Der unsichtbare Killer - Peter F. Hamilton - E-Book
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Der unsichtbare Killer E-Book

Peter F. Hamilton

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Beschreibung

Newcastle im Jahr 2142. Detective Sidney Hurst untersucht einen brutalen Mord und stellt dabei fest, dass es sich um einen Serientäter handeln muss. Zwanzig Jahre zuvor sind schon einmal Menschen auf dieselbe bestialische Weise ermordet worden, aber nicht auf der Erde, sondern auf dem Tropenplaneten St. Libra. Damals wurden die Morde einer unbekannten außerirdischen Spezies zugeschrieben. Eine Expedition reist zu der Dschungelwelt, um nach Hinweisen zu suchen. Dann beginnen die Morde von Neuem ...

"Überaus beeindruckend. Wir wiederholen es gern wieder: Niemand versteht sich auf große SF so sehr wie Hamilton" SFX

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Seitenzahl: 1869

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Sonntag, 13. Januar 2143

Montag, 14. Januar 2143

Dienstag, 15. Januar 2143

Mittwoch, 16. Januar 2143

Donnerstag, 17. Januar 2143

Freitag, 18. Januar 2143

Samstag, 19. Januar 2143

Sonntag, 20. Januar 2143

Montag, 21. Januar 2143

Montag, 28. Januar 2143

Donnerstag, 31. Januer 2143

Freitag, 1. Februar 2143

Sonntag, 3. Februar 2143

Mittwoch, 6. Februar 2143

Donnerstag, 7. Februar 2143

Montag, 11. Februar 2143

Montag, 18. Februar 2143

Freitag, 22. Februar 2143

Samstag, 23. Februar 2143

Sonntag, 24. Februar 2143

Montag, 25. Februar 2143

Donnerstag, 28. Februar 2143

Freitag, 1. März 2143

Dienstag, 5. März 2143

Donnerstag, 7. März 2143

Sonntag, 10. März 2143

Montag, 11. März 2143

Dienstag, 12. März 2143

Mittwoch, 13. März 2143

Donnerstag, 14. März 2143

Samstag, 16. März 2143

Sonntag, 17. März 2143

Montag, 18. März 2143

Dienstag, 19. März 2143

Mittwoch, 20. März 2143

Donnerstag, 21. März 2143

Freitag, 22. März 2143

Samstag, 23. März 2143

Montag, 25. März 2143

Donnerstag, 26. März 2143

Mittwoch, 27. März 2143

Dienstag, 2. April 2143

Mittwoch, 3. April 2143

Donnerstag, 4. April 2143

Montag, 8. April 2143

Dienstag, 9. April 2143

Mittwoch, 10. April 2143

Donnerstag, 11. April 2143

Montag, 15. April 2143

Donnerstag, 18. April 2143

Sonntag, 21. April 2143

Dienstag, 23. April 2143

Sonntag, 28. April 2143

Dienstag, 30. April 2143

Donnerstag, 2. Mai 2143

Freitag, 3. Mai 2143

Samstag, 4. Mai 2143

Sonntag, 5. Mai 2143

Montag, 6. Mai 2143

Dienstag, 7. Mai 2143

Mittwoch, 8. Mai 2143

Donnerstag, 9. Mai 2143

Juni 2152

2377

Zeitleiste

Hauptpersonen

Über den Autor

Peter Hamilton, Jahrgang 1960, wurde als Autor der MINDSTAR-Thriller bekannt. Internationalen Bestsellerruhm erlangte er mit seinem ARMAGEDDON-ZYKLUS und gilt seitdem als Erneuerer der klassichen Space Opera und Begründer einer neuen Untergattung, der GOTHIC SCIENCE FICTION. Er lebt mit seiner Familie in Rutland, England.

Peter F. Hamilton

DERUNSICHTBAREKILLER

Aus dem Englischen vonMichael Neuhaus und Susanne Gerold

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

BASTEI ENTERTAINMENT in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2013 by Peter F. Hamilton

Titel der englischen Originalausgabe: »The Great North Road«

Originalverlag: Macmillan, an imprint of Pan Macmillan Ltd., London

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: Arndt Drechsler, Bad Abbach

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: Guter Punkt

Datenkonvertierung E-Book: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-8387-2467-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Lizzie, Tim, Judith und Alan.

Sonntag, 13. Januar 2143

Als es auf Mitternacht zuging, schillerten die ungestümen Neonfarben des Borealissturms durch die sich sanft auf Newcastle upon Tyne herabsenkenden Schneeflocken. Es war, als würde die Natur mit der Stadt feiern wollen und hätte deshalb eine jadegrüne und karmesinrote Lightshow erschaffen, die prächtiger als nur irgendeines der Feuerwerke war, die seit Freitag den Himmel über den Häuserdächern sporadisch entflammten.

Detective dritten Ranges Sidney Hurst sah Horden von Nachtschwärmern stolpernd über den vereisten Bürgersteig ziehen, hörte, wie sie sich lauthals begrüßten oder rüde anmachten, je nachdem, wie zugedröhnt sie waren. Schnee, Eis und Matsch beeinträchtigten den in die Fahrbahn eingearbeiteten Smartdust. Das Winterwetter brachte die mikroskopisch kleinen Sensorpartikel komplett durcheinander und ließ ganze Bereiche des die Straßen der Stadt regulierenden Metagefechts blind werden, was das Fahren mit dem Autopiloten zu einem gefährlichen Glücksspiel machte. Sid steuerte den zivilen Streifenwagen manuell, beließ es allerdings angesichts der Straßenglätte bei der automatischen Anpassung des Raddrehmoments. Die Winterreifen boten eine passable Rutschfestigkeit, verbesserten die Lenkfähigkeit und ermöglichten es ihm, mit sagenhaften fünfunddreißig Stundenkilometern die Collingwood Street entlang- und an der Kathedrale vorüberzugondeln. Unermüdlich bildete das Radar auf der Windschutzscheibe Annäherungssymbole ab, die ihn gerade in diesem Moment vor den hohen schmutzigen Schneedünen warnten, welche die städtischen Schneepflüge am Fahrbahnrand aufgetürmt hatten.

Es hatte jetzt seit zwei Tagen ununterbrochen geschneit, und bei den sich hartnäckig unter minus zehn Grad haltenden Tagestemperaturen konnte kein Schnee schmelzen, und so lagen die aparten georgianischen Steinbauten im Stadtkern nun da wie in Dicken’scher weihnachtszeitlicher Pracht.

Eine weitere Annäherungswarnung blinkte rot auf, zeigte die groben Umrisse eines Mannes, der direkt vor dem Wagen die Straße überquerte; er lachte und johlte, als Sid scharf ausscherte, um ihn nicht über den Haufen zu fahren. Eine letzte obszöne Geste, und das Schneegestöber hatte ihn wieder verschluckt.

»Der erlebt den Morgen garantiert nicht mehr«, warf Ian Lanagin von seinem Platz auf dem vorderen Beifahrersitz aus ein.

Sid schaute kurz zu seinem Partner hinüber. »Bloß eine weitere Zwo-null-eins-Akte«, stimmte er zu. »Willkommen zu Hause.«

»Jo, Mann, die reinste Wiedersehensparty ist das hier.«

Es war verrückt, dass bei diesem Wetter so viele Menschen unterwegs waren; allerdings war Newcastles üblicher Nachtclub-Dresscode–T-Shirt für die Jungs und kurzer Rock nebst Glitzerabsätzen für die Mädchen – ausnahmsweise einmal unter dicken, knöchellangen Mänteln verschwunden. So kalt war es. Sid hatte sogar die eine oder andere zweckmäßige Mütze ausmachen können, was nachgerade ein Novum darstellte im Hinblick auf die fünfzehn Jahre, die er inzwischen bei der Polizei von Newcastle war.

Selbst bei dem Stand der Dinge in seinem Leben – verheiratet, zwei Kinder, eine Karriere, die nicht ganz so dynamisch verlaufen war, wie er sich das eigentlich vorgestellt hatte – wunderte er sich bisweilen ein wenig, dass er noch in Newcastle hockte. Er war einem Mädchen von London aus hierher gefolgt, wo er – wie alle Absolventen der Rechtswissenschaft um die Mitte zwanzig – seine Laufbahn damit in Gang zu bringen versucht hatte, dass er in abwechselnden Jobs bei der Polizei und bei privaten Sicherheitsdiensten wie ein Elektron zwischen Verbindungsportalen hin und her getitscht war. Gewissermaßen als große romantische Geste hatte er dann seine Versetzung zur hiesigen Stadtpolizei beantragt, bei der er seine Karriere für ein paar Jahre gleichermaßen zielführend vorantreiben und trotzdem die Nächte zusammen mit Jacinta im Bett verbringen konnte. Und heute, fünfzehn sprichwörtlich sibirische Winter und saharische Sommer später, war er immer noch hier. Verheiratet mit Jacinta (was zumindest gesunden Menschenverstand bewies), Vater von zwei Kindern und mit einem beruflichen Werdegang, der genau die Richtung genommen hatte, über die er während seiner so lang schon zurückliegenden Jahre an der Uni immer nur höhnisch gelacht hatte; damals, als er noch voller Leidenschaft und Überzeugungen gewesen war. Damals, als er für die von der aktuell am Ruder sitzenden Generation und für die von den überall lauernden Übeln der Zanth verhunzte Welt nichts übrig gehabt hatte als Verachtung. Doch mittlerweile hatten Erfahrung und die damit einhergehende Einsicht ihn auf den vernünftigeren Pfad des Dienstschiebens und Networkings gebracht. Das sollte genügen, den finalen Karriereschwenk in die Wege zu leiten, der ihn für die letzten zwanzig Jahre bis zu seiner Pensionierung in ruhiges Fahrwasser bringen würde. Fünfzehn Jahre harte Arbeit hatten ihn gelehrt, dass das Leben die Angewohnheit hatte, so etwas mit einem zu machen.

»Die sind bis morgen alle wieder nüchtern«, erwiderte Sid und wandte seinen Blick wieder auf die Straße.

»In dieser Stadt?«, fragte Ian zweifelnd.

»Wir haben jetzt alle Jobs.«

Sid war ebenso überrascht wie jeder andere gewesen, als Northumberland Interstellar am Freitagmorgen schließlich bekanntgegeben hatte, sie würde Aufträge für den Bau von fünf neuen Fusionsstationen im Ellington-Energiekomplex nördlich der Stadt vergeben. Die hätten eigentlich schon vor Jahren gebaut werden sollen, aber offenbar war es bei allen großen Projekten so, dass jahrzehntelange Verzögerungen standardmäßig in Firmenentscheidungen implementiert waren.

Und das war, bevor Regulierungsbehörden und Politiker sich einzumischen begannen, um der Welt ihre Wichtigkeit zu beweisen. Was hieß, dass die in die Jahre gekommenen Tokamaks in Ellington, die derzeit das Newcastle-Gateway nach St Libra versorgten, erheblich länger in Betrieb bleiben mussten, als es ihrer ursprünglich vorgesehenen Lebensdauer entsprach. Obschon das niemanden scherte und euphorische Geordies das ganze Wochenende lang über die Verlautbarung gejubelt hatten. Bedeutete diese Nachricht doch nichts anderes als einen neuerlichen Anstieg der gewaltigen Geldflut, die ohnehin schon durch die Straßen der Stadt strömte; Geld, das von allen Ecken und Enden nach St Libra geleitet wurde und als Vergütung in Form von unersetzlichem Bioil zurück zur alten Heimatwelt floss. Bioil, das wiederum die Autos und Lastkraftwagen auf den immer noch bedeutenden Handelsadern von Grande Europe in Betrieb hielt. Und teure Destillate ermöglichten es Flugzeugen zu fliegen und Schiffen zu fahren. Diese Aufträge waren zwar nicht mehr als eine leichte Kräuselung auf dieser Flut, nichtsdestotrotz versprachen sie zusätzliche Einnahmen für die verarbeitende Industrie und die Dienstleistungsbetriebe der alten Kohlestadt. Newcastle würde den digitalen Cash mit gewinnorientiertem Heißhunger verschlingen, um schwächelnde Wachstumskurven auf den Marktdiagrammen ihrer Firmen zu befeuern. Neue Arbeitsplatzangebote auf allen Ebenen würden dem folgen. Glückliche Zeiten brachen von Amts wegen herein.

Niemand wusste das besser als Newcastles umfängliche Sekundärwirtschaft, bestehend aus Privatsalons, Pubs, Clubs, Zuhältern und Drogendealern, denen allesamt schon allein ob dieser Aussicht der Sabber aus dem Mund lief. Wie der Rest der Stadt konnten sie sich auf eine neue Dekade freuen, in der sie dem Heer von mittelständischen Unternehmern und den auf Gehalts- plus Sonderbonusbasis Beschäftigten, die über sie hereinbrechen würden, die eine oder andere Annehmlichkeit bieten durften. Um diese neue Ära einzuläuten, waren am ganzen Wochenende überall die ersten Getränke aufs Haus gegangen und die zweiten zum halben Preis ausgeschenkt worden.

Über mangelnden Absatz konnte sich weiß Gott niemand beklagen.

»Da ist es«, sagte Ian Lanagin. Er deutete auf eines der auf der Windschutzscheibe wechselnden Symbole, als sie auf die Mosley Street einbogen.

Im nächsten Moment schimmerte nicht weit vor ihnen, an der Kreuzung mit der Grey Street, das blau-grüne Geflacker der Krankenwagenstrobos auf dem gebrochenen Eis, warf bizarre Schatten an die Mauern. Die irritierenden Warnsignale wetteiferten mit dem aus Clubeingängen und Schaufenstern sickernden Lichtdunst darum, die Szene zu beleuchten. Das große Fahrzeug war in einem Winkel abgestellt, dass es die halbe Straße blockierte. In der Absicht, hinter dem Ambulanzwagen zu parken, schob Sid sich vorsichtig daran vorbei. Das Annäherungsradar stellte auf der Windschutzscheibe bereits knallrote Warnklammern dar, als die vordere Stoßstange nur ein paar Zentimeter vor dem von den Räumpflügen aufgeworfenen Schneehaufen zum Halten kam. Sid zog sich seine Wollmütze über die Ohren und den Reißverschluss seiner Stepplederjacke bis zum Kinn hoch, bevor er in die bittere Kälte ausstieg.

Die eisige Luft trieb ihm augenblicklich Tränen in die Augen, die er rasch wegblinzelte, während er sich auf das, was er sehen konnte, konzentrierte. Die Temperatur machte dem Ring von Smartcells um seine Iris herum nichts aus; zuverlässig strahlten sie winzige Laserimpulse an seine Sehnerven ab und überlagerten die Straße mit gestochen scharfen grafischen Darstellungen, die dem entsprachen, worauf er gerade blickte, und gleichzeitig die entsprechenden Ortskoordinaten für das visuelle Log lieferten, das er mitlaufen ließ.

Gemäß Protokoll suchte Sids Bodymesh – das interkonnektive Netz, das seine Smartcells in ihrer Gesamtheit erzeugten – eine Verbindung zu Ian, um dafür zu sorgen, dass sie permanent in Kontakt blieben. Ian wurde von einem kleinen Icon im äußersten Winkel seines Sichtfelds repräsentiert. Außerdem lud das Bodymesh das visuelle Log auf die Speicherelemente des Einsatzwagens und von dort in das Polizeinetzwerk hoch.

Ein Constable der NorthernMetroServices-Agentur antwortete auf seinen Signalcode. Sid konnte ihn nirgendwo hinstecken, aber er kannte den Typ nur zu gut. Die in sein Bodymesh integrierte persönliche Electronic-Identity (E-I) gab das Gesichtserfassungsbild eines Mannes wieder, der so gerade in seinen Zwanzigern war – und mit einer Wichtigkeit herumstolzierte, dass man schlagartig schlechte Laune bekam. Gib ihm eine Uniform und ein bisschen Autorität, und er wird glauben, dass ohne ihn in der Stadt überhaupt nichts mehr läuft.

Die E-I des Agentur-Constable wies ihn als einen Mann namens Kraemer aus. Sofort suchte sie nach Sids E-I, die daraufhin dessen Rang angab und gleichzeitig die in seine Jacke eingearbeitete Erkennungsmarke aktivierte, die nun dezent bernsteinfarben glühte. »Sie waren als Erster hier?«, fragte Sid.

»Ja, Sir. Bin fünfzig Sekunden nach Eingang der Meldung zur Stelle gewesen.«

Deutlich innerhalb der vertraglich vereinbarten Reaktionszeit der Agentur, dachte Sid, was, wenn es um eine Verlängerung des Vertrags ging, ihre Statistik wieder ein bisschen besser aussehen lässt. Natürlich hing es davon ab, wann der Anruf offiziell registriert worden war. NorthernMetroServices betrieben auch die Newcastle-Notrufzentrale. Es war nichts Unbekanntes, dass die Zentrale ein oder zwei Minütchen, bevor sie einen Anruf im Log eintrug, gerne mal einen Agency-Constable alarmierte, sodass deren Leute immer unter der zeitlichen Vorgabe blieben.

»Schwerer Dreizehn-Fünf. Täter sind vor meinem Eintreffen getürmt.«

»Müssen ja echte Sprinter gewesen sein«, brummte Sid. »Ich meine, so schnell, wie Sie hier gewesen sind.«

»Reinhauen und einsacken, Mann.«

»Name des Opfers?«

»Seine E-I gab auf meine Anfrage Kenny Ansetal an. Er selbst war kaum noch bei Bewusstsein, die Burschen haben ihm ganz schön einen verplättet. Die Sanitäter haben ihn mitgenommen.«

»Okay.« Sid ging um den Krankenwagen herum zur Rückseite des Fahrzeugs, wo die Rettungshelfer das Überfallopfer auf der Heckplattform abgesetzt hatten, um die Schwere der Verletzungen festzustellen. Der Mann war etwa Anfang dreißig. Seine Gesichtszüge deuteten Sids bestem Ermessen nach auf eine Mischung aus teils asiatischer, teils südmediterraner Abstammung hin – was vermutlich noch zu einigem Kopfkratzen führen würde, wenn es ans Ausfüllen der Spalte ›Ethnische Zugehörigkeit‹ in der Fallakte ging. Natürlich wurde die Stichhaltigkeit dieser Einschätzung durch das ganze Blut, das aus der klaffenden Wunde über der Augenbraue des Opfers strömte, eingeschränkt. Auch waren da tiefe Fleischwunden an seinen Wangen, die nach Sids Dafürhalten von einem Schlagring herrührten. So viel Blut hatte die Tendenz, die feineren Gesichtszüge eines Menschen ein wenig undeutlich zu machen.

»Hallo, Sir«, sprach er den Mann laut an. »Wir sind von der Stadtpolizei. Können Sie mir sagen, was passiert ist?«

Kenny Ansetal hob schwach seinen Blick und kotzte ihm prompt vor die Füße. Sid sprang zurück. Die Spritzer verfehlten seine Schuhe um Haaresbreite.

»Ich bin dann mal Zeugenaussagen sammeln«, sagte Ian, bereits aus dem Wagen aussteigend.

»Arschloch«, grunzte Sid.

Ian grinste, blinzelte und wandte sich um. Trotz der schneidenden Kälte hatte der Überfall eine kleine Schar von Schaulustigen angezogen, die immer noch gaffend herumstanden. Wozu, hatte Sid niemals verstanden. Auch nach all diesen Jahren bei der Polizei war dies ein Aspekt der menschlichen Psychologie, den er schlichtweg nicht kapierte: Die Leute konnten einfach nicht widerstehen, dem Unglück anderer zuzusehen.

Er wartete einen Augenblick, während die Sanitäter die Wunde an Ansetals Stirn mit Blutgerinnungsschaum versorgten; dann kümmerte sich einer der Männer um seine Wangen, indessen ein anderer mithilfe der Informationen, die er von Ansetals Bodymesh erhielt, einen raschen Komplettcheck durchführte und die Stellen, an denen die Smartcells Verletzungen anzeigten, vorsichtig abtastete. Ansetals Reaktionen nach zu schließen hatte er ein paar derbe Tritte in die Rippen und gegen ein Knie abbekommen. Er war, als er am Boden lag, noch zusammengetreten worden, wie Ian konstatierte. Das Übliche halt bei einem Dreizehn-Fünf.

»Sir, können Sie mir sagen, was passiert ist?«

Diesmal schaffte es Kenny Ansetal, seinen Blick auf ihn zu fokussieren. »Die Schweine«, zischte er.

»Versuchen Sie, Ihren Kiefer nicht zu sehr zu bewegen«, warnte ihn der Sanitäter, während er eine Wangenwunde versiegelte.

Sid kannte die Wut und gab seiner E-I einige gemurmelte Befehle, die daraufhin unter Verwendung eines offiziell nicht erlaubten Fixes, der sich rein zufällig in seinem Cache befand, das Polizei-Log gehorsam stoppte. »Haben Sie die Angreifer erkannt?«

Ansetal schüttelte den Kopf.

»Wie viele waren es?«

Eine Hand hob sich, zwei Finger ausgestreckt.

»Männlich?«

Ein Nicken. »Verfluchte Chinesen. Scheißkinder waren es.«

Sid schüttelte leicht den Kopf, zufrieden mit sich, weil er Ansetals Antworten richtig vorhergesehen hatte. Natürlich waren sie mehr oder weniger die Regel. Ansetal mochte es vielleicht nicht wissen, aber eine ethnische Zuordnung in Verbindung mit Schimpfworten wurde juristisch als Kennzeichen für Rassismus eingeordnet. Es wäre Ansetal im Falle einer Gerichtsverhandlung ein ganzer Haufen Kummer daraus entstanden, wenn die Verteidigung ein Log mit derartigen Äußerungen in die Finger bekommen hätte.

»Haben sie etwas entwendet, Sir?«

Ansetal zuckte, als weiteres Versiegelungsmittel auf seine Wange aufgetragen wurde. »Mein Apple – ein i-3800.«

Das neueste Personal-Transnet-Handymodell, und oberste Preiskategorie. Wie konnte man so bescheuert sein und um diese Zeit mit so einem Gerät in der Innenstadt herumrennen? Aber Blödheit an sich war ja kein Verbrechen. »Wenn Sie erlauben, würde ich gern kurz Einblick in Ihre visuellen Aufzeichnungen nehmen, Sir.«

»Von mir aus.«

Sid hielt eine Hand dicht vor Ansetals Stirn und befahl seiner E-I, die visuelle Erinnerung abzurufen. Seine Handfläche verfügte über diverse für die Netzrezeption konfigurierte Smartcells plus Fixes, die mit den meisten Formaten zurechtkamen. Die Kurzzeiterinnerungen von Ansetals Iris-Smartcells wurden in das Polizeinetz heruntergeladen. Sid schaute sich an, was Ansetal gesehen hatte, schloss seine eigenen Augen, damit er die Gesichter in dem Rasterfeld besser erkennen konnte. Die Aufzeichnung war aufgrund der Bewegung undeutlich und verschwommen. Zwei schemenhafte Gestalten tauchten plötzlich auf, die Kapuzen gegen die Kälte tief in die Gesichter gezogen. Dann, als das Prügeln und Treten losging, geriet das Bild zu einem Drunter und Drüber aus verwaschenen Schlieren.

Sids E-I führte eine optische Erfassung durch, die ihm zeigte, dass beide Angreifer die gleichen Gesichter besaßen. Sid ächzte beim Anblick der vertrauten Züge leise auf: Lork Zai, ein chinesischer Zone-Media-Star, der zurzeit die Hot Lists sämtlicher Boulevardmagazine anführte.

»Okay«, sagte Sid. »Und jetzt, Kenny, gebe ich Ihnen ganz inoffiziell einen Rat. Es ist besser, wenn Sie sich zunächst nicht weiter äußern.«

Ansetal schaute ihn verwirrt an. Sid konnte fast hören, wie die Rädchen seines Verstandes bei den Mittelklasse-Denkprozessen hinter seiner blutbemalten Stirn klickerten und klackten. Ich bin hier das Opfer, wieso warnt die Polizei mich? Die Antwort war ganz einfach, obwohl Kenny es vermutlich nicht verstehen würde: Sag niemals etwas, was einen Anwalt vor Gericht an Boden gewinnen lassen könnte – also sag einfach überhaupt nichts mehr.

»Haben Sie eine Rechtsschutz-Vollversicherung?« Ging man von der relativ teuren Kleidung des Mannes aus, so war dies eine rein rhetorische Frage.

Ein vorsichtiges Nicken.

»Gut. Nehmen Sie sie in Anspruch. Rufen Sie die Notfallstelle Ihrer Versicherung an. Man wird Ihnen einen Pflichtanwalt ins Krankenhaus schicken. Der Agency-Constable wird Sie jetzt dorthin begleiten, um Ihre vollständige Aussage aufzunehmen. Aber machen Sie die erst, wenn Ihr Anwalt da ist. Das Recht haben Sie. Ebenso wie das Recht, eine Analyse Ihrer Blutzusammensetzung zu verweigern. Haben Sie mich verstanden?«

»Ich denke …«

Sid legte einen behandschuhten Finger an die Lippen.

Ansetal, inzwischen sichtlich beunruhigt, nickte. Von irgendwo hinter dem Ambulanzwagen konnte Sid eine Frau kichern hören. Er schaffte es, ein Stirnrunzeln zu unterdrücken. »Sie machen das schon, Kenny. Bleiben Sie einfach korrekt und bei der Wahrheit. Warten Sie auf Ihren Anwalt. Alles Weitere wird sich dann regeln.«

Ansetal formte die Lippen zu einem »Danke«.

Mit ein paar gemurmelten Anweisungen erteilte Sid über seine E-I den Sanitätern die offizielle Freigabe, den Tatort zu verlassen, und ging dann zurück zu Kraemer. »Ich habe Ansetals Abtransport ins Krankenhaus bewilligt. Fahren Sie mit und nehmen Sie seine Aussage auf.«

»Alles klar, Sir, wird erledigt.«

»Geben Sie ihm Zeit, sich behandeln zu lassen und ein bisschen zu sich zu kommen. Die Burschen haben ihn ganz schön vermöbelt.« Er brachte ein freundliches Lächeln hervor. »Dann sind Sie auch für ’ne Weile im Warmen.«

»Das wär nicht schlecht, Mann.«

»Und dann brauche ich Sie morgen, um die Erinnerungen der ganzen lokalen Netzsensoren auszulesen.« Er deutete mit einer ausholenden Geste auf die Gebäude ringsum. Mauerwerk und Beton waren mit Smartdust überzogen, von dem ein Teil vielleicht noch nicht durch den vielen Schnee in seiner Funktion eingeschränkt war. »Senden Sie sie an meine Fallakte. Er ist versichert, wir können also für die Fahndung nach den Tätern bei der Gesellschaft eventuell ein Budget herausschlagen.«

»Recht haben Sie, Mann.«

Sid musste fast schmunzeln – der Geordie-Akzent des jungen Constable war beinahe so stark wie Ians. Kurz darauf schlossen die Sanitäter die Türen des Ambulanzwagens und fuhren unter lautem Sirenengeheul los. Ian sprach immer noch mit den übrig gebliebenen Zeugen. Beide jung und beide weiblich, wie Sid, ohne im Geringsten darüber überrascht zu sein, feststellte. Ian war jetzt schon seit zwei Jahren sein Partner – sie kannten sich inzwischen besser als Brüder. Soweit es Ian betraf, war Polizist schlechterdings der perfekte Beruf, um Frauen kennenzulernen. Das Jagen und Stellen von Gesetzesbrechern rangierte bei ihm bestenfalls unter ferner liefen. Nicht ganz ohne Neid musste Sid zugeben, dass Ian in seinem so definierten Job ziemlich gut war. Ein achtundzwanzig Jahre junger Fitnessfanatiker, der sein komplettes Gehalt für Klamotten und Körperpflege ausgab, beherrschte er alle Register.

Beide »Zeuginnen« hingen förmlich an seinen Lippen, als Sid zu ihnen hinüberging. Im Gegensatz zu den anderen Zaungästen, die sich inzwischen zerstreuten, trugen sie ihre Mäntel offen und stellten ihre besten Nachtclubkleidchen zur Schau – sofern man bei dem wenigen Stoff von Kleidern überhaupt sprechen konnte. Sid stellte fest, dass er so langsam alt wurde, denn sein erster Gedanke war, wie entsetzlich die armen Dinger wohl frieren mussten. »Irgendwas Brauchbares bei den Zeugenaussagen, Detective?«, fragte er laut.

Ian wandte sich um und sah ihn spöttisch an. »Ja sicher. Tut mir leid, Ladies, mein Boss muss mal wieder nerven. Aber was will man machen?«

Beide Mädchen kicherten, offensichtlich beeindruckt davon, wie selbstbewusst und couragiert er in dessen Beisein von seinem Vorgesetzten sprach. Sid verdrehte die Augen. »Sieh zu, dass du ins Auto kommst, Mann. Wir sind hier fertig.«

Ians Stimme senkte sich um ein oder zwei Oktaven. »Ich werde Sie beide wegen wichtiger Angaben noch anrufen. Zum Beispiel was Ihr Lieblingsclub ist und wann Sie wieder dorthin gehen.«

Sid verschloss seine Ohren vor weiteren Ausbrüchen von albernem Gekicher.

Im Wagen war es herrlich warm. Die Bioil-Brennstoffzelle produzierte einiges an überschüssiger Hitze, welche die Klimaanlage hungrig aufnahm, um sie gleichmäßig an die Lüftungsschlitze zu verteilen. Sid öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und gab seiner E-I gleichzeitig den Befehl, zu dem Straßenraub eine neue Fallakte zu öffnen. Ein Subdisplay am unteren Rand des Rasterfelds seiner Iris-Smartcells zeigte daraufhin die sich ansammelnden Dateidaten.

»Oh yeah!«, stieß Ian begeistert aus, als er erneut auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Ich bin wieder da, Mann. Hast du die beiden Schnallen gesehen? Die waren heiß drauf, alle beide.«

»Unsere Krankenversicherung bezahlt nicht unbegrenzt Penizillin.«

Ian lachte. »Weißt du, was der größte Widerspruch in sich auf der Welt ist?«

»Glücklich verheiratet zu sein?«, erwiderte Sid müde.

»Mit einer, Kumpel. Mit einer.«

»Der Fall ist ’ne Luftnummer. Er wurde von Lork Zai ausgeraubt – besser gesagt, von zweien davon.«

»Scheiße auch! Der Mann kommt nicht mal halb so viel rum. Muss wohl die beliebteste Identitätsmaske im Augenblick sein.«

Sid warf einen Blick auf die Zeitanzeige. Es war elf Uhr achtunddreißig. Ihre Schicht endete um Mitternacht. »Wir drehen noch eine Runde und stellen die Karre dann ab.« Die Polizeihauptwache von Newcastle auf der Market Street befand sich kaum vierhundert Meter entfernt, aber es würde nicht gut aussehen, wenn sie mit zwanzig Minuten Restzeit auf der Uhr von einem Zwischenfall direkt heimwärts fuhren. Irgendein Büromensch würde sich mit Sicherheit darüber aufregen.

»Was haben sie mitgenommen?«, fragte Ian.

»Ein i-3800.«

»Nettes Teil. Jede Wette, das wechselt noch vor Mittag auf der Last Mile als kleiner Nebenverdienst den Besitzer.«

»Gut möglich«, erwiderte Sid. Die meisten Kleinkriminalitätsdelikte wurden dieser Tage von verzweifelten, verarmten Aussiedlern begangen, die durch das Gateway nach St Libra ausreisen wollten. Morgens konnte man sie in der Last Mile herumlungern sehen, wo sie das, was sie in der Nacht erbeutet hatten, an den Mann oder an die Frau zu bringen versuchten. Auf diesem flächenmäßig riesigen, unregulierten Markt, der »letzten Meile« zum Gateway hinauf, gab es praktisch alles zu kaufen, was einem, wenn man auf einer neuen Welt noch einmal ganz von vorne anfangen wollte, unter Umständen nützlich sein konnte. Zwischenfälle wie dieser waren schuld an Newcastles chronisch miserabler polizeilicher Aufklärungsquote: Binnen Stunden nach ihrer Verbrechensserie hatten sich die Täter auf eine andere Welt abgesetzt und waren für den hiesigen Arm des Gesetzes nicht mehr erreichbar.

Sid setzte den Wagen vom Bordstein zurück und wendete. In dem Moment ließen seine Iris-Smartcells einen grünen Text in seinem Rasterfeld aufleuchten, der sein Pendant in einer identischen Nachricht auf der Windschutzscheibe fand. Synchron dazu wurde ihm der neue Vorfall von seinen Aural-Smartcells gemeldet.

»Ein Zwei-Null-Fünf?«, sagte Ian ungläubig. »Mann, wir haben in zwanzig Minuten Feierabend. Das können die doch nicht machen.«

Sid schloss einen Moment lang die Augen – nicht dass das den grünen Text verscheucht hätte. War ja klar gewesen, die Nacht war viel zu ruhig verlaufen, bloß ein paar geringfügige Zwischenfälle in den ganzen sechs Stunden. Und jetzt das, ein Zwo-Null-Fünf: eine unter verdächtigen Umständen gefundene Leiche. Das einzige Verdächtige hier war das Timing – neben dem Fundort: unten an der Quayside bei der alten Gateshead Millennium Bridge, etwa eine Viertelmeile entfernt. Laut des eingehenden Alarms kam soeben erst die Bestätigung der Wasserschutzpolizei herein, dass es sich bei dem, was sie gerade aus dem Wasser fischten, um die Leiche eines Mannes handelte. Irgendwo war irgendjemandem sehr daran gelegen, dass der Vorfall rasch registriert wurde. Und er, Sid, war der sich am nächsten befindende ranghöhere Beamte auf Streife. »Arschlöcher«, knurrte er.

»Willkommen zu Hause, um dich zu zitieren«, stimmte Ian ihm zu.

Sid warf die Strobos und die Sirene an und befahl seiner E-I, ihnen über die Verkehrsleit-KI der Stadt freie Fahrt zu verschaffen. Allerdings waren auf den Straßen ohnehin nicht mehr allzu viele Fahrzeuge unterwegs, größtenteils Taxis, die betrunkene Nachtschwärmer nach Hause brachten.

Es hätte eine relativ kurze Fahrt sein können, aber um zum Flussufer zu kommen, mussten sie die Dean Street hinab – eine verhältnismäßig steil abfallende Straße unter den alten Gleis- und Fahrbahnbögen und zwischen dunklen Steinwänden mit leeren Fenstern hindurch. Der Autopilot ihres Wagens hatte alle Hände voll zu tun, damit sie nicht wegrutschten auf dem tückischen Eis. Zweimal gerieten sie bedenklich ins Schleudern, bevor gegenläufiges Drehmoment zur Anwendung kam und die Winterreifen Halt fanden. Unten schließlich öffneten sich die hohen Gebäude zu einer breiten Kreuzung, wo über ihnen die berühmte Tyne Bridge den Fluss querte. Das Licht der vielen Strahler, die ihre gebogene Eisenkonstruktion erleuchteten, war in dem wirbelnden Schnee beinahe verschwendet und schuf eine verwaschene, unheimliche Sichel aus Helligkeit, die schwerelos am Himmel hing. Sid lenkte den Wagen vorsichtig um den großen steinernen Stützpfeiler herum und fuhr weiter die menschenleere Quayside-Straße entlang.

»Da wollte wohl einer der Obrigkeit den Stinkefinger zeigen, was?«, bemerkte Ian, als sie die Glas- und Säulenfassade des Gerichtshofs erreichten. »Ich meine, so unmittelbar vor deren Haustür und so.«

»Verdächtig heißt nicht vorsätzlich«, erinnerte ihn Sid. »Und diese Kälte ist wirklich krass.« Er deutete mit dem Daumen auf den dunklen Fluss auf der anderen Seite des Wagens. »Wenn du da heute Nacht reinfällst, hast du’s hinter dir. Schneller, als du glaubst.«

Bei dem Regierungsgebäude bogen sie rechts ab. Die Fußgängerstraße, auf die sie gelangten, hatte wenigstens seit dem Nachmittag keinen Schneepflug mehr gesehen. Das Radar zeigte an, dass der Schnee inzwischen über zehn Zentimeter hoch lag und sich darunter eine feste Eisschicht befand. Sid verringerte das Tempo auf annähernde Kriechgeschwindigkeit. Nicht weit vor ihnen wölbten sich die Doppelbögen der Millennium Bridge mit der Anmut von Schwanenhälsen über den Fluss – die vor Kurzem erst sanierte perlweiße Außenfläche des oberen Bogens leuchtete matt unter dem farblich wechselnden Licht, das ihn illuminierte. Strobos auf den Autodächern von zwei Streifenwagen und dem Van eines Coroners flackerten durch den in dichten Flocken fallenden Schnee. Sid brachte ihr eigenes Fahrzeug hinter den drei anderen zum Stehen.

Als er aus dem Wagen stieg, herrschte um ihn herum eine unerwartete Stille. Nicht einmal der Pub keine vierzig Meter weiter die Quayside hinab trug etwas zu dem Gemurmel der drei am Promenadengeländer wartenden Agency-Constables bei. Kein anderes Geräusch war zu hören. Die Blicke der Beamten waren nach unten auf das Polizeiboot gerichtet, das gerade an der Kaimauer des verglasten Brückenpiers anlegte (der die Angelpunkte und deren Hydraulik beherbergte, mittels welcher die gesamte Konstruktion um ihre Längsachse rotiert werden konnte, um größere Schiffe passieren zu lassen). Ein weiterer Constable befragte in einem Streifenwagen ein junges Pärchen.

Sid wartete, bis sein Bodymesh sich in den Ringlink eingeklinkt hatte – den die wartenden Constables eingerichtet hatten – und vergewisserte sich, dass das Log mitlief. Ein Zwei-Null-Fünf war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Seine E-I identifizierte die Constables und übermittelte ihm die Namen, zusammen mit dem des amtlichen Coroners, der soeben aus seinem Van ausstieg.

»Also, was haben wir bis jetzt?«, fragte Sid.

Der Mann, den Sids E-I als Constable Saltz ausgemacht hatte, schnappte ein Bündel auf, das von dem Polizeiboot aus hochgeworfen wurde. »Zwei Nachtschwärmern, die über die Brücke gegangen sind, ist etwas aufgefallen, das an den Führungen da draußen hängengeblieben ist«, sagte er. »Da es wie eine Leiche ausgesehen hat, haben sie sofort die Polizei verständigt. Sind fast noch Kinder, nichts Verdächtiges an ihnen.«

Sid ging zu dem Geländer hinüber. Er war wohl schon an die hundert Male die Quayside-Promenade entlangspaziert. Eine Mischung aus alten und modernen Gebäuden säumte den Fluss, allesamt förmlich vollgesogen mit Geld, um die Art Charme und den Nimbus von Wohlstand zu schaffen, wie sie seit dem Viktorianischen Zeitalter vor zwei Jahrhunderten in Nordengland nicht mehr zu sehen gewesen war. Dieses Gebiet um den Fluss herum war ein Bereich, den der Stadtrat niemals auch nur ansatzweise würde herunterkommen lassen; es war das Herz der Stadt, das Vorzeigestück. Mit seinen Kultbrücken und der gewölbten Glaskonstruktion seines kulturellen Mittelpunkts, des über hundert Jahre alten Konzert- und Veranstaltungsgebäudes The Sage, spiegelte der Stadtteil Newcastles Status als fünftreichste Stadt (pro Kopf) Europas wider.

In dieser Nacht konnte Sid nicht einmal das Gateshead-Ufer auf der anderen Seite sehen, wo das Sage-Bauwerk über den Tyne emporragte. Das Einzige, was er auf dem dunklen Wasser ausmachen konnte, waren das Polizeiboot und dahinter, in der Mitte des Flusses gerade noch zu erkennen, zwei Reihen von Pollern, welche die tiefe Fahrrinne markierten: Wie ein flach auf dem Wasser liegendes Gleis stellten sie sicher, dass große Schiffe die Bögen der Millennium Bridge genau zentriert passierten, wenn diese in ihre höchste Position gekurbelt waren.

»Wo genau hatte sich die Leiche verhakt?«, fragte Sid.

»Auf dieser Seite«, erwiderte Constable Mardine. Sie sah die beiden Detectives mit bitterem Lächeln an. »Wir haben Ebbe, also schwer zu sagen, wie weit sie vorher flussabwärts getrieben ist.«

Inzwischen hatte Saltz es geschafft, das Bootstau festzuzurren. Sid kletterte über das Geländer und stieg die unsichere, am Kai befestigte Metallleiter hinab, begleitet von dem unaufhörlich lautlos fallenden Schnee. Unten nahmen ihn zwei Agency-Tauchspezialisten in Empfang und hielten ihn fest, damit er auf dem eisüberzogenen Deck nicht ausrutschte. Ihre beheizbaren Tauchanzüge waren das Beste vom Besten und genau das Richtige dafür, sie, während sie in eiskaltem, dreckigem Wasser herumplantschten und dabei die ganze Zeit versuchten, Gurte an einer ungünstig halb unter Wasser dümpelnden Leiche zu befestigen, angenehm warm zu halten. Die hautengen Masken waren zurückgeschoben und gaben den fidelen Ausdruck ihrer Gesichter preis, der ganz entschieden nicht zur Situation und zum Wetter passen wollte. Zumindest veranschaulichten ihre Mienen, wie effektiv die Anzüge sein mussten.

Der Captain zumindest war ein Original der Stadtpolizei: Detective Darian Foy. Sid kannte ihn noch von früher.

»Bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen«, sagte Sid.

Darian erkannte ihn und streckte sich. »Guten Abend, Detective. Kein erfreulicher Fund, fürchte ich.«

»Ah ja?« Irgendetwas stimmte absolut nicht mit Darians Antwort. Zu förmlich. Was Sid bewusst machte, dass das hier von Wichtigkeit war. Er wünschte, er hätte ebenfalls eine Rechtsschutz-Vollversicherung wie Kenny Ansetal und irgendein neunmalkluger Anwalt würde plötzlich neben ihm materialisieren, um darauf zu achten, dass alles, was er sagte, rechtsformal einwandfrei war. Doch in Ermangelung dessen musste er nun auf die strenge Einhaltung der Dienstvorschrift setzen. Da war es nicht gerade hilfreich, dass er die letzten drei Monate frei gehabt hatte …

»Lassen Sie sehen«, sagte er.

Während hinter ihm die beiden Taucher Ian an Bord halfen, führte Darian ihn hinüber auf die Rückseite der kleinen Kabine. Die Leiche lag auf einer Bergungstrage, die mit der Mittschiffswinde auf das Deck heruntergelassen worden war. Sie war mit einer Plastikplane zugedeckt. Zwei Scheinwerfer auf dem Kabinendach leuchteten auf sie herab und schufen ein weißes, mit der finsteren Nacht streitendes Licht.

Darian sah ihn mit einem letzten, vorwarnenden Blick an und schlug die Plastikplane zurück.

Sid hoffte sehr, dass er sein »Ach du Scheiße« nicht laut gesagt hatte.

Auf jeden Fall echote es lange genug in seinem Schädel herum. Aber er hatte es wohl doch kundgetan, denn direkt hinter ihm murmelte Ian: »Jau, da kannst du einen drauf lassen.«

Der weiße gefrorene Körper des Mannes war nackt. Was nicht das Schlimme an der Sache war. Und auch die ungewöhnlich tiefe Wunde knapp oberhalb seines Herzens war nicht der Karrierekiller. Nein, das, was Sid geradezu fauchend ins Gesicht sprang, war die Identität des Opfers.

Es war ein North.

Das bedeutete, dass es eine gerichtliche Untersuchung würde geben müssen. Und zwar eine, die mit einer absolut wasserdichten Verurteilung endete, die über jeden juristischen Zweifel und dem der Medien erhabenen zu sein hatte.

Es waren einmal – vor hunderteinunddreißig Jahren, um präzise zu sein – drei Brüder. Sie waren Drillinge. Von unterschiedlichen Müttern geboren. Perfekte Klone ihres unglaublich vermögenden Vaters, Kane North. Er gab ihnen die Namen Augustine, Bartram und Constantine.

Doch obwohl sie hervorragende Kopien ihres Bruders/Vaters darstellten – der seinerseits wie alle North den berühmt-berüchtigten Elan der Familie sowie deren Liebe zum Geld und intellektuellen Fähigkeiten besessen hatte –, waren sie nicht ohne Mangel. Die Genmanipulation, mittels derer sie geschaffen worden waren, hatte seinerzeit noch in den Kinderschuhen gesteckt. Kanes DNA war mittels einfachster Keimbahntechnik im Embryo fixiert worden. Das hieß, dass Kanes charakteristische biologische Identität in jeder Zelle des neuen Körpers eingeschlossen und dominierend war, einschließlich des Spermatozoons. Jede Frau, die ein Kind von einem der Brüder bekam, brachte wieder eine weitere Kopie des Originals hervor. Und genau da lag die Krux in der neuen dynastischen Ordnung: Wie bei allen Arten der Replikation traten bei den Kopien von Kopien unvermeidlich Verschlechterungen auf. Fehler begannen sich in die DNA einzuschleichen, wenn sie sich selbst reproduzierte. Die 2Norths, wie die nächste Generation genannt wurde, waren beinahe so gut wie ihre Väter – gleichwohl sie jetzt mit fast unmerklichen Mängeln behaftet waren. Die 3Norths waren noch von geringerer Qualität. Die 4Norths wiesen sowohl physiologische wie psychische Störungen auf. Und die 5Norths schließlich neigten dazu, nicht sehr lange zu leben. Gerüchten zufolge sollten, nachdem die ersten 5er aufgetaucht waren, die 4er still und diskret von der Familie sterilisiert worden sein.

Nichtsdestotrotz waren die Drillinge außergewöhnliche Männer. Sie waren es gewesen, die die Innovation der transräumlichen Verbindung mit offenen Armen begrüßt hatten, als diese sich noch in ihren Entwicklungsjahren befand. Sie waren das Risiko eingegangen und hatten die Northumberland Interstellar Corp gegründet, die in der Folge schließlich das Gateway nach St Libra gebaut hatte. Und Northumberland Interstellar hatte auch die Algenfelder auf der anderen Seite des Gates eingeführt, die jetzt einen so immensen Teil des Bioil-Verbrauchs Grande Europes deckten. Sie waren die Männer an den Schalthebeln, die als Triumvirat über fünfzig Jahre lang die Richtung in dem mächtigen Unternehmen vorgaben; bis schließlich Bartram und Constantine aus ihren Ämtern schieden, um ihre jeweils eigenen Ziele zu verfolgen, und Augustine die Leitung des Bioil-Riesen überließen.

Aber es waren 2Norths, die in der Unternehmensverwaltung die Führungspositionen einnahmen. 2Norths, die hingebungsvoll für ihre Bruder-Väter die Geschäfte regelten. 2Norths, die festgezimmerte Verbindungen zu den Machtzentralen von Grande Europes Politik und Wirtschaft besaßen. 2Norths, die ihr Lehen Newcastle mit milder Totalität regierten. 2Norths, die würden wissen wollen, wer einen ihrer Brüder umgebracht hatte, und warum. Und dies möglichst rasch.

Denk nach!, ermahnte sich Sid und schloss die Augen, um den Anblick seines angestrahlt und reglos unter dem wirbelnden Schnee liegenden Karrierekillers auszuradieren. Dienstvorschrift. Die Dienstvorschrift ist König. Immer.

Er holte tief Luft und versuchte, die Dinge ruhig und sachlich zu sehen: der durch nichts zu erschütternde Mann, der alles im Griff hatte. Ein Phantasieprodukt tausender langweiliger Problemmanagementseminare, wie ein klischeehafter Zone-Media-Cop.

Sid öffnete die Augen.

Der tote North-Klon stierte blind in die wogenden Farben des borealisgebeutelten Himmels. Seine Augen waren zerstört. Ein Fisch? Kein schöner Gedanke. Ratlos betrachtete Sid die seltsame Wunde im Brustkorb – als ob der Todesfall an sich noch nicht reichte, war ihm völlig schleierhaft, was zum Teufel so ein Einstichmuster hinterlassen haben mochte. Immerhin war es, wenn etwas Derartiges dem Opfer ins Herz geschnitten hatte, ein schneller Tod. Der North hatte nicht viel gelitten. Ganz fraglos war es der Wille des Schicksals, dass er dies allen anderen erzählte.

Sid hielt eine Hand über das Gesicht der Leiche und befahl seiner E-I, einen Link zu dem Bodymesh des toten Mannes zu suchen. Den Smartcells, die in dem kalten, fühllosen Fleisch eingebettet waren, war es egal, dass es ihren Träger dahingerafft hatte. Sie sollten eigentlich immer noch Kraft aus den feinabgestimmten Adenosintriphosphat(ATP)-Molekülen ziehen, die den Kern ihres Energietransfersystems bildeten; ein oxidativer Prozess, der damit fortfahren würde, genau wie natürliche Zellen Fette und Kohlenhydrate zu verwerten, bis der menschliche Körper schließlich anfing zu verwesen.

Es erfolgte keine Reaktion. Sämtliche Verbindungsicons in Sids Rasterfeld blieben grau unterlegt. Der North hatte kein aktives Bodymesh.

»Bodymesh nicht mehr vorhanden. Er wurde geripped«, sagte Sid. Die letzten paar Augenblicke von Norths Leben nachzuvollziehen – zu sehen, wie der Killer ihm durchs Herz stach – hätte den Fall vermutlich sofort gelöst. Sid wusste aus Erfahrung, dass es niemals so einfach war, aber Dienstvorschrift … Er beugte sich vor und starrte der Leiche in die verschandelten Augen. Es war nicht ganz leicht in dem harten Licht der Bootsscheinwerfer, dennoch konnte er gerade noch die winzigen Schnitte in der Linse des Augapfels ausmachen, als ob ein Insekt sie weggeknabbert hätte. »Sogar mehr als geripped. Sieht so aus, als hätten sie auch die Smartcells extrahiert.«

»Oh Mann, da waren wohl Profis am Werk«, sagte Ian.

»Ja. Drehen Sie bitte seine Hände herum«, bat Sid die Taucher mit ihren Gummihandschuhen. An jeder der weiß gefrorenen Fingerspitzen fehlte die Haut. Irgendjemand hatte da versucht, die Identifikation zu erschweren, was bei einem normalen Tatopfer ja noch Sinn ergeben hätte, aber bei einem North …?

»Okay«, sagte Sid jäh. »Hol den Coroner runter. Er kann die Leiche freigeben und abtransportieren. Ich klassifiziere den Fall hiermit offiziell neu als einen Eins-Null-Eins. Sämtliche Unterlagen sollen als Backups gesichert und an meine Fallakte geschickt werden.« Er wandte sich zu den beiden Tauchern um. »War da noch irgendwas anderes da draußen, wo Sie die Leiche gefunden haben?«

»Nein, Sir.«

»Captain, sobald die Leiche an Land gebracht worden ist, würde ich gern mit Ihrem Boot zu der Stelle zurückkehren, an der die Leiche entdeckt worden ist, und sie noch einmal absuchen.«

»Natürlich«, erwiderte Darian.

»Bringt es was, den Bereich mit Sonar abzutasten?«

»Die Auflösung ist zwar nicht die beste, aber wir können ihn auf jeden Fall auf irgendwelche Auffälligkeiten hin überprüfen.«

Beide warfen unwillkürlich einen Blick zurück auf die Brustwunde.

»Bitte tun sie das.« Sid wies seine E-I an, eine Fallakte der Stufe Eins-Null-Eins anzulegen. Im nächsten Moment zeigte das Rasternetz seiner Iris-Smartcells das sich entfaltende runde grüne Icon. Daten aus dem Log und vom Patrouillenboot wurden heruntergeladen.

»Ich möchte, dass das Pärchen, das den Vorfall gemeldet hat, für ein paar abschließende Fragen zur Wache rübergebracht wird«, instruierte er Ian.

»Alles klar, Boss«, entgegnete Ian spitz.

»Gut.« Alsdann ging Sid zu dem unteren Ende der Leiter hinüber und wartete, bis der Coroner heruntergeklettert war. Der Mann wirkte mit einem Mal ziemlich nervös. »Ich will, dass alles unter genauester Einhaltung der Vorschriften abläuft«, gab Sid ihm mit auf den Weg.

Während er wieder die Leiter hochstieg, befahl er seiner E-I, den Transnet-Zugangscode des Chief Constable aufzurufen. Das Icon erschien, ein kleiner roter Stern, der beinahe vorwurfsvoll vor ihm aufleuchtete. Doch erst als er wieder auf der Promenade stand und sich, um nicht auszurutschen, am Geländer festhielt, veranlasste er seine E-I, den Anruf zu tätigen.

Es dauerte einen Moment, bis Royce O’Rouke sich meldete, was in Anbetracht der Uhrzeit nicht verwunderte. Und als die Farbe des Icons auf Blau wechselte, war es eine reine Audioverbindung, was desgleichen nachvollziehbar war. Sid konnte ihn sich vorstellen, wie er da halb wach auf der Kante seiner Betthälfte saß und Mrs O’Rouke auf der anderen Seite verärgert in das Licht blinzelte, das er angemacht hatte.

»Verdammt, Hurst, was gibt’s?«, fragte Royce O’Rouke schroff. »Sie sind gerade mal seit sechs Stunden zurück. Um Himmels willen, Mann, können Sie nicht mal ordentlich pinkeln, ohne das Ihnen jemand den–«

»Sir!«, sagte Sid rasch – er kannte die Ausdrucksweise, derer O’Rouke sich, wenn er in Hochform war, bediente, nur zu gut. »Ich habe soeben einen Fall zu einem Eins-Null-Eins hochgestuft.«

O’Rouke verstummte, als ihm die Tragweite dieser Eröffnung bewusst wurde; alles, was er sagte, würde automatisch in die Fallakte aufgenommen. »Fahren Sie fort, Detective.«

»Im Fluss wurde eine Leiche gefunden. Mit einer hässlichen Stichwunde in der Brust. Vermutlich auch Smartcell-Extraktion.«

»Verstehe.«

»Sir, unserer vorläufigen Identifikation nach handelt es sich um einen North.«

Diesmal konnte Sid die Stille, die seinen Worten folgte, fast körperlich spüren.

»Bitte sagen Sie das noch mal.«

»Es ist ein North-Klon, Sir. Wir sind hier unten an der Millennium Bridge. Der Coroner gibt die Leiche jetzt zum Abtransport frei. Abgesehen von ihm sind noch vier Agency-Constables vor Ort sowie die Leute vom Boot, Captain Foy und zwei Taucher. Außerdem zwei Zivilpersonen, die die Leiche entdeckt haben.«

»Lassen Sie den Bereich umgehend absperren. Alle, die sich dort befinden, sollen auf direktem Wege zur Market-Street-Wache gebracht werden. Keine Kommunikation nach draußen, verstanden?«

»Ja, Sir. Ich habe Captain Foy angewiesen, den Fluss um die Fundstelle herum noch einmal mit Sonar abzusuchen, sobald die Leiche im Wagen des Coroners ist.«

»Ja, richtig. Gut.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht einfach von der Brücke gestürzt ist. Meiner bisherigen Einschätzung nach wurde er irgendwo flussaufwärts ins Wasser geworfen. Die Leiche sieht aus, als wäre sie eine ganze Weile untergetaucht gewesen. Mehr kann ich erst sagen, wenn ich mit dem Coroner gesprochen habe. Ich werde Detective Lanagin beauftragen, ihn zur städtischen Leichenhalle zu begleiten. Er kann darauf achten, dass es zu keinen formalen Versäumnissen kommt.«

»In Ordnung, das ist schon mal ein guter Anfang. Hurst, das Letzte, was wir im Augenblick wollen, ist, dass die Medien sich auf die Sache stürzen – wir brauchen freies Feld, um in Ruhe unsere Ermittlungen durchzuführen. Die Beweiskette muss sauber bleiben.«

»Ja, Sir. Äh … Chief?«

»Ja?«

»Was ist mit der Benachrichtigung der nächsten Angehörigen?«

Wieder ein Moment des Schweigens, kürzer diesmal. »Ich kümmere mich darum. Sie konzentrieren sich darauf, den Tatort zu sichern und die Untersuchung ordnungsgemäß einzuleiten.«

»Ja, Sir. Habe ich die Genehmigung und Vollmacht, mich mit der Küstenwache kurzzuschließen? Ich hätte gern eine Auflistung aller Schiffe, die heute Nacht auf dem Tyne unterwegs waren, inklusive deren derzeitigem Standort.«

»Gute Idee. Ich habe die Autorisierung für Sie fertig, wenn Sie auf der Market Street sind.«

»Vielen Dank, Sir.« Sid sah zu, wie das Icon wieder auf Rot umschlug und dann verschwand.

In dem Moment kam Ian die Leiter hinauf und stapfte durch den Pulverschnee auf der Promenade zu ihm hinüber.

»Und?«, fragte Sid.

»Der Coroner will sich nicht festlegen. Natürlich nicht«, meinte Ian. »Immerhin kann er anhand der Wassertemperatur und des Zustands der Leiche sagen, dass sie mindestens eine Stunde im Wasser gelegen haben muss.«

»Er ist also nicht von der Brücke gestürzt.«

»Nein. Er ist nicht von der Brücke gestürzt. Zu starke Gezeitenströmung.«

»Möchte sich unser Herr Coroner denn schon zum vermutlichen Zeitpunkt des Todeseintritts äußern?«

Ian grinste dünn. »Nö, möchte er nicht. Da müssen wir wohl erst die Autopsie abwarten.«

»Na schön. Ich hab mit dem Chief gesprochen. Du fährst mit dem Coroner zur Leichenhalle zurück. Sorg dafür, dass es keine Pannen gibt. Die vorgeschriebenen Abläufe müssen strengstens eingehalten werden, keine Ausnahmen.«

»Geht klar.«

»Ich mach mich zur Market Street auf. Die diensthabende Network-Belegschaft kann hier absperren und den Fluss entlang die ganzen Überwachungsnetz-Erinnerungen von heute Nacht downloaden. Und Schiffe verfolgen müssen wir auch noch.«

Ian machte ein skeptisches Gesicht. »Heute Nacht schippert hier gar nichts herum. Nicht in der Suppe.«

»Eben. Wir können keine hundert Meter weit sehen. Ich kann nicht mal das Baltic Exchange auf der anderen Seite erkennen. Da draußen könnte ein Supertanker sein, und wir wüssten’s nicht.«

»Na ja, ich denke schon, dass wir das mitgekriegt hätten.«

»Detective, wir decken nur alle Möglichkeiten ab.«

Ian, dem plötzlich bewusst wurde, wie viele Menschen – und welchen Dienstgrades – sich das Log von dieser Nacht ansehen würden, wurde jäh wieder ernst. »Schon gut, du hast ja recht.« Er ging zu den wartenden Constables hinüber. »Okay, Leute, dann wollen wir mal die Leiche hier hoch schaffen. Ich hoffe, ihr seid alle fit und bei guter Gesundheit – sie wiegt ein paar Pfund.«

Sid sah einen Moment lang zu, wie der Coroner und die Taucher Seile an der Trage befestigten, sodass sie den Leichnam auf die Promenade hinaufziehen konnten. Er überlegte, ob er irgendetwas vergessen hatte. Die Basics waren definitiv erfüllt. Da war er sich sicher. Ordnungsgemäß die Untersuchung einleiten. O’Rouke hätte ruhig etwas deutlicher sein können. Am Morgen würden die Senior Detectives anrücken und den Fall übernehmen; zweifelsohne von mindestens einem Dutzend sachverständiger Berater unterstützt, die Aldred North ihnen von Northumberland Interstellars Sicherheitsabteilung auf den Pelz schicken würde. Spätestens mittags würde Sid sich um nichts mehr Sorgen machen müssen.

Montag, 14. Januar 2143

Das laute Summen des Weckers zerrte Sid aus dem Schlaf. Seufzend streckte er den Arm nach der Schlummertaste aus.

»Oh nein, das wirst du nicht.« Jacinta griff über ihn hinweg und packte seine Richtung Wecker wandernde Hand.

Er seufzte abermals, lauter diesmal und frustriert. Der Alarm plärrte ungerührt weiter. »Herrgottnochmal, Schatz, ist ja schon gut.« Er schwang seine Beine aus dem Bett. Erst da hielt sie es für verantwortbar, seine Hand loszulassen. Augenblicklich ließ er sie rachsüchtig auf den Wecker hinabfahren, und das abscheuliche Geräusch verstummte. Er gähnte. Seine Augen tränten, und er fühlte sich, als hätte er maximal zehn Minuten geschlafen. Es war kalt im Zimmer, trotz der erneuerten Klimaanlage, die hinter den Deckenschlitzen vor sich hin schnurrte.

Jacinta kletterte auf ihrer Seite ebenfalls aus dem Bett. Sid nahm den Wecker und hielt ihn sich dicht vors Gesicht – nur so vermochte er die leuchtenden grünen Zahlen zu entziffern.

6:57 Uhr.

»Scheiße.« Er konnte nicht aufhören zu gähnen. Sein Bodymesh hatte Wachstatus registriert und wartete die voreingestellte Minute ab, bevor es die Displays und Audiotöne aktivierte. Dann entfalteten die Iris-Smartcells das Geisterpantheon vor seiner Sicht, welches ihr grundlegendes Icon-Rasternetz darstellte.

»Wann bist du denn nach Hause gekommen?«, fragte Jacinta. Sie sah ihn verwundert an. Er schaffte es, im Gegenzug schwach zu grinsen, und genoss einen Moment lang einfach nur ihren Anblick. Jacinta war bloß drei Jahre jünger als er, aber die Zeit war an ihr so viel spurloser vorübergegangen. Ihr Haar war jetzt kürzer als damals in London, als sie sich kennengelernt hatten, aber immer noch üppig und um diese Morgenstunde stets ungezähmt und zerzaust. Und auch ihre Figur war noch genauso tipptopp, schlanker, als man es bei einer Mutter von zwei Kindern annehmen würde. Das war alles in erster Linie auf ihre große Entschlossenheit zurückzuführen. Ohne ein überflüssiges Pfund und mit ihren durch eiserne, regelmäßige Gymnastikübungen trainierten Muskeln war sie zum Anbeißen fit. Am meisten von allem aber war es ihre Haut, die über ihr Alter hinwegtäuschte; sie war so glatt und straff wie seit eh und je und schien jedem Fältchen erfolgreich zu trotzen. Was allerdings nicht gar so erstaunlich war angesichts des Umstands, dass sie die Hälfte ihres OP-Schwestern-Gehalts für Cremes, Lotionen, pharmazeutische Gels und viele, viele andere Produkte aus jener Kaufhausabteilung draufgehen ließ, die Männer Angst hatten zu betreten.

Scharfe, grüne Augen spähten zu ihm hinüber, während der erste Haarclip an seinen Platz geklemmt wurde. »Hallo?«

»Ungefähr halb vier«, erwiderte er.

»Oh Liebling! Wieso? Was ist passiert?« Mit einem Mal war sie wieder das Mitgefühl selbst.

»Ich hatte einen Eins-Null-Eins.«

»Nein! Am ersten Abend schon wieder? Das ist echt Pech.«

»Es kommt noch schlimmer«, sagte er. »Erzähl’s auf der Arbeit bitte nicht rum, okay – aber das Opfer ist ein North.«

»Ach du Scheiße«, stieß sie halb flüsternd aus.

»Wie man’s nimmt.« Er zuckte die Achseln. »O’Rouke wird mich wohl, kaum dass die Frühschicht angefangen hat, von dem Fall abziehen.«

»Bist du sicher?«

»Oh ja. Die Untersuchung muss absolut korrekt durchgeführt werden.«

»Das kannst du doch auch«, entgegnete sie sogleich und nicht nur ein bisschen empört.

»Ja, schon.« Das war die Schande an der Sache: Er wusste, dass er die Untersuchung wirklich leiten konnte, und zwar gut leiten. Tatsächlich hatte ihm die Herausforderung, die halbe Nacht lang eine Fallstrategie auszuarbeiten, damit die Frühschicht direkt loslegen konnte, sogar ganz gut gefallen. So war das mit den Karrierekillern – wenn man es richtig machte, konnten sie genauso leicht zu einem Karrieresprungbrett werden. »Aber ich bin erst sechs Stunden wieder im Dienst.«

Sie sah ihn mit einem vielsagenden Blick an. »Ja, Schatz, aber lass uns nicht vergessen, wieso, okay? Die Norths werden jemanden wollen, von dem sie wissen, dass er gut ist.«

»Was auch immer …«

Ein lauter Rums auf dem Flur, gefolgt von einem entrüsteten Aufschrei, kündigte den allmorgendlichen Streit zwischen William und Zara ums Badezimmer an. Prompt setzte in der nächsten Sekunde das Getrommel von Wills Fäusten gegen die Tür ein, der seine jüngere Schwester anschrie, ihn reinzulassen. »Ich kann nicht warten, du doofe Kuh«, brüllte er.

Dumpf kam ihre despektierliche Antwort zurück.

»Du wirst sie wohl heute für mich in die Schule bringen müssen«, sagte Sid, in der Hoffnung, die kleine Planänderung würde in dem allgemeinen morgendlichen Chaos nicht weiter hinterfragt.

»Von wegen!«, rief Jacinta auf. »Wir waren uns einig. Ich hab mich für heute Morgen für einen kompletten Herzaustausch eingetragen. Sauteure Retortenpumpe mit DNA-Screening und allem. Die Versicherung der Patientin zahlt alles, einschließlich Sondervergütung fürs OP-Personal.«

»Ich hab einen Eins-Null-Eins mit einem North an der Backe.«

»Hast du nicht gerade noch gesagt, dass man dich von dem Fall direkt wieder abziehen wird?«

»Ach, hör doch auf, ey.«

Sie lachte verächtlich ob seines Versuchs, den lokalen Slang, das Geordie, zu sprechen. »Mein Termin heute steht schon seit vor Weihnachten im Kalender.«

»Aber –«

Draußen auf dem Flur kam es zu einem weiteren raschen Austausch von wüsten Beschimpfungen, als Zara aus dem Badezimmer huschte und William hinein.

»Es ist ihr erster Tag nach der Pause«, sagte Jacinta. »Willst du sie etwa allein gehen lassen? Bei dem Wetter? Was ist das denn für ein Vater?«

»Es ist ja nicht so, als ob sie gerade dort anfangen würden.« Sid wusste, worauf die ganze Sache hinauslief, und sie wusste es auch. Es war lediglich die Frage, wer zuerst einknickte.

Er … natürlich.

»Kannst du nicht Debra anrufen?«

Sie warf die Hände in die Luft. »Demnächst kriegen wir von ihr noch ’ne Rechnung präsentiert. Sie ist zurzeit fast so was wie ein Taxidienst für unsere Kinder.«

»Machen wir für ihre doch auch.«

»Ja, wenn es ein Monat mit einem W drin ist.«

Er sah sie mit seinem Hart-am-Rand-der-Verzweiflung-Blick an. Denn damit ließ sich, selbst wenn man elf Jahre verheiratet war, noch so manches bewirken.

»Okay, okay, ich ruf an«, sagte Jacinta seufzend. »Wo du ja so große Angst vor ihr hast.«

»Ich hab keine –«

»Aber wir müssen sie demnächst mal zum Essen einladen. Um uns zu bedanken und so.«

»Oh nein, einen ganzen Abend lang John? Wenn Langweiligsein ein Sport wär’, könnte er locker die Trans-Space-Meisterschaften gewinnen.«

»Bringst du sie zur Schule, oder willst du, dass ich anrufe?«

Sid knurrte und schüttelte heftig den Kopf. »Ruf an.«

Selbst jetzt noch, wo Will acht und Zara sechs Jahre alt waren, konnte Sid sich schwer daran gewöhnen, die beiden in ihren Schuluniformen zu sehen. Sie waren doch fast noch Babys, viel zu klein, um jeden Tag aus dem Haus gezerrt zu werden. Dennoch saßen sie jetzt dort am Frühstückstisch, unglaublich adrett anzusehen in ihren dunkelroten Pullis und blauen Hemden, fast wie miniaturisierte Erwachsene.

Sid begab sich daran, das Porridge zu machen. Sorgfältig prüfte er die Gütesiegel, bevor er die Packungen öffnete. Es hatte auf der Wache Gerede gegeben über Hersteller, in deren Fertigungsbetriebe sich sporadisch immer mal wieder Sonderposten verirrten, die sie auf irgendwelchen Koloniewelten eingekauft hatten, auf denen biologische Kontrollen quasi nicht existent waren und Mammon das Maß aller Dinge. Nichts, worüber man jemals etwas in den amtlichen Nachrichten erfahren würde.

»Warum fährt uns Debra heute Morgen zur Schule?«, wollte Zara wissen, während Jacinta versuchte, mit der Bürste so etwas wie Ordnung in die langen Haare ihrer Tochter zu bringen.

»Wir beide haben zu viel zu tun, Schatz. Tut mir leid«, erklärte ihr Sid. In dem Topf auf dem Induktionskochfeld begann es zu heftig zu brodeln, also schaltete er das Feld auf geringe Hitze herunter und setzte den Timer auf sieben Minuten.

»Arbeitest du wieder, Dad?«, fragte Will mit ernster Kindermiene.

»Ja, ich arbeite wieder.«

»Dann können wir es uns jetzt leisten umzuziehen?«

Sid wechselte einen Blick mit Jacinta. »Wir denken wieder darüber nach.« Sie wohnten jetzt seit fünf Jahren in dem Vierzimmerhaus in Walkergate. Ein schönes Haus eigentlich, aber leider alt und daher nicht für die heutigen kalten Winter konzipiert, weshalb es ein Vermögen kostete, es zu heizen. Nur ein Bad zu haben war eine Qual, und das Zone-Zimmer musste gleichzeitig als Essbereich dienen. Dann waren da noch die Nachbarn, die so ihre Bedenken dagegen hatten, einen Polizisten in der Straße zu wissen.

»Und was ist mit der Schule?«, protestierte Zara. »Alle meine Freundinnen sind da. Ich will nicht von hier weg.«

»Ihr bleibt an der gleichen Schule«, versicherte ihr Sid. Immerhin war es eine private, die einen ziemlichen Batzen seiner Bezüge verschlang und der Hauptgrund dafür war, dass er sich trotz des damit verbundenen Risikos die eine oder andere zusätzliche Nebeneinnahmequelle erschlossen hatte. Aber niemand schickte, wenn er eine irgendwie machbare Alternative besaß, sein Kind auf eine öffentliche Schule.

»Tatsächlich hab ich gestern Abend sogar was gefunden«, sagte Jacinta. »Ich hab mal ein bisschen in den Immobilienangeboten gestöbert.«

»Ach ja?« Das war neu für Sid. Er nippte an seinem Kaffeebecher. Die Smartcells in seinem Mund registrierten das Koffein und klatschten ihm prompt eine Gesundheitswarnung in sein Sichtfeld. Es war sein fester Vorsatz für das neue Jahr gewesen, sich besser zu ernähren und besser auf seine körperliche Fitness zu achten. Aber er hatte kaum geschlafen … Man musste die Kirche im Dorf lassen bei solchen Dingen. Er befahl seiner E-I, die Warnung zu löschen, und schaufelte sich in einem Akt bockigen Ungehorsams einen Extralöffel Zucker in den Kaffee.

»In Jesmond.«

»Jesmond ist super«, freute sich Will. »Sun Tu und Hinny wohnen da.«

»Jesmond ist teuer«, sagte Sid.

»Qualität hat ihren Preis«, entgegnete Jacinta.

Sid nahm das Porridge von der Kochplatte und schöpfte es in die Schüsseln. »Stimmt.«

»Dann kann ich also den Makler anrufen?«, fragte Jacinta.

»Klar, warum nicht.« Sie konnten es sich leisten – er hatte in den letzten Jahren auf seinem Nebenkonto ein ganz hübsches Sümmchen angehäuft. Jetzt stellte sich nur noch das Problem, wie sie es lockermachen konnten, ohne beim Finanzamt schlafende Hunde zu wecken. Der einzige Grund, warum sie nicht vor Weihnachten schon umgezogen waren, war, weil dies zu auffällig gewesen wäre. Ein Haus zu kaufen, während man mit dem herabgesetzten Gehalt einer Suspendierung auskommen musste, hätte augenblicklich ganze Heerscharen von Prüfungsprogrammen des Finanzamts in Aktion treten lassen.

»Mami«, hakte Will skeptisch nach. »Hat es auch ein richtiges Zone-Zimmer?«

»Ja, hat es.«

»Cool!«

»Und was ist mit Badezimmern?«, fragte Zara eindringlich.

»Fünf Schlafzimmer, zwei Badezimmer und eine Toilette.«

Zufrieden grinste Zara in sich hinein, während sie sich Erdbeermarmelade in ihr Porridge rührte. Einen magischen kleinen Moment lang war seine ganze Familie glücklich und still; Sid hatte das Gefühl, dass er das eigentlich in irgendeiner Art Log festhalten müsste. Durch das beschlagene Küchenfenster fiel das harsche, graue Licht der Morgendämmerung herein. Es hatte aufgehört zu schneien. Mit einem Mal blickte er ein wenig zuversichtlicher auf den gerade erwachenden Tag.

»Wenn wir in ein größeres Haus ziehen, heißt das, wir kriegen jetzt einen kleinen Hund?«, fragte Will.

Newcastles Hauptpolizeiwache war ein großer, im Jahre 2068 erbauter Würfel aus Glas und Stein; ein beeindruckender städtebaulicher Klotz, um den neuen Wohlstand widerzuspiegeln, von dem die ganze Region profitierte, als das Importvolumen des durch das Gateway strömenden Bioils beinahe von Tag zu Tag wuchs. Sie hatte die alte Wache an der Ecke Market Street/Pilgrim Street ersetzt und bot alle Einrichtungen, die ein moderner Polizeiapparat heute so brauchte – vorausgesetzt, es stand genug Geld zu ihrer Unterhaltung bereit.

Die Tiefgarage hatte vier Ebenen und konnte die Privatautos der Angestellten sowie hundertfünfzig Dienstfahrzeuge aufnehmen, von mobilen Einsatzkommandozentralen, Streifenwagen und Gefangenentransportern bis hin zu schnellen Verfolgungswagen und Smartdustverteiler-Fahrzeugen. Ein eindeutiger Sieg des Planungsoptimismus über den real existierenden Bedarf. Während seiner fünfzehn Jahre in Newcastle hatte Sid noch nicht ein einziges Mal gesehen, dass irgendjemand die unterste Ebene benutzte; die Polizei verfügte schlicht und ergreifend nicht über eine derartige Flotte.

Es verging in der Stadt kein Winter, ohne dass nicht irgendein Regierungsrat den Vorschlag machte, die Straßen zur Beseitigung von Schnee und Eis nach skandinavischem Vorbild zu beheizen – zumindest in Newcastle-Zentrum –, und jedes Jahr wurde er an einen Bewertungsausschuss weitergereicht und eine Entscheidung vertagt. Stattdessen setzten sich langfristige Interessen durch; und so schwärmten am Montagmorgen Niedriglohnarbeiter und große Schneepflüge aus, um die Straßen und Bürgersteige für die Armada von in die Innenstadt strömenden Büroangestellten vom Schnee des Wochenendes zu befreien. An der Ein- und Ausfahrt der Wache hatten sie recht gute Arbeit geleistet, und Sid fuhr seinen vier Jahre alten Toyota Dayon in die Market-Street-Tiefgarage hinab, ohne sich wegen einer etwaigen Rutschpartie Sorgen zu machen. Überhaupt hatte er auf dem Weg hierher bloß zwei Unfälle gesehen und für die gesamte Fahrt nur akzeptable fünfzehn Minuten gebraucht.

Es war gerade mal zwanzig nach acht, als er im dritten Stock ankam, wo sich die Dienststellen für schwerwiegende Fälle befanden. Der 2North-Mord war Office3 zugeteilt worden, eine der größeren Abteilungen mit zwei Reihen von Zone-Konsolen-Tischen, an denen bis zu zwölf

Network-Ermittlungsspezialisten Dienst tun konnten, und ein paar abgetrennten Zone-Arbeitsplätzen und fünf hochauflösenden, vom Boden bis zur Decke reichenden Wandbildschirmen. Eine Seite der Abteilung war in vier separate Büros unterteilt. Das Gebläse der Klimaanlage rasselte, während es einen Luftstrom erzeugte, dessen Temperatur drei Grad unter angenehm lag, der blaugraue Teppichboden war abgenutzt und fleckig, die Möbel hatten gute zehn Jahre auf dem Buckel, aber dafür war das Netzwerk-System im vergangenen Jahr komplett auf den neuesten Stand gebracht worden. Sid wusste, dass es einzig und allein darauf wirklich ankam; und O’Rouke wusste es offenbar auch. Lediglich fünf der Abteilungen im dritten Stock waren in den letzten vier Jahren modernisiert worden.

Detective Dobson leitete das Nachtschicht-Team, das aus drei Detectives bestand, welche die ersten Maßnahmen abarbeiteten, die Sid mit ihr beim Schichtwechsel in der vergangenen Nacht besprochen hatte. Sie grüßte ihn mit einem knappen Nicken und winkte ihn gleich in eines der Glasbüros durch.

»Die Datenabfrage läuft«, teilte sie ihm dort mit. »Wir laden seit heute Morgen fünf Uhr die gespeicherten Erinnerungen des Überwachungsnetzes am Flussufer herunter. Bis zur A1-Brücke hoch und zwei Straßen stadteinwärts auf jeder Seite.«

»Danke. Wir weit ist es bis zu der Brücke?«

»Etwa siebeneinhalb Kilometer, aber ich hab das entsprechende Straßen-Makronetz mit einbezogen, sodass du dir den Fahrzeugverkehr ansehen kannst. Das sind eine ganze Menge Speichererinnerungen.« Sie seufzte und senkte ihre Stimme. »Es gibt allerdings ein paar Lücken.«

»Wohl unvermeidlich bei dem Schnee.«

»Vielleicht. Schau’s dir am besten mal an.«

»Oookay. Haben wir schon seine Identität?«

Sie sah ihn bedauernd an. »Ich glaube, es könnte ein North sein.«

»Schlaumeierin. Welcher? Wissen wir überhaupt, wie viele es eigentlich von denen gibt?«

»Schwer zu sagen. Northumberland Interstellar ist bezüglich der Frage, wie oft Augustine Papa geworden ist, nicht gerade sehr mitteilungsbedürftig.«

»Die meisten 2er wurden doch von Ersatzmüttern geboren, oder? Diese Kinder kamen nur auf die Welt, um die Zahl der Norths in den leitenden Positionen bei NI zu erhöhen.«