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Hunderte von Jahren hat ein geheimnisvolles Wesen die Menschheit heimlich manipuliert. Nun hat es einen Krieg angezettelt, der in der Zerstörung der bewohnten Systeme gipfeln soll. Der Feind: eine grässliche fremde Spezies, der Dutzende von Welten in die Hände fallen. Die Navy wehrt sich mit kriegsentscheidenden Superwaffen, muss jedoch feststellen, dass die gegnerische Flotte ebenso gut bewaffnet ist. Wie der Gegner an diese Waffen gelangt ist, bleibt ein Rätsel. Wurde das streng geheime Verteidigungsprojekt von den Agenten unterwandert? Oder ist die Wahrheit sogar noch schlimmer?
Die spannungsgeladene Science Fiction Saga des Bestseller-Autors Peter F. Hamilton:
Band 1: Der Stern der Pandora
Band 2: Die Boten des Unheils
Band 3: Der entfesselte Judas
Band 4: Die dunkle Festung
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Seitenzahl: 997
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Prolog
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Dramatis Personae
Über den Autor
Alle Titel des Autors bei Bastei Lübbe
Impressum
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Hunderte von Jahren hat ein geheimnisvolles Wesen die Menschheit heimlich manipuliert. Nun hat es einen Krieg angezettelt, der in der Zerstörung der bewohnten Systeme gipfeln soll. Der Feind: eine grässliche fremde Spezies, der Dutzende von Welten in die Hände fallen. Die Navy wehrt sich mit kriegsentscheidenden Superwaffen, muss jedoch feststellen, dass die gegnerische Flotte ebenso gut bewaffnet ist. Wie der Gegner an diese Waffen gelangt ist, bleibt ein Rätsel. Wurde das streng geheime Verteidigungsprojekt von den Agenten unterwandert? Oder ist die Wahrheit sogar noch schlimmer?
PETER F. HAMILTON
DIE COMMONWEALTH-SAGA
DERENTFESSELTEJUDAS
ROMAN
Aus dem Englischen von Axel Merz
Dieses Buch istSophie Hazel Hamiltongewidmet –ich wusste nicht, wie sehr ich dich vermisst habe,bevor du gekommen bist.
Die Ermittlungen hatten gleich von Anfang an etwas, das Lieutenant Renne Kempasa nervös machte. Die ersten kleinen Bedenken meldeten sich in ihrem Unterbewusstsein, als sie das Loft-Appartement des Opfers sah. Sie hatte Loft-Appartements wie dieses bereits Hunderte Male zuvor gesehen. Es war die Art von luxuriösem, metropolitanischem Kissen, in dem Gruppen schillernder Charaktere aus den TSI-Soaps üblicherweise wohnten – schöne, allein stehende Menschen mit gut bezahlten Jobs, die ihnen den größten Teil des Tages Freizeit garantierten, sodass sie einen Wohnraum von fünfhundert Quadratmetern mit extravaganter Einrichtung genießen konnten, ausgewählt von überbezahlten Innenarchitekten. Die Art von Wohnraum, die vollkommen anders war als das wirkliche Leben, aber voll von dramatischem oder komischem Potenzial für die Drehbuchschreiber.
Und doch war sie hier, einen Tag nach der Shotgun-Botschaft der Guardians, in der Präsidentin Elaine Doi als Agentin des Starflyers denunziert und die aus genau so einem Appartement im obersten Stock einer umgebauten Fabrik in Daroca, der Hauptstadt von Arevalo, ausgestrahlt worden war. Die riesige eingeschossige Lounge besaß einen breiten sonnigen Balkon mit Ausblick über den Caspe River, der durch das Herz der Stadt strömte. Wie alle Hauptstädte der erfolgreichen Welten der Phase eins war Daroca eine Collage aus Parks, eleganten Gebäuden und breiten Straßen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Unter dem bronzefarbenen Licht der Morgensonne glitzerte sie mit einer scharf umrissenen blauen Korona, welche die graziöse Anziehungskraft des Panoramas noch verstärkte.
Renne schüttelte angesichts der atemberaubenden Aussicht in sanftem Unglauben den Kopf. Selbst mit dem guten Gehalt, das die Navy ihr zahlte, würde sie es sich niemals leisten können, so etwas zu mieten. Und es waren drei Firstlifer-Mädchen, alle unter fünfundzwanzig, die das Appartement gemietet hatten.
Eine der drei Frauen, Catriona Saleeb, öffnete Renne und Tarlo die Tür. Sie war eine kleine Zweiundzwanzigjährige, mit langem, schwarz gelocktem Haar. Sie trug ein einfaches grünes Kleid mit dicken geometrischen lilafarbenen Streifen – nur dass Renne die Marke kannte und wusste, dass es mehr als tausend irdische Dollars gekostet haben musste. Und dieses Mädchen trug so ein Kleid zu Hause in seiner Freizeit. Rennes E-Butler projizierte die Datei des Mädchens in ihre virtuelle Sicht: Sie war ein jüngeres Mitglied der Großen Familie der Morishis und arbeitete in einer Bank im großen Finanzdistrikt von Daroca.
Ihre beiden Freundinnen waren Trisha Marina Halgarth, die einen Productplacement-Job bei Veccdale hatte, einem Unternehmen der Halgarth-Familie, das schicke Haussysteme herstellte, sowie Isabella Halgarth, die eine Stelle bei einer zeitgenössischen Kunstgalerie in der Stadt angenommen hatte. Sie passten genau ins Profil: drei Junggesellinnen, die in einer gemeinsamen Wohnung in der Stadt lebten und sich amüsierten, während sie darauf warteten, dass ihre eigentlichen Karrieren ihren Lauf nahmen oder Ehemänner von gleichem Reichtum und Status materialisierten und sie in ihre Herrenhäuser mitnahmen, wo sie mit ihnen die vertraglich festgelegte Quote von Kindern produzieren würden.
»Das ist eine großartige Wohnung, alles, was recht ist«, bemerkte Tarlo auf dem Weg in die Lounge.
Catriona wandte sich um und lächelte ihn auf eine Weise an, die weit mehr als einfache Höflichkeit war. »Danke. Sie gehört der Familie; deswegen zahlen wir nicht so viel Miete.«
»Viel Platz für schicke Partys, wie?«
Catrionas Lächeln wurde spöttisch. »Vielleicht.«
Renne bedachte Tarlo mit einem ärgerlichen Blick. Sie waren hier im Dienst, und sie konnten sich nicht erlauben, potenzielle Zeuginnen zu beeinflussen. Tarlo erwiderte ihren Blick mit einem Grinsen, und in seinem attraktiven, gebräunten Gesicht blitzten perfekte weiße Zähne auf. Renne hatte mit eigenen Augen erlebt, wie erfolgreich dieses Lächeln in den Clubs und Bars um Paris herum sein konnte.
Catriona führte sie in die Küchensektion, die durch einen breiten Marmortresen von der Lounge getrennt war. Die Küche war ultramodern, ausgerüstet mit jedem nur vorstellbaren Helfer, alles in schwanenweiße abgerundete Module eingebaut. Irgendwie vermochte sich Renne nicht vorzustellen, dass die Küche viel zum Kochen benutzt wurde, nicht einmal von den komplizierten Küchenbots.
Die beiden anderen jungen Frauen saßen auf Hockern am Tresen.
»Trisha Marina Halgarth?«, fragte Renne.
»Das bin ich.« Eine der Frauen erhob sich von ihrem Hocker. Sie besaß ein herzförmiges Gesicht und hellbraune Haut sowie kleine dunkelgrüne schmetterlingsförmige OCTattoos, die ihre haselnussbraunen Augen umgaben. Sie trug einen übergroßen Frotteebademantel wie einen Schutzpanzer, umklammerte den flauschigen Stoff und hatte ihn eng um den Leib geschlungen. Ihre nackten Füße zeigten Ringe an jedem Zeh.
»Wir sind vom Geheimdienst der Navy«, erklärte Tarlo. »Lieutenant Kempasa und ich untersuchen, was man mit Ihnen angestellt hat.«
»Sie meinen, wie leichtgläubig ich gewesen bin!«, schnappte sie.
»Langsam, Baby, langsam!«, sagte Isabella Halgarth. Sie legte Trisha den Arm um die Schultern. »Das hier sind die guten Jungs.« Sie stand auf und wandte sich den Investigatoren zu.
Isabelle war einige Zentimeter größer als Renne, fast so groß wie Tarlo, und Renne musste zu ihr aufblicken. Sie trug eine hautenge Jeans, die ihre schlanken Beine betonte. Ihre langen blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bis zu den Hüften hinunterreichte. Sie war der Inbegriff lässiger Eleganz.
Tarlos Grinsen war breiter geworden. Renne hätte ihn am liebsten gegen eine Wand gestoßen und ihn angebrüllt von wegen professionellem Verhalten und ihm dabei den Finger drohend vors Gesicht gehalten. Stattdessen gab sie sich größte Mühe, seine Balztänze und die Reaktionen der Mädchen zu ignorieren. »Ich habe mehrere ähnliche Fälle untersucht, Miss Halgarth«, sagte sie. »Meiner Erfahrung nach ist das Opfer selten töricht. Die Guardians haben im Laufe der Jahre eine hochkomplexe Operation entwickelt.«
»Jahre!«, schnaubte Catriona. »Und Sie haben diese Guardians immer noch nicht geschnappt?«
Renne behielt ihre höflich-bestimmte Maske bei. »Wir schätzen, dass wir kurz vor einem Durchbruch stehen.«
Die drei jungen Frauen blickten einander zweifelnd an. Trisha setzte sich wieder und umklammerte ihren Morgenmantel.
»Ich weiß, dass es unangenehm für Sie ist«, sagte Tarlo. »Aber wenn Sie vielleicht damit anfangen könnten, mir den Namen des Mannes zu nennen?« Sein Grinsen wurde mitfühlend und ermunternd.
Trisha nickte zögernd. »Sicher. Er hieß Howard Liang.« Sie lächelte schwach. »Ich nehme an, das war nicht sein richtiger Name, stimmt’s?«
»Nein«, bestätigte Tarlo. »Doch diese Identität hat zweifellos eine Menge Daten in der Cybersphäre von Daroca hinterlassen. Unsere forensischen Software-Teams sind imstande, zahlreiche damit verbundene Informationen zu sichern. Wir können die falschen Identitätsinformationen zurückverfolgen, herausfinden, wann sie in die Cybersphäre eingeführt wurden, und möglicherweise sogar, wer bei der Fälschung mitgewirkt hat. Jede Kleinigkeit hilft uns weiter.«
»Wie haben Sie ihn kennengelernt?«, fragte Renne.
»Auf einer Party. Wir haben ziemlich viele Partys.« Trisha sah ihre beiden Freundinnen auf der Suche nach Unterstützung an.
»Es ist eine großartige Stadt«, sagte Isabella. »Daroca ist eine reiche Welt; die Leute hier haben genügend Zeit und Geld zum Spielen.« Sie musterte Tarlo amüsiert. »Trish und ich gehören zu den Dynastien, und Catriona entstammt einer Großen Familie. Was soll ich sagen? Wir sind sehr begehrt.«
»War Howard Liang wohlhabend?«, fragte Renne.
»Er hatte keinen Treuhandfonds, falls Sie das meinen«, antwortete Trisha; dann errötete sie. »Na ja, jedenfalls hat er gesagt, er hätte keinen. Seine Familie stammte angeblich von Velaines. Er sagte, er hätte seine erste Rejuvenation erst zwei Jahre hinter sich. Ich mochte ihn.«
»Wo hat er gearbeitet?«
»In der Warenterminabteilung von Ridgeon Financial. Mein Gott, ich weiß nicht mal, ob wenigstens das stimmt.« Sie rieb sich mit der freien Hand über die Stirn. »Ich weiß nicht, wie alt er wirklich war. Ich wusste überhaupt nichts über ihn. Das ist es, was ich am meisten von allem hasse. Nicht, dass er mein Autorisierungszertifikat gestohlen hat, nicht, dass er mir alle Daten gelöscht hat. Es ist einfach nur …, dass er mich so für seine Zwecke missbraucht hat. Ich war so töricht! Das Sicherheitsbüro unserer Familie schickt uns genügend Warnungen. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass auch mir so etwas passieren könnte.«
»Bitte«, sagte Tarlo. »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Diese Leute sind extrem professionell. Verdammt, wahrscheinlich würden sie sogar mich überzeugen. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Vor drei Tagen. Wir sind für den Abend ausgegangen. Ich hatte eine Einladung in den Bourne Club. Dort hatten wir eine Veranstaltung, um den Start einer neuen Serie zu feiern. Hinterher waren wir essen, und dann bin ich nach Hause gefahren … glaube ich. Das Appartement-Array sagt, ich wäre erst um fünf Uhr morgens aufgetaucht. Ich erinnere mich an überhaupt nichts mehr nach dem Essen. Ist das die Zeit, in der es passiert ist?«
»Möglicherweise«, antwortete Renne. »Hat Mr Liang einen Mitbewohner gehabt?«
»Nein. Er hat ganz allein dort gewohnt. Ich habe ein paar von seinen Freunden kennengelernt; ich glaube, sie kamen von Ridgeon. Wir kannten uns erst seit zwei Wochen. Genug Zeit für mich, um unachtsam zu werden, wie es scheint.« Wütend schüttelte sie den Kopf. »Ich hasse das. Das ganze Commonwealth denkt, ich würde glauben, unsere Präsidentin sei ein Alien. Ich kann nie wieder jemandem auf der Arbeit in die Augen sehen. Ich muss nach Solidade zurückkehren, mein Gesicht ändern lassen und mir einen anderen Namen zulegen.«
»Das würde wahrscheinlich helfen«, sagte Tarlo freundlich. »Aber bevor Sie das tun, müssen wir ein paar Tests durchführen. Unten in der Lobby wartet ein forensisches Team. Wir können dies in einer Klinik machen oder hier, ganz wie Sie wollen.«
»Machen Sie es hier«, sagte Trisha. »Ich will es endlich hinter mir haben.«
»Selbstverständlich. Ein weiteres Team wird diese Wohnung auf Spuren untersuchen.«
»Was erwarten Sie denn zu finden?«, erkundigte sich Isabella.
»Wir werden ohne Zweifel seine DNS finden«, antwortete Renne. »Und wer weiß, was wir sonst noch entdecken, ganz besonders, wenn diese Wohnung als Basis benutzt wurde. Außerdem werden wir seine Daten aus den Personalaufzeichnungen von Ridgeon Financial ziehen, und ich hätte gerne, dass Sie diese bestätigen. Es würde helfen, wenn wir ein Bild von ihm hätten.«
»Hat er inzwischen denn nicht schon längst ein Reprofiling vorgenommen?«, fragte Catriona.
»Sicher. Doch wir werden uns bei den Ermittlungen auf seinen Hintergrund konzentrieren, auf seine Vergangenheit. Dort haben alle Hinweise ihren Ursprung. Sie müssen verstehen, dass wir die gesamte Organisation der Guardians of Selfhood aufbrechen müssen. Es ist die einzige Möglichkeit, Liang vor Gericht zu bringen. Wir verfolgen nicht nur ihn allein.«
Sie verbrachten noch weitere zwanzig Minuten im Loft-Appartement der drei jungen Frauen und nahmen ihre Aussagen zu Protokoll; dann übergaben sie die weiteren Untersuchungen an die forensischen Teams. Renne war halb durch die Tür, als sie plötzlich stehen blieb und die große Lounge nachdenklich musterte. Trisha war mit zwei Mitgliedern des forensischen Teams ins Schlafzimmer unterwegs.
»Was denn?«, fragte Tarlo.
»Nichts.« Sie musterte Catriona und Isabella ein letztes Mal, dann war sie draußen.
»Komm schon«, sagte Tarlo im Aufzug auf dem Weg nach unten in die Lobby. »Ich kenne dich doch. Irgendetwas stört dich an der Sache.«
»Ein Déjà-vu, weiter nichts.«
»Was?«
»Ich habe diesen Tatort schon einmal gesehen.«
»Ich auch. Jedes Mal, wenn die Guardians eine Shotgun-Botschaft in die Unisphäre absetzen, schickt uns der Boss los, damit wir uns umsehen.«
»Genau. Deswegen hättest du ihn ebenfalls erkennen müssen. Erinnerst du dich an Minilya?«
Tarlo runzelte die Stirn, während die Lifttüren zur Seite glitten. Sie traten in die Lobby hinaus. »Es ist ungefähr vierzig Jahre her; aber damals war es eine Gruppe von jungen Männern, die sich eine Wohnung geteilt haben.«
»Ach, na und? Wirst du jetzt sexistisch, oder was? Macht es einen Unterschied, ob es Männer oder Frauen sind?«
»Hey!«
»Es war genau die gleiche Geschichte, Tarlo. Und wir haben auch die Frauen-WGs schon früher gesehen.«
»Auf Nzega, April Gallar Halgarth. Sie gehörte zu einer Gruppe von Urlaubern.«
»Auch auf Buwangna, vergiss das nicht.«
»Okay. Worauf willst du hinaus?«
»Ich mag keine Wiederholungen. Und die Guardians wissen sehr wohl, dass wir ihnen viel leichter auf die Spur kommen, wenn sie sich immer an die gleiche Vorgehensweise halten.«
»Ich erkenne aber keine gleiche Vorgehensweise.«
»Es ist eigentlich auch keine.«
»Was dann?«
»Ich bin nicht sicher. Sie wiederholen ihre Prozedur. Das sieht ihnen nicht ähnlich.«
Tarlo ging als Erster durch die Drehtüren der Lobby und benutzte seinen E-Butler, um ein City-Taxi zu rufen. »Die Guardians haben keine große Wahl, schätze ich. Zugeben, die Anzahl junger dummer Halgarths in der Galaxis ist ziemlich groß, doch ihre Lebensumstände variieren nicht sonderlich. Es sind nicht die Guardians, die sich ständig wiederholen, es sind die Halgarths.«
Renne runzelte die Stirn, als das Taxi vor ihnen hielt. Tarlo hatte recht, auch wenn sie bisher nicht in diesen Bahnen gedacht hatte. »Hältst du es für möglich, dass die Sicherheitsleute der Halgarths den Guardians eine Falle gestellt haben? Sie könnten Trisha als Köder benutzt haben.«
»Nein«, antwortete er in nachdrücklichem Tonfall. »Bestimmt nicht. Wenn es eine Falle gewesen wäre, hätten sie diesen Liang in der Nacht geschnappt, als er Trisha kennengelernt hat. Seine Identitätsdaten mögen vielleicht einer Überprüfung durch Ridgeon Financial standgehalten haben, aber bestimmt nicht den Sicherheitsdiensten der Halgarths. Ganz bestimmt nicht.«
»Aber sie führen mit Sicherheit derartige Operationen durch. Wenn ich Halgarth senior wäre, ich wäre gottverdammt sauer, dass die Guardians sich ständig meine Familie als Ziel aussuchen.«
Tarlo lehnte sich auf dem Ledersitz des Taxis zurück. »Sie üben einen beachtlichen Druck auf den Boss aus, so viel steht fest.«
»Das glaube ich ebenfalls nicht. Außerdem würden sie uns informieren, wenn sie eine derartige Operation am Laufen hätten.«
»Meinst du?«
»Na gut, vielleicht auch nicht«, räumte sie ein. »Aber die Frage ist sowieso irrelevant, weil es keine Falle für die Guardians gab.«
»Das wissen wir nicht.«
»Sie haben Liang nicht geschnappt, oder? Und sie haben uns nicht informiert, und spätestens in diesem Stadium hätten sie es getan.«
»Alternativ könnten sie damit beschäftigt sein, Liang aufzuspüren. Vielleicht wollen sie ihn nicht verscheuchen, indem sie uns informieren.«
»Das ist es nicht.« Renne hatte Mühe, Tarlo anzusehen. »Irgendetwas stimmt hier einfach nicht. Es war alles viel zu sauber.«
»Zu sauber?«
Der ungläubige Ton in seiner Stimme ließ sie das Gesicht verziehen. »Jaja, ich weiß, ich weiß. Trotzdem … irgendetwas stört mich an dieser Geschichte. Dieses Loft-Appartement, diese Frauen, alles rief förmlich: ›Hier sind ein paar dumme reiche Gören, kommt her und nehmt sie aus!‹«
»Ich begreife das alles nicht. Wer steht hier eigentlich auf der falschen Seite? Die Guardians oder die Halgarths?«
»Na schön, gut, ich glaube eigentlich nicht, dass es die Halgarths gewesen sind – es sei denn, sie hatten wirklich eine Operation am Laufen.«
Tarlo grinste sie an. »Du bist fast schon genauso schlimm wie der Boss, wenn es um Verschwörungen geht. Als Nächstes sagst du noch, der Starflyer stecke dahinter.«
»Könnte sein.« Sie grinste schwach. »Aber ich werde ihr trotzdem berichten, dass ich irgendetwas an diesem Fall seltsam finde.«
»Das kommt einem Selbstmord für deine Karriere gleich.«
»Komm schon! Was für ein Detective bist du? Wir sollen intuitiv handeln, unseren Gefühlen und Eingebungen folgen. Siehst du denn nie irgendwelche Cop-Serien?«
»Unisphären-Shows sind für Leute ohne eigenes Leben. Ich bin abends viel zu beschäftigt, um mir so etwas anzusehen.«
»Sicher«, sagte Renne in bissigem Ton. »Ziehst du eigentlich immer noch deine Navy-Uniform an, wenn du durch die Clubs ziehst?«
»Ich bin doch schließlich auch ein Offizier der Navy, oder etwa nicht? Warum sollte ich sie also nicht anziehen?«
Renne lachte auf. »Mein Gott – und das funktioniert?«
»Na klar – wenn man Girls wie diese drei findet.«
Sie seufzte.
»Hör zu«, sagte er. »Ich meine es ernst. Was kannst du Myo schon erzählen? Du hättest so ein Gefühl gehabt? Sie wird dir den Marsch blasen, glaub mir. Und rechne nicht damit, dass ich deine Story bestätigen werde. Mir ist nämlich nichts aufgefallen.«
»Der Boss schätzt die Art und Weise, wie wir an Fälle herangehen. Du weißt, dass sie immer sagt, wir sollten uns mehr ganzheitlich mit dem Verbrechen auseinandersetzen.«
»Sicher. Ganzheitlich. Nicht neurotisch.«
Sie stritten noch immer, als sie vierzig Minuten später im Pariser Büro eintrafen. Fünf uniformierte Beamte standen in einer Gruppe draußen vor dem Büro von Paula Myo.
»Was ist passiert?«, fragte Tarlo an Alic Hogan gewandt.
»Columbia ist bei ihr«, antwortete der Commander. Er sah sehr unbehaglich aus.
»Meine Güte, wahrscheinlich wegen des Fiaskos in L. A. Ich sollte heute Morgen eigentlich den Spuren dieser Operation nachgehen.«
»Wir alle«, erwiderte Hogan. Er zwang sich, den Blick von der geschlossenen Tür abzuwenden. »Haben Sie in Daroca was gefunden?«
Renne überlegte, was sie antworten sollte; Hogan war ein Paragrafenreiter.
»Eine Standard-Operation der Guardians«, antwortete Tarlo rasch. Er starrte Renne kalt an. »Wir haben forensische Teams zurückgelassen, die nach Spuren suchen.«
»Gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Jawohl, Sir.«
»Standard-Operation, pah!«, brummte Renne in bissigem Ton, als sie zu ihren Schreibtischen gingen.
»Ich hab dir gerade den Arsch gerettet!«, entgegnete Tarlo. »Diesen Intuitionsscheiß kannst du dem Boss erzählen, aber doch nicht Hogan! Der Wichser interessiert sich ausschließlich für Fakten.«
»Okay, okay«, murmelte sie missmutig.
Paula Myo kam aus dem Büro. Sie hatte ihre Umhängetasche bei sich und die kleine Rabbakas-Pflanze, die normalerweise auf der Fensterbank stand. Hinter ihr stand Rafael Columbia mit hochrotem Gesicht, gekleidet in seine vollständige Admiralsuniform.
Renne hatte Myo noch nie so schockiert gesehen. Der Anblick jagte ihr einen eiskalten Schauder über den Rücken. Der Boss war normalerweise nicht aus der Ruhe zu bringen.
»Leben Sie wohl«, sagte sie an alle Mitarbeiter im Büro gewandt. »Und ich danke Ihnen für die harte Arbeit, die Sie alle für mich geleistet haben.«
»Paula?«, ächzte Tarlo entgeistert.
Sie schüttelte ihm flüchtig die Hand, und er verstummte. Renne beobachtete, wie Paula das Büro verließ. Es war, als sähe man einer Beerdigungsprozession hinterher.
»Commander Hogan«, sagte Columbia. »Auf ein Wort, bitte.« Er verschwand wieder in Myos Büro, und Alic Hogan rannte ihm fast hinterher. Die Tür schloss sich.
Renne setzte sich hin, als hätte sie plötzlich jegliche Kraft verlassen. »Das hab ich gerade nur geträumt«, murmelte sie ungläubig vor sich hin. »Sie können sie doch nicht rauswerfen. Sie ist das gottverdammte Direktorat!«
»Aber wir sind nicht das Direktorat«, sagte Tarlo leise. »Nicht mehr jedenfalls.«
Das fauchende Geräusch von Schüssen aus Ionen-Pistolen drang aus den Lautsprechern und hallte durch das Sicherheitsbüro von LA Galactic. Es wurde schnell übertönt von Schreien. Commander Alic Hogan beobachtete in stummem Entsetzen, wie der Assassine den Schauplatz von Kazimirs Ermordung verließ und durch die zentrale Halle des Carralvo-Terminals davonrannte, während er wild um sich schoss.
Verängstigte Passagiere warfen sich flach auf den Boden oder gingen hinter den Schienen in Deckung.
»Squad B befindet sich in der oberen Halle!«, meldete Renne von ihrer Konsole aus. »Sie hat freies Schussfeld.«
»Schalten Sie ihn aus!«, befahl Hogan.
Auf einem körnigen Kamerabild beobachtete er, wie der Ionen-Puls des Scharfschützen der Squad den Assassinen traf. Eine Korona purpurner Funken stob in alle Richtungen davon und erhellte die Umrisse der flüchtenden Gestalt.
»Verdammt!«, fluchte Hogan.
Zwei weitere Schüsse trafen ihr Ziel. Funken stoben durch die Halle, und Entladungen schlugen in Wände und Decke und Werbetafeln. Leute schrien, als die Statik ihre Haut versengte. Rauchmelder schlugen Alarm, und das allgemeine Chaos wurde noch größer – falls das überhaupt möglich war.
»Er trägt einen Schutzschirm!«, rief Renne. »Sie können ihn auf diese Entfernung nicht durchdringen!«
Hogan aktivierte das Rundrufsymbol in seiner virtuellen Sicht. »An alle Squads, Ziel einkreisen. Verringern Sie die Distanz! Verfolgen Sie das Ziel, bis es in freiem Gelände ist, und eröffnen Sie dann das Feuer. Überladen Sie diesen verdammten Schutzschirm!« Er beobachtete, wie die Squads die neue Taktik umsetzten, und auf den Konsolen flackerten die Bildschirme. In seiner virtuellen Sicht leuchteten rote Warnsymbole über dem Interface mit dem Stationsnetzwerk auf.
»Kaos-Software wurde in die lokalen Knoten eingeschleust!«, berichtete sein E-Butler. »Die kontrollierende RI bemüht sich, die Software unschädlich zu machen.«
»Gottverdammt!« Hogan hämmerte mit der Faust auf die Konsole. Auf der anderen Seite des Raums erhob sich Senatorin Burnelli aus ihrem Sitz. Sie war in Tränen aufgelöst, das junge, schöne Gesicht verzerrt von einer unergründlichen Schuld. Weitere Kameras verschwanden in einem Mahlstrom aus Statik von den Schirmen. Lediglich ein Bild des Assassinen blieb, aufgenommen von einem Sensor auf dem Dach. Hogan beobachtete, wie der Kerl über eine Rampe zur Plattform 12 A rannte, verfolgt von zwei Navy-Beamten in einem Abstand von hundert Metern. Schüsse fielen. Das Bild löste sich in grauen Nebel auf. Hogans Kehle entrang sich ein raues Stöhnen. Das konnte nicht sein! Es war ein absolutes Desaster. Schlimmer noch, es ereignete sich vor den Augen der Senatorin, die ihnen die erste echte Spur zu den Guardians geliefert hatte. Eine Spur, der Hogan verzweifelt hatte folgen wollen.
Hogans virtuelle Hand flog über Symbole und aktivierte gesicherte Audiokanäle zu den Squads. Wenigstens waren die Systeme der Navy nicht allzu stark von der Kaos-Software beeinträchtigt.
»Er ist auf der Plattform! Er ist auf der Plattform!«
»Wir sind bei euch! Wir kommen über die zweite Rampe zur 12 A hinauf!«
»Schießt!«
»Nein, wartet! Zivilisten!«
»Vic, wo bist du?«
»Ein Zug fährt ein!«
»Vic? Herrgott noch mal, Vic!«
»Scheiße! Er ist runtergesprungen! Ich wiederhole, die Zielperson ist auf den Schienen. Er rennt über die Schienen nach Westen. Er will nach draußen!«
»Hinterher!«, befahl Hogan. »Renne, wen haben wir alles draußen?«
»Squad H ist in der Nähe.« Sie rief Grundrisse in einem portablen Array auf, das durch die Kaos-Software nicht beeinträchtigt war. »Tarlo, bist du in der Nähe? Kannst du ihn abfangen?«
»Schon dabei.« Tarlos knapper Kommentar wurde von schweren, schnellen Schritten begleitet.
Hogan nahm geistesabwesend zur Kenntnis, dass die Senatorin und ihre Leibwache das Sicherheitszentrum verließen. Sein E-Butler hatte eine transparente dreidimensionale Karte des Carralvo-Terminals in seine virtuelle Sicht eingeblendet. Das nach Westen führende Gleis von Plattform 12 A führte zu einem weiten Bereich aus Hunderten sich schneidender Gleise hinaus, einer Kreuzungszone zwischen dem Passagierterminal und einem Frachthof, hinter der in einer Entfernung von drei Meilen die hohe Wand der Gateways aufragte.
»Er schafft es nie bis dorthin!«, murmelte Hogan. Er wandte sich an Tulloch, den Verbindungsoffizier von Compression Space Transport. »Haben Sie eigene Teams da draußen?«, fragte er.
Der Mann nickte. »Drei. Sie ziehen sich zusammen. Diese Kaos-Software macht es ihnen nicht gerade einfach, aber sie haben saubere Kommunikation. Keine Sorge, wir schließen ihn auf diesem Kreuzungsbereich ein. Er kann nirgendwohin entkommen.«
Hogan blickte sich einmal mehr im Büro um und sah, wie seine Leute wütend auf die nutzlosen Konsolen starrten. Sie konnten nichts tun außer warten, bis die RI das Netzwerk der Station gesäubert hatte. Unten am Boden riefen sich die verschiedenen Teams Koordinaten zu. Hogans Inserts wiesen ihnen Positionen auf der dreidimensionalen Karte an. Es war ein weiter Kreis, der das westliche Gleis von 12 A umgab. Ein sehr lockerer Kreis. Renne erteilte einen Schwall von Befehlen in dem Versuch, die Lücken zu schließen.
»Ich gehe selbst runter«, verkündete Hogan.
»Sir?« Renne löste sich aus dem taktischen Display und starrte ihn überrascht an.
»Übernehmen Sie hier«, befahl er. »Ich kann unten vielleicht helfen.« Er sah das kurze Aufflackern von Zweifel auf Rennes Gesicht, doch dann sagte sie: »Jawohl, Sir.«
Hogan war sich nur allzu bewusst, wie weit diese Unsicherheit sich inzwischen bei den Offizieren seines Kommandos ausgebreitet hatte. Das Pariser Büro, das er von Paula Myo geerbt hatte, hatte in ihm nie etwas anderes gesehen als den Strohmann von Rafael Columbia, einen politischen Günstling, der den ihm gestellten Aufgaben nicht wirklich gewachsen war. Zu Beginn dieser Observationsoperation hatte er gehofft, sich endlich ihren Respekt zu erwerben. Mittlerweile schien sich diese Hoffnung jedoch genauso zu zerschlagen wie ihre Chancen, den Assassinen lebend zu fangen.
Die Kaos-Software, welche LA Galactic in ihrem Würgegriff hatte, machte sich allmählich drastisch bemerkbar. Hogan musste die Treppe am Ende des Büroblocks benutzen, um nach unten in die Halle zu gelangen. Die Sicherheitssysteme der Aufzüge waren ausnahmslos abgestürzt und hatten die Lifts zum Halten gebracht, egal wo sie gerade steckten. Hogan sprang die vier Absätze hinunter; er war nur leicht außer Atem, als er endlich unten ankam. Draußen in der Halle rannte eine panische Menschenmenge umher. In Angst versetzt durch den Mord und die Jagd auf den Täter und verwirrt durch den Zusammenbruch des lokalen Netzwerks, wussten sie nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollten. Dabei half auch nicht gerade, dass inzwischen so gut wie jeder Alarm schrillte, summte, klingelte und dröhnte und dass die roten holografischen Pfeile des Notausgangssystems in widersprüchlichen Richtungen über ihren Köpfen durch die Halle glitten.
Hogan bahnte sich einen Weg durch das Gedränge, ohne auf die Flüche zu achten, die ihm folgten. Er lauschte den Squads auf den sicheren Kommunikationskanälen. Es klang nicht gut. Es gab zu viele Anfragen, zu viele Rufe: »In welche Richtung?«. Sie alle waren viel zu abhängig von den Beamten oben im Sicherheitszentrum, die die Operation koordinierten, die Aufstellungen kommandierten und die Lage mithilfe der primären Sensoren der Station beobachteten. Wir müssen die Trainingsprozeduren ändern, dachte Hogan. Seine dreidimensionale Karte zeigte den unregelmäßigen Ring seiner Leute und der Teams von CST, der sich langsam um die mutmaßliche Position des Assassinen zusammenzog.
Hogan zog seine Waffe, während er die Rampe zu 12 A hinaufrannte. Die wenigen verbliebenen Passagiere hatten sich an den Wänden oder hinter Säulen auf den Boden geworfen und zusammengerollt. Sie zuckten unwillkürlich zusammen, als Hogan an ihnen vorbeirannte und auf die Schienen sprang. Dicke gelbe Hologramme am Rand der Plattform warnten vor dem Weiterlaufen. Hogan ignorierte sie und rannte zum Ende des Terminals, dem Tageslicht hinter dem hohen geschwungenen Dach entgegen. Rennes Stimme in seinen Ohren klang immer noch ruhig und gelassen, während sie seinen Männern Anweisungen gab, wohin sie sich wenden und welche Richtung sie einschlagen sollten. Trotzdem gab es weiterhin große Lücken in der Schlinge, die sich um den Assassinen zusammenzog. Hogan biss die Zähne zusammen und schwieg, doch er ärgerte sich über die auseinandergezogenen Reihen. Erst als er in das helle, kalifornische Sonnenlicht hinausstürmte, sah er den Grund dafür.
Der gesamte Kreuzungsbereich, der sich auf seiner Karte so hübsch schematisch darstellte, war in Wirklichkeit eine Fläche aus Beton und Stahl, die sich meilenweit in jede Richtung erstreckte. Entlang den Seiten standen die massiven Lagerhäuser und Ladekrans des Frachthofs, wo Maschinen und Bots in konstanter Bewegung waren. Doch vor ihm wanden sich Dutzende von Zügen gleichzeitig über den Kreuzungsbereich, angefangen bei gigantischen, meilenlangen transirdischen Frachtlinern, die auf ihrem Weg rund um den Erdball von gewaltigen GH9-Loks gezogen wurden, über zwanzig Waggons lange intrastationäre Rangierzüge bis hin zu den schlanken weißen Expresszügen, die mit atemberaubender Geschwindigkeit vorbeijagten. Sie erfüllten die Luft mit ihrem metallischen Rattern, ein beständiger Lärm, überlagert von lauten Klangs und Klongs, die sich anhörten wie kollidierende Schiffe. Es war ein Lärm, den Hogan nie bewusst wahrgenommen hatte, wenn er in den klimatisierten, komfortablen Waggons der ersten Klasse unterwegs gewesen war.
Der Angriff der Kaos-Software hatte keinen Einfluss auf die Verkehrsüberwachung und -lenkung der Station. CST, in ständiger Furcht vor Sabotageakten und Naturkatastrophen, benutzte unabhängige, ultragehärtete Verschlüsselungsalgorithmen, um die Kommunikation und Steuerbarkeit der Züge zu jeder Zeit und unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Sie hatte sogar unter dem Ansturm der Aliens auf Lost23 weiter funktioniert.
Hogan kam schlitternd zum Stehen, als ein schneller Frachtzug fünfzig Meter zu seiner Linken vorbeiraste. Er spürte den Fahrtwind auf dem Gesicht. Mehrere Mitglieder der Squads waren zu sehen, auseinandergezogen und ein Stück weit voraus, alle mit schussbereiten Waffen, während sie versuchten, in alle Richtungen gleichzeitig zu sichern.
Hogan berührte das virtuelle Symbol, das ihn direkt mit Tulloch verband. »Herrgott noch mal, stellen Sie den verdammten Verkehr da draußen ab! Wir werden von den Zügen zerquetscht!«
»Sorry, Alic, aber das habe ich bereits versucht. Die Verkehrsleitstelle weigert sich ohne expliziten Befehl vonseiten einer Regierungsstelle.«
»Scheiße!« Während Hogan hinsah, rannte einer seiner Leute plötzlich zur Seite. Ein zweihundert Meter langer Tankzug mit einer GH4 davor rollte hupend über die Gleise, auf denen er eine Sekunde zuvor noch gestanden hatte. »Renne, rufen Sie Admiral Columbia. Er soll CST eine Atombombe unter dem Hintern zünden! Ich will diese gottverdammten Züge abgeschaltet haben! Sofort!«
»Schon dabei, Sir. Die Kaos-Software wird aus den Systemen gelöscht. Wir müssten in wenigen Minuten wieder volle Sensorkontrolle haben.«
»Herrgott noch mal!«, fluchte er in sich hinein. Wie viele Katastrophen kann man an einem einzigen Tag eigentlich anhäufen? Hastig verließ er das Gleis, auf dem er gestanden hatte, und lief auf die unregelmäßige Linie seiner Leute zu. »Okay, Männer, sehen wir zu, dass wir uns ein wenig besser organisiert kriegen! Wer war der Letzte, der unsere Zielperson gesehen hat?«
»Vor zwei Minuten war er zweihundert Meter vor mir und rannte in Richtung Nordwesten.«
Hogans virtuelle Sicht identifizierte den Sprecher als John King. Hogan markierte seine Position auf der Karte.
»Positive Sichtung, Sir! Ich habe ihn auf der anderen Seite dieses Flachbett-Zugs gesehen!«, sagte Gwyneth Russell in diesem Augenblick. Sie befand sich fast eine Viertelmeile von John King entfernt.
»Wann?«
»Er ist vor vielleicht einer Minute hinter dem Zug verschwunden, Sir.«
»Das kann ich bestätigen«, erklärte Tarlo. »Meine Squad befindet sich nördlich von Gwyneth. Der Flachbett-Rangierzug hat uns soeben erreicht. Die Zielperson befindet sich auf der anderen Seite.«
Hogan überprüfte die Richtung, in der Tarlo operierte, auf seiner Karte. Ein schnell fahrender Zug mit zylindrischen Containern jagte über ein Gleis zwischen ihm und der Squad. Er glaubte einen weiteren Zug dahinter zu erkennen, durch die Lücken zwischen den Containern hindurch. Möglicherweise handelte es sich um den Rangierverband. Es war ein verwirrendes Geflacker von Bewegung.
Der Hintergrundlärm verebbte ein wenig, und Hogan vernahm ein hohes Summen aus der Vertiefung zu seiner Rechten wahr, das Geräusch von Hochspannungsleitungen. Er wandte den Kopf in die entsprechende Richtung und runzelte die Stirn. Er hatte angenommen, dass es sich um eine Wasserrinne aus enzymgebundenem Beton handelte, ungefähr drei Meter breit und anderthalb Meter tief. Die graue Oberfläche kräuselte sich leicht, und der gesamte Gully hinter ihm bewegte sich im Gelände. Er war mit einem weiteren Gully verbunden, der zwanzig Meter entfernt parallel zum ersten verlief.
Ein Maglev-Gleis!
Hogan warf sich auf den harten Boden aus Granitsplit und riss die Hände über den Kopf. Ein Expresszug jagte mit heulendem Fahrtwind vorüber. Hogans Uniformjacke flatterte wie ein Segel im Sturm. Für eine Sekunde befürchtete er, der Luftdruck würde ihn vom Boden hochreißen. Er brüllte wortlos in das markerschütternde Inferno hinein, als eine animalische Angst von ihm Besitz ergriff. Dann war der Express vorbei, und sein blinkendes Hecklicht verschwand in der Ferne.
Hogan benötigte eine Minute, bis seine Beine aufhörten zu zittern und sein Gewicht wieder tragen konnten. Langsam erhob er sich und blickte nervös zu dem unschuldigen Gully auf der Suche nach verräterischen Anzeichen eines weiteren Expresszugs.
»Er ist nicht hier!«, rief Tarlo über Funk. »Sir, wir haben ihn verpasst!«
Hogans Karte zeigte eine große Konzentration von Männern entlang einer Gleissektion mit Tarlo in der Mitte.
»Wir können ihn unmöglich verpasst haben!«, widersprach Gwyneth. »Herrgott noch mal, ich habe ihn ganz deutlich hinter diesem Zug gesehen!«
»Er ist nicht hier entlanggekommen, oder?«
»Aber wo ist er dann, verdammte Scheiße?«
»Kann irgendjemand die Zielperson entdecken?«, fragte Hogan.
Ein Chor von negativen Antworten. »Nein, Sir! Hier ist er nicht, Sir!«
Während Hogan sich auf unsicheren Beinen vom Maglev-Gleis entfernte, zeigte ihm seine virtuelle Sicht, wie das Netzwerk der Station allmählich wieder hochgefahren wurde. Renne hatte einen Fahrplan für den Kreuzungsbereich von der Verkehrskontrolle aufgerufen und benutzte ihn nun, um die Männer vor herannahenden Zügen zu warnen.
»Alle sollen auf ihren Positionen bleiben«, sagte Hogan zu ihr. »Ich möchte, dass dieser Bereich abgeschottet wird. Er kann noch nicht weit sein. Wir riegeln die Umgebung ab, bis wir die volle elektronische Abdeckung wiederhergestellt haben.«
»Verstanden, Sir«, antwortete sie. »Oh, wir haben soeben zusätzliche Hilfe erhalten.«
Zwei schwarze Helikopter schwebten im Tiefflug über die Kreuzung. Auf ihren Unterseiten stand in weißer Schrift LAPD geschrieben. Hogan blickte wütend nach oben. Na, toll, einfach toll. Genau wie beim Fiasko in der Marina. Die Cops lachen sich scheckig über uns.
Plötzlich tauchten klare Bilder in einem Gitternetz seiner virtuellen Sicht auf. Die Kaos-Software war entfernt worden. Hogan hörte die ersten Züge bremsen, ein durch und durch gehendes hohes Quietschen, das über den gesamten Bereich hallte. Ein weiterer Zug bremste, dann ein dritter, und schließlich verlangsamten sämtliche Züge ihre Geschwindigkeit und blieben stehen.
Endlich lag der Kreuzungsbereich still; endlich bewegten sich die Züge nicht mehr. »Also schön, Leute«, sagte Hogan entschlossen. »Und jetzt werden wir den ganzen Bereich Sektor für Sektor durchsuchen!«
Zwei Stunden später musste Alic Hogan seine Niederlage eingestehen. Sie hatten jeden Quadratzentimeter des Kreuzungsbereichs abgesucht, sowohl visuell als auch mit Sensoren. Der Assassine war nirgends zu finden. Der Perimeter aus seinen eigenen Leuten und den Sicherheitsteams von CST war undurchbrochen, und doch war ihre Zielperson ihnen irgendwie durch die Maschen geschlüpft.
Von seinem improvisierten Befehlsstand auf Plattform 12 A aus beobachtete Hogan seine müden, aufsässigen Squads, die von überall her zur Plattform strömten. Es war ein Tiefschlag für die Moral der Männer gewesen. Er sah es ihren Gesichtern an, ihren niedergeschlagenen, ausweichenden Blicken, wenn sie ihn auf dem Weg nach drinnen passierten.
Tarlo blieb vor ihm stehen. Er wirkte eher wütend als enttäuscht. »Ich begreife das nicht! Wir waren direkt hinter ihm! Die anderen hatten ihn eingekreist! Er kann unmöglich an uns vorbeigekommen sein, und es ist mir völlig egal, welche Implantate er hat.«
»Er hatte jedenfalls Hilfe«, stellte Hogan fest und blickte seinen Lieutenant an. »Eine ganze Menge Hilfe. Die Kaos-Software allein ist Beweis genug dafür.«
»Ja, schätzungsweise haben Sie recht, Sir. Fahren Sie mit zurück nach Paris? Ein paar von uns wollen einen Zug durch die Bars machen; sie haben noch offen. Die guten Bars zumindest.«
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sich Hogan über die Einladung gefreut. Heute jedoch nicht. »Danke, aber nein. Ich muss zum Admiral und berichten, was passiert ist.«
Tarlo verzog mitfühlend das Gesicht. »Aua. Nun ja … so ist das wohl, wenn man das große Geld verdient.«
»Nicht genug für das hier«, murmelte Hogan, als der große Kalifornier die Plattform hinunter zu seinen Kameraden ging. Hogan atmete tief durch und befahl seinem E-Butler, eine Verbindung zu Columbias Büro herzustellen.
Senatorin Justine Burnelli blieb bei dem Leichnam, während der Beamte des städtischen Leichenbestatters die Roboterbahre in Richtung eines der zahlreichen Frachtausgänge im Untergeschoss der Carralvo-Station dirigierte. Es hatte eine beträchtliche Verzögerung gegeben, während sich LA Galactic vom Angriff der Kaos-Software erholte, Zeit, die Justine damit verbrachte, Kazimirs Gestalt auf dem weißen Marmorboden der Halle anzusehen. Das Tuch, von CST Personal über den Leichnam gelegt, war nicht groß genug, um die Blutlache zu verdecken, die sich um Kazimir herum gebildet hatte.
Jetzt war ihre Liebe in einem schwarzen Leichensack, und ein kleines Geschwader von Reinigungsrobotern war bereits an der Arbeit, schrubbte den Marmor, entfernte das Blut, löschte mit scharfen, effektiven Reinigungsmitteln jede Spur des Geschehens aus. In weniger als einer Woche würde sich niemand mehr daran erinnern, was hier geschehen war.
Die Robotbahre glitt ins Heck eines schwarzen Leichenwagens.
»Ich fahre mit«, verkündete Justine.
Niemand widersprach, nicht einmal Paula Myo. Justine kletterte in den Wagen und setzte sich auf die schmale Bank neben der Bahre, während sich die Türen wieder schlossen. Myo und die beiden Leibwächter der Senate Security, die Justine zugewiesen worden waren, stiegen in ein weiteres Fahrzeug, das hinter dem Leichenwagen wartete. Allein im düsteren Licht eines einzigen Polyphotostreifens an der Decke, meinte Justine, jeden Augenblick wieder weinen zu müssen.
Das werde ich nicht! Kazimir würde es nicht wollen, er mit seinen altmodischen Manieren.
Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange, als sie langsam den Leichensack öffnete, um einen letzten Blick auf ihn zu werfen, bevor alles kalt und klinisch wurde für die offizielle Identifikation und die unausweichliche forensische Autopsie. Man würde Kazimirs jungen Körper sehr gründlich untersuchen und analysieren, was bedeutete, dass die Pathologen ihn aufschneiden würden, um den Tiefenscan zu komplementieren. Ein Akt, der seinen Leichnam jeder verbliebenen Würde berauben würde. Danach würde er nicht mehr Kazimir sein.
Justine starrte auf den Toten hinab, noch immer überrascht angesichts des friedlichen Ausdrucks auf seinem Gesicht.
»Oh, mein Liebster, ich werde deinen Kampf fortsetzen«, hatte sie ihm versprochen. »Ich werde deinen Kampf kämpfen, und wir werden gewinnen. Wir werden diesen Starflyer schlagen. Wir werden ihn vernichten.«
Kazimirs totes Gesicht starrte blind nach oben. Justine zuckte unwillkürlich zusammen, als ihr Blick auf seine Brust fiel, auf das ausgefranste, verbrannte Loch, das der Ionen-Puls in seiner Jacke und seinem Hemd hinterlassen hatte. Sie zwang sich, langsam, zögernd, die Hand in seine Taschen zu stecken und darin herumzutasten. Er war zum Observatorium in Peru geschickt worden, um etwas abzuholen, und Justine wusste, dass sie der Navy nicht vertrauen konnte. Sie war nicht sicher, was die Myo anging, und der Chief Investigator vertraute ihr ganz sicher nicht.
Die Taschen waren leer. Sie tastete sich weiter nach unten, klopfte das Stoffgewebe ab und versuchte, das Blut zu ignorieren, das an ihren Fingern und Handflächen klebte. Es dauerte eine Weile, doch schließlich fand sie den Speicherkristall in seinem Gürtel. Ein schwaches, stolzes Lächeln spielte um ihre Lippen: Kazimir hatte auf seiner geheimen Mission einen Gürtel mit einem verborgenen Fach benutzt wie ein Tourist, der befürchtet, überfallen und ausgeraubt zu werden. In diesem Augenblick hasste sie die Guardians dafür, dass sie Kazimir benutzt hatten. Ihr Kampf mochte richtig und rechtens sein, doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie Kinder rekrutieren durften.
Justine wischte sich eben die Hände an ein paar Tüchern ab, als der Wagen bremste und stehen blieb. Sie schob die Tücher zusammen mit dem Speicherkristall hastig in ihre Tasche und verschloss den Leichensack. Die Türen öffneten sich. Justine stieg aus, nervös, dass man sehen könnte, wie schuldig sie sich fühlte. Sie waren in einem kleinen Lagerhaus angelangt und parkten vor einem Zug mit lediglich zwei Waggons. Justine hatte Campbell Sheldon anrufen müssen, um so schnell einen Privatzug zu organisieren; glücklicherweise hatte er sich als mitfühlend erwiesen. Auch wenn sie Freunde waren, so wusste Justine doch, dass sie später einen Preis dafür würde zahlen müssen. So war es immer – Unterstützung für eine gewisse Politik hier, einen Gefallen dort. So lief das Spiel eben. Es war ihr egal.
Paula stand neben ihr, während die Bahre ins Frachtabteil des zweiten Waggons rollte. »Ihnen ist doch bewusst, dass Admiral Columbia dies nicht gutheißen wird, Senatorin, oder?«
»Durchaus«, erwiderte Justine. Es war ihr völlig egal. »Aber ich möchte sicher sein, dass die Autopsie nicht verfälscht wird. Die Senate Security kann die Prozedur überwachen, doch ich will sie in unserer Familienklinik in New York durchführen lassen. Das ist der einzige Ort, von dem ich mit Sicherheit sagen kann, dass es keine Unregelmäßigkeiten und keine Probleme geben wird.«
»Ich verstehe.«
Der Zug benötigte zwanzig Minuten, um die Schleife über Seattle, Edmonton, Tallahassee bis zur Newark Station von New York zu fahren. Eine zivile Ambulanz von der Klinik wartete bereits auf den Leichnam, zusammen mit zwei Limousinen. Diesmal konnte Justine es nicht vermeiden, mit Paula Myo in den Wagen zu steigen, und der kleine Konvoi jagte zu der exklusiven Einrichtung unmittelbar vor den Toren der Stadt davon.
»Vertrauen Sie mir?«, fragte Paula unvermittelt.
Justine tat, als würde sie durch das verdunkelte Fenster nach draußen auf die umliegenden Gegenden schauen. Trotz des tiefen Schocks, den der Mord und der damit verbundene emotionale Tumult in ihr verursacht hatten, war sie noch immer rational genug, um die Implikationen dieser Frage zu überdenken. Sie wusste verdammt gut, dass der Chief Investigator sich niemals abwimmeln ließ, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. »Ich denke, wir teilen inzwischen mehrere gemeinsame Ziele. Wir beide wollen, dass dieser Mörder gefasst wird. Wir beide glauben, dass der Starflyer existiert. Und wir beide wissen mit Sicherheit, dass die Navy kompromittiert ist.«
»Das genügt für den Anfang«, sagte Paula Myo. »Sie haben immer noch Blut unter den Fingernägeln, Senatorin. Ich nehme an, dass es beim Durchsuchen des Toten dorthin gekommen ist.«
Justine wusste, dass ihre Wangen brannten. So viel zu heimlichen Manövern. Sie musterte den Chief Investigator lange und abwägend; dann griff sie in ihre Tasche und zog ein weiteres Tuch hervor.
»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte Paula.
»Glauben Sie immer noch, dass der Starflyer mich übernommen hat, als ich auf Far Away war?«
»Nichts an diesem Fall lässt sich mit absoluter Sicherheit sagen. Der Starflyer hatte lange, lange Zeit, um seine Fühler unsichtbar und ohne Opposition in den Commonwealth auszustrecken und Verbindungen herzustellen. Doch ich halte die Wahrscheinlichkeit eher für gering.«
»Also habe ich Bewährung, hm?« Justine rieb mit dem Tuch über einen Blutfleck an ihrem linken Zeigefinger.
»Eine scharfsinnige Beobachtung.«
»Es muss sehr einsam für Sie sein so hoch oben auf dem Olymp, von wo aus Sie über den Rest von uns Menschen richten.«
»Mir war nicht bewusst, wie sehr Sie der Tod von Kazimir McFoster getroffen hat. Ich würde normalerweise nicht erwarten, dass eine Burnelli bei einem Geschäft freiwillig einen Vorteil aus der Hand gibt.«
»Machen wir denn ein Geschäft?«
»Sie wissen, dass es so ist, Senatorin.«
»Kazimir und ich, wir haben uns geliebt.« Sie sagte das gelassen und nüchtern, distanziert, als hätte sie einen Börsenbericht verlesen. In ihr wich die Taubheit schon wieder Schmerz. Sie wusste, dass sie wieder zum Tulip Mansion fliehen würde, sobald der Leichnam sicher in der Klinik abgeliefert worden war. Das Mansion war ein Ort, wo sie in Ruhe trauern konnte, ohne irgendjemanden zu sehen.
»So viel habe ich inzwischen gesehen, ja. Haben Sie sich auf Far Away kennengelernt?«
»Ja. Er war damals gerade erst siebzehn. Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal jemanden lieben könnte, der so jung ist; aber wenn es um richtige Liebe geht, hat man nie eine Wahl, nicht wahr?«
»Nein.« Paula wandte sich ab.
»Waren Sie schon einmal so verliebt, Chief Investigator? So verliebt, dass Sie völlig den Verstand verloren haben?«
»Seit einer Reihe von Leben nicht mehr, nein.«
»Ich könnte mich mit einem Körpertod abfinden. Wie bei meinem Bruder beispielsweise. Ich könnte mich sogar damit abfinden, dass er einige Tage seiner Erinnerung verliert; aber das … das ist Tod, endgültiger, unwiderruflicher Tod, Chief Investigator. Kazimir ist für immer von mir gegangen, und ich bin schuld daran. Ich bin diejenige, die ihn verraten hat. Ich bin nicht für so etwas gemacht – mental, meine ich. Echtes Sterben ist etwas, das nicht alle Tage vorkommt. Fehler von dieser Größenordnung lassen sich nicht einfach so verdrängen.«
»Der Angriff der Primes gestern auf Lost23 hat mehrere Dutzend Millionen Tote zur Folge gehabt. Menschen, die niemals wiederbelebt werden. Ihre Trauer ist nicht einzigartig, Senatorin. Nicht mehr jedenfalls.«
»Ich bin nur ein verwöhntes reiches Miststück, das ein Spielzeug verloren hat, oder wie?«
»Nein, Senatorin. Ihr Leid ist sehr real, und Sie haben mein aufrichtiges Mitgefühl. Ich glaube allerdings auch, dass Sie es überstehen werden. Sie besitzen die Entschlossenheit und den scharfen Verstand, den nur Menschen Ihres Alters und Ihrer Erfahrung erlangen.«
Justine schnaubte. »Emotionales Narbengewebe, meinen Sie wohl.«
»Unverwüstlichkeit wäre der passendere Ausdruck. Wenn überhaupt, dann würde ich sagen, der heutige Tag hat gezeigt, wie menschlich Sie trotz allem noch sind. Zumindest in dieser Hinsicht können Sie zufrieden sein.«
Justine polierte ihre Nägel zu Ende und steckte das Tuch wieder ein. Jetzt war nicht mehr zu sehen, dass sie Kazimir je angerührt hatte – ein elender Gedanke. »Glauben Sie das ernsthaft?«
»Das tue ich. Ich nehme an, der Leichnam wird zu Ihrer Familienklinik gebracht, damit Sie ihn klonen können, korrekt?«
»Nein. Das werde ich ihm nicht antun. Ihn physisch zu replizieren würde kaum ausreichen, um meine Schuld zu mindern. Eine Person ist mehr als nur ihr Körper. Ich werde Kazimir das einzige Geschenk geben, das ich ihm noch geben kann. Es ist das wenigste.«
»Ich verstehe. Dann wünsche ich Ihnen alles Gute, Senatorin, und dass Sie eines Tages glücklich sind ob Ihrer Wahl.«
»Danke sehr.«
»Ich würde trotzdem gerne wissen, ob Sie etwas gefunden haben.«
»Einen Speicherkristall.«
»Darf ich ihn sehen?«
»Sicher. Ich wüsste nicht, was dagegenspricht. Außerdem brauche ich Sie und Ihre Erfahrung. Sie müssen mir helfen, den Starflyer zu Fall zu bringen. Allerdings gibt es Grenzen für unsere Kooperation, Chief Investigator. Ich werde der Navy nichts geben, das ihr helfen könnte, die Guardians aufzuhalten. Es ist mir vollkommen egal, wie scharf Sie darauf sind, Johansson zu verhaften.«
»Ich verstehe.«
Adam Elvin hatte Kieran McSobel persönlich den Auftrag erteilt, Kazimir bei seiner Kuriermission zu unterstützen. Kieran hatte gute Fortschritte gemacht, seit er vor ein paar Jahren auf der Erde eingetroffen war. Er hatte sich mit Leichtigkeit in das Geschäft eingearbeitet und war auch unter Druck stets ruhig und berechnend geblieben – Eigenschaften, die ihn für die Art von Operationen als höchst geeignet erscheinen ließen, die die Guardians dieser Tage durchführten. Der Auftrag sollte ein Spaziergang für Kieran werden.
Als Kazimirs Zug einlief, war Kieran in der Haupthalle von Carralvo in Position, wo er sich unter die endlose Flut von Passagieren mischte. Unauffällig in der Menge wie jeder gute Agent, bereit für jede nur denkbare Eventualität.
Auf der anderen Seite des Stationskomplexes beobachteten die Guardians seine Fortschritte aus den Büros der Lemule’s Transit Company. Adam hatte es sich an der rückwärtigen Wand bequem gemacht und beobachtete wiederum seine Leute. Er griff nicht in das Geschehen ein – schließlich machten sie nur das, was er sie gelehrt hatte –, doch er wollte anwesend sein, um ihnen ein gewisses Maß an Sicherheit zu vermitteln. Eine beruhigende Vatergestalt sozusagen. Es kostete Adam eine Menge Anstrengung, nicht jedes Mal ein bestürztes Gesicht zu machen, wenn er darüber nachdachte; doch dies hier war eine wichtige Operation, und er musste anwesend sein, um die Vorgänge im Auge zu behalten. Bradley Johansson brauchte dringend diese Daten vom Mars. Der Angriff der Aliens auf die Phase-zwei-Welten hatte ihren sorgfältig ausgerechneten Zeitplan völlig durcheinandergeworfen.
Marisa McFoster benutzte das Netzwerk von Carralvo, um elektronische Scans durchzuführen und nach Anzeichen von Observationsaktivitäten in Kazimirs Umgebung zu suchen. »Alles sauber«, verkündete sie schließlich und stellte eine gesicherte Verbindung zu Kieran her. »Fang an«, sagte sie zu ihm.
Ein Karte auf einem ihrer Konsolenschirme zeigte, wie sich Kierans Symbol langsam durch die Halle in Bewegung setzte und dem Hauptausgang näherte. Er musste etwa dreißig Meter hinter Kazimir sein, während er das Gedränge der Passagiere nach möglichen Verfolgern absuchte.
»Er ist stehen geblieben!«, sagte Kieran unvermittelt.
»Was heißt stehen geblieben?«, fragte Marisa.
Adam richtete sich augenblicklich auf. Bitte nicht schon wieder!
»Er ruft jemanden!«, sagte Kieran mit verblüffter Stimme. »Was um alles in der Welt …?«
»Gib mir eine Bildübertragung!«, verlangte Marisa.
Adam trat hastig nach vorn, stellte sich hinter Marisas Sessel und beugte sich vor, um auf das Portal der Konsole zu sehen. Die Übertragung aus Kierans Retinaimplantaten lieferte ein unruhiges Bild, schlechte Sicht durch eine Menschenmenge hindurch. Viele dunkle, unscharfe Köpfe wogten direkt vor ihm auf und ab. Dahinter rannte eine Gestalt. Das Bild flammte hell auf, als ein Ionen-Puls abgefeuert wurde.
»Scheiße!«, brüllte Kieran. Dunkelheit flimmerte durch das Bild, als er den Kopf herumriss. Für eine Sekunde war ein verschwommenes Schwarzweißbild von einem Mann zu sehen, der rückwärts durch die Luft segelte, mit rudernden Armen und Beinen. Dann zoomte Kieran auf den Mann mit der Pistole, der sich in diesem Moment umwandte und Anstalten machte zu fliehen.
»Bruce!«, rief Marisa fassungslos.
»Wer zur Hölle ist Bruce?«, fragte Adam.
»Bruce McFoster. Kazimirs bester Freund.«
»Scheiße. Du meinst den Bruce McFoster, der im Kampf gefallen ist?«
»Genau den.«
Adam schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Nur dass er es nicht war! Der Starflyer hat nicht zum ersten Mal Klone losgeschickt. Verdammt!«
Der Schirm mit der Übertragung von Kieran blitzte weiß auf. »Er schießt um sich«, berichtete Kieran. Das Portal zeigte nur noch ein Paar Schuhe, deren Träger flach und reglos am Boden lag. Kieran hob den Kopf, und die Schuhe wanderten nach unten aus dem Bild. Dahinter rannte der falsche Bruce McFoster durch die Halle. Menschen sprangen zur Seite und warfen sich in Deckung, während er weiter feuerte. Zwei Männer und eine Frau verfolgten den Flüchtigen. Sie hielten Pistolen in den Händen und brüllten ihm hinterher, stehen zu bleiben. Sie trugen gewöhnliche Zivilkleidung.
»Das sind keine Sicherheitsleute von CST«, stellte Adam grimmig fest.
Ein Schuss von irgendwo oben und hinter Kieran traf Bruce McFoster in den Rücken. Sein Schutzschild flackerte auf, doch er wurde nicht langsamer.
»Gütiger Gott, wie viele Leute wussten eigentlich, dass Kazimir auf dieser Mission unterwegs war?«
Rote Symbole blinkten auf Marisas Konsole. »Irgendjemand hat das lokale Netzwerk mit Kaos-Software angegriffen!«, sagte sie. »Ein schwerer Angriff. Es ist hoch entwickelte Software. Die RI ist kaum imstande, sie an der Ausbreitung zu hindern.«
»Das waren entweder Bruce oder die Leute, die ihn kontrollieren«, sagte Adam. »Das hilft ihm, sich abzusetzen. Sie müssen gewusst haben, dass Kazimir von der Navy beschattet wird.« Und das ist mehr, als wir gewusst haben, dachte er elend.
Die Verbindung zu Kierans Retinaimplantaten brach zusammen; nur die gesicherte Audioverbindung hatte noch Bestand.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Marisa.
»Kieran, kannst du Kazimir erreichen?«, fragte Adam. »Kannst du den Speicherkristall bergen?«
»Ich weiß … oh, was … da ist jemand … bewaffnet … steht neben … auf keinen Fall. Ich komme nicht … noch mehr Leute … Alarme ausgelöst …«
»Okay, verstanden. Bleib in Deckung und warte ab, was weiter passiert. Versuch herauszufinden, wohin sie ihn bringen.«
»Ich … schon unterwegs … verstanden.«
»Kannst du sehen, wohin dieser Bruce gerannt ist?«
»… immer noch Schusswechsel. Jagen … Plattform 12 A … Verfolgung … wiederhole, Plattform 12 A …«
Adam musste nicht erst eine virtuelle Karte konsultieren. Nach fünfundzwanzig Jahren der Arbeit auf LA Galactic kannte er den Grundriss der gewaltigen Station besser als Nigel Sheldon. Er nahm hinter der Konsole neben Marisa Platz und aktivierte die speziellen optischen Leiterbahnen, die er im Laufe der letzten Jahre unter größter Vorsicht und mithilfe von umprogrammierten Bots installiert hatte. Sie zogen sich durch Lüftungsschächte und Versorgungsröhren und bildeten ein unsichtbares Netz, das die gesamte riesige Station umspannte.
Jedes Ende war mit einem winzigen, getarnten Sensor verbunden. Die Sensoren saßen an Wänden hoch über dem Boden, an Lampenmasten, Brücken, überall, von wo man einen guten Überblick hatte.
Zwei von ihnen waren auf den großen Kreuzungsbereich westlich von Carralvo gerichtet. Die Übertragung setzte gerade rechtzeitig ein, um Adam den Flüchtenden zu zeigen, der unter dem riesigen, die gesamte Station überdeckenden Betondach hervorgesprintet kam. Der Starflyer-Agent wandte sich zur Seite und sprang in weiten Sätzen über die Gleise. Einmal schnappte Adam erschrocken nach Luft, als ein Zug auf die rennende Gestalt zujagte, doch Bruce überquerte das Gleis in perfektem Timing. Dann passierte er einen zweiten, langsameren Zug, der in die entgegengesetzte Richtung unterwegs war. Mit diesem Schachzug hatte er seine Verfolger fürs Erste vollkommen abgehängt.
Nach und nach kam Sicherheitspersonal in Sicht. Die Männer rannten gefährlich nah an Zügen vorbei, während sie versuchten, zwischen den Rädern hindurch etwas zu erkennen. Plötzlich dämmerte es Adam, dass wegen des Kaos-Angriffs keiner von ihnen Kontakt mit der Verkehrskontrolle hatte. Der falsche Bruce sprang über ein Maglev-Gleis und wechselte erneut die Richtung. Seine Verfolger wurden langsamer, als sie sich der Gefahr durch die Züge bewusst wurden, die den Kreuzungsbereich durchrasten und ohne Vorwarnung Gleise wechselten. Trotz alledem bildeten die Verfolger einen großen Einschließungsring, der sich langsam immer mehr zusammenzog. Adam sah, dass sie doch nach wie vor über irgendeine Form von Kommunikation verfügen mussten – Kaos-Angriff hin oder her.
Adam richtete einen Sensor mit hoher Vergrößerung auf eine Frau, die ihrer Uniform nach zu urteilen zur Navy gehörte. Und tatsächlich, die Frau sandte einen schwachen elektromagnetischen Mikropuls aus, weit außerhalb des gewöhnlichen zivilen Cybersphärenspektrums. Die Verfolger benutzten ein spezielles, hoch entwickeltes Verschlüsselungssystem, um in Kontakt zu bleiben.
»Verdammt!«, flüsterte Adam vor sich hin. Kein Wunder, dass die Programme seines Teams, die die Netzwerkknoten von LA Galactic so gründlich infiltriert hatten, keinerlei Überwachung rings um Kazimir hatten feststellen können. Und es bedeutete außerdem, dass der Navy-Geheimdienst vermutete, dass die Guardians über Abwehrmechanismen verfügten. Entweder das oder Alic Hogan litt ernsthaft unter Verfolgungswahn.
Einer der Navy-Leute näherte sich durch einen schmalen Korridor aus zwei parallel fahrenden Zügen dem Flüchtigen. Sie waren höchstens noch zweihundert Meter voneinander entfernt. Bruce schien seinen Verfolger gar nicht zu beachten.
»… Paula Myo …«, sagte Kieran in diesem Moment.
»Bitte wiederholen!«, forderte Adam ihn drängend auf.
»Ich … Ich sehe Paula Myo … Halle … rennt … redet … Senatorin …«
Paula Myo! Also ist sie doch nicht von dem Fall abgezogen worden. Verdammt!
Es war eine winzige Ablenkung, aber sie reichte aus, um den Flüchtenden zwischen all den Gleisen und dem Strom von Zügen verschwinden zu lassen. »Wohin zur Hölle ist er gerannt?«, fragte Adam. Es sah so aus, als hätten seine Verfolger ebenfalls keine Ahnung. Eine ganze Reihe von Männern näherte sich inzwischen der Stelle, wo der falsche Bruce McFoster noch einen Moment zuvor gestanden hatte. Sie riefen sich Informationen zu und deuteten mit den Händen. Die Züge rings um sie herum kamen zum Stehen.
Adam musste die aufgezeichnete Passage dreimal ablaufen lassen, bevor er sicher war. Er beobachtete das vergrößerte Bild von Bruce in Zeitlupe: eine Ansammlung verschwommener grauer Pixel, die einen aberwitzigen Sprung direkt auf einen Güterzug machte, als dieser sie passierte. Ein dunkles Rechteck an der Seite eines Frachtcontainers verschlang die undeutliche Gestalt. Sekunden später war das Rechteck verschwunden und einer ganz gewöhnlichen glatten Metallluke gewichen.
»Da soll mich doch der Teufel holen!«, brummte Adam staunend. »Wir haben es hier ja mit einer ganzen Bande von Boy Scouts zu tun.«
»Sir?«, fragte Marisa.
»Unsere Gegner waren sehr gut vorbereitet.«
Vier Jahrhunderte der Erfahrung und Einsichten zählten absolut überhaupt nichts mehr, als die Pathfinder zu ihrem furchtbaren Sturz ansetzte. Ozzie schrie genauso laut wie Orion, und ihr Schreien übertönte sogar das donnernde Tosen des fallenden Ozeans. Gischt wirbelte mit brutaler Gewalt um das zerbrechliche Fahrzeug herum und erstickte die Sicht auf den Himmel in ihrem grauen Dunst. Ozzie klammerte sich an den Mast, als könnte ihn das allein vor dem sicheren Tod bewahren, während sie fielen und fielen und fielen. Die Gischt durchnässte ihn innerhalb von Sekunden bis auf die Knochen und brannte auf seiner ungeschützten Haut.
Er atmete ein und schrie erneut. Als ihm die Luft ausging, atmete er ein weiteres Mal ein und spie Wasser, eine automatische Reaktion, die stärker war als der Impuls zu schreien. Sobald seine Kehle jedoch frei und seine Lungen wieder voll waren, öffnete er den Mund zu einem weiteren Schrei, der ohne jeden Zweifel in einem gewaltigen Aufprall und einer Explosion von Schmerz enden würde. Gleichzeitig regte sich in seinem Hinterkopf ein unsicherer, verwirrter, neuer Gedanke.
Als sie über die Kante des Wasserfalls geglitten waren, hatte Ozzie einen Blick auf die unmögliche Tiefe der Kaskade erhascht, und er hatte keinen Boden gesehen. Keine gezackten Felsen, die unten aufragten und auf denen das Floß zerschmettert werden würde. Kein abruptes Ende. Nichts, absolut gar nichts.
Dieser ganze Wasserfall ist künstlich, du Arschloch!
Ozzie schöpfte ein weiteres Mal Atem, stieß ihn durch geblähte Nüstern aus und zwang sich zum erneuten Einatmen. Sein Körper bestand darauf, dass er fiel, und dies bereits seit einigen Sekunden. Sein Instinkt sagte ihm, dass er eine unglaubliche Distanz gefallen war, dass er längst die höchstmögliche Fallgeschwindigkeit überschritten hatte. Das gleichmäßige Atmen half, den rasenden Herzschlag zu beruhigen.
Denk nach! Du fällst nicht. Du befindest dich in der Schwerelosigkeit. Freier Fall! Du bist sicher … für den Augenblick jedenfalls.
Das Brüllen des Wasserfalls jenseits der schäumenden Gischt war noch immer überwältigend. Ozzie konnte die Schreie des Knaben hören, die sich mehr und mehr in ein schluchzendes, wasserschluckendes Wimmern verwandelten. Er wischte sich die Tropfen aus dem Gesicht und schaute sich aus zusammengekniffenen Augen um. Der Knabe klammerte sich ans Deck des Floßes, und das nackte Entsetzen in seinem Gesicht war ein grauenvoller Anblick. Niemand sollte so leiden müssen.
»Keine Angst!«, rief Ozzie ihm zu. »Wir fallen nicht; es fühlt sich nur so an! Wir sind in der Schwerelosigkeit, wie Astronauten!« Das sollte ihn beruhigen.
Orions Entsetzen mischte sich mit Verwirrung. »Wasfürnauten?«
Herrgott im Himmel! »Wir sind in Sicherheit, okay? Es ist nicht so, wie es sich anfühlt!«
Der Knabe nickte, doch er war nicht überzeugt. Er klammerte sich noch immer ans Deck und wappnete sich gegen den Aufprall, der unweigerlich kommen musste.
Ozzie blickte sich abermals suchend um, während er ununterbrochen das Wasser aus dem Gesicht wischen musste. Er konnte die Sonne ausmachen, ein heller Fleck in einem Wirbel aus Regenbögen innerhalb der Gischt. Nennen wir diese Richtung oben. Die eine Hälfte des sie umgebenden Universums war entschieden dunkler als die andere. Das musste der Wasserfall sein. Und das war falsch, weil der Wasserfall gar nicht fallen konnte, wenn sie sich in der Schwerelosigkeit befanden. Und doch hatte Ozzie das Wasser fallen sehen. Instinktiv klammerte er sich fester an den Mast.
Okay, was kann Wasser dazu bringen, in der Schwerelosigkeit zu fallen? Scheiße, wenn ich das wüsste. Was für eine Geometrie hat diese verrückte Welt? Es kann kein Planet sein …
Er erinnerte sich an die Wasserkugeln, die durch den endlosen, dunstigen Himmel des Gasriesen getrieben waren. Diese Welt musste eine davon sein. Wie jedes Mal, seit sie dort gelandet waren, hatte ihn der Maßstab auch diesmal wieder genarrt.
Ein flacher Ozean auf der einen Seite also. Und das Wasser fließt über den Rand. Wenn es ständig abfließt, muss es irgendwie ersetzt werden. Oder wahrscheinlicher zirkuliert es nur. Die Unterseite fängt es auf, irgendwie, und von dort aus wird es wieder nach oben transportiert. Verrückt! Andererseits, wenn man künstliche Gravitation erzeugen und nach Belieben einsetzen kann, dann ist es vielleicht doch nicht so verrückt.
Mit kontrollierter Gravitation als Grundlage versuchte Ozzie, sich die Geometrie dieser Welt vorzustellen. Wenn sie tatsächlich aussah wie die Wasserkugeln, dann war sie komplett in Wasser gehüllt. Gravitationsprojektoren zogen das Wasser in unvorhergesehene Richtungen. Die Formen, die sein Verstand sich ausmalte, gefielen ihm nicht. Keine davon besaß eine Unterseite, auf der das Floß ruhig dahintreiben konnte.
Er blickte sich erneut um und glaubte zu sehen, dass sie sich dem Wasserfall genähert hatten. Die Gischt ringsum war merklich weniger geworden, und doch war es dunkler als zuvor. Sie mussten sich auf dem Weg in den Schatten der Unterseite befinden.
Es gibt hier Gravitation. Sie steht im rechten Winkel zum Ozean auf der Oberseite. Vielleicht etwas weniger als neunzig Grad, weil das Wasser über den Rand und nach unten fließen muss. Das ist gar nicht gut. Wir dürfen uns nicht in den Strom ziehen lassen.
Für den Augenblick waren sie sicher, solange die Gravitation auf der Unterseite noch schwach war. Die Strömung hatte sie über den Rand der Welt und den Wasserfall hinausschießen lassen, was ihnen eine Todesangst eingejagt hatte, doch die künstliche Gravitation der Unterseite würde sie irgendwann wieder zurückziehen. Die Gischttropfen wurden bereits wieder eingefangen, und der Nebel nahm ab.
Sie mussten sich von dem Strom lösen, solange die Gravitation schwach genug war, und Ozzie wollte nur eine Möglichkeit einfallen, wie sie den dafür benötigten Vortrieb erzeugen konnten.