Träumende Leere - Peter F. Hamilton - E-Book
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Träumende Leere E-Book

Peter F. Hamilton

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Beschreibung

Im Jahr 3580 lebt die Menschheit in über tausend Sonnensystemen. Eine mächtige Raumflotte beschützt sie vor jeder feindlichen Spezies. Selbst der Tod ist besiegt.
Doch inmitten des intersolaren Commonwealth existiert ein riesiges schwarzes Loch. Langsam verschlingt es Stern um Stern. In seinem Inneren: ein fremdartiges Universum, in dem die Gesetze der Physik verrücktspielen. Manche Menschen glauben, man könne in diesem Universum ein perfektes Leben führen, und brechen zu einer Pilgerfahrt auf. Andere sehen in den Pilgern eine unberechenbare Gefahr, die zum Wachstum des schwarzen Loches führt, sodass es letztendlich alles verschlingt - auch das Commonwealth. Sie wollen die Pilger aufhalten. Um jeden Preis ...

»Peter Hamiltons Fantasie kennt keine Grenzen!« SCIENCE FICTION WEEKLY

Der packende Auftakt zum VOID-Zyklus, der spannungsgeladenen Space Opera des Bestseller-Autors Peter F. Hamilton.

Band 1: Träumende Leere
Band 2: Schwarze Welt
Band 3: Im Sog der Zeit
Band 4: Evolution der Leere

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Prolog

1

Inigos erster Traum

2

Inigos zweiter Traum

3

Inigos dritter Traum

4

Inigos vierter Traum

Zeitleiste

Über den Autor

Alle Titel des Autors bei Bastei Lübbe

Impressum

 

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Über dieses Buch

Im Jahr 3580 lebt die Menschheit in über tausend Sonnensystemen. Eine mächtige Raumflotte beschützt sie vor jeder feindlichen Spezies. Selbst der Tod ist besiegt.

Doch inmitten des intersolaren Commonwealth existiert ein riesiges schwarzes Loch. Langsam verschlingt es Stern um Stern. In seinem Inneren: ein fremdartiges Universum, in dem die Gesetze der Physik verrücktspielen. Manche Menschen glauben, man könne in diesem Universum ein perfektes Leben führen, und brechen zu einer Pilgerfahrt auf. Andere sehen in den Pilgern eine unberechenbare Gefahr, die zum Wachstum des schwarzen Loches führt, sodass es letztendlich alles verschlingt – auch das Commonwealth. Sie wollen die Pilger aufhalten. Um jeden Preis …

PETER F. HAMILTON

TRÄUMENDELEERE

Aus dem Englischen von Michael Neuhaus

Prolog

Die CNE Caragana glitt aus einem nächtlichen Himmel, ihre grau-scharlachrote Hülle wurde von dem fahlen Irisieren des schweren Ionensturms erhellt, der im Weltraum über Lichtjahre hinweg in allen Richtungen tobte. Unterhalb des Interstellarschiffs bildete Centurion Station auf der staubigen Felsoberfläche eines Planeten, der nie einen Namen erhalten hatte, eine funkelnde Sichel aus Licht. Passagiere wie Besatzung blickten mit einem Gefühl der Erleichterung auf die bewohnbare Enklave. Selbst mit dem Hyperantrieb, der sie mit fünfzehn Lichtjahren pro Stunde durchs All getragen hatte, waren dreiundachtzig Tage vergangen, bis sie Centurion Station vom Greater Commonwealth aus erreicht hatten. Das war so ziemlich die weiteste Strecke, die ein Mensch in der Mitte des vierunddreißigsten Jahrhunderts zurücklegen konnte, jedenfalls auf regulärem Wege.

Mit mäßigem Interesse musterte Inigo von seiner Couch in der Hauptlounge die näher kommende fremdartige Landschaft. Was er sah, entsprach exakt dem, was ihm Monate zuvor die Briefingdateien gezeigt hatten: eine einförmige Ebene aus uralter, erkalteter Lava, von seichten Rinnen gekräuselt, die ins Nirgendwo führten. Die dünne Argonatmosphäre verwehte in kurzlebigen Böen den Sand und jagte zarte Wirbel von einer Düne zur anderen.

Es war die Station selbst, die Inigos Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Sie waren jetzt nur noch zwanzig Kilometer vom Boden entfernt, und die Lichter begannen, sich in einzelne Formen aufzulösen. Mühelos konnte Inigo die große Gartenkuppel im Zentrum der Menschensektion am nördlichsten Segment der bewohnten Sichel ausmachen. Ein gleißendes smaragdgrünes Rund und Ausgangspunkt von einem Dutzend schwarzer Transportröhren, die in große Wohneinheiten mündeten, wie es sie an jedem anderen in fremdartiger Umwelt errichteten Zufluchtsort im Commonwealth gab. Von dort aus führten die Röhren über die Lava weiter zu den würfelartigen Observatoriumsanlagen und den technischen Versorgungsmodulen.

Der pockennarbige Landstrich im Süden gehörte zu den Alien-Habitaten; Konstruktionen von unterschiedlichster Struktur und Größe, die meisten von ihnen beleuchtet. Gleich neben den Menschen befanden sich die silberglänzenden Blasen der humanoiden Golant, gefolgt von den umschlossenen Weidegebieten, auf denen die Ticoth inmitten ihrer Futterherden umherstreiften; dann kamen die riesigen, miteinander verbundenen Wassertanks der Suline, einer aquatischen Spezies. Bis auf eine Höhe von zehn Kilometern erhob sich der schmucklose Ethox-Turm über die metallumhüllten Seen der Suline, dunkel im sichtbaren Spektrum, doch mit 180° Celsius Oberflächentemperatur. Sie waren eine jener Spezies, die mit ihren andersartigen Kollegen und Mitbeobachtern nur dann in Verbindung traten, wenn es galt, die Daten der Sonden, die die Leere umkreisten, auszutauschen. Ähnlich verschlossen gaben sich die Forleene, die fünf große Kristallkuppeln für sich in Anspruch nahmen, die in leuchtendem Enzianblau schimmerten. Dennoch waren sie im Vergleich zu den Kandra, die in einem schlichten Metallkubus von dreißig Metern Kantenlänge wohnten, geradezu gesellig. Nicht ein Kandra-Schiff war auf Centurion Station gelandet, seit die Menschen sich vor zweihundertachtzig Jahren zur Mitarbeit an dem Observationsprojekt entschlossen hatten; nicht einmal die langlebigen Jadradesh hatten jemals einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Und dabei hatten die Raiel, jene felsbrockenähnlichen Sumpfbewohner, schon vor siebentausend Jahren eingeladen, sich an dem Projekt zu beteiligen.

Ein kaum merkliches Lächeln huschte über Inigos Züge, während er all die unterschiedlichen Zonen betrachtete. Es hatte etwas Beeindruckendes, so viele Aliens an einem Ort versammelt zu sehen, ein Umstand, der nur die Wichtigkeit ihrer Mission unterstrich. Während sein Blick über die Schatten wanderte, die die Station warf, musste er jedoch zugeben, dass die Gegenwart der hier Lebenden völlig von der jener Wesen überschattet wurde, die ihnen vorausgegangen waren.

Wachstum und Alter von Centurion Station ließen sich in etwa so leicht bestimmen wie bei einem irdischen Baum. Der Stützpunkt war über die Jahrhunderte radial expandiert. Wann immer sich neue Spezies dem Projekt angeschlossen und hier niedergelassen hatten, war angebaut worden. Der breite Landstreifen entlang der konkaven Seite der Sichel war übersät von Ruinen – verfallene Skelette einstiger Habitate, die vor Jahrtausenden schon verlassen worden waren, als die sie unterhaltenden Zivilisationen dem Niedergang anheimgefallen oder weitergezogen waren. Oder sich in ihrer Entwicklung von diesem lediglich astrophysikalischen Vorhaben mehr und mehr entfernt hatten. Genau im Zentrum waren die uralten Bauten zu simplen Haufen aus verdichtetem Metall und kristallinen Schichten verrottet, deren Entschlüsselung jenseits aller archäologischen Befähigung lag. Expeditionen zur Altersbestimmung hatten herausgefunden, dass das Herz der Station bereits vor über vierhunderttausend Jahren errichtet worden war. Natürlich war diese Spanne, soweit es die zeitlichen Maßstäbe der Observation durch die Raiel betraf, immer noch kurz.

Auf dem Lavafeld, das als Raumhafen für die Menschen diente, blinkte ein grüner Lichtring auf und leitete die CNE Caragana herab. Mehrere Raumschiffe waren auf dem sandfarbenen Fels neben der aktiven Landezone abgestellt; zwei bullige Tiefraumer der gleichen Klasse wie die Caragana sowie einige kleinere Schiffe, die zur Stationierung und Wartung der fernen Sonden eingesetzt wurden, die die Leere permanent überwachten.

Ein leichtes Zittern ging durch das Schiff, als es aufsetzte, dann schaltete sich das interne Gravitationsfeld ab. Inigo spürte, wie er ein kleines Stück aus den Couchpolstern gehoben wurde, als die siebzigprozentige Schwerkraft des Planeten übernahm. Einen Moment lang herrschte eine Stille in der Lounge, während der die Passagiere angespannt lauschten, dann brach ein erleichtertes Gemurmel aus und sie feierten ihre glückliche Ankunft.

Der Chefsteward forderte die Passagiere auf, sich zur Hauptluftschleuse zu begeben, wo entsprechende Schutzanzüge für sie bereitlagen, um zur Station hinübergehen zu können. Inigo wartete, bis seine ungeduldigeren Mitreisenden aufgebrochen waren, bevor auch er vorsichtig aufstand und die Lounge verließ. Genau genommen brauchte er gar keinen Raumanzug; seine höheren Biononics waren imstande, seinen Körper absolut sicher zu umhüllen, ihn vor der dünnen schädlichen Atmosphäre zu schützen und sogar die kosmischen Strahlungen abzuhalten, die von den gewaltigen Planeten des fünfhundert Lichtjahre entfernten Walls auf die Station herabgraupelten. Indessen … er hatte den langen Weg hierher auch auf sich genommen, um seinem Erbe zu entfliehen; jetzt war nicht die Zeit, damit zu prahlen. Wie alle anderen machte er sich daran, den Anzug anzulegen.

Die Übergabeparty besaß auf Centurion Station eine lange Tradition. Jedes Mal, wenn ein Navy-Schiff mit neuen Beobachtern eintraf, kreuzten sich kurzfristig die Wege der beiden Gruppen, bevor das vorherige Team den Rückflug antrat. Die Feier fand als große Abendgala in der Gartenkuppel statt, mit dem besten Buffet, das die Programme der Kücheneinheiten hergaben. Tische wurden unter alten Eichenbäumen aufgestellt, die von Hunderten wunderbarer Lampions erstrahlten, und die Kuppel hoch droben war in einen Hof aus goldenem Zwielicht getaucht. Auf einer kleinen, von einem Wassergraben umgebenen Bühne spielte eine Solido-Projektion eines Streichquartetts stimmungsvolle klassische Musik.

Inigo traf bereits relativ früh ein, immer noch an den Ärmeln seines ultraschwarzen, steifen Abendanzugs zupfend. Er hätte nicht behaupten können, dass ihm die senkrecht geschnittenen Schwalbenschwänze an dem Jackett wirklich gefielen. Für seinen Geschmack waren sie ein bisschen zu modisch, aber er musste zugeben, dass der Schneider daheim auf Anagaska hervorragende Arbeit geleistet hatte. Selbst heutzutage kam man, wenn man Qualität wollte, bei Zuschnitt und Anpassung nicht an einem Menschen vorbei. Er wusste, dass er gut darin aussah; gut genug sogar, um sich nicht im Geringsten unsicher fühlen zu müssen.

Der Leiter der Station begrüßte jeden der Neuankömmlinge persönlich. Inigo stellte sich an das Ende einer kurzen Schlange und wartete, bis er an der Reihe war. Zwischen den Tischen konnte er etliche Aliens umherlaufen sehen. In ihrer Garderobe, die derjenigen der Menschen angepasst war, sahen die Golants beinahe wie Witzfiguren aus. Mit ihrer grau-blauen Haut und den langen, schmalen Köpfen wirkten sie in ihrem höflichen Versuch, sich optisch anzugleichen, nur noch deplatzierter. Ein Ticoth-Pärchen hatte es sich ineinander verschlungen auf der Wiese gemütlich gemacht. Sie waren beide etwa von der Größe eines irdischen Ponys, obgleich hier auch schon die Ähnlichkeiten aufhörten. Diese Geschöpfe hier waren ganz offensichtlich raubtierartige Fleischfresser, bedeckt von dunkelgrünem Fell, das sich über kraftstrotzende Muskelbänder spannte. Jedes Mal, wenn sie sich oder den Menschen, mit denen sie sich unterhielten, etwas zuknurrten, kamen beängstigend große und scharfe Zähne zum Vorschein. Unwillkürlich überprüfte Inigo die Funktionsbereitschaft seines integralen Kraftfelds und schämte sich im gleichen Augenblick dafür. Auch einige Suline waren gekommen und glitten in großen halbkugelförmigen Glasbassins umher, die aussahen wie gigantische Sektschalen, die von kleinen Regrav-Einheiten aufrecht gehalten wurden. Ihre Translatoren plapperten in einem fort, während sie die Menschen draußen beobachteten, die bauchigen Körper verzerrt und vergrößert durch das geschwungene Glas.

»Inigo, wie ich annehme«, posaunte die überlaute Stimme des Stationschefs heraus. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Und wie ich sehe, sind Sie außerdem frisch und munter für die Party. Sehr löblich, junger Mann, sehr löblich.«

Inigo lächelte mit professionellem Respekt, während er dem groß gewachsenen Mann die Hand schüttelte. »Direktor Eyrie«, entgegnete er. Der knappe Lebenslauf in den Briefing-Dateien hatte ihm nur wenig über den Leiter der Station verraten, abgesehen von der Behauptung, dass dessen Alter über tausend Jahre betrug. Inigo vermutete, dass die Daten fehlerhaft waren, wenngleich die Garderobe des Direktors fraglos archaisch genug anmutete; ein kurzes Jackett und ein dazu passender Kilt mit extrem grellem amethystfarben-schwarzem Tartan.

»Oh, bitte, nennen Sie mich Walker.«

»Walker?«, fragte Inigo.

»Kurz für LionWalker. Lange Geschichte. Aber keine Angst. Ich werde Sie heute Abend nicht damit langweilen.«

»Ah. Okay.« Inigo schaute sein Gegenüber unverwandt an. Der Stationsdirektor besaß dichtes, braunes Haar, doch hin und wieder schimmerte es darunter, als wäre seine Kopfhaut übersät mit kleinen goldenen Flecken. Zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten unterdrückte Inigo den Impuls, Biononics einzusetzen; ein Feldscan hätte bestimmt offenbart, mit welcher Art von Technologie der Direktor ausgestattet war. Jedenfalls mit keiner, die Inigo erkannte. Es ließ sich nicht leugnen, das Haar verlieh LionWalker einen jugendlichen Touch. Die Eitelkeiten waren bei den heutigen Menschen, ganz egal, welchen Schlags – ob Higher, Advancer oder natürlich – nach wie vor die gleichen. Und der dünne graue Kinnbart verlieh dem Direktor etwas Distinguiertes, dies zu kultivieren, war er offenkundig äußerst bedacht.

LionWalker schwenkte sein Whiskyglas über die verdunkelte Parklandschaft; leise klirrten die Eiswürfel. »Nun, was führt Sie also zu unserem prominenten Außenposten, mein Junge? Die Aussicht auf Ruhm? Auf Reichtum? Auf jede Menge Sex? Im Grunde genommen gibt es hier sonst sowieso nicht viel zu tun.«

Inigos Lächeln wurde etwas breiter, als er bemerkte, wie betrunken der Stationsdirektor war. »Ich wollte lediglich mithelfen. Ich glaube, diese Sache hier ist wichtig.«

»Wieso?«, fragte LionWalker barsch und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Okay. Die Leere stellt für uns ein Rätsel dar, das nicht einmal ANA zu lösen vermag. Sollten wir es jemals schaffen, sind wir in unserem Verständnis des Universums einen bedeutenden Schritt weiter.«

»Pah. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und vergessen Sie ANA. Ein Haufen dekadenter Aristos, die geistig konserviert worden sind. Als ob die sich dafür interessieren, was mit körperlichen Menschen passiert. Es sind die Raiel, denen wir helfen; ein Volk, das eine kleine Investition wert ist. Aber sogar diese trampeligen Superhirne sind mit ihrem Latein am Ende. Sie wissen, worauf die Navy-Ingenieure gestoßen sind, als sie das Fundament für eben diese Gartenkuppel ausschachteten?«

»Nein.«

»Noch mehr Ruinen.« LionWalker nahm einen ordentlichen Schluck von seinem Whisky.

»Ich verstehe.«

»Nein, tun Sie nicht. Sie waren praktisch fossilisiert, nicht mehr als Gesteinsschichten, mehr als eine Dreiviertelmillion Jahre alt. Und nach dem, was ich den frühen Berichten entnehmen konnte, die die Raiel sich bequemt haben, uns zur Verfügung zu stellen, läuft die Observation schon wesentlich länger. Das heißt, eine Million Jahre Knabbern an dem gleichen Problem. Ich verrate Ihnen mal was. Wir wären überhaupt nicht in der Lage, mit dieser Sache fertig zu werden, wir sind viel zu unbedeutend dazu.«

»Sprechen Sie nur für sich selbst.«

»Ah, ich hätte es wissen müssen, ein Gläubiger.«

»Gläubiger? Woran?«

»An die Menschheit.«

»Das dürfte doch unter der Belegschaft hier ziemlich verbreitet sein, oder?« Inigo überlegte bereits, wie er sich wieder loseisen konnte. Der Direktor fing allmählich an, ihn zu nerven.

»Verdammt richtig, mein Junge. Eines der wenigen Dinge, die mich hier draußen, wo man mutterseelenallein ist, bei Laune halten. Oh … es geht los.« LionWalker legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Kuppel hinauf, wo die spärliche Schicht aus dunstigem Licht allmählich verschwand. Das Kristall darüber war vollkommen durchsichtig und ließ die gewaltigen, miteinander widerstreitenden Sternennebel erkennen, die das Firmament wie zerlaufende Wasserfarbe überzogen. In dem leuchtenden Schleier funkelten Hunderte von Sternen, Nadelspitzen aus Licht, so intensiv, dass sie schon in Richtung Violett und Indigo erglühten. Nahe des Horizonts vervielfältigten sie sich, während der Planet sich träge drehte, um dem Wall ins Auge zu schauen, jener gigantischen Barriere aus massigen Sternen, die die äußerste Schale des galaktischen Kerns bildete.

»Von hier aus kann man die Leere nicht sehen, oder?«, fragte Inigo. Ihm war bewusst, dass die Frage ziemlich idiotisch war. Die Leere befand sich verdeckt auf der anderen Seite des Walls, direkt im Zentrum der Galaxis. Vor Jahrhunderten, noch bevor an einen Vorstoß aus dem Sonnensystem der Erde hinaus überhaupt zu denken gewesen war, hatten menschliche Astronomen sie für ein riesiges schwarzes Loch gehalten. Sie hatten sogar Röntgenstrahlungen von der ungeheuren Partikelspirale, die um den Ereignishorizont wirbelte, nachgewiesen, um ihre Theorie zu erhärten. Erst 2560, als Wilson Kime, Captain des Commonwealth-Navy-Ships Endeavour, die erste erfolgreiche Galaxisumrundung absolvierte, fand man die Wahrheit heraus. Es gab tatsächlich einen undurchdringbaren Ereignishorizont im Innern, der allerdings keineswegs etwas so Natürliches und Unspektakuläres umschloss wie eine ultrahoch verdichtete Masse toter Sterne. Die Leere war eine künstlich geschaffene Begrenzung, die ein Milliarden Jahre altes Vermächtnis hütete.

Die Raiel behaupteten, dass sich in ihr ein ganzes Universum befand – ein Universum, das von einem Volk geschaffen worden war, das in den frühen Anfängen der Galaxis gelebt hatte. Es hatte sich dorthin zurückgezogen, um seine Reise zum absoluten Gipfel der Evolution zu vollenden. Und im Kielwasser dieser Spezies verleibte sich die Leere nun langsam die übrig gebliebenen Sterne der Galaxis ein. Was das anbelangte, so unterschied sie sich in nichts von den natürlichen schwarzen Löchern, die unverrückbar verankert im Zentrum vieler Galaxien zu finden waren; doch während diese die Schwerkraft und Entropie arbeiten ließen, um Masse anzuziehen, zeichnete sich die Leere dadurch aus, dass sie die Sterne aktiv verschlang. Ein Prozess, der sich allmählich, aber unaufhaltsam beschleunigte. Falls es nicht gelang, ihn zu stoppen, würde die Galaxis jung sterben, möglicherweise drei oder vier Milliarden Jahre vor ihrer Zeit. Das lag weit genug in der Zukunft, dass Sol bis dahin längst erkaltete Asche und die Menschheit nicht einmal eine Erinnerung sein würden. Doch die Raiel waren besorgt. Immerhin war dies die Galaxis, in der sie geboren worden waren, und sie fanden, dass sie eine Chance bekommen sollte, ihr ganzes Leben zu leben.

LionWalker stieß ein leises Prusten aus. »Nein, natürlich können Sie die Leere von hier nicht sehen. Keine Panik, mein Junge, es gibt an unserem Himmel keinen sichtbaren Albtraum. DF 7 geht auf, das ist alles.« Er zeigte in die entsprechende Richtung.

Inigo wartete, und nach ungefähr einer Minute schob sich eine azurblaue Mondsichel über den Horizont. Sie war etwa halb so groß wie der irdische Mond und wies eine schwarze, merkwürdig regelmäßige Fleckenbildung auf. Anerkennend stieß Inigo die Luft aus.

Insgesamt fünfzehn der planetengroßen Maschinen zogen innerhalb des Sternensystems des Sitzes von Centurion Station ihre Bahn. Nester konzentrisch ausgerichteter Gittersphären, von denen jede eine andere Masseeigenschaft und Quantenfeld-Intersektion besaß, mit einer Außenumhüllung von schätzungsweise dem gleichen Durchmesser wie Saturn. Die Raiel hatten sie erbaut; als »Verteidigungssystem« für den Fall, dass ein Absorptionsschub der Leere den Wall durchbrach. Noch niemand hatte sie bisher in Aktion erlebt, nicht einmal die Jadradesh.

»Okay. Das ist wirklich beeindruckend«, sagte Inigo. Natürlich wusste er bereits aus den Dateien über die DFs Bescheid. Doch eine Maschine von diesem Umfang mit eigenen Augen zu sehen, hatte schlichtweg etwas Überwältigendes.

»Sie werden sich daran gewöhnen«, erklärte LionWalker glücklich. »Aber jetzt organisieren Sie sich erst einmal was zu trinken. Ich hab dafür gesorgt, dass uns für die Alkoholsynthese programmtechnisch nur das Beste vom Besten zur Verfügung steht. Sehen Sie es von mir aus als Herausforderung an.« Der Stationsleiter wandte sich dem nächsten Neuankömmling zu.

Unverwandt DF7 im Blick behaltend, ging Inigo hinüber zur Bar. LionWalker hatte keinen Unsinn erzählt, die Drinks waren wirklich superb, sogar der Wodka, der als sprudelnde Quelle aus der Eisskulptur einer Meerjungfrau floss.

Inigo blieb länger auf der Party, als er beabsichtigt hatte. Mit einem Haufen gleichgesinnter, ihm herzlich zugetaner Leute zusammengeworfen worden zu sein, hatte seine normalerweise schlummernde gesellige Seite geweckt. Als er endlich wieder in seinem Apartment eintraf, hatten seine Biononics bereits über mehrere Stunden der Infiltrierung seiner Neuronen durch Alkohol entgegengewirkt. Dennoch hatte er einer geringen Menge von Letzterem gestattet, durch seine künstlichen Abwehrkräfte zu sickern; gerade genug, um einen leichten Rausch einschließlich aller damit verbundenen Annehmlichkeiten hervorzurufen. Er würde mit diesen Leuten noch ein ganzes weiteres Jahr zusammen sein. Niemandem war damit gedient, wenn sie ihn für einen Eigenbrötler hielten.

Er kroch in sein Bett und leitete eine komplette Desaturation ein. Das war einer der großartigen Vorzüge von Biononics: kein Kater.

Und so träumte Inigo auf Centurio Station seinen ersten Traum. Es war nicht seiner.

1

Aaron verbrachte den ganzen Tag damit, sich auf der weitläufigen Plaza von Golden Park unter die Anhänger der Living-Dream-Bewegung zu mischen. Er lauschte ihren endlosen Diskussionen über das kommende Oberhaupt ihrer Gemeinschaft, schüttete an den mobilen Verkaufsständen jede Menge Wasser in sich hinein und suchte an schattigen Plätzchen Schutz vor der sengenden Sonne zu finden. Unbarmherzig stiegen Hitze und die in Küstennähe herrschende hohe Luftfeuchtigkeit an.

Er meinte, sich zu erinnern, irgendwann gegen Morgengrauen angekommen zu sein; jedenfalls war das Marmorpflaster so gut wie leergefegt gewesen, als er darüber hinweggeschritten war. Rosa-goldfarben schimmerndes Licht hatte die Spitzen der prunkvollen weißen Metallsäulen, die das Areal umsäumten, gekrönt, als die hiesige Sonne am Horizont aufgetaucht war. Lächelnd hatte er seinen anerkennenden Blick über die Silhouette der dem Original nachgebildeten Stadt schweifen lassen, hatte die Topographie, die Golden Park umgab, mit seinen Träumen verglichen, die er dem Gaiafield entnommen hatte in den letzten … nun ja, für eine ziemlich geraume Zeit.

Wenig später hatte sich Golden Park zusehends gefüllt. Immer mehr und noch mehr Jünger waren aus den anderen Bezirken von Makkathran2 über die Kanalbrücken geströmt oder hatten mit einer wahren Flut von Gondeln übergesetzt. Gegen Mittag mussten es schon an die Hunderttausend gewesen sein. Dicht an dicht standen sie da, die Blicke erwartungsvoll auf den Orchard Palace gerichtet, der sich am anderen Ufer des Outer Circle Canal wie eine wirre Anhäufung hoher Dünen besitzergreifend über den Anemone District erstreckte. Und so warteten sie, nur mit Mühe ihre Ungeduld verbergend, warteten darauf, dass der Klerikerrat endlich zu einer Entscheidung gelangte. Zu irgendeiner Entscheidung. Der Rat befand sich seit nunmehr drei Tagen im Konklave. Wie lange würde man wohl noch brauchen, um einen neuen Conservator zu wählen?

Einmal an diesem Morgen hatte sich Aaron mühsam bis nahe an den Outer Circle Canal gekämpft, bis zu der zentralen Holz- und Drahtseilbrücke, die sich hinüber nach Anemone spannte. Natürlich war sie gesperrt gewesen, ebenso wie die beiden anderen Brücken in diesem Abschnitt. Während an normalen Tagen jeder, vom ultrafanatischen Glaubensgetreuen bis hin zum neugierigen Touristen, sie ungehindert überqueren und im ausgedehnten Orchard-Palace umherwandern konnte, wurde sie heute von ausgesprochen durchtrainiert wirkenden Nachwuchsklerikern, die sich einer Vielzahl von Muskelanreicherungen unterzogen hatten, bewacht. Neben der vorübergehend unpassierbaren Brücke kampierten ganze Hundertschaften von Journalisten, die aus allen Teilen des Greater Commonwealth angereist waren. Die meisten von ihnen waren ziemlich ungehalten angesichts der beharrlichen Weigerung von Living Dreams, irgendwelche Informationen durchsickern zu lassen. Sie waren leicht zu erkennen an ihren schicken, modischen Klamotten und an ihren Gesichtern, die offensichtlich von kosmetischen Scales auf Hochglanz gehalten wurde; nicht einmal Advancer-DNA schuf einen so makellosen Teint.

Hinter ihnen summte die Menge der versammelten Jünger und erging sich in Debatten über ihre favorisierten Kandidaten. Wenn Aaron die vorherrschende Stimmung richtig einschätzte, dann waren etwa fünfundneunzig Prozent von ihnen für Ethan. Sie wollten ihn, weil sie es leid waren zu warten, sich in Geduld zu üben und den Status quo hinzunehmen, den all die anderen profillosen Glaubensverwalter gepredigt hatten seit dem Tag, an dem der Träumer selbst, Inigo, aus der Öffentlichkeit verschwunden war. Sie sehnten sich nach jemandem, der ihre Bewegung zu jenem glückseligen Moment der Erfüllung führte, die ihnen immer wieder versprochen worden war, seit sie von Inigos erstem Traum gekostet hatten.

Irgendwann nachmittags bemerkte Aaron die Frau, die ihn beobachtete. Es war nichts Auffälliges an ihr, weder starrte sie ihn an, noch schien sie ihn zu verfolgen. Instinkt lenkte sein Bewusstsein auf sie – eine interessante Erfahrung, da ihm gar nicht klar gewesen war, dass er diese Eigenschaft besaß. Von da an wusste er immer schon im Voraus, wohin sie wie zufällig schlendern würde, um eine leichte Distanz zwischen sich und ihm zu halten, und dass sie niemals in seine Richtung schauen würde, wann immer er zu ihr herübersah. Sie trug ein einfaches und verschossenes orangefarbenes Top zu knielangen blauen Hosen, das aus irgendeinem neumodischen Stoff gefertigt war. Das Outfit wich ein wenig von dem der Glaubensgetreuen ab, die dazu neigten, sich in sehr viel schlichtere Wollkleidung zu hüllen, und auch von dem der Leder bevorzugenden Einwohner Makkathrans, und doch war es nicht spektakulär genug, um sofort ins Auge zu fallen. Auch ihr Antlitz stach nicht aus der Menge hervor. Sie hatte ein ziemlich flaches Gesicht und eine fast schon niedlich zu nennende Stupsnase; hin und wieder wurden ihre Augen von einer kupferroten Sonnenbrille verdeckt, die sie jedoch die meiste Zeit auf ihre kurzen schwarzen Haare zurückgeschoben trug. Ihr Alter ließ sich nicht bestimmen; wie bei jedermann im Greater Commonwealth war ihr äußeres Erscheinungsbild auf biologische Mitte zwanzig fixiert. Er war sich sicher, dass sie bereits ihre ersten Jahrhunderte auf dem Buckel hatte. Aber dafür gab es keinerlei konkreten Beweis.

Nachdem sie etwa vierzig Minuten lang wie Satelliten umeinander gekreist waren, ging er freundlich lächelnd zu ihr hinüber. Seine makrozellularen Cluster konnten keinerlei Pings ausmachen, die von ihr ausgingen, weder aktive Verbindungen zur Unisphäre noch irgendeine Sensoraktivität. Elektronisch gesehen war sie ebenso urzeitlich wie die Stadt.

»Hallo«, sagte er.

Mit einer Fingerspitze schob sie ihre Sonnenbrille zurück und grinste ihn neckisch an. »Selber hallo. Was führt Sie hierher?«

»Dies hier ist ein historisches Ereignis.«

»Kann man wohl sagen.«

»Kenne ich Sie?« Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht; sie war in überhaupt nicht wie die beseelt um sie herumschlurfenden Jünger; ihre Körpersprache war durch und durch falsch; sie vermochte sich fest unter Kontrolle zu halten, fest genug, um jeden ohne entsprechendes Training – wie seines … Trainings? – zu narren. Doch er konnte die Haltung, die sich hinter ihrer Fassade verbarg, spüren.

»Sollten Sie mich kennen?«

Er zögerte. An ihrem Gesicht war irgendetwas Vertrautes, etwas, an das er sich eigentlich hätte erinnern sollen. Aber er kam nicht drauf, aus dem einfachen Grund, dass er keine Erinnerungen besaß, die er an die Oberfläche zerren konnte, um in ihnen zu forschen. An absolut gar nichts, wie ihm jetzt, da er darüber nachdachte, bewusst wurde. Tatsächlich schien es, als hätte er vor dem heutigen Tag überhaupt kein Leben gehabt. Er wusste, dass alles irgendwie verkehrt war, doch es störte ihn andererseits auch nicht sonderlich. »Ich kann mich nicht entsinnen.«

»Sehr merkwürdig. Wie heißen Sie?«

»Aaron.«

Ihr amüsiertes Lachen überraschte ihn. »Was denn?«, fragte er.

»Nummer eins, eh? Wie goldig.«

Aaron grinste gezwungen. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«

»Wenn Sie irdische Tiere katalogisieren wollten, wo würden Sie anfangen?«

»Nun kapier ich gar nichts mehr.«

»Sie würden mit Aal beginnen. Doppel-A. Er wäre ganz oben auf der Liste.«

»Oh«, murmelte er. »Okay, jetzt hab ich’s.«

»Aaron«, kicherte sie. »Irgendjemand hatte einen ausgesprochenen Sinn für Humor, als er Sie zu mir schickte.«

»Mich hat niemand geschickt.«

»Ach wirklich?« Sie hob eine ihrer dichten Augenbrauen. »Dann sind Sie also gekommen, um bei diesem historischen Ereignis irgendwie sich selbst zu finden, stimmt’s?«

»So ungefähr, ja.«

Sie senkte den kupferroten Reif wieder vor ihre Augen und schüttelte in gespielter Verwirrtheit den Kopf. »Es sind mehrere von uns hier, wissen Sie. Ich glaube nicht, dass das Zufall ist, Sie etwa?«

»Uns?«

Sie deutete mit einer weit ausholenden Geste auf die Menge um sich herum. »Sie sehen sich doch nicht als eines dieser Schafe hier an, oder? Als einen Gläubigen? Als jemanden, der denkt, dass am Ende dieses Traums, den Inigo in so großzügiger Weise dem Commonwealth geschenkt hat, so etwas wie ein Dasein zu finden sein wird?«

»Ich schätze, nein.«

»Es gibt eine Menge Leute, die genau beobachten, was hier passiert. Immerhin ist es von nicht unbeträchtlicher Bedeutung, und zwar nicht nur für das Greater Commonwealth. Falls es zu einer Pilgerreise in die Leere kommen sollte, könnte dies, wie einige Spezies behaupten, einen Absorptionsschub auslösen, der wiederum das Ende der Galaxis zur Folge haben könnte. Wollen Sie, dass das geschieht, Aaron?« Sie sah ihm forschend in die Augen.

»Das wäre eine üble Sache«, erwiderte er ausweichend. »Unzweifelhaft.« In Wahrheit besaß er dazu keine Meinung. Es war nichts, worüber er sich jemals Gedanken gemacht hatte.

»Für einige unzweifelhaft. Für andere eine Chance.«

»Wenn Sie es sagen.«

»Sage ich.« Verschmitzt leckte sie sich die Lippen. »Also, was ist? Werden Sie jetzt versuchen, mir meinen Unisphären-Code zu entlocken? Mich zu einem Drink einladen?«

»Nicht heute.«

Sie zog einen übertriebenen Schmollmund. »Und wie wär’s dann mit ein bisschen bedingungslosem Sex, worauf auch immer Sie stehen?«

»Auch den werde ich erst mal auf meinem Konto bunkern, danke«, erwiderte er lachend.

»Tun Sie das.« Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Machen Sie’s gut, Aaron.«

»Warten Sie«, sagte er, als sie sich abwandte. »Wie ist Ihr Name?«

»Sie wollen mich nicht wirklich kennen«, rief sie. »Ich heiße Schlechte Neuigkeiten.«

»Machen Sie’s gut, Schlechte Neuigkeiten.«

Ein aufrichtiges Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie sich zu ihm umdrehte. Sie drohte ihm mit dem Finger. »Daran werde ich mich ganz besonders erinnern«, sagte sie und war fort.

Er grinste ihr nach, bis ihr Hinterkopf in der Menge verschwunden war. Nach weniger als einer Minute konnte er sie bereits nicht mehr ausmachen. Ihm wurde klar, dass er sie nur bemerkt hatte, weil sie gewollt hatte, dass er sie sah.

Uns, hatte sie gesagt, es sind mehrere von uns hier. Das ergab nicht gerade viel Sinn. Andererseits hatte sie jedoch viele Fragen aufgeworfen. Weshalb bin ich hier?, fragte er sich. Er fand keine triftige Antwort darauf, wusste nur, dass er hier richtig war, wenn er aus erster Quelle erfahren wollte, wer gewählt worden war. Und was ist mit den Erinnerungen? Wieso kann ich mich an nichts anderes erinnern? Es hätte ihn eigentlich beunruhigen sollen, wie er wohl wusste. Erinnerungen waren das fundamentale Kernstück der menschlichen Identität, aber selbst diese Emotion ging ihm ab. Merkwürdig. Menschen waren emotional komplexe Geschöpfe, doch das schien für ihn nicht zu gelten. Aber damit konnte er leben. Etwas tief in seinem Innern war sich sicher, dass er das Geheimnis seiner selbst letzten Endes lösen würde. Es hatte keine Eile.

Gegen Spätnachmittag begann die Herde auszudünnen, nachdem die Bekanntmachung beharrlich auf sich warten ließ. Aaron konnte die Enttäuschung in den Gesichtern der Menschen erkennen, die auf ihrem Weg nach Hause an ihm vorübergingen; eine Empfindung, die ihr Echo im emotionalen Geflüster des örtlichen Gaiafields fand. Er öffnete seinen Geist für die Gedanken, die ihn umgaben, gestattete ihnen, durch die Pforte hereinzuspülen, die die Gaiamotes in seinem Cerebellum hervorgerufen hatten. Es war, als würde er durch einen feinen Dunst aus Geistererscheinungen gehen, der die Plaza mit einem Flackern aus irrealen Farben überzog. Bilder aus längst vergangenen Tagen, derer man nun voll Zärtlichkeit gedachte; gedämpfte Geräusche, wahrgenommen wie durch dichten Nebel.

Die Erinnerung daran, wie er der Gaiafield-Community beigetreten war, war ebenso verschwommen und unklar wie der Rest seines Lebens vor dem heutigen Tag; es schien ihm irgendwie nicht zu entsprechen, schien ihm irgendwie zu verrückt. Das Gaiafield war etwas für pubertierende Halbwüchsige, die das Teilen von Träumen und Gefühlen mit einer großen Gruppe anderer Leute für etwas Tiefgründiges und ungeheuer Gehaltvolles hielten oder für Fanatiker wie die Anhänger von Living Dream. Aber er besaß genug Erfahrung mit dem Konzept, spontan seine Gedanken und Erinnerungen zu teilen, um eine einheitliche Empfindung zu erfassen, indem er sich den unbedarften Gemütern auf der Plaza preisgab. Keine Frage, wenn dies überhaupt irgendwo möglich war, dann hier in Makkathran2, das Living Dream zur Hauptstadt des Greater-Commonwealth-Gaiafields gemacht hatte – mit allen Widersprüchen, die sich daraus ergaben. Für die Gläubigen war das Gaiafield beinahe gleichbedeutend mit den echten telepathischen Kräften, die die Einwohner des wirklichen Makkathran besaßen.

Aaron konnte ihre Sorge aus erster Hand wahrnehmen, als der Tag sich zu seinem Ende neigte, von einigen stärkeren zornigen Untertönen durchmischt, die sich gegen den Klerikerrat richteten. In einer Gemeinschaft, in der man Gefühle und Gedanken miteinander teilte, so der allgemeine Konsens, sollte eine Wahl doch wirklich nicht so schwierig sein. Und auch ihr unterschwelliges Verlangen konnte er spüren: das Verlangen nach Pilgerschaft, die einzige wahre Hoffnung der gesamten Bewegung.

Trotz all des Kummers, der ihn in heftigen Böen umwehte, blieb Aaron, wo er war. Er hatte ohnehin nichts anderes zu tun. Die Sonne war schon fast bis an den Horizont gesunken, als sich auf dem breiten Balkon etwas tat, der sich über die gesamte Vorderfront des Orchard Palace erstreckte. Überall auf der Plaza blieben die Menschen stehen, lächelten mit einem Mal und zeigten hinüber. Eine sanfte, doch unnachgiebige Strömung in Richtung des Outer Circle Canal setzte ein. Die Sicherheitskraftfelder entlang des Ufers dehnten sich aus und fingen wie ein weiches Polster diejenigen auf, die gegen die Absperrung gedrängt wurden, als sich der Druck der wogenden Leiber hinter ihnen verstärkte. Etliche Kamera-Pods diverser Nachrichtenagenturen schwirrten wie schwarz glitzernde Festballons durch die Luft und trugen das ihre zu der jähen Aufregung bei. Innerhalb von Sekunden schlug die Stimmung auf der Plaza von Enttäuschung zu glühender Erwartung um; das Gaiafield knisterte vor Erregung, einer Erregung deren Intensität immer mehr zunahm, bis Aaron sich schließlich etwas zurückziehen musste, um von der Welle aus Empfindungen und ätherischen Schreien nicht überflutet zu werden.

Feierlich trat der Klerikerrat auf den Balkon, fünfzehn Figuren in bis zum Boden reichenden schwarzroten Roben. In ihrer Mitte befand sich eine einzelne einsame Gestalt, die in eine Robe von strahlendem Weiß gehüllt war, verziert mit goldenen Borten und ausgestattet mit einer nach vorn gezogenen Kapuze, damit man das Gesicht darunter nicht sehen konnte. Das Licht der untergehenden Sonne fiel auf das geschmeidige Gewebe und umgab ihren Träger mit einem rot flammenden Nimbus. Ein ohrenbetäubender Jubel brach unter der Menge los. Kamera-Pods sausten so dicht an den Balkon heran, wie es diejenigen, die sie bedienten, gerade noch verantworten konnten; warnend kräuselten sich die Palastkraftfelder und hielten sie auf Abstand. Wie ein Mann streckten die Mitglieder des Klerikerrats ihren Geist in das Gaiafield aus; Unisphärenzugang erfolgte alsbald und stellte sicher, dass alle, Jünger wie Nicht-Jünger, im ganzen Greater Commonwealth an der großen Verkündigung teilhaben konnten.

Die Gestalt in der Mitte des Balkons hob die Arme und schob langsam die Kapuze zurück. Mit einem glückseligen Lächeln ließ Ethan seinen Blick über die Stadt und ihre ihm huldigenden Glaubensgetreuen schweifen. Sein hageres, ernstes Gesicht strahlte eine Güte aus, die suggerierte, dass er ganz auf ihre Sorgen und Ängste eingestellt war. Er fühlte mit ihnen, er verstand sie. Jeder konnte die dunklen Ringe unter seinen Augen erkennen, die zweifellos nur von der schweren Last herrühren konnten, die es bedeutete, ein so entsetzlich hohes Amt anzunehmen, die Hoffnungen aller Träumer auf den Schultern zu tragen. Als sein Antlitz in das feurige Sonnenlicht getaucht worden war, war der Jubel unten auf der Plaza zu einem wahren Orkan angeschwollen. Nun wandten sich auch die Ratsmitglieder zu dem neuen Kleriker-Conservator um und zollten ihm zufrieden ihren Beifall.

Ohne sein bewusstes Zutun aktivierten die untergeordneten Denkroutinen, die in Aarons makrozellularen Clustern arbeiteten, sein Zoom-Okular. Aufmerksam tastete er die Gesichter des Klerikerrats ab, versah jedes der Bilder mit einem Zahlencode, während die untergeordneten Routinen sie in makrozellularen Speicherlakunen ablegten, bereit zum jederzeitigen Abruf. Später würde er sie sorgfältig auf irgendwelche verräterischen Emotionen hin studieren, auf Indikatoren dafür, welche Position die Ratskleriker vertraten und wie sie gewählt hatten.

Er hatte gar nicht gewusst, dass er über eine Zoomfunktion verfügte, und er wurde neugierig. Auf seine Aufforderung hin führten die sekundären Denkroutinen einen Systemcheck der makrozellularen Cluster durch, die sein Nervensystem optimierten. Exoimages und mentale Icons entfalteten sich vor seinem peripheren Blickfeld aus ihrem Ruhestatus heraus auf Bereitschaft, irisierend wechselnde Buchstabenkolonnen umrahmten seine natürliche Sicht. Die Exoimages waren allesamt vorgegebene Symbole, die von seinem U-Shadow generiert wurden, dem persönlichen Interface für die Unisphäre, das ihn augenblicklich mit jeder beliebigen ihrer mächtigen Funktionen verband, ob aus dem Bereich der Information, Kommunikation, Unterhaltung oder des Handels. Die ganze übliche Palette.

Nichtsdestoweniger repräsentierten die mentalen Icons, die er jetzt betrachtete, weit mehr als nur die standardmäßigen physiologischen Enrichments, die eine Advancer-DNA dem menschlichen Körper zur Verfügung stellte. Wenn er ihre Zusammenfassungen richtig interpretierte, war er um ein paar extrem tödliche biononische Feldfunktionswaffen bereichert worden.

Ich weiß noch etwas über mich, dachte er, ich besitze Advancer-Erbgut. Dies war keine großartige Offenbarung, da etwa achtzig Prozent der Bürger des Greater Commonwealth über ähnliche Modifikationen verfügten, die dank der alten, schier besessenen gentechnologischen Visionäre auf Far Away in ihrer DNA angeordnet waren. Doch Biononics verengten in gewisser Weise auch das Blickfeld, was Aaron wieder mehr in die Nähe seiner wahren Ursprünge rückte.

Ethan hob die Hände, um sich Gehör zu verschaffen. Sofort wurde es still auf der Plaza und die Gläubigen hielten den Atem an. Selbst das Geplapper der Medienmeute verstummte. Ein Gefühl von Erhabenheit, gepaart mit eiserner Entschlossenheit, strömte von dem neuen Kleriker-Conservator aus und griff auf das Gaiafield über. Ethan war ein Mann, der wusste, worin seine Aufgabe bestand.

»Ich danke all meinen Freunden im Rat für die große Ehre, die mir am heutigen Tag zuteil geworden ist«, sagte Ethan. »Nun, da meine Amtszeit beginnt, werde ich das tun, wovon ich glaube, dass unser Träumer es wollte. Er hat uns den Weg gezeigt – niemand kann das bestreiten. Er hat uns gezeigt, wo das Leben gelebt werden und sich wandeln kann, bis es zur Vollendung geführt ist, wie immer auch jeder Einzelne von euch dies für sich definiert. Ich glaube fest daran, dass er es uns nicht ohne Grund gezeigt hat. Diese Stadt, die er errichtet hat. Die Hingabe, die er hervorrief. All dies diente nur einem einzigen Ziel. Den Traum zu leben. Und genau das werden wir nun tun.«

Erneuter Jubel brach auf der Plaza aus.

»Der Zweite Traum hat begonnen! In unseren Herzen haben wir es schon lange gewusst. Ihr habt es gewusst. Ich habe es gewusst. Wir haben erneut in die Leere geblickt. Haben uns mit dem Skylord auf unsere Schwingen erhoben.«

Aaron scannte abermals den Rat. Es war nicht mehr nötig, eine spätere Beurteilung und Analyse ihrer Gesichter vorzunehmen. Fünf von ihnen ließen schon jetzt äußerstes Unbehagen erkennen. Ringsum strebte der Beifallssturm dem unvermeidlichen Höhepunkt entgegen. Ebenso wie die Rede.

»Der Skylord erwartet uns. Er wird uns zu unserer Bestimmung geleiten. Wir werden auf Pilgerreise gehen!«

Das Jubelgeschrei geriet zu einem blanken Gebrüll der Verherrlichung. Es war, als hätte jemand im Gaiafield auf einen Schlag unzählige mit Lustdrogen gefüllte Feuerwerkskörper gezündet. Der Euphorieausbruch, der durch das künstliche Neuraluniversum brandete, war in seiner Stärke geradezu erschreckend.

Huldvoll winkte Ethan den Gläubigen zu, schenkte ihnen ein letztes Siegerlächeln und zog sich dann wieder in den Orchard Palace zurück.

Aaron wartete, während die Menge sich allmählich zerstreute. So viele weinten vor Freude, als sie die Plaza verließen, dass er angesichts ihrer Naivität nur den Kopf schütteln konnte. Glückseligkeit war hier universell, sozusagen obligatorisch. Die Sonne verkroch sich hinter den Horizont und schuf mit ihren letzten Strahlen eine Stadt, in der jedes Fenster von warmem, rötlich-orangefarbenem Licht erglühte – ganz so wie sie es in der echten Stadt auch taten. Lieder wehten über die Kanäle, wo die Gondolieri in traditioneller Weise ihrer Freude Ausdruck verliehen. Schließlich zogen auch die Reporter ab; in einem fort schwatzend, die einen laut und ungeniert, andere, die von Zweifeln geplagt wurden, eher leise. Draußen in der Unisphäre begannen Nachrichtensprecher und Politkommentatoren auf Hunderten von Welten mit ihren düsteren Weltuntergangsprognosen.

Nichts von all dem bekümmerte Aaron. Als die Stadtbots im Sternenlicht auftauchten und sich daran machten, den Müll wegzuräumen, den die erregte Menschenmenge hinterlassen hatte, stand er immer noch auf der Plaza. Er wusste jetzt, was er als Nächstes zu tun hatte. Die Gewissheit hatte ihn genau in dem Moment getroffen, als er Ethan sprechen gehört hatte. Er musste Inigo finden. Darum war er hier.

Zufriedenen lächelnd ließ Aaron seinen Blick über die dunkle Plaza wandern, doch von der Frau war nirgendwo etwas zu sehen. »Und wo sind jetzt die schlechten Neuigkeiten?«, fragte er laut. Dann ging er zurück in die jubilierende Stadt.

Ethan stand auf dem Balkon an der Stirnseite des Orchard-Palace und sah zu, wie die letzten Sonnenstrahlen gleich einem durchscheinenden, goldschimmernden Furnier über die Menschenmenge glitten. Ihre beinahe gottesfürchtigen Beifallsrufe hallten von den dicken Palastwänden wider. Er konnte sogar die Vibration in der steinernen Balustrade vor sich spüren. Nicht, dass ihm während seines langen, beschwerlichen Wegs bis hierher jemals irgendwelche Zweifel gekommen wären, aber dennoch war die Reaktion der Gläubigen außerordentlich beruhigend. Er wusste, dass es richtig gewesen war, auf seinen eigenen Vorstellungen zu beharren, darauf zu bestehen, die ganze Bewegung aus ihrer trägen Selbstzufriedenheit zu reißen. Das war die Botschaft der Evolution: weitergehen oder sterben. Das war der Grund, aus dem die Leere existierte.

Ethan verschloss seinen Geist vor dem Gaiafield und zog sich vom Balkon zurück, während hinter ihm die Sonne endgültig am Horizont versank. Die anderen Ratsmitglieder folgten ihm ehrerbietig; ihre roten Umhänge flatterten, als sie mit ihm Schritt zu halten versuchten.

Am oberen Ende der breiten Ebenholztreppe, die sich in die domartige Malfit Hall hinabkrümmte, wurde er von seinem persönlichen Sekretär, Hochkleriker Phelim, erwartet. Der war in ein graublaues Ornat gekleidet, das anzeigte, dass er sich nur einen Rang unter dem eines ordentlichen Ratsmitglieds befand – ein Status, den Ethan in den nächsten paar Tagen anzuheben gedachte. Die Kapuze war zurückgeschlagen, sodass sich der sanfte orangefarbene Schein des künstlichen Lichts auf Phelims kahl rasierter schwarzer Kopfhaut widerspiegelte. Sein nackter Schädel verlieh ihm ein beinahe Furcht erregendes, skelettartiges Aussehen und machte ihn inmitten der Living-Dream-Anhänger, die der in Makkathran vorherrschenden Mode folgten, das Haar lang zu tragen, zu einer ungewöhnlichen Erscheinung. Als Phelim zu Ethan trat, überragte sein Sekretär ihn noch immer um fast einen ganzen Kopf. Diese Körpergröße in Verbindung mit einer Miene, die mitunter nervtötend teilnahmslos bleiben konnte, hatte sich zum Leidwesen gewisser Leute schon oft als ungemein nützlich erwiesen; Phelim konnte sich mit jemandem unterhalten, während sein Geist gleichzeitig vollständig dem Gaiafield geöffnet war und auch jetzt war sein Gemütszustand in keiner Weise zu erfassen. Ebenfalls nichts, woran man in den Reihen von Living Dream gewöhnt war. Für die Ratshierarchie stellten Phelim und seine Eigenarten fraglos einen Störfaktor dar. Insgeheim jedoch amüsierte sich Ethan über die Verwirrung, die sein absolut loyaler Stellvertreter gelegentlich hervorrief.

Die riesige Malfit Hall war voller Kleriker, die, kaum dass Ethan am Fuß der Treppe angelangt war, zu applaudieren begannen. Er nahm sich die Zeit für eine Verbeugung und schenkte dem einen oder anderen ein dankendes Lächeln oder freundliches Nicken, während er über den blanken schwarzen Fußboden schritt. Die Bilder an der gewölbten Decke über ihm bildeten den Skylordmel von Querencia nach. In der Malfit Hall herrschte immerwährender Morgen, der ein heiteres, türkisfarbenes Firmament erschuf, an dessen Saum gemächlich der ockergelbe Ball der massiven Welt Nikran kreiste, vergrößert auf ein Maß, das Gebirgszüge und ein paar dahinjagende Wolkenfetzen erkennen ließ. Ethans Prozession setzte sich in die Liliala Hall fort, wo an der Decke ein ewiger Sturm mit seinem wehenden Mantel aus leuchtenden Wolken zu sehen war, durch die grelle Gewitterblitze zuckten. Gelegentliche Lücken gewährten einen flüchtigen Blick auf die Mars-Zwillinge, die zur Gicon-Band-Formation gehörten – kleine, nichtssagende Planeten mit dichten roten Atmosphären, die deren Oberflächen vor jeglicher Erkundung beschützten. Unter den flackernden Wolken hatten sich ranghohe Kleriker versammelt. Ethan verweilte etwas länger bei ihnen, richtete einige Worte des Dankes an die, die er kannte, und gestattete es seinem Geist, einen leichten Stolz in das Gaiafield auszustrahlen.

An der gewölbten Tür zur Zimmerflucht, in welcher er, der Conservator und Bürgermeister von Makkathran, ab heute amtierte, wandte Ethan sich zu den Ratsmitgliedern um. »Ich möchte Ihnen nochmals für das Vertrauen danken, das Sie in mich gesetzt haben. Denen unter Ihnen, die in der Befürwortung meiner Person noch zögern, verspreche ich, dass ich meine Anstrengungen, Ihre Unterstützung und auch Ihr Vertrauen für die vor uns liegenden Jahre zu erlangen, noch verdoppeln werde.«

Falls einige von ihnen verärgert über ihre Entlassung waren, so schirmten sie derartige Gedanken vor dem Gaiafield ab.

Einzig er und Phelim betraten das private Quartier. Es bestand aus einer Reihe großer, miteinander verbundener Zimmer. Die schweren Holztüren waren ebenso aufdringlich, wie sie es in Makkathran waren; welche Spezies auch immer die Originalstadt geplant und erbaut hatte, sie hatten offenbar nicht das Bedürfnis gehabt, sich abzuschotten. Durch das Gaiafield konnte er seine persönlichen Mitarbeiter wahrnehmen, die ringsum in den Empfangsräumen umherwanderten. Die Leute aus dem Team seines Vorgängers waren dabei, ihre Sachen zu packen. Schwach sickerten dabei Gefühle der Verstimmung ins Gaiafield.

Eine Übergabe der Amtsgeschäfte war normalerweise eine einigermaßen stressfreie Sache. Nicht dieses Mal. Ethan hatte sich vorgenommen, dem Orchard-Palace binnen Stunden den Stempel seiner Autorität aufzudrücken. Schon vor Beginn des Konklaves hatte er einen inneren Kreis von Getreuen darauf vorbereitet, künftig die Leitung in den Hauptverwaltungsstellen von Living Dream zu übernehmen. Und auch wenn Ellezelin eine Hierokratie war, so sah er sich doch auch mit der Bildung eines neuen Kabinetts für die Zivilregierung des Planeten konfrontiert.

Sein Vorgänger, Jalen, hatte die Privaträume des Bürgermeisters mit Paoviool-Blöcken ausgestattet – gesteinsbrockenartige Klötze, die ihre Form den jeweiligen Erfordernissen anpassten, indem sie einen Zustand annahmen, den sie intuitiv über das Gaiafield erfassten. Ethan ließ sich in dem Sessel nieder, der sich hinter der langen, rechteckigen Schreibtischplatte bildete. Seine Unzufriedenheit manifestierte sich in einem kleinen smaragdgrünen Funkeln, das wie ein Hautausschlag aus Licht aus den Paoviool-Flächen um ihn herum hervorbrach.

»Ich will, dass dieser neumodische Schnickschnack morgen hier verschwunden ist«, sagte Ethan.

»Selbstverständlich«, sagte Phelim. »Wünscht Ihr, dass Inigos Einrichtung wiederhergestellt wird?«

»Nein. Ich will es so, wie es uns der Waterwalker gezeigt hat.«

Phelim lächelte tatsächlich. »Viel besser.«

Ethan ließ den Blick über das ovale Arbeitszimmer mit seinen schmucklosen Wänden und hohen Fenstern schweifen. Obgleich vertraut, war es, als sähe er es heute zum ersten Mal. »Um Ozzies willen, wir haben es geschafft!«, rief er und stieß langsam die Luft aus, als könnte er es selbst noch nicht glauben. »Ich schwitze. Wahrhaftig, ich schwitze. Ist das zu fassen?«

Als er seine Hand an die Stirn hob, merkte er, dass er zitterte. Trotz all der Jahre, die er auf diesen Augenblick hingearbeitet, sich dafür abgerackert und aufgeopfert hatte, hatte ihn die Tatsache seines Erfolges völlig überrascht. Hundertfünfzig Jahre war es her, dass er sich die Gaiamotes infundiert hatte, um das Gaiafield zu erfahren; und schon in der ersten Nacht hatte er Inigos Erstem Traum beigewohnt. Hundertfünfzig Jahre, und der schweigsame junge Mann von der verschlafenen Außenwelt Oamaru hatte eine der einflussreichsten Positionen erlangt, die man als einfacher Natural-Mensch noch zu erreichen vermochte.

»Ihr wart der, den alle wollten«, sagte Phelim. Er stand leicht seitlich des Schreibtisches und ignorierte die großen Paoviool-Würfel, auf die er sich hätte setzen können.

»Wir haben es gemeinsam geschafft.«

»Machen wir uns nichts vor. Ich wäre niemals auch nur für den Rat in Frage gekommen.«

»Nein, unter normalen Umständen nicht.« Abermals schaute Ethan sich in dem Arbeitsraum um. Das Ungeheuerliche des Geschehenen sickerte nur allmählich in sein Bewusstsein. Er fragte sich, wie die Leere wohl aussah, wenn er sie mit eigenen Augen erblickte. Einst, vor Jahrzehnten, hatte er Inigo getroffen. Er war nicht unbedingt enttäuscht gewesen, und doch hatte der Träumer sich nicht ganz als das erwiesen, was Ethan sich vorgestellt hatte. Nicht dass er genau gewusst hätte, wie der Träumer hätte sein sollen – ein bisschen energischer vielleicht, und dynamischer.

»Wollt Ihr anfangen?«, fragte Phelim.

»Ich denke, das wird das Beste sein. Das Kabinett von Ellezelin besteht durchweg aus zuverlässigen Living-Dream-Mitgliedern, also kann es mehr oder weniger bleiben, wie es ist. Mit einer Ausnahme. Ich will Sie als Finanzminister.«

»Mich?«

»Wir werden ein Raumschiff für die Pilgerreise bauen. Das dürfte einigermaßen teuer werden, also benötigen wir die wirtschaftlichen Mittel der gesamten Freihandelszone, um das Projekt zu finanzieren. Ich brauche jemanden im Finanzministerium, auf den ich mich verlassen kann.«

»Ich dachte, ich sollte dem Rat beitreten.«

»Ganz recht. Schon morgen werde ich Sie in Ihren neuen Rang erheben.«

»Gleich zwei leitende Positionen? Könnte interessant werden, alle Pläne unter einen Hut bringen zu müssen. Ich soll wirklich den freien Sitz im Rat einnehmen?«

»Ich werde Corrie-Lyn nahelegen, ihren Posten zu räumen.«

Phelims Miene verriet einen Anflug von Missbilligung. »Sie ist gewiss nicht Euer größter Befürworter im Rat, aber ich denke, dass sie die Pilgerreise durchaus begrüßt. Vielleicht einer unserer weniger, ah … progressiven Kollegen?«

»Nein, Corrie-Lyn«, sagte Ethan bestimmt. »Die verbleibenden Ratsmitglieder, die die Pilgerreise ablehnen, befinden sich in der Minderheit und stellen für uns kein Problem dar. Niemand wird es wagen, mein Mandat in Frage zu stellen. Die Gläubigen würden es nicht tolerieren.«

»Na gut, dann also Corrie-Lyn. Hoffen wir, dass Inigo nicht zurückkommt, bevor unser Raumschiff gestartet ist. Ihr wisst, dass die beiden was miteinander hatten?«

»Das ist schließlich der einzige Grund, warum sie Ratsmitglied ist.« Ethan runzelte die Stirn. »Suchen wir eigentlich immer noch nach Inigo?«

»Nein, aber unsere Freunde«, teilte Phelim ihm mit. »Wir haben nicht ganz die Mittel dafür. Doch anscheinend fehlt von ihm jede Spur. Ich würde sagen, wenn Euer Aufstieg zum Conservator ihn nicht innerhalb des nächsten Monats oder so zu uns zurückbringt, sind wir über jeden Verdacht erhaben.«

»Unglücklich formuliert. So klingt es fast, als hätten wir etwas Unrechtes getan.«

»Aber wir wissen nicht, weshalb Inigo vor einer Pilgerreise zurückgeschreckt hat.«

»Inigo ist nur ein Mensch, er hat seine Fehler, wie wir alle. Nennen Sie es Angst vor der eigenen Courage, wenn man es denn freundlich ausdrücken wollte. Meine persönliche Überzeugung ist, dass er den Geschehnissen von irgendwo aus dem Verborgenen heraus zusieht und uns anfeuert.«

»Das hoffe ich.« Phelim hielt einen Moment inne, während er die Informationen, die sich in seinen Exoimages anhäuften, durchging und sein U-Shadow die lokalen Daten mit einer Zusammenfassung des Wahlausgangs abglich. »Marius wartet draußen. Er bittet um eine Audienz.«

»Es wird nicht lange dauern, oder?«

»Nein. Es gibt eine ganze Reihe von Formalitäten, die noch heute Abend erledigt werden müssen. Der Präsident des Greater Commonwealth wird anrufen, um Euch seine Glückwünsche zu übermitteln, und ebenso die Regierungschefs der Planeten der Freihandelszone wie auch Dutzende unserer verbündeten Außenwelten.«

»Wie sieht’s mit der Berichterstattung in der Unisphäre aus?«

»Aufbruchstimmung.« Phelim checkte die Zusammenfassungen, die ihm sein U-Shadow lieferte. »In etwa so, wie wir es erwartet hatten. Ein paar hysterische Anti-Pilgerfahrt-Hitzköpfe behaupten, dass Ihr uns alle umbringen werdet. Die meisten der seriösen Nachrichtenchefs bemühen sich aber, sachlich zu bleiben, und zeigen lediglich die sich aus dem Vorhaben ergebenden Probleme auf. Die Mehrzahl scheint in der Pilgerreise ein politischen Versprechen zu sehen.«

»Es ergeben sich aus der Pilgerreise keine Probleme«, sagte Ethan verärgert. »Ich habe den Traum des Skylords gesehen. Er ist ein durch und durch edles Geschöpf und er wird uns ins Innere der Leere hineinführen. Wir brauchen nur noch den Zweiten Träumer zu finden. Irgendwelche Entwicklungen heute in dieser Sache?«

»Nein. Es haben sich zwar Tausende gemeldet, die behaupten, sie hätten den Skylord geträumt, aber sie sind uns nur wenig hilfreich bei unserer Suche.«

»Sie müssen ihn finden.«

»Ethan … es hat unsere besten Traummeister Monate gekostet, die wenigen Bruchstücke zu dem winzigen Traum zusammenzufügen, den wir besitzen. Wir glauben, dass in diesem Fall keine feste Verbindung existiert, so wie Inigo sie zu der Leere hatte. Diese Fragmente könnten auf alle möglichen Weisen ins Gaiafield gelangt sein. Durch nichtsahnende Überträger. Direkt aus der Leere? Vielleicht Ozzies galaktisches Feld? Möglicherweise ein Overspill des Silfen-Mutterholms, oder irgendeine andere postphysische Spezies, die sich auf unsere Kosten ein Späßchen erlaubt. Womöglich sogar Inigo selbst.«

»Es ist nicht Inigo«, sagte Ethan. »Das weiß ich genau. Ich kenne das Gefühl seiner Träume, wir alle kennen es. Nein, diesmal ist etwas anderes. Immerhin war ich es, der diese ersten Fragmente empfangen hat, vergessen Sie das nicht. Ich habe erkannt, was sie waren. Es gibt einen Zweiten Träumer.«

»Nun, jetzt, da Ihr der Conservator seid, könnt Ihr eine wesentlich umfassendere Kontrolle der Konfluenznester des Gaiafields in die Wege leiten, um den Ausgangspunkt zu ermitteln.«

»So etwas ist machbar? Ich dachte immer, das Gaiafield befände sich außerhalb unseres direkten Einflussbereichs.«

»Die Traummeister behaupten, dass sie es könnten, ja. Gewisse Modifikationen an den Nestern sind möglich. Aber es wäre nicht ganz billig.«

Ethan seufzte. Das Konklave hatte ihn mental völlig erschöpft, und das hier war erst der Anfang. »So viele Probleme. Und alle auf einmal.«

»Ich werde Euch helfen. Das wisst Ihr.«

»Ja, das weiß ich. Und ich danke Ihnen dafür, mein Freund. Eines Tages werden wir im echten Makkathran stehen. Eines Tages werden wir unser Dasein vervollkommnen.«

»Schon bald.«

»Um Ozzies willen, das hoffe ich. Und jetzt seien Sie so gut und bitten Sie Marius herein.« Ethan stand auf, um seinen Gast zu begrüßen. Die Tatsache, dass der erste Besucher, den er hier empfing, ein Repräsentant der ANA-Fraktion war, ließ tief blicken. Die Art und Weise, wie er und Phelim während der Wahlkampagne auf Marius gesetzt hatten, hatte Ethan ganz und gar nicht gefallen. In einem idealen Universum wären sie auf eine Unterstützung von außen nicht angewiesen gewesen und schon gar nicht auf eine, die an so viele potenziell bedenkliche Bedingungen geknüpft war. Nicht dass Marius jemals etwas in Richtung quid pro quo vorgeschlagen hätte. Keine der Fraktionen innerhalb der annähernd postphysischen Intelligenz des Advanced-Neural-Activity-Systems auf der Erde wäre dermaßen plump.

Der Repräsentant lächelte höflich, als er hereingeführt wurde. Er war von durchschnittlicher Größe und hatte ein rundes Gesicht mit stechenden grünen Augen, die von einer großen Iris betont wurden; Nase und Mund waren auffallend schmal; die Ohren groß, jedoch so flach und eng anliegend, dass sie ebenso gut zwei Schädelwülste hätten sein können. Sein volles, kastanienbraunes Haar war golden meliert, zweifellos das Resultat der Eitelkeit irgendeines Advancer-Vorfahren. Mithilfe seiner internen Enrichments führte Ethan einen Passiv-Scan durch: Nichts an ihm deutete auf höhere Funktionen hin. Doch wenn irgendeine der Feldfunktionen des Repräsentanten aktiv war, so war sie zu hoch entwickelt, um wahrgenommen zu werden. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn Marius mit den modernsten Biononics ausgestattet gewesen wäre, die es gab. Der lange schwarze Togaanzug, in den der Repräsentant gekleidet war, erzeugte auf seiner Oberfläche einen eigenen Dunstschleier, der ihn wie eine dünne Nebelschicht umwallte. Kaum wahrnehmbare Fäden glitten, wenn er ging, hinter ihm her.

»Eure Eminenz«, sagte Marius und vollführte eine förmliche Verbeugung. »Meine herzlichsten Glückwünsche zu Eurer Wahl.«

Ethan lächelte. Es war das Einzige, was er tun konnte, um nicht zu erschaudern. Jeder seiner aufs Höchste verfeinerten Instinkte hatte augenblicklich erfasst, wie gefährlich dieser Mann war. »Vielen Dank.«

»Ich bin hier, um Euch zu versichern, dass wir auch in Zukunft Eure Ziele unterstützen werden.«

»Dann glauben Sie also nicht, dass die Pilgerreise das Ende der Galaxis heraufbeschwören wird?« Die Frage, die ihm jedoch eigentlich unter den Nägeln brannte, lautete: Wer ist wir? Wobei es innerhalb von ANA so viele Fraktionen gab, die ständig irgendwelche Allianzen schlossen und wieder auflösten, dass diese Frage fast schon wieder überflüssig war. Es reichte für den Moment vollkommen aus, zu wissen, dass die Fraktion, die Marius repräsentierte, wollte, dass die Pilgerreise stattfand. Ethan hatte es längst aufgegeben, sich darüber Gedanken zu machen, dass ihre Gründe möglicherweise im Widerspruch zu seinen eigenen standen oder ob sie einfach nur ein politisches Werkzeug in ihm sahen. Nicht, dass er das jemals erfahren würde. Doch das, was zählte, war die Pilgerreise. Was zählte, war, den Gläubigen das Universum, das ihnen versprochen worden war, zu übergeben. Tatsächlich war es das Einzige, was zählte. Es war ihm egal, ob er den politischen Zielen Dritter förderlich war, solange sie seinen eigenen nicht in die Quere kamen.

»Natürlich nicht.« Marius grinste in einer Art, als hätten sie soeben in aller Vertraulichkeit darüber gescherzt, wie dumm der Rest der Menschheit im Vergleich zu ihnen doch war. »Wenn das der Fall wäre, dann hätten die, die sich bereits in der Leere befinden, diese Sache niemals ins Rollen gebracht.«

»Die Menschen müssen angeleitet werden. Ich wäre für Ihre Hilfe in dieser Sache wirklich sehr dankbar.«

»Wir werden natürlich tun, was wir können. Trotzdem – wir kämpfen beide gegen ein beträchtliches Ausmaß an geistiger Trägheit, von den Vorurteilen gar nicht zu reden.«

»Dessen bin ich mir bewusst. Diese Pilgerreise wird die Bürger des gesamten Greater Commonwealth polarisieren.«

»Nicht nur sie. Es gibt eine ganze Reihe von Spezies, denen diese Entwicklung keineswegs egal ist.«

»Das Ocisen-Empire.« Ethan spie die Worte mit so viel Verachtung heraus wie möglich.

»Man sollte es nicht unterschätzen«, erwiderte Marius in beinahe tadelndem Tonfall.

»Die Einzigen, um die ich mir Sorgen mache, sind die Raiel. Sie haben öffentlich ihren Widerstand gegen jeden angekündigt, der versuchen sollte, in die Leere vorzudringen.«

»Und das ist genau der Punkt, wo Ihr von unserer Hilfe am meisten profitieren werdet. Unser anfängliches Angebot steht nach wie vor: Wir werden die Ultra-Antriebe für Eure Pilgerschiffe liefern.«

Ethan, studiert in altertümlicher Geschichte, nahm an, dass sich so die altreligiöse Gestalt des Adam gefühlt haben musste, als man ihm den Apfel reichte. »Und was erwarten Sie im Gegenzug dafür?«

»Die Beendigung des Status quo, der gegenwärtig im Greater Commonwealth herrscht.«

»Welchen Nutzen ziehen Sie daraus?«

»Das Überleben der Art. Evolution heißt entweder Fortschritt oder Auslöschung.«

»Ich dachte, Ihr Streben gelte der Transzendenz«, bemerkte Phelim trocken.

Marius blickte nicht einmal in Phelims Richtung, unverwandt fixierte er Ethan. »Und das ist keine Evolution?«

»Eine ziemlich nachdrückliche Form von Evolution«, sagte Ethan.

»Nicht weniger nachdrücklich als die Hoffnungen, die Ihr auf diese Pilgerschaft setzt.«

»Warum schließen Sie sich uns dann nicht einfach an?«

Marius antwortete mit einem freudlosen Lächeln. »Schließt Euch uns an, Conservator.«

Ethan seufzte. »Wir haben geträumt, was uns erwartet.«

»Ah, also läuft alles wieder auf das uralte Problem der Menschheit hinaus. Wage ich den Schritt ins Unbekannte, oder mache ich es mir vor meinem Ofen bequem?«

»Ich denke, die Redensart, die hier besser passt, lautet: Von zwei Übeln wählt man besser das, welches man schon kennt.«

»Wie auch immer. Eure Eminenz, wir bieten Euch nach wie vor den Ultra-Antrieb an.«

»Den noch nie wirklich jemand zu Gesicht bekommen hat. Bisher haben Sie sich lediglich auf Andeutungen beschränkt.«

»ANA pflegt mit ihren fortschrittlichen Technologien nicht zu prahlen. Dennoch versichere ich Euch, dass es ihn gibt. Der Ultra-Antrieb ist dem Antrieb, den die Raiel benutzen, zumindest ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen.«

Ethan gab sich Mühe, nicht zu lächeln angesichts der Anmaßung seines Gegenübers.

»Seid versichert, Conservator«, sagte Marius, »ANA würde so etwas nicht einfach leichthin behaupten.«

»Natürlich nicht. Also, wann können Sie liefern?«

»Sobald Eure Pilgerschiffe fertig sind, werden die Antriebe zur Verfügung stehen.«

»Und die anderen innerhalb der ANA, die Fraktionen, die nicht mit Ihnen übereinstimmen, werden einfach so danebenstehen und zusehen, wie Sie uns diese Supertechnologie überlassen?«

»Faktisch ja«, erwiderte Marius. »Macht Euch über unsere Interna keine Gedanken.«

»Sehr gut. Wir nehmen Ihr äußerst großzügiges Angebot an. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber wir werden natürlich auch unsere eigenen, zugegebenermaßen eher schlichten Antriebseinheiten für die Schiffe bauen – nur für den Fall.«

»Wir hatten nichts anderes erwartet.« Marius verbeugte sich abermals und verließ den Raum.

Erleichtert stieß Phelim die Luft aus. »Das ist es also! Wir sind nichts weiter als diejenigen, die bei ihrem politischen Gezerre die Dinge ins Rollen bringen sollen.«

Ethan versuchte gelangweilt zu klingen. »Wenn wir dadurch bekommen, was wir wollen, soll es mir recht sein.«

»Ich denke, es ist klug von Euch, nicht nur auf sie zu setzen. Wir müssen unsere eigenen Antriebe in das Bauprogramm mit einbeziehen.«

»Sehr richtig. Die Planungsteams haben von Anfang an unter dieser Prämisse gearbeitet.« Ethans Sekundärroutinen begannen, Daten aus den Speicherlakunen in seine makrozellularen Cluster zu übertragen. »Und nun lassen Sie uns mit ein paar simplen Anordnungen beginnen. Können wir?«

Aaron überquerte die rote Marmorbrücke, die sich über den Sisterhood Canal spannte und Golden Park mit dem Low Moat District verband. Der Low Moat District war ein schmaler Streifen aus Weideland, auf dem es keinerlei Stadtgebäude gab, lediglich Ställe und Wiesen sowie ein paar archaische Märkte.

Weit ausschreitend ging er den gewundenen Pfad entlang, der von kleinen, an Pfosten aufgehängten Öllaternen erhellt, weiter in den Ogden District führte. Auch dieser Bezirk bestand vorwiegend aus Grasland, doch befand sich hier außerdem das Gros der aus Holz errichteten Ställe der Stadt, in denen die Aristokratie ihre Pferde und Kutschen verwahrte. Hier befand sich auch das große Haupttor, das in die Mauer eingelassen worden war.

Die Torflügel standen weit offen, als er hindurchging und sich unter die kleinen Gruppen von Nachzüglern mischte, die auf ihrem Heimweg in die ausgedehnten Außenbezirke der Stadt waren. Makkathran2 war von einem zwei Meilen breiten Grünstreifen umgeben, der es von der riesigen modernen Metropole trennte, die im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte aus dem Boden geschossen war. Groß-Makkathran2 nahm mittlerweile eine Gesamtfläche von vierhundert Quadratmeilen ein, ein urbanes Netz, das sechzehn Millionen Menschen beheimatete, von denen neunundneunzig Prozent treu ergebene Living-Dream-Anhänger waren. Inzwischen war es zur Hauptstadt von Ellezelin avanciert. Es hatte die ursprüngliche Hauptstadt Riasi in dieser Funktion abgelöst, nachdem sich nach der Wahl im Jahre 3379 wieder eine Living-Dream-Mehrheit im planetaren Senat gebildet hatte.

In dem Park gab es kein einziges energiebetriebenes Verkehrsmittel; keine Bodentaxis, keine Untergrundbahn, nicht einmal befestigte Fußgängerwege. Und natürlich waren im Luftraum von Makkathran2 auch keine Transportkapseln gestattet. Inigos Meinung dazu war einfach genug: Den wahren Gläubigen würde es nichts ausmachen, die Strecke zu laufen; so machten es auf Querencia alle. Er wollte, dass Authentizität das beherrschende Moment in der Zitadelle seiner Bewegung war. Durch den Park zu reiten, war dagegen erlaubt, immerhin gab es auch auf Querencia Pferde.

Aaron lächelte bei der Vorstellung, als er sich jenseits des Tors auf den Weg machte. Plötzlich flackerte wie ein erlöschendes Hologramm eine flüchtige Erinnerung in ihm auf. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da er sich an den Hals eines riesigen Pferdes geklammert hatte, während er über eine hügelige Landschaft geprescht war. Die Bewegung war kraftvoll und rhythmisch, aber dennoch seltsam entspannt gewesen. Es schien, als würde das Pferd mehr dahingleiten denn galoppieren; immerzu geradeaus. Er wusste genau, wie er sich mitbewegen musste und lachte wild, während Ross und Reiter dahinjagten. Der Wind blies ihm ins Gesicht und zerzauste sein Haar. Über ihm spannte sich ein überraschend klarer und warmer saphirblauer Himmel. Das Pferd hatte ein kleines, robust wirkendes Horn an der Stirn; mit der traditionellen schwarzen Metallspitze darauf.

Aaron grunzte verächtlich. Es musste irgendein Immersionsdrama gewesen sein, das er in der Unisphäre abgerufen hatte. Nicht real.