörte. Bis dahin wären sie bereits gelandet … wenn alles glatt lief.
»Kontakt mit Signal der Frachtlander«, berichtete Wilson. »Entfernung achtunddreißig Kilometer.« Er blinzelte durch die Cockpitscheibe, während der Autopilot eine rote Sichtlinie auf das HUD zeichnete. Der Kraterrand wurde stetig größer. »Ah, ich habe sie.«
Zwei staubige graue Punkte auf einem ausgedehnten, ebenen Stück Erde.
Für das letzte Stadium umkreiste die Eagle II langsam die robotisierten Frachtlander. Es waren einfache konusförmige Apparate, die bereits Tage zuvor von der Ulysses zur Oberfläche geschickt worden waren, beladen mit Tonnen von Ausrüstung einschließlich einer kleinen vorfabrizierten Basisstation. Die Frachtlander zu entladen und den geplanten Campus zu errichten sowie in Betrieb zu nehmen, war die Hauptaufgabe, die auf die Crew der Eagle II wartete.
»Bodenscan bestätigt Nutzbarkeit des geplanten Gebiets«, meldete Wilson. Er war fast ein wenig enttäuscht über das Radarbild. Als Neil Armstrong und Buzz Aldrin auf dem Mond gelandet waren, hatten sie hastig die manuelle Kontrolle über ihr Mondmodul übernehmen und es zu einer sicheren Zone steuern müssen, als sich herausstellte, dass der geplante Landeplatz mit Felsbrocken übersät war. Diesmal – einundachtzig Jahre später -hatten Satellitenaufklärung und Orbitalradar-Kartografie derartige Unsicherheitsfaktoren aus dem Missionsprofil eliminiert.
Wilson brachte die Eagle II auf dem vorausgeplanten Weg herum und aktivierte den Autopiloten. »Landegestell ausgefahren und verriegelt. VM Motoren unter Druck und einsatzbereit. Dynamische Flügel im Umformungsmodus. Bodengeschwindigkeit nähert sich einhundert Stundenkilometern. Abstiegsrate nominal. Wir sind exakt im Plan, Leute.«
»Gute Arbeit, Wilson«, sagte Commander Lewis. »Dann lassen Sie uns mal runtergehen.«
»Verstanden, Sir.«
Die Bremsraketen feuerten, und die Eagle II sank, langsam aus dem hellrosafarbenen Himmel. Es waren noch einhundert Meter, als Wilson die Geduld verlor. Er legte vier Schalter um und nahm den Autopiloten offline. Rote LEDs blinkten vorwurfsvoll auf der Konsole. Wilson ignorierte sie und brachte das kleine Raumfahrzeug manuell nach unten. Das war leichter als jede Simulation. Staub schwebte draußen vor der Scheibe hoch, dicht und haftend, als die Abgase aus den Raketenmotoren die Marsoberfläche aufwirbelten. Das Radar lieferte Wilson die finalen Annäherungsvektoren; durch die Cockpitscheibe war nichts mehr zu sehen. Sie landeten butterweich. Der Lärm der Raketenmotoren verhallte. Draußen wurde es allmählich wieder heller, als der aufgewirbelte Staub nach und nach zu Boden sank.
»Houston, Eagle II ist gelandet«, meldete Wilson. Er musste sich zu den Worten zwingen, so trocken war seine Kehle vor Aufregung und Stolz. Er konnte diesen wunderbaren Satz hören, wie er durch die Geschichte hallte, die der Vergangenheit und die der Zukunft. Und ich habe es getan, ich selbst, nicht irgendeine gottverdammte Maschine.
Hinter ihm in der Kabine brandeten Jubel und Hochrufe auf. Wilson wischte sich einen fehlgeleiteten Tropfen Feuchtigkeit mit dem Handrücken aus dem Auge. Dann war er plötzlich mit der Überwachung der Systeme beschäftigt und schaltete den Autopiloten wieder ein. Die externen Instrumente bestätigten, dass sie gelandet waren und sich in einer stabilen Position befanden. Das Raumfahrzeug musste in Oberflächen-Bereitschaftsmodus versetzt werden, um die Lebenserhaltungssysteme der Kabine zu versorgen und die Raketenmotoren warm zu halten, damit der Start nicht zu einem Problem werden würde, und der Status des Treibstofftanks musste kontrolliert werden. Eine schier endlose, langweilige Liste voller Aufgaben, die Wilson mit fehlerlosem Eifer abarbeitete.
Erst nachdem er damit fertig war, stiegen die sechs in ihre Anzüge. Angesichts der chronischen Enge in der Kabine war es ein schwieriger, langwieriger Prozess, bei dem jeder jeden anrempelte. Als Wilson fast fertig war, reichte Dylan Lewis ihm seinen Helm.
»Danke.«
Der Commander sagte nichts, sondern sah ihn nur an, ein unmissverständlicher Tadel für die manuelle Landung.
Zur Hölle mit dir, erwiderte Wilson lautlos. Wir sind der entscheidende Faktor, wir Menschen, die auf den Mars kommen, nicht die Maschinen, mit denen wir herkommen. Ich konnte nicht zulassen, dass uns ein Computerprogramm herunterbringt.
Wilson stand mit den anderen in einer Reihe, als der Commander die kleine Luftschleuse im hinteren Teil der Kabine betrat. Dritter. Ich gehe als dritter. Auf der Erde würden sie sich später alle nur an Commander Dylan Lewis erinnern. Der erste Mensch auf dem Mars. Es war Wilson egal. Ich gehe als dritter.
Auf dem Displaygrid in Wilsons Helm war das Bild einer Außenkamera zu sehen, die unmittelbar über der Luftschleuse angebracht war. Es zeigte eine schmale Aluminiumleiter, die bis in den Marssand hinunter reichte. Commander Lewis kam rückwärts aus der Schleuse und setzte den Fuß langsam und vorsichtig auf die oberste Sprosse. Herrgott noch mal, beweg deinen Arsch!, hätte Wilson ihn am liebsten angebrüllt. Die Telemetrie des Anzugs sagte ihm, dass seine Haut erhitzt und feucht war. Er versuchte sich wieder an einer Tiefenfeedback-Atemübung, doch diesmal schien sie nicht zu funktionieren.
Commander Lewis stieg hübsch vorsichtig eine Sprosse nach der anderen hinunter. Wilson und die anderen in der Kabine hielten den Atem an; Wilson fühlte förmlich, wie ein paar Milliarden Menschen auf der guten alten Erde das gleiche taten.
»Ich mache diesen Schritt für die gesamte Menschheit, auf dass wir eines Tages als ein Volk auf der Straße zu den Sternen wandern mögen.«
Wilson verzog das Gesicht, als er die Worte hörte. Lewis klang unglaublich gravitätisch. Dann kicherte jemand, kicherte laut und deutlich; Wilson hörte es über das allgemeine Kommunikationsband. Mission Control würde außer sich sein vor Wut.
Doch dann berührte Lewis’ Stiefel den Boden, und Wilson vergaß alles andere. Sein Fuß sank langsam in den roten Sand des Mars und hinterließ einen deutlichen Abdruck.
»Wir haben es geschafft!«, flüsterte Wilson in sich hinein. »Wir haben es tatsächlich geschafft, wir sind da!« Ein weiteres Mal jubelten alle in der Kabine, und von der Ulysses kamen Glückwünsche herein. Jane Orchiston kletterte bereits in die Luftschleuse. Wilson missgönnte es ihr nicht – um politisch korrekt zu sein, gab es gar keine andere Alternative, und die NASA war sehr darauf bedacht, es so vielen Menschen wie möglich recht zu machen.
Commander Lewis beschäftigte sich damit, eine hochauflösende Aufnahme seines historischen Fußabdrucks anzufertigen. Ein Erfordernis, das seit einundachtzig Jahren in den Handbüchern der NASA festgehalten war, seit Apollo XI nach Hause zurückgekehrt war und man dieses peinliche Versäumnis bemerkt hatte.
Lieutenant Commander Orchiston stieg die Leiter hinab – ein gutes Stück schneller als Commander Lewis -, und Wilson betrat die Luftschleuse. Er konnte sich nicht einmal mehr an die Zeit erinnern, die die kleine Kammer zum Evakuieren benötigte; in seiner persönlichen Wahrnehmung hatte sie nie existiert. Dann war er draußen und auf der Leiter. Sorgfältig prüfte er seinen Halt, bevor er all sein – verringertes – Gewicht auf die Sprossen setzte. Dann, auf der untersten Sprosse, hielt er kurz inne. »Ich wünschte, du könntest das noch sehen, Dad.« Schließlich stellte er den Fuß auf den Boden, und er war auf dem Mars.
Wilson bewegte sich von der Leiter weg, vorsichtig in der niedrigen Gravitation. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und atmete laut in seinem Helm. Das Zischen der Helmbelüftung war allgegenwärtig. Geisterhafte Grafiksymbole der Anzugkontrollen flackerten Ärgernis erregend über sein Gesichtsfeld. Andere redeten ihm direkt in den Kopf. Er hielt inne und drehte sich einmal ganz um die eigene Achse. Der Mars! Dreckiges Felsgeröll und Staub bedeckten den Boden. Ein scharf umrissener Horizont. Eine kleine, grelle, kalte Sonne. Wilson suchte den Himmel ab, bis er den Stern gefunden hatte, der die Erde war. Dann hob er eine behandschuhte Hand und winkte ihr feierlich zu.
»Möchten Sie mir vielleicht dabei helfen?«, fragte Commander Lewis. Er hielt den Flaggenstab in der Hand, das Sternenbanner fest um den Kopf der Stange gewickelt.
»Jawohl, Sir.«
Jeff Silverman, der Geophysiker, war bereits auf der Leiter. Wilson ging zu Commander Lewis, um ihm mit dem Flaggenmast zu helfen. Auf dem Weg dorthin musterte er kritisch die Eagle II. Am Rumpf entlang gab es eine Reihe von Brandflecken, die sich von den Flügelwurzeln nach hinten zogen; allerdings waren sie nur sehr schwach. Ansonsten: Nichts. Das Schiff war in hervorragendem Zustand.
Der Commander versuchte, den kleinen Dreifuß an der Basis des Flaggenmastes auseinander zu klappen. Die dick gepolsterten Handschuhe machten das Unterfangen kompliziert. Wilson streckte die eigene Hand aus, um den Flaggenstab zu halten.
»Yo, Kumpels, wie geht’s denn so? Könnt ihr vielleicht Hilfe gebrauchen da unten?« Der Frage folgte ein Kichern, das gleiche Kichern, das Wilson schon früher gehört hatte.
Wilson kannte die Stimme von jedem Missionsteilnehmer. Wenn man so lange Zeit zusammen mit achtunddreißig anderen Menschen in einem so beengten Raum wie an Bord der Ulysses verbrachte, wurde die Stimmerkennung perfekt. Niemand musste sich mehr mit Namen melden.
Wer auch immer gesprochen hatte, er gehörte nicht zur Crew, und trotzdem wusste Wilson, dass die Stimme in Echtzeit gesprochen hatte und es sich nicht um einen Pirat von der Erde handelte, der sich in den NASA-Funkverkehr gehackt hatte.
Commander Lewis war wie erstarrt. Das Dreibein des Flaggenmastes war noch immer nicht vollständig ausgeklappt. »Wer war das?«
»Das war ich, Kumpel. Nigel Sheldon, stets zu Diensten. Insbesondere dann, wenn Sie ganz schnell nach Hause zurückwollen.« Erneut dieses Kichern. Dann eine zweite Stimme. »O Mann, mach das nicht! Du machst sie echt stinksauer auf dich!«
»Wer spricht da?«, fragte Lewis in scharfem Ton.
Wilson hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Er glitt-ging so schnell, wie es in der niedrigen Schwerkraft gefahrlos möglich war, in Richtung des Hecks der Eagle II. Er wusste, dass sie ganz nah sein mussten, und auf dieser Seite des Raumfahrzeugs konnte er ungehindert bis zum Horizont sehen. Kaum war er an den glockenförmigen Abstrahlöffnungen der Raketenmotoren vorbei, blieb er wie angewurzelt stehen. Dort war jemand anderes, den Arm zu einem fast entschuldigenden Winken hoch erhoben.
Jemand in etwas, das aussah wie ein selbstgebastelter Raumanzug.
Was eine irrwitzige Interpretation war, doch es handelte sich definitiv um eine Art von Druckanzug, möglicherweise eine modifizierte Tiefseeausrüstung. Das Außengewebe bestand aus einer Art stumpfem braunen Gummi mit dicken, wulstigen Nähten und stand in ausgesprochenem Kontrast zu Wilsons schneeweißem Zehn-Millionen-Dollar-Marsanzug.
Der Helm sah aus wie ein klassisches Goldfischglas aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, und darin war der Kopf eines jungen Mannes mit einem spärlichen Bart und langen, fettigen Haaren zu sehen, die hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Kein Strahlenschutz, dachte Wilson dümmlich. Auch kein Tornister, kein tragbares Lebenserhaltungssystem … stattdessen ein Bündel von Druckschläuchen, die sich vom Rücken des Jugendlichen zu einem …
»Ich werd’ verrückt!«, murmelte Wilson.
Hinter dem Eindringling war ein zwei Meter durchmessender Kreis von einem anderen Ort.
Er hing über dem marsianischen Boden wie ein bizarres, überlagertes Fernsehbild, mit einem seltsamen Rand aus wabernden Beugemustern, Licht aus einem grauen Universum. Eine Öffnung durch den Weltraum, ein Gateway, ein Tor zu etwas, das aussah wie ein heruntergekommenes Physiklabor.
Die andere Seite war durch dickes Glas abgetrennt. Ein unangepasster intellektuell aussehender College-Typ mit einem wilden Afro-Haarschnitt drückte das Gesicht dagegen und starrte auf den Mars hinaus. Er lachte und lachte und deutete mit der Hand auf Wilson. Über ihm schien die helle kalifornische Sonne durch die offenen Fenster des Physiklabors herein.
Der Stern verschwand einfach so aus dem Zentrum des Teleskopbilds, innerhalb eines Zeitraums, der kürzer war als ein Herzschlag. Es gab keinen Irrtum. Dudley Bose hatte genau auf den Stern gesehen, als es passierte. Er blinzelte überrascht und trat vom Okular zurück. »Das kann nicht sein«, murmelte er leise.
Dudley erschauerte wegen der kalten Luft ringsum und schlug sich mit den behandschuhten Händen auf die Arme. Seine Frau Wendy hatte darauf bestanden, dass er sich zum Schutz gegen die Kälte der Nacht dick anzog, und pflichtbewusst hatte er das Haus in einem schweren Wollmantel und stabilen Wanderhosen verlassen. Wie immer, wenn die Sonne hinter dem Horizont von Gralmond versank, verflüchtigte sich jede Wärme aus der unterdurchschnittlich dünnen Atmosphäre des Planeten beinahe augenblicklich, und bei dem offenen Teleskop um zwei Uhr morgens war die Temperatur weit genug gesunken, um jeden Atemzug vor Dudleys Gesicht zu grauem Nebel kondensieren zu lassen.
Dudley schüttelte den Kopf, um die aufkeimende Müdigkeit zu vertreiben, und beugte sich wieder vor, um wieder durch das Okular zu blicken. Das Sternenmuster war das Gleiche wie vorhin – die Ausrichtung des Teleskops stimmte also noch -, doch Dyson Alpha war nach wie vor verschwunden. »Es kann unmöglich so schnell gegangen sein«, sagte Dudley.
Er beobachtete das Dyson-Paar nun seit vierzehn Monaten auf der Suche nach den ersten Hinweisen der Umhüllung, die das Emissionsspektrum so dramatisch verändern würde. Bis heute Nacht hatte es keinerlei Veränderung bei dem winzigen gelben Fleck aus Licht in zwölfhundertvierzig Lichtjahren Entfernung gegeben, der Dyson Alpha genannt wurde.
Dudley hatte gewusst, dass es eine Veränderung geben würde; es war die astronomische Fakultät der Oxford University auf der Erde gewesen, die im Jahre 2170 bei einem Routinescan des Sternenhimmels zuerst die Veränderung bemerkt hatte, vor zweihundertzehn Jahren. Seit dem vorhergehenden Scan vor zwanzig Jahren hatten zwei Sterne, ein K- und ein M-Typ in einem Abstand von drei Lichtjahren, ihr Emissionsspektrum völlig verändert; beide strahlten nun in unsichtbarem Infrarot. Für ein paar kurze Monate hatte die Entdeckung unter den Resten der astronomischen Gemeinde für erregte Debatten darüber gesorgt, wie es denn möglich sein könne, dass beide Sterne so rasch zu roten Riesen verfielen, sowie über die statistische Unwahrscheinlichkeit, dass zwei stellare Nachbarn simultan diese Verwandlung durchliefen. Dann hieß es in Berichten von einer neu besiedelten Welt fünfzig Lichtjahre weiter außerhalb, dass das Sternenpaar noch immer in seinem ursprünglichen Spektrum sichtbar sei. Indem Astronomen die Distanz rückwärts abarbeiteten und das Spektrum in verschiedenen Entfernungen von der Erde überprüften, fanden sie heraus, dass die Veränderung beider Sterne in einem Zeitraum von vielleicht sieben oder acht Jahren stattgefunden haben musste.
Angesichts dieser kurzen Zeitspanne hörte die Natur der Veränderung auf, eine Frage der Astronomie zu sein – Sterne jener Kategorien benötigten einen sehr viel längeren Zeitraum, um sich in rote Riesen zu verwandeln. Die Emission der beiden hatte sich also nicht aufgrund irgendwelcher natürlicher stellarer Prozesse vollzogen. Sie war das direkte Resultat technologischer Intervention im größten nur vorstellbaren Maßstab.
Irgendjemand hatte eine massive Hülle um jeden der beiden Sterne errichtet. Das war eine Leistung, deren Maßstab nur noch durch den kurzen Zeitraum übertroffen wurde, in dem sie bewerkstelligt worden war. Acht Jahre waren unvorstellbar kurz, um eine so gigantische Konstruktion zu errichten, und die fremde Zivilisation hatte offensichtlich zwei davon gleichzeitig gebaut. Nichtsdestotrotz war das Konzept der menschlichen Rasse nicht gänzlich neu.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert hatte ein Physiker namens Freeman Dyson postuliert, dass die Artefakte einer technologisch fortgeschrittenen Zivilisation letzten Endes einen Stern völlig umhüllen würden, um all seine Energie auszunutzen. Und jetzt hatte jemand diese uralte Hypothese in die Realität umgesetzt. Es war unausweichlich, dass die beiden bis dahin namenlosen Sterne offiziell auf den Namen Dyson-Paar getauft worden waren.
Nach der Veröffentlichung aus Oxford wurden massenweise spekulative Theorien darüber publiziert sowie theoretische Studien, die sich damit beschäftigten, wie man einen jupitergroßen Planeten zerlegen konnte, um eine derartige Schale zu produzieren. Doch es gab keine wirkliche Dringlichkeit hinter der Entdeckung. Die menschliche Rasse war bereits verschiedenen intelligenten Alien-Spezies begegnet, ausnahmslos beruhigend harmlos, und das Intersolare Commonwealth expandierte stetig. Es war eine Frage von höchstens ein paar Jahrhunderten, bis ein Wurmloch zum Dyson-Paar geöffnet werden würde. Jede ungeklärte Frage bezüglich der Dyson-Sphären konnten die Erbauer anschließend persönlich beantworten.
Und nun hatte Dudley erlebt, dass die Umhüllung nahezu augenblicklich vonstatten gegangen war. Daraus hatte sich eine ganze neue Serie höchst unbehaglicher Fragen über die Zusammensetzung der Sphäre ergeben. Eine acht Jahre währende Konstruktions- und Bauphase für eine massive Sphäre jener Größenordnung war als höchst bemerkenswert eingestuft worden, doch offensichtlich möglich. Als Dudley mit der Observation des Dyson-Paares begonnen hatte, war er davon ausgegangen, eine jährliche Abnahme der Helligkeit beider Sterne beobachten zu können, während mehr und mehr Segmente produziert und an Ort und Stelle geschafft wurden.
Das hier änderte jedoch alles.
So abrupt, wie die Sphäre den Stern eingehüllt hatte, konnte sie nicht materieller Natur sein. Es musste sich um eine Art Energiefeld handeln. Aber warum sollte irgendjemand einen Stern mit einem Energiefeld umgeben?
»Sind wir auf Aufzeichnung?«, fragte Dudley seinen E-Butler.
»Sind wir nicht«, antwortete der E-Butler. »Gegenwärtig sind im Brennpunkt des Teleskops keine elektronischen Sensoren aktiv.« Die Stimme klang ein wenig dünn, bassverstärkt, ein Ton, der im Verlauf der letzten Jahre immer unangenehmer geworden war. Dudley vermutete, dass sein OCTattoo an seinem Ohr allmählich degenerierte; organische Schaltkreise waren stets empfänglich für Angriffe durch Antikörper, und das OCTattoo war über fünfundzwanzig Jahre alt. Nicht, dass die glitzernde purpur-türkisfarbene Spirale auf seiner Haut sich verändert hätte. Ein klassischer Anfall juveniler Dynamik nach seiner letzten Rejuvenation hatte ihn dazu verleitet, ein sichtbares Muster zu wählen, damals todschick und angesagt. Heute war es ziemlich peinlich für einen Professor mittleren Alters, mit so etwas über den Campus zu laufen. Natürlich hätte Dudley das alte Muster auslöschen und es durch etwas Diskreteres ersetzen lassen sollen, doch irgendwie war er nie dazu gekommen, trotz der wiederholten Bitten seiner Frau.
»Verdammt!«, grunzte Dudley bitter; doch die Vorstellung, dass sein E-Butler vielleicht die Initiative ergriffen haben könnte, war im Grunde genommen nicht mehr als eine letzte vergebliche Hoffnung gewesen. Dyson Alpha war erst vierzig Minuten zuvor hinter dem Horizont aufgestiegen. Dudley hatte sich auf die Observation vorbereitet und seine Standardverifikation durchgeführt, eine essentielle Arbeit dank der schlecht gewarteten mechanischen Systeme, die das Teleskop steuerten. Er befahl niemals die Aktivierung der Aufzeichnungssensoren, bevor er seinen abschließenden Systemcheck beendet hatte. Vielleicht hatte diese gewissenhafte Vorbereitung ihn soeben das gesamte Observationsprojekt gekostet.
Dudley beugte sich über das Okular und warf einen weiteren Blick durch das Teleskop. Der kleine Stern war im visuellen Spektrum nach wie vor nicht wahrzunehmen. »Aktiviere jetzt bitte die Sensoren«, befahl Dudley seinem E-Butler. »Ich möchte wenigstens ein paar Minuten Aufzeichnungen von heute Nacht haben.«
»Ich zeichne auf«, meldete der E-Butler pflichtbewusst. »Die Sensoren könnten von einer Rekalibrierung profitieren; die Bildqualität liegt beträchtlich unterhalb dessen, was als Optimum erreichbar ist.«
»Ja. Ich kümmere mich darum«, antwortete Dudley geistesabwesend. Der Zustand der Sensoren war ein Hardware-Problem; ein Problem, mit dem er seine Studenten betrauen sollte (alle drei). Zusammen mit hundert anderen Aufgaben, dachte Dudley müde.
Er stieß sich vom Teleskop ab und benutzte die Füße, um auf dem schwarzen Ledersessel quer über den nackten Betonboden des Observatoriums zu rollen. Das klappernde Geräusch der alten Laufrollen hallte dünn durch den höhlenartigen Raum. Es gab genügend freien Platz für eine Vielzahl von ausgeklügelten Hilfssystemen, die das Observatorium auf nahezu professionellen Standard gebracht hätten; sogar für ein größeres Teleskop war genug Freiraum da. Doch die Gralmond University verfügte nicht über die nötigen Mittel für solch ein Upgrade, und bisher war es auch nicht gelungen, die CST – Compression Space Transport, die einzige Gesellschaft, die wirklich an derartigen Dingen interessiert war – als kommerziellen Sponsor zu gewinnen. Die astronomische Fakultät überlebte mit Hilfe magerer Regierungsstipendien und ein paar Zuwendungen seitens verschiedener Stiftungen für Grundlagenforschung. Sogar eine auf der Erde ansässige Bildungsgesellschaft überwies einmal im Jahr eine Spende.
Neben der Tür befand sich die lange Holzbank, die de facto der gesamten Fakultät als Büro diente. Sie war vollgestellt mit altem, gebrauchtem elektronischem Gerät und Hi-Rez Displayportalen. Auch Dudleys Aktentasche mit seinen Mitternachtssnacks und einer Kanne Tee lag dort.
Dudley öffnete die Tasche und begann, auf einem Schokoladenplätzchen zu kauen, während die Sensorbilder in den Displayportalen aufflackerten. »Leg das Infrarotbild auf das Primärdisplay«, befahl er seinem E-Butler.
Holografische Punkte auf dem großen Primärportal veränderten ihre Farben und lieferten ein Falschfarbenbild des Sternenfelds rings um das Dyson-Paar herum. Dyson Alpha gab eine schwache infrarote Signatur ab. Ein wenig abseits und zwei Lichtjahre weiter entfernt leuchtete Dyson Beta noch immer in seinem normalen M-Klasse-Spektrum.
»Das war also tatsächlich das Umhüllungsereignis«, sinnierte Dudley. Es würde noch zwei weitere Jahre dauern, bevor irgendjemand beweisen konnte, ob das gleiche Ereignis simultan auch bei Dyson Beta stattgefunden hatte. Wenigstens würden die Leute zugeben müssen, dass das Dyson Alpha Ereignis sich in weniger als dreiundzwanzig Stunden vollzogen hatte, seit Dudleys letzter Observation. Es war ein Anfang, wenngleich kein guter. Schließlich hatte Dudley soeben etwas unglaublich Erstaunliches beobachtet – doch ohne eine Aufzeichnung zur Untermauerung würde sein Bericht wahrscheinlich nur Unglauben hervorrufen und einen gewaltigen Kampf um seinen ohnehin nicht sonderlich guten Ruf nach sich ziehen.
Dudley war zweiundneunzig, in seinem zweiten Leben, und der Zeitpunkt für die nächste Rejuvenation rückte rasch näher. Obwohl sein Körper das physische Alter eines Fünfzigjährigen besaß, war die Aussicht auf eine langwierige, kräftezehrende Kampagne innerhalb der Akademie etwas, wovor er sich fürchtete. Für eine vorgeblich fortschrittliche Zivilisation konnte das Interstellare Commonwealth manchmal entsetzlich konservativ sein, ganz zu schweigen von grausam.
Aber vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm, sagte er sich. Die Lüge tröstete ihn genug, um ihm durch den Rest der Nachtschicht zu helfen.
Der Carlton AllLander fuhr Dudley kurz nach Sonnenaufgang nach Hause. Das Fahrzeug war genau wie der Astronom alt und abgenutzt, doch es war durchaus imstande, seine Arbeit zu erledigen. Es besaß einen billigen Dieselmotor, einfach genug für eine Semi-Randwelt wie Gralmond, auch wenn ein hochmoderner photoneuraler Prozessor als Steuereinheit fungierte. Mit dem höhergelegten Fahrwerk und den grobstolligen Reifen konnte es bei jedem Wetter und in jeder Jahreszeit den Feldweg zum Observatorium bewältigen, einschließlich dem meterhohen Schnee in Gralmonds Wintern.
An diesem Morgen musste es jedoch lediglich mit anhaltendem leichtem Nieselregen kämpfen sowie einer dicken Schlammschicht auf dem Weg. Das Observatorium lag im Hochmoor neunzig Kilometer östlich von Leonida City, der Hauptstadt des Planeten. Nicht gerade ein hoher Aussichtspunkt, doch es war die höchste Erhebung innerhalb einigermaßen vernünftiger Entfernungen, und es war höchst unwahrscheinlich, dass es hier jemals so etwas wie Lichtverschmutzung geben würde.
Es dauerte vierzig Minuten, bis der Carlton begann, in die tieferen Täler hinunter zu fahren, wo der Haupt-Highway sich am Fuß der Hänge entlang wand. Erst dort gab es die ersten vereinzelten Anzeichen menschlicher Besiedlung. Ein paar Gehöfte waren in geschützten Falten der Landschaft errichtet worden, wo schmale Flecken dunkler einheimischer immergrüner Cynomel-Bäume den Boden über jedem Rinnsal und jedem Wildbach bedeckten. Man hatte Weiden an den nackten Hängen angelegt, wo Vieh im kalten Wind zitterte, der vom Moorland herunter wehte.
Während der Carlton unermüdlich und vorsichtig den Weg entlang hüpfte, sinnierte Dudley darüber, wie er realistischerweise die Neuigkeiten publizieren konnte. Selbst ein dreiundzwanzig Stunden währender Umhüllungsprozess war ein Konzept, das die kleine Bruderschaft professioneller Astronomen des Commonwealth sofort von der Hand weisen würde. Und die Behauptung, dass sich die Umhüllung im Bruchteil einer Sekunde vollzogen hatte, würde Dudley der Lächerlichkeit preisgeben und unausweichlich eine Untersuchung seitens der Universität nach sich ziehen. Was die Physiker und Ingenieure anging, die seine Behauptung vernahmen … sie würden mit hämischer Freude gegen seine Aussagen Stellung beziehen.
Hätte Dudley am Anfang seiner beruflichen Laufbahn gestanden, er hätte es vielleicht dennoch getan – und wäre bis zu einem gewissen Grad berühmt-berüchtigt geworden, bevor er schließlich den Beweis für die Richtigkeit seiner Behauptungen hätte vorlegen können. Der kleine Mann, der sich gegen alle stemmte, eine semiheroische oder wenigstens romantisch poetische Gestalt. Doch heute, in seinem Alter, war das Risiko einfach zu groß. Dudley brauchte weitere acht Jahre in einem ununterbrochenen Arbeitsverhältnis, auch wenn das Universitätshonorar erniedrigend klein war, bevor seine R&R-Pension voll war – und ohne dieses Geld konnte er sich eine Rejuvenation beim besten Willen nicht leisten. Außerdem: Wer würde schon heutzutage, in den letzten Jahrzehnten des vierundzwanzigsten Jahrhunderts, einen Astronomen beschäftigen, der in Misskredit geraten war?
Dudley starrte durch die Fahrzeugfenster nach draußen auf die vorbeiziehende Landschaft, während er unbewusst das OCTattoo an seinem Ohr abtastete. Fahles Licht erhellte die vorbeiziehende Umgebung voll lehmfarbenem, nassem Kordgras mit den elend dreinblickenden terranischen Kühen und den Herden einheimischer Nygine-Schweine dazwischen. Irgendwo dort draußen musste es so etwas wie einen Horizont geben, doch der trübe, graue Himmel machte es schwer zu erkennen, wo er begann. Was Aussichten anging, so musste dies einer der deprimierendsten Anblicke auf sämtlichen bewohnten Welten sein.
Dudley schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus. »Und sie bewegt sich doch!«, flüsterte er.
Was Rebellionen betraf, so war Dudley ziemlich erbärmlich. Er wusste, dass er nicht ignorieren konnte, was er dort draußen zwischen den ewigen, unveränderlichen Konstellationen gesehen hatte. Einigermaßen dankbar wurde ihm bewusst, dass er noch immer genügend Würde übrig behalten hatte, um dafür zu sorgen, dass er die Sache nicht einfach auf sich beruhen ließ. Trotzdem, die Veröffentlichung der Tatsache, dass die Umhüllung praktisch in Sekundenbruchteilen stattgefunden hatte, würde das Ende seiner eigenen kleinen Welt nach sich ziehen. Was andere als seine grundlegende Schwäche betrachteten, sah er gerne als Vorsicht, die mit dem Alter kam. Im Grunde genommen war das sogar eine Art Weisheit.
Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen; also zerlegte Dudley das Problem in mehrere Stadien, genau so, wie er es seine Studenten lehrte, und machte sich daran, jedes einzelne mit so viel Logik zu lösen, wie er zusammen brachte. Ganz einfach – seine wichtigste Priorität war es, die Geschwindigkeit zu bestätigen, mit der die Umhüllung stattgefunden hatte. Eine Wellenfront von Beweisen, die sich gegenwärtig mit der Geschwindigkeit des Lichts von Gralmond entfernte. Und Gralmond lag fast am äußersten Rand des Commonwealth in diesem Abschnitt des Weltraums. Fast … aber nicht ganz.
Das Interstellare Commonwealth umfasste ein annähernd kugelförmiges Volumen Weltraum mit der Erde im Zentrum und einem Durchmesser von vierhundert Lichtjahren. Gralmond lag zweihundertvierzig Lichtjahre von der Erde entfernt, zählte zu den letzten Planeten, die während der zweiten Expansionsphase besiedelt worden waren. Es erforderte keinen hohen Aufwand an Berechnungen für Dudley, um festzustellen, dass der nächste Planet, auf dem die Umhüllung zu sehen sein würde, Tanyata war, direkt am Rand des Phase-Zwo-Raums. Tanyata war noch weniger entwickelt als Gralmond – es gab beispielsweise ganz bestimmt nach wie vor keine Universität dort -, aber eine Unisphären-Datasuche förderte eine Liste mit einheimischen Amateurastronomen zu Tage. Na ja, Liste war übertrieben, denn sie umfasste eigentlich nur einen einzigen Namen.
Fünf Monate und drei Tage nach der Nacht, in der Dudley Dyson Alpha hatte verschwinden sehen, winkte er seiner Frau nervös zum Abschied zu, während der Carlton aus der Auffahrt fuhr. Sie glaubte, seine Reise nach Tanyata sei legitim, von der Universität sanktioniert. Selbst nach elf Jahren Ehe hatte Dudley nicht den Mut, seiner Frau die absolute Wahrheit zu erzählen … oder vielleicht lag es auch daran, dass er nach fünf Ehen schlicht wusste, was man sagen konnte und worüber man besser Schweigen bewahrte.
Der Carlton brachte ihn direkt zur planetaren CST Station auf der dem Universitätscampus gegenüberliegenden Seite von Leonida City. Der Frühling stand vor der Tür und brachte lebendiges Grün über die terranischen Schösslinge in den Parks der Stadt. Selbst die vollständig ausgewachsenen einheimischen Bäume reagierten auf die länger dauernden, helleren Tage: Ihre dunkelrote Rinde besaß einen neuen, leuchtenden Glanz, während sie Vorbereitungen trafen, ihre Blätterdächer zu entfalten. Dudley beobachtete die Einwohner der Stadt von seinem Sitzplatz aus: Geschäftsleute, die zielstrebig durch die Straßen eilten; Eltern, die tolerant oder ungeduldig mit ihren Kindern sprachen; Firstlife-Erwachsene, also solche ohne Rejuvenation, die draußen vor den Caféhäusern und den Eingängen von Einkaufszeilen durcheinander liefen, hoffnungslos linkisch und trotzdem erfolgreich in ihrem Bemühen, wie Mitglieder der tödlichsten Banden in der menschlichen Geschichte dreinzublicken. Sie alle waren so hell und so normal. Dudley hatte sich erst spät in seinem zweiten Leben entschieden, nach Gralmond zu gehen, weil Randwelten stets von einer ansteckenden Aura aus Erwartungen und Hoffnungen umgeben waren; hier konnten neue Träume Fuß fassen und in Ruhe gedeihen. Und Dudley hatte so wenig aus seinem zweiten Leben gemacht. Sein von leichter Verzweiflung getriebener Umzug hierher war ein Eingeständnis dieser Tatsache gewesen.
Die CST hatte ihre planetare Station auf Gralmond vor mehr als fünfundzwanzig Jahren in Betrieb genommen. Tatsächlich ungefähr um die Zeit, als Dudley sein farbenprächtiges OCTattoo erhalten hatte – eine Ironie, die ihm keineswegs entgangen war. Der Planet hatte sich während des ersten Vierteljahrhunderts menschlicher Besiedlung wacker geschlagen. Farmer hatten ihre Traktorbots und ihre Herden auf das Land losgelassen. Städter hatten ihre vorgefertigten Gebäude hergebracht und in sauberen Blocks aufgestellt, die sie Städte nannten als Hommage an die großen Metropolen der Erde, und sie hofften, dass aus den bescheidenen Anfängen eines Tages etwas Gleichartiges entstehen würde. Auf der starken Flut von Investitionskapital wurden Fabriken hereingeschwemmt, und Krankenhäuser, Schulen, Theater und Regierungsgebäude vervielfältigten sich fruchtbar in ihrem Umkreis. Straßen expandierten vom Bevölkerungszentrum nach außen und sandten ihre forschenden Tentakel über den Kontinent. Und wie stets kamen in ihrem Gefolge die Züge, die bald den Großteil der Waren transportierten.
Dudleys Carlton steuerte entlang der Mersy Rail Route, während er sich der planetaren CST Station näherte. Ein einfacher Maschendrahtzaun und eine Sicherheitsbarriere aus Plastik war alles, was den zweispurigen Highway von den dicken Karbonstahlschienen trennte. Die Mersy Rail Route war eine von fünf größeren Strecken, die sich bisher vom Bahnhof aus in alle Richtungen erstreckten. Gralmonds Einwohnerschaft war zu Recht stolz darauf. Fünf Strecken in fünfundzwanzig Jahren: ein deutliches Zeichen für eine gesunde, expandierende Ökonomie. Drei der Strecken – einschließlich der Mersy Rail Route – führten zu großen Industrieparks am Stadtrand von Leonida City, während die verbliebenen beiden das Land durchzogen und sich dabei wieder und wieder gabelten und die Hauptstadt mit den wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugergemeinden verbanden. Tag und Nacht floss ein steter Strom von Gütern in die planetare CST Station hinein und aus ihr heraus, ein Strom, der im Verlauf der Jahre langsam zunahm, während Geld, Material und Maschinerie zu neuem Land hin zirkulierten und die Grenzen menschlicher Besiedlung Monat für Monat weiter nach außen verschoben.
Ein schwerer Frachtzug rumpelte neben Dudley her; er fuhr nur wenig schneller als der Carlton. Dudley blickte bei dem Geräusch zur Seite und sah lange, olivfarbene Waggons mit schwefelgelben, sonnengebleichten und verwitterten Schriftzügen. Es waren sicherlich fünfzig Stück, gezogen von einer gigantischen zwanzigrädrigen Maschine. Wahrscheinlich eine der GH-7-Maschinen, dachte Dudley, obwohl er nicht mit Sicherheit zu sagen vermochte, welche Marke. Diese Ungetüme kamen seit inzwischen fast achtzig Jahren zum Einsatz, ein fünfunddreißig Meter langer Rumpf voll mit supraleitenden Batterien, die massive elektrische Nabenmotoren antrieben. Gralmond würde keine größeren Loks sehen, bevor der Planet nicht vollständigen Industrialisierungsstatus erreicht hatte, vielleicht in weiteren siebzig Jahren von heute an.
Schon jetzt schien ein Monster wie dieses, das durch die aufblühende Stadt rumpelte, irgendwie widersinnig. Dieser Bezirk bestand noch zu großen Teilen aus den ursprünglichen Fertiggebäuden, zwei- oder dreistöckigen weiß korrodierten Aluminiumwürfeln mit Solarpaneelen auf den Dächern. Abriss und Neubau waren kaum notwendig auf einer Welt, wo die Regierung jedem Land zur Verfügung stellte, der danach fragte. Gralmonds gesamte Einwohnerschaft hatte kaum achtzehn Millionen erreicht; hier gab es keine drangvolle Enge. Die Prefabs blieben als nützliche Behausungen und kommerzielle Zentren für die jüngsten und ärmsten Neuankömmlinge, doch viele Blocks in der Stadt waren niedergerissen und durch neue Gebäude aus Stein und mit Glasfassaden ersetzt worden, während die einheimische Wirtschaft sich weiter im Aufschwung befand. Gewöhnlicher jedoch war das Vordringen der Drycoral, einer Pflanze, die ursprünglich von Mecheria stammte. Neue Bewohner pflanzten sie entlang der Fundamente ihrer Häuser. Sie zogen die langen, flachen Stränge aus schwammigem, bimsartigem Stein, die rasch an den Wänden nach oben wuchsen, sorgfältig um ihre Häuser herum; auf diese Weise entstand rasch eine organische Schale um das gesamte Gebäude herum. Einfaches Zurückschneiden hielt die Fenster frei.
Das Passagierterminal war nur ein kleiner Teil der zehn Quadratkilometer, die von der planetaren CST Station eingenommen wurden; der größte Teil der Fläche gehörte Rangieranlagen und Werkstätten. Am einen Ende befand sich das Gateway selbst, geschützt vor Wind und Wetter unter einem breiten, gewölbten Dach aus Kristall und weißem Beton. Dudley konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es bei seiner Ankunft vor elf Jahren ausgesehen hatte – nicht, dass sich seither etwas verändert hätte.
Der Carlton hielt am Abfahrtsteig vor dem Terminalgebäude, und kaum war Dudley ausgestiegen und hatte sein Gepäck abgeladen, setzte er sich wieder in Bewegung, um nach Hause zurückzufahren. Dudley betrat die Station und fand sich augenblicklich in einer Menschentraube wieder, die in alle möglichen Richtungen unterwegs zu schienen, nur nicht in die, in die Dudley wollte. Obwohl die Halle relativ neu war, hatte sie ein altmodisches Erscheinungsbild: Hohe Marmorsäulen stützten ein Glasdach, und in den Torbögen waren Franchise-Stände untergebracht. Die kurzen Treppen zwischen den einzelnen Ebenen waren unglaublich breit, als führten sie zu einem verborgenen Palast. Hohe, tief eingelassene Alkoven boten Platz für Statuen und Skulpturen, und jede freie Oberfläche war von Vogelkot bedeckt. Große, transparente, holografische Projektionen schwebten in der Luft, purpurne und smaragdfarbene Schilder mit den Fahrplaninformationen, für jedermann lesbar, der kein Interface zum lokalen Netzwerk besaß. Kleine Vögel jagten ununterbrochen durch die Hologramme hindurch und zirpten überrascht angesichts der Farbschauer, die ihre membranartigen Flügel aufwirbelten.
»Der Zug nach Verona geht von Bahnsteig Neun ab«, meldete Dudleys E-Butler.
Dudley machte sich durch die Halle auf den Weg in Richtung des benannten Bahnsteigs. Verona war ein reguläres Ziel, und alle vierzig Minuten fuhr ein Zug ab. Es gab eine Menge Pendler von oder nach Verona, mittleres Management von den Finanz- und Investmentgesellschaften, die mit dem Aufbau und der Unterhaltung von Gralmonds ziviler Infrastruktur betraut waren.
Der Zug nach Verona bestand aus acht Doppeldecker-Waggons an einer mittelgroßen PH54 Lok. Dudley schob seine Koffer in das Gepäckabteil des fünften Waggons und stieg ein. Er fand einen freien Sitzplatz an einem der Fenster im Oberdeck. Dann gab es nichts mehr für ihn zu tun außer dem Versuch, die wachsende Anspannung zu ignorieren, während das Timerdisplay in seiner virtuellen Sicht die Zeit bis zur Abfahrt herunter zählte. Der Posteingang seines E-Butlers hatte sieben Nachrichten für ihn gesammelt, die Hälfte davon von seinen Studenten und bestehend aus Audio- und Datenclustern.
Die letzten fünf Monate waren für die kleine astronomische Fakultät der Universität außerordentlich geschäftig gewesen, auch wenn es in all der Zeit keinerlei stellare Observationen gegeben hatte. Dudley hatte erklärt, dass der Zustand des Teleskops und der Instrumente nicht länger akzeptabel sei und dass sie die praktische Seite ihres Berufs vernachlässigt hätten. Unter seiner Aufsicht waren die Stellmotoren einer nach dem anderen zerlegt und gewartet worden, dann die Lager und schließlich die gesamte Sensorbatterie. Und während das Teleskop außer Dienst gestellt war, hatten sie zugleich die Gelegenheit genutzt, die speziellen Analyse- und Kontrollprogramme zu aktualisieren und integrieren. Zuerst hatten Dudleys Studenten die Möglichkeit begrüßt, sich die Hände schmutzig zu machen und die vorhandenen Systeme zu verbessern. Doch diese anfängliche Begeisterung war rasch verklungen, während Dudley immer wieder neue und essentielle Aufgaben für sie fand, welche die Wiederinbetriebnahme verzögerten.
Dudley hasste es, seine Studenten zu täuschen, aber es war ein legitimer Weg, das gesamte Projekt der Observation des Dyson-Paars zu suspendieren. Wenn es ihm gelang, den Beweis zu sichern, so sagte er sich, dann würden die Auswirkungen dieser Entdeckung auf die Fakultät und ihr Budget sein kleines Täuschungsmanöver mehr als rechtfertigen. Erst während der letzten beiden Monate, während Dudley ununterbrochen all ihre Beschwerden entgegen genommen und sie beruhigt hatte, hatte er angefangen, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen der verifizierte Beweis der Umhüllung auf seine eigene Karriere und sein Vermögen haben würde. Versagte er, wäre er ruiniert; war er andererseits erfolgreich, so würde ihm das eine ganze Palette neuer Aussichten und Chancen eröffnen. Gut möglich, dass er sich weit über alles hinaus entwickeln würde, was die Gralmond University ihm zu bieten imstande war. Es war ein angenehmer Tagtraum, in dem er sich gerne verlor.
Der Zug setzte sich in Bewegung, entfernte sich vom Bahnsteig und fuhr in die Frühlingssonne hinaus. Dudley konnte durch sein Fenster nichts außer der Industrielandschaft des Stationsgelände sehen, mit Hunderten von Gleisen, die sich über den Boden wanden und sich kreuzten und wieder zurückkreuzten wie ein riesiges abstraktes Labyrinth. Einzelne Waggons und Güterwagen wurden von kleinen Rangierloks, die dicke Rußwolken ausstießen, hierhin und dorthin bewegt. Der einzige sichtbare Horizont schien aus Lagerhäusern und Ladestationen zu bestehen, wo spinnenartige Kräne und Containerstapler jede Sektion der Gerüste ausfüllten. Tieflader und fette Tanker wurden fast völlig von den mechanischen Systemen umschlossen, die sie entweder be- oder entluden. Technikercrews und Wartungsbots krochen an den Schienen entlang, kontrollierten sie und führten falls nötig Reparaturen durch.
Der Verkehr ringsum nahm nach und nach zu, je näher sie dem Gateway kamen. Lange Frachtzüge wechselten sich mit kürzeren Passagierzügen ab. Sie alle krochen in schlängelnden Bewegungen über Weichen und Kreuzungen und näherten sich unaufhaltsam dem letzten Stück Gleis. Auf der anderen Seite des Waggons konnte Dudley einen nahezu kontinuierlichen Strom von Zügen erkennen, die aus dem Gateway kamen.
Es gab lediglich zwei Gleise zum Gateway – eines für die ankommenden, das andere für die abfahrenden Züge. Endlich reihte sich Dudley Zug nach Verona auf dem Abfahrgleis ein, unmittelbar hinter dem Passagierzug nach EdenBurg und vor einem Frachtzug nach St Lincoln. Ein leiser Warnton hallte durch den Waggon. Dudley konnte gerade den Rand des hoch aufragenden geschwungenen Dachs erkennen, als sie auch schon darunter waren. Das Licht wurde eine Spur dunkler, und dann war da nur noch das weite, hell erstrahlende Gateway direkt voraus, das so verblüffend einer Tunneleinfahrt ähnelte. Der Zug glitt direkt hinein.
Dudley spürte ein leichtes Kitzeln auf der Haut, als sie den Druckvorhang passierten, der verhinderte, dass sich die verschiedenen Atmosphären der beiden Welten mischten. Das Wurmloch selbst besaß keine innere Länge, obwohl es einhundertachtzehn Lichtjahre überbrückte. Die Maschinerie, von der es erzeugt wurde, war gigantisch, jedoch war der größte Teil davon in den massiven Betonbauten hinter dem Dach untergebracht. In dem großen ovalen Bogen des Gateways selbst mit seinem Durchmesser von mehr als dreißig Metern waren lediglich die Emissionseinheiten untergebracht. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich der Zug bewegte, huschte selbst das in einer Sekunde vorbei.
Wundervolles kupferfarbenes Zwielicht strömte durch die Waggonfenster. Dudleys Ohren knackten, als die neue Atmosphäre durch die Ventilationsöffnungen im Dach flutete. Er blickte auf die gewaltige Anlage der planetaren CST Station von Verona hinaus. Es gab kein erkennbares Ende, keinen noch so winzigen Ausblick auf die Megacity, von der Dudley wusste, dass sie sich jenseits der Station erstreckte. Eine Seite der Station bestand aus einer massiven Wand von Gateways unter geschwungenen Dächern, und jeder der ovalen Rahmen umhüllte einen leicht unterschiedlich gefärbten Nebel abhängig von der spektralen Klasse des Sterns, um den die jeweilige Zielwelt kreiste. Doch der gesamte Rest bestand aus nichts als Zügen und Gleisen, so weit das Auge reichte. Gewaltige Frachter rollten mit Zugmaschinen über die Anlage, gegen die die GH7 geradezu winzig wirkte, die Dudley so beeindruckt hatte: nuklearbetriebene Loks, die zwei Kilometer lange Ketten von Waggons zogen. Schnittige weiße Passagierzüge rasten vorüber mit Dutzenden von Waggons voller Pendler aus den verschiedensten Welten, deren Fahrtstrecke sie über zwanzig oder mehr verschiedene Planeten führen würde, während sie in einem nicht enden wollenden Kreis von einem Gateway zum anderen huschten. Kleine einfache Regionalzüge wie der, in dem Dudley saß, ratterten zwischen ihren größeren, großartigeren Vettern dahin. Die Station von Verona hatte einfach alles zu bieten.
So, wie die Erde ein Knotenpunkt für sämtliche Planeten im Phase-Eins-Raum des Intersolaren Commonwealth war, so bildete Verona einen der großen Knotenpunkte für diese Sektion des Phase-Zwo-Raums, mit Gateways zu dreiunddreißig verschiedenen Planeten. Verona gehörte zu den sogenannten Fünfzehn Großen, den Big 15 – Industriewelten entlang des Randes von Phase Eins, in einer Entfernung von etwa einhundert Lichtjahren zu Sol. Von Konzernen gegründet, von Konzernen finanziert und von Konzernen geleitet.
Die Verona Station besaß sieben Passagierterminals; Dudleys Zug hielt in Nummer drei. Erneut wurde ihm der Maßstab der gesamten Anlage bewusst. Dieses Terminal allein war fünfmal so groß wie die gesamte planetarische Station auf Gralmond. Veronas dichtere Atmosphäre und leicht höhere Schwerkraft trug ihren Teil zu Dudleys Gefühl von Bedeutungslosigkeit bei, während er auf der Suche nach dem Verbindungszug nach Tanyata durch die von Menschen überfüllte Bahnhofshalle wanderte. Schließlich fand er ihn auf Bahnsteig 18 b, drei einstöckige Waggons, gezogen von einer Ables RP 2 Lok, dieselbetrieben. Dudleys Gepäck ging in ein Gestell über ihm, und er nahm darunter auf einem Doppelsitz Platz. Der Waggon war zu weniger als einem Drittel gefüllt, und es gab nur drei Züge täglich nach Tanyata.
Als Dudley schließlich dort eintraf, sah er auch den Grund dafür. Tanyata war definitiv eine Randwelt, die letzte, die im Verlauf von Phase Zwo für die Besiedelung freigegeben worden war. Es war einfach nicht wirtschaftlich, Wurmlöcher zu errichten, die noch weiter hinaus reichten. Verona würde keine weiteren von Menschen bewohnbaren Welten miteinander verbinden; diese Ehre fiel an Saville, das weniger als zehn Lichtjahre von Gralmond entfernt lag. CST hatte dort bereits mit der Errichtung seiner neuen Forschungsbasis begonnen und bereitete die Öffnung von Wurmlöchern zu einer ganz neuen Generation von Welten vor: den Phase-Drei-Welten der nächsten Welle menschlicher Expansion.
Die CST Tanyata Station bestand aus nicht mehr als ein paar hastig miteinander verschweißten Bahnsteigen aus Borstahl unter einem provisorischen Plastikdach. Ein Kran und ein Lagerhaus bildeten die gesamte Frachtsektion, die sich auf einem ausgedehnten, schlammigen Hof befand, wo gestapelte Metallcontainer und Tanks in langen Reihen auf der schlecht gepflegten, ungemähten Vegetation standen. Waggons und Trucks rumpelten durch die Zwischengänge und wurden mit Vorräten be- oder entladen. Bei der Siedlung selbst handelte es sich um eine primitive Ansammlung standardisierter, mobiler Hütten für die Bautrupps, die mit der Errichtung der Infrastruktur für das erste Stadium der planetaren Besiedlung beschäftigt waren. Gleichzeitig wurde eine ganze Reihe von Fertighäusern zusammengebaut, und Männer und große Manipulatorbots schoben verstärkte Aluminiummodule in eine Matrix aus Karbonträgern. Die größten Maschinen waren die Straßenbauer, fahrende Minifabriken mit großen Schwingklingen auf der Vorderseite, die Dreck und Vegetation fraßen. Anschließend verarbeitete ein Reaktor das Material zu enzymgebundenem Beton, der hinten aus dem Heck gepresst wurde und eine topfebene Oberfläche bildete. Dichte Dampf- und Rauchwolken wirbelten um die Maschinen herum auf und machten es praktisch unmöglich, sie zur Gänze zu erkennen.
Dudley trat auf den Bahnsteig hinaus und griff augenblicklich nach seiner Sonnenbrille. Die Siedlung lag irgendwo in den Tropen, und hier herrschte eine alles durchdringende Feuchtigkeit, zusätzlich zum grellen, blaustichigen Licht der Sonne. Im Westen konnte Dudley den Ozean neben einer Reihe sanft geschwungener Hügel gerade so erkennen. Er zog sein Jackett aus und fächelte sich Luft zu. Der Schweiß strömte ihm bereits aus sämtlichen Poren.
Jemand am anderen Ende des Bahnsteigs rief Dudleys Namen und winkte. Dudley zögerte einen Augenblick lang, bevor er ebenfalls die Hand hob und zurückwinkte. Der Mann war knapp über einsachtzig groß und besaß jene schlanke Art von Körperbau, die Marathonläufer auszeichnete. Das physische Alter war schwer zu schätzen. Seine Haut war stark OCTattoed, Muster und Bilder in dunstigen Farben leuchteten auf sämtlichen Gliedmaßen. Goldene Spiralgalaxien formten eine sich langsam bewegende Konstellation auf seinem kahl geschorenen Kopf. Ein perfekt gestutzter, ergrauender Kinnbart war der einzige echte Hinweis auf ein mittleres Alter. Der Mann grinste und kam Dudley über den Bahnsteig entgegen, wobei sein Kilt um die Knie schlotterte. Das Karomuster war mutig in Amethyst und Schwarz gehalten.
»Professor Bose, nehme ich an«, sagte der Mann.
Dudley beherrschte sich und strich nicht über sein eigenes OCTattoo. »Äh, ja.« Er streckte die Hand aus. »Äh, LionWalker Eyre?« Er wusste gleich, dass er es falsch ausgesprochen hatte. Er hoffte nur, dass die Hitze sein Erröten verbarg.
»Das bin ich, jepp. Aber die meisten Leute nennen mich schlicht Walker.«
»Äh, großartig. Okay, also Walker.«
»Erfreut Sie kennen zu lernen, Professor.«
»Dudley. Nennen Sie mich Dudley.«
»Guter Mann.« LionWalker versetzte Dudley einen herzhaften Schlag auf die Schulter.
In Dudley erwachten ernste Zweifel. Er hatte nicht über den Namen des Astronomen nachgedacht, als die Datasuche ihn ausgespuckt hatte. Andererseits war wahrscheinlich jeder zumindest ein wenig exzentrisch, der genügend Geld besaß, um ein Vier-Fuß-Spiegelteleskop zu kaufen und es nach hier draußen zu einer Randwelt zu verschiffen und dort damit zu leben.
»Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, mir das Teleskop für eine Nacht zur Verfügung zu stellen«, sagte Dudley.
LionWalker lächelte knapp, während sie den Bahnsteig in Richtung Ausgang hinunterwanderten. »Nun ja, es war schon eine sehr ungewöhnliche Bitte. Muss ja ziemlich wichtig sein für Sie, diese Observation heute Nacht, eh?«
»Sie könnte sehr wichtig werden, ja. Ich hoffe es zumindest.«
»Ich hab mich gefragt: Warum nur diese eine Nacht? Was können Sie da draußen möglicherweise beobachten, das nur eine einzige Nacht lang dauert? Und eine ganz bestimmte Nacht obendrein.«
»Und?«
»Aye, nun ja, was soll ich sagen? Mir ist nicht eine einzige Möglichkeit eingefallen, nicht ein einziges stellares Ereignis, das in so kurzer Zeit stattfinden könnte. Und ich weiß auch, dass keine Kometen erwartet werden, wenigstens habe ich selbst keine gesehen, und ich bin der einzige auf dieser Welt, der den Himmel beobachtet. Werden Sie mir erzählen, wonach Sie Ausschau halten?«
»Meine Fakultät führt eine ständige Observation des Dyson-Paars durch; einige unserer Wohltäter interessieren sich für sie. Ich möchte lediglich eine Beobachtung bestätigen; das ist alles.«
»Ah.« LionWalker grinste weise. »Ich verstehe. Also keine natürlichen Ereignisse, richtig?«
Dudley entspannte sich ein wenig. LionWalker mochte ja exzentrisch sein, aber er war auch scharfsinnig und nicht auf den Kopf gefallen.
Sie erreichten das Ende des Bahnsteigs, und der große Mann verdrehte plötzlich sein Handgelenk und malte mit ausgestrecktem Zeigefinger einen Halbkreis in die Luft. Die OCTattoos auf seinem Unterarm erstrahlten in einem komplizierten Farbenwirbel, und ein Toyota Pick-up Truck steuerte zum Straßenrand und hielt unmittelbar vor ihnen.
»Das ist ein interessantes Kontrollsystem«, bemerkte Dudley.
»Aye, nun ja, es ist das jenige, das ich bevorzuge. Werfen Sie Ihr Gepäck einfach nach hinten.«
Sie fuhren über eine der neu extrudierten Betonpisten in Richtung Stadtrand der geschäftigen Siedlung davon. LionWalker schnippte alle paar Sekunden mit den Fingern, was ein weiteres Aufwallen von Farben bei seinen OCTattoos bewirkte, und das Lenksystem des Pick-up gehorchte ohne merkbare Verzögerung.
»Könnten Sie der Elektronik nicht einfach ein paar verbale Instruktionen erteilen?«, fragte Dudley.
»Und was sollte das für einen Sinn ergeben? Auf meine Weise habe ich die Kontrolle über die Technologie. Die Maschinen machen das, was ich ihnen befehle, und so sollte es auch sein. Alles andere ist Mechanthropomorphismus. Man behandelt einen Klumpen fahrendes Metall nicht als etwas Gleichgestelltes und fragt ihn, ob er denn bitteschön tut, was man möchte. Wer hat hier das Sagen, diese Maschinen oder wir, eh?«
»Ich verstehe«, erwiderte Dudley; der Mann war ihm schon deutlich sympathischer geworden. »Ist Mechanthropomorphismus ein richtiges Wort?«
LionWalker zuckte mit den Schultern. »Das sollte es zumindest sein, ehrlich. Das ganze verdammte Commonwealth praktiziert ihn wie eine Religion!«
Rasch ließen sie die Siedlung hinter sich, während der Toyota in stetigem Tempo parallel zur Küste ein paar Kilometerweit landeinwärts fuhr. Dudley erhaschte immer neue Ausblicke auf den wunderbar klaren, sauberen Ozean hinter den kleinen Sanddünen unmittelbar am Wasser. Weiter landeinwärts erhob sich in der Ferne eine Hügelkette. Es war nicht eine Wolke am Himmel und vollkommen windstill. Das intensive Licht verlieh dem büscheligen Gras und den Küstensträuchern einen satten Farbton und den Blättern beinahe die Farbe von Jade. Kleine Bäume wuchsen am Straßenrand, Bäume, die auf den ersten Blick terrestrischen Palmen ähnlich sahen, wären da nicht die Blätter gewesen, die eher Kaktuszweigen glichen, komplett mit gewaltigen roten Dornen.
Fünfzig Kilometer nachdem sie die Siedlung verlassen hatten bog die Straße vom Meer ab und führte landeinwärts. LionWalker vollführte ein paar kunstvolle Handbewegungen, und der Wagen bog gehorsam von der Straße ab und steuerte auf einen schmalen Feldweg. Dudley kurbelte das Fenster herab und sog die frische Seeluft ein. Sie war nicht annähernd so salzig, wie er es erwartet hätte.
»Haben Sie gesehen, wie weit die Straße landeinwärts verlegt wurde?«, rief LionWalker über das Rauschen des Fahrtwindes hinweg. »Reichlich Platz für erstklassige Grundstücke zwischen Straße und Strand. Noch dreißig Jahre, wenn die Stadt fertig ist, und das Land wird für zehntausend Dollar den Morgen verkauft. Diese ganze Gegend hier wird vollstehen mit den Strandhäusern der Reichen und Schönen.«
»Ist das denn schlimm?«
»Nicht für mich«, antwortete LionWalker und lachte. »Ich werde dann nicht mehr hier sein.«
Es waren noch weitere fünfzehn Kilometer bis zu LionWalkers Haus. Er hatte eine weite Bucht für sich in Beschlag genommen, abgeschirmt durch Dünen, die sich mehrere Kilometer tief landeinwärts erstreckten. Bei seinem Haus handelte es sich um einen flachen Bungalow aus perlweißem Drycoral auf einer flachen Düne nicht mehr als einhundert Meter vom Ufer entfernt, mit einer breiten Veranda aus Brettern zum Ozean hin. Die große Kuppel seines Observatoriums lag ein kleines Stück weiter abseits vom Meer, eine Standardkonstruktion aus Beton und Metall.
Ein goldener Labrador sprang ihnen entgegen und begrüßte seinen Herrn schwanzwedelnd und überschwänglich. LionWalker spielte mit dem Tier, während sie zum Haus gingen. Dudley hörte den Lärm eines wütenden Streits, als sie noch gut zwanzig Meter weit weg waren.
»Mein Gott, die sind ja immer noch dran!«, murmelte LionWalker.
Die dünne Holztür wurde aufgestoßen, und eine junge Frau stürmte heraus. Sie war unglaublich schön, selbst in Dudleys Augen, der an den Anblick eines Campus voller junger Mädchen gewöhnt war.
»Er ist ein Schwein!«, spie die junge Frau LionWalker entgegen, während sie an ihm vorbei eilte.
»Ja, wahrscheinlich hast du Recht«, sagte LionWalker mit leiser Stimme.