Erlösung - Peter F. Hamilton - E-Book
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Peter F. Hamilton

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Beschreibung

»Der Meister der Science-Fiction auf dem Höhepunkt seiner Kunst!« SFF World Seit Jahren belagern die Olyix, eine feindliche Alienrasse, die Erde und ernten die Menschen für ihren Gott. Eine Stadt nach der anderen fällt ihren verheerenden Waffen zum Opfer. Als das Ende der Menschheit unausweichlich scheint, gelingt es einer Gruppe von Freiheitskämpfern, das Schiff der Olyix zu infiltrieren. Ihre einzige Hoffnung liegt darin, eine Tausende Lichtjahre entfernte verborgene Enklave zu erreichen und von dort aus zukünftigen Generationen den geheimen Standort der Feinde zu senden ... Das epische Finale der Salvation-Saga von SPIEGEL-Bestsellerautor Peter F. Hamilton!

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Übersetzung aus dem Englischen von Wolfgang Thon

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

© Ruthland Horizon Limited, 2020

Titel der Englischen Originalausgabe:

»The Saints of Salvation. Book Three of the Salvation Sequence« bei Macmillan, London, 2020

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Satz: auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von Getty Images

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

LISTE WICHTIGER FIGUREN:

1

JULOSS FÄLLT

2

LONDON

3

DELTA PAVONIS

Die Salvation-Saga ist »The Americans« gewidmet,

in Anerkennung und Dankbarkeit.

In der Reihenfolge ihres Auftretens:

Anthony Gardner

Betsy Mitchell

Jaime Levine

David Pomerico

Anne Groell

LISTE WICHTIGER FIGUREN:

2206:

Yuri Alster – Connexion Security, Chief

Callum Hepburn – Utopials Oberster Problemlöser

Alik Monday – FBI Special Agent

Kandara Martinez – Söldnerin, Spezialistin für verdeckte Operationen

Jessika Mye – Neána, Metahumanoide

Lucius Soćko – Neána, Metahumanoide

Loi – Yuris Adjutant und Sohn der Seymores

Anne Groell – Connexion Security, Chief New York

Eldlund – ein Omnia, Callums Adjutantin

Ainsley Baldunio Zangari – Gründer und Vorstandsvorsitzender von Connexion

Ainsley Zangari III. – CEO der Connexion TranSol-Division

Emilja Jurich – Führerin der Utopials

Gwendoline Seymore-Qing-Zangari – Finanzdirektorin Connexion

Horatio Seymore – Berater von Sozialdienst-Agenturen

Kohei Yamada – Connexion Security, Chief London

David Johnston – Oberkommandierender General Alpha Defence

Southwark-Legion:

Ollie Heslop – ehemaliges Gangmitglied

Lolo Maude – Ollies Geliebte

Nikolaj – Lieutenant einer Londoner Verbrecherfamilie

Crew der MORGAN:

Dellian – Team-Leader

Yirella – Designerin von Vayan

Tilliana – Taktikerin

Ellici – Taktikerin

Falar – Team-Mitglied

Janc – Team-Mitglied

Uret – Team-Mitglied

Xante – Team-Mitglied

Mallot – Team-Mitglied

Ovan – Team-Leader

Kenelm – Omnia, Captain der Morgan

Wim – Omnia, Brückenoffizier

Cinrea – Omnia, Brückenoffizier

Immanueel – Korpus-Mensch

1

JULOSS FÄLLT

Vor dem Neána-Insertionsschiff schimmerte Juloss wie eine saphirblaue Perle. Die riesigen Ozeane und kleinen Kontinente wurden von langen, unbeweglichen Wolkendecken verhüllt. Im Weltraum darum herum funkelte es wie Diamantenstaub, als das Sonnenlicht von den Orbitalforts reflektiert wurde, die diese kostbare Welt vor einer Invasion beschützten.

Das Insertionsschiff näherte sich aus südlicher Richtung der Ekliptik und stieß in unregelmäßigen Stößen kalte Masse ab wie ein schwarzer Komet. Bei seiner endgültigen Annäherung an den ahnungslosen Planeten maß es nur noch fünfundzwanzig Meter im Durchmesser. Es strahlte keine Magnetfelder aus und seine äußere Hülle war strahlungsabsorbierend, was es unsichtbar machte. In diesem vollkommenen Tarnmodus entging es der Wachsamkeit der SkyForts und glitt an ihnen vorbei, während es den Rest seiner Reaktionsmasse beim letzten Bremsmanöver abwarf. Jetzt fiel es auf den westlichen Rand des größten Kontinents zu, wo eine hohe Bergkette im Meer versank. Winzige Stöße der Korrekturdüsen justierten den Sink-Vektor des Schiffs und steuerten es zur Küste. Bis zur Morgendämmerung dauerte es dort noch dreißig Minuten. Im Inland kauerte einsam auf dem hügeligen Vorgebirge die Stadt Afrata, deren Lichter das fruchtbare Tal hell erleuchteten.

Als das Insertionsschiff auf die äußere Atmosphäre traf, teilte es sich in sechs birnenförmige Segmente auf. Diese sanken weiter hinab und wurden durch den Luftwiderstand der sich verdichtenden Atmosphäre immer stärker abgebremst. Die Segmente zielten in die Nähe einer dünnen Landzunge, deren felsiges Ufer von dichtem Unterholz bedeckt war.

Hundert Meter vom Ufer entfernt stiegen sechs große Fontänen wie gewaltige Geysire hoch. Sie brachen an der Krone und klatschten dann zwischen die erschreckten Seevögel, die bereits unterwegs waren, um die ersten Fische des Tages zu fangen.

Die Neána schwammen an Land. Kreaturen wie aus düsteren, uralten Albträumen der Menschheit entstiegen der Verbannung, um erneut die Lande zu durchstreifen – ihre beeindruckenden Reptilienkörper bewegten sich rasch auf zahlreichen sehnigen Gliedmaßen, und ihre rasiermesserscharfen Krallen schnappten unaufhörlich. Sie erklommen die Klippen am Fuß des Gebirges und machten sich auf die Suche nach ihrer Beute.

Dellian wusste, dass sich das Neána-Rudel näherte. Er befand sich im Stadtzentrum von Afrata und lauerte im Schatten einer verlassenen Plaza, auf die die Sonne senkrecht herunterbrannte. Die Kriechpflanzen, die die unteren Stockwerke der Wolkenkratzer aus Glas und Carbon kolonisiert hatten, hingen in langen Strängen wie ein grüner Wasserfall an der Fassade herunter. Sie boten eine ausgezeichnete Deckung. Er schlich durch die baumelnde Vegetation und ließ ihre seidenen Blätter über seine nackte Haut streifen. Das Gefühl ähnelte einer Dusche mit feinem Staub.

Irgendwo auf der Avenue, der er sich näherte, flog ein Schwarm Vögel auf. Ihre hastigen Flügelschläge erzeugten einen Wirbel aus hellen Farben, der kurzzeitig den Himmel verdeckte. Er sah lange Schatten zwischen den Farnen, die die Bürgersteige erobert hatten. Unter dem dumpfen Kreischen der flüchtenden Vögel war ein schnelles Schnattern zu vernehmen: das kehlige Rattern, mit dem Neána-Rudel auf der Jagd kommunizierten.

Dellian trat rasch um die Ecke des Gebäudes und hob seinen Bogen. Der Neána-Anführer war näher, als ihm lieb war. Als das diabolische Ding ihn sah, setzte es zu einem tödlichen Spurt an. Muskeln so dick wie sein Oberkörper traten an seinen Hinterbeinen hervor und trieben es voran, während es zwei Sets von Oberkörper-Gliedmaßen ausstreckte, deren Krallen schnappten. Sein triumphierendes Geheul war ohrenbetäubend. Dellian blieb regungslos stehen und hielt den Bogen ruhig. Dann ließ er den mit einer Eisenspitze versehenen Pfeil fliegen. Er zischte wie ein schwarzer Laserstrahl durch die Luft und durchbohrte die Kehle des Neána.

Das Monster landete auf dem Boden, gelblich braunes Blut pulsierte aus der Wunde. Sein Schwung trug es weiter. Die anderen Wesen kreischten voller Wut und griffen ihn an, aber Dellian war bereits verschwunden. Er rannte auf die andere Seite der Avenue, auf das Gewirr der Schlingpflanzen zu, die an dem Wolkenkratzer herunterhingen. Von Licht durchbrochene Dunkelheit umschloss ihn, und die rauen Blätter klebten an seiner unförmigen, kugelsicheren Weste, verlangsamten seine Flucht. Unter seinen Stiefeln zermalmte er Farnwedel, als er hinter dem Eingangsportikus des Gebäudes Deckung suchte. Hinter ihm schrien sich die Neána etwas zu. Ihre barschen Laute hallten laut über die Plaza.

Er hatte den Portikus erreicht und ging in die Hocke. Sein Atem klang harsch in seinen Ohren und sein Herz hämmerte, während er wartete. Aber niemand griff an. Er schob seinen Metallhelm ein Stück hoch und warf einen schnellen Blick um die Mauerecke herum. Zwei Neána schlichen auf seiner Seite der Plaza entlang, während drei andere die Gebäude hinter dem zentralen Springbrunnen erkundeten.

Dellian nahm jetzt sein Sturmgewehr und schlich vorsichtig von dem Portikus weg. Nur noch ein paar dünne Schlingpflanzen schirmten ihn vor den Aliens ab. Er hob das Gewehr und eröffnete das Feuer. Flammen schlugen aus der Mündung und es donnerte. Der Rückstoß hämmerte die Waffe in seine Schulter, aber er zielte ruhig und sah zu, wie die Geschosse eine Bresche durch den Körper des ersten Neána schlugen. Der andere dahinter zögerte, als würde er vor der Brutalität zurückschrecken, dann zog er eine Waffe aus seinem Harnisch, die aussah wie eine Bazooka.

»Verfluchte Heilige!«, schrie Dellian. Er rannte weiter, feuerte dabei und zielte vage in Richtung des zweiten Neána. Die Kreatur feuerte ebenfalls und der Portikus explodierte hinter ihm.

Die Schockwelle schleuderte ihn rücklings zu Boden. Der reaktive Schild des Körperpanzers absorbierte den größten Teil der Explosion, während er sich zusammenrollte, um den Aufprall abzumildern. Seine adaptive Muskulatur ermöglichte ihm, sehr schnell wieder auf die Füße zu kommen. Sensorgrafiken scrollten über seine Optik und suchten feindliche Ziele. Der Mikro-Missile-Werfer fuhr aus seinem Rucksack hoch, einsatzbereit. Vier weitere Neána stürmten auf die Plaza. Sie trugen graue Carbon-Exoskelette mit einer Vielzahl von Waffenerweiterungen. Ihre elektronischen Kriegsführungssysteme wurden aktiviert und überzogen die Plaza mit einem digitalen Nebel.

Dellian wollte gerade seine Missiles abfeuern, als der Himmel über ihm heller wurde. Seine Sensoren richteten den Blick nach oben. Hoch über ihm donnerte ein strahlender goldener Feuerball durch die Atmosphäre und zog eine mächtige bernsteinfarbene Säule aus überhitzter Luft hinter sich her. Dellian trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als der Feuerball zu beschleunigen schien. Die Strahlung überflutete die Plaza, deshalb schaltete Dellians Sichtvisier auf monochrom.

»Scheiße!« Er wandte sich zur Flucht.

Der Feuerball schlug in den Springbrunnen ein, Licht explodierte und erhellte alles ringsum.

Dellian blinzelte geblendet und starrte durch den hohen Zaun, der den Perimeter der Immerle-Domäne schützte. Fünfundzwanzig Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Dschungeltals glänzte Afrata hell wie die Sonne. Jedes Gebäude strahlte wie von einer Sonneneruption. Er zuckte mit den Schultern und lief zu den Sportplätzen, wo seine Jahrgangsgruppe wartete. Sie sollten heute Nachmittag ein Footballspiel gegen den Ansaru-Clan austragen. Dellian selbst konnte kaum die acht Monate warten, bis sie alle endlich ihren zehnten Geburtstag erreicht hatten. Alexandre hatte ihnen versprochen, dass sie dann mit der Ausbildung in der Orbital-Arena beginnen durften. Er liebte die Vorstellung, wie sie bei Zero-g herumflogen, in Zeitlupe Purzelbäume schlugen, sich von den Wänden abstießen und wie Vögel emporstiegen …

Ein Lokak stieß seinen krächzenden Jagdschrei aus. Dellian blieb wie angewurzelt stehen und musterte den Zaun. Das war gefährlich nah gewesen.

»Da ist nichts, das weißt du.«

Er fuhr herum. Yirella stand hinter ihm. Aber diese Yirella war ausgewachsen, mindestens zweimal so groß wie er und schien kein Haar mehr zu haben. Trotzdem trug sie ein T-Shirt und eine Sporthose, genau wie er. Yirella leistete immer den Jungen auf dem Spielfeld Gesellschaft und spielte ihre Spiele, anders als Tilliana und Ellici. Er glotzte sie einen Moment lang an. Irgendwie war diese ältere Yirella noch faszinierender als die, die er kannte … obwohl er die hier genauso gut kannte. Ich … verstehe das nicht.

»Und was war das dann für ein Geräusch?«, wollte er wissen. Er genoss es, dass er ausgerechnet sie korrigieren konnte.

»Eine Erinnerung.« Sie ging auf die Knie und senkte ihren großen Kopf auf Augenhöhe zu ihm herab. Dann hielt sie ihm beide Hände hin. »Vertraust du mir, Del?«

Auf der anderen Seite des Zauns ertönte ein ganzer Chorus aus Lokak-Schreien, die in Tonhöhe und Wildheit anstiegen. Er wusste, dies bedeutete, sie sammelten sich, bereit, die Domäne auf Geheiß der Neána anzugreifen. Es steckten immer die Neána dahinter, der ewige Feind, Lügner und Betrüger.

»Ja«, antwortete Dellian nervös und musste sich zusammenreißen, um sie anzusehen und nicht in den undurchdringlichen Dschungel jenseits des Zauns zu starren.

»Gut.« Sie packte seine Hände. Ihre Finger waren kühl, trocken und unglaublich kräftig. Yirellas Gegenwart erzeugte immer Zufriedenheit in ihm, aber diesmal ging die körperliche Berührung noch tiefer. Nicht nur seine Haut spürte sie – diesmal sank die Empfindung der Berührung in seinen Körper, kühlte und entspannte seine Muskeln. Er hatte nicht gemerkt, dass er so angespannt gewesen war.

»Das ist wichtig, Del. Nichts von dem, was du hier siehst, die Domäne, Juloss – nichts davon ist real.«

»Was?« Er drehte seinen Kopf ein Stück zur Seite.

»Nein! Sieh mich an, Del. Sieh nur mich an.«

Ihre Augen waren groß, voller Liebe und Sorge. Das Gefühl war so stark, dass er gegen seine Tränen ankämpfen musste. »Ich verstehe das nicht«, erwiderte er kläglich, diesmal laut und deutlich.

»Es gibt aber etwas, das du, wie ich weiß, verstehst: Ich bin hier, Del. Ich bin bei dir. Und ich werde dich niemals verlassen. Niemals, weil ich dich liebe.«

Die Welt hinter ihr vibrierte, als würde er wie verrückt den Kopf schütteln. Dabei tat er das gar nicht. Er konnte unmöglich seinen Blick von ihren wunderschönen Augen losreißen.

»Das hier ist wie ein Spiel, Del. Ich möchte, dass du es mit mir spielst. Wirst du das tun?«

»Ja«, flüsterte er. Er hatte jetzt Angst. Die Welt zitterte so heftig, dass er nicht kapierte, warum er es nicht fühlen konnte.

»Da draußen gibt es schlimme Dinge, aber das sind nicht die Bestien, vor denen wir immer gewarnt wurden. Diese bösen Dinge sind wie Monster aus Albträumen, und sie dringen in deinen Kopf ein, um ihn mit wirklich üblen Ideen vollzustopfen. Aber ich bin jetzt hier bei dir, also können wir sie zusammen vertreiben.«

»Ich will nicht kämpfen. Ich will nach Hause.«

»Wir sind zu Hause, Del. Deshalb sind wir hier auf der Domäne. Das hier bist so sehr du, das ist dein Anfang, so grundlegend, dass sie ihn nicht korrumpieren konnten wie alles andere. Du gehörst hierher.«

»Ja.«

»Deshalb müssen wir dieses Schlimme beseitigen, in dem sie dich ertränkt haben. Erinnerst du dich an deine Jahrgangsgruppe?«

»Ja.«

»Sie sind jetzt dein Team, stimmt’s?«

Er schloss kurz die Augen und sah die lachenden Gesichter seiner Jahrgangsgruppe, aber ihre Züge waren verzerrt, als würden sie von einem welligen Spiegel zurückgeworfen, verändert und gealtert. Außer … »Rello.« Er stöhnte, als das Gesicht seines Freundes schwarz wurde, Risse bekam, aus denen schleimiges Blut quoll, bevor die Vision sich auflöste.

»Ich weiß«, sagte Yirella sanft. »Er ist gegangen.«

»Wir haben ihn getötet. Das ist unser Fehler. Wir sind nichts weiter als Gefangene. Sie haben uns bereits bei der Geburt in Ketten gelegt.«

»Niemand hat uns angekettet, Dellian. Wir sind frei.«

»Nein. Es sind die Heiligen. Sie haben uns das angetan, sie haben uns unsere Entscheidungsfreiheit genommen.« Er knurrte. »Ich bin froh, dass sie tot sind.«

»Was?«

Er starrte in ihr schockiertes Gesicht. »Ich bin froh«, wiederholte er wahrheitsgemäß. Die Welt um sie herum hörte auf zu zittern. Ein beruhigendes Grau mischte sich in die Farben, dämpfte die Härte der tropischen Landschaft. Die sogenannten Heiligen waren getötet worden. Er erinnerte sich so lebhaft daran, es gesehen zu haben. Die Olyix hatten ihre Erinnerung von der Zeit geteilt, als die verehrteSalvation of Lifewieder im Gateway-Sternensystem angekommen war. DieRachsüchtige Häretikerin,das von den Heiligen gestohlene Transportschiff, das während der Heimreise an Bord des Archenschiffs verstaut gewesen war, war plötzlich ausgebrochen und hatte ohne Vorwarnung auf die friedlichen Olyix-Schiffe in der Nähe gefeuert. Sie hatten leider keine Wahl gehabt, als das Feuer zu erwidern, aber nur, um sich selbst vor einer solch sinnlosen Aggression zu schützen. Die Bilder waren so lebhaft in seiner Erinnerung, explodierten mit nuklearer Gewalt, und sein Strahlen schimmerte vor der undurchdringlichen Pracht des Gateways. Es war so schmerzhaft zu wissen, wie sehr er belogen worden war …

»Verflucht!« Yirella fuhr hoch. »Diese Erinnerungsroute hat sich einfach geöffnet. Entschuldige, mein Fehler. Dellian, konzentriere dich bitte. Fokussiere dich auf mich.«

Er lächelte sie an, während das Grau um sie herum wuchs.

»Ich liebe dich, Dellian. Erinnerst du dich daran?«

»Natürlich tue ich das.«

Sie küssten sich, als das Grau das Universum verfinsterte. Und sie fielen …

… in die Orbital-Arena. Ein Ort, den er bewunderte. Und ein einfacher Ort, ein gepolsterter Zylinder von siebzig Meter Länge und einem Durchmesser von einhundert Metern. Über ihm schwebten in der Luft dreißig Hürden: Orangefarbene Polyeder, so vertraut wie die Sternbilder in der Nacht. Oh, was sie für Spiele gespielt hatten! Der Spaß, die Siege und Niederlagen. Und ganz am Anfang hatte er alle Regeln gebrochen und einen anderen Jungen angegriffen, der Yirella wehtun wollte …

»O ja«, hauchte er. Und als er Yirella ansah, teilten sie die Begeisterung und all diese Erinnerungen, die aus ihrer gemeinsamen Jugend heraufwirbelten.

Dann ließ sie los.

»Nein!«, rief er.

Sie lächelte immer noch, als sie von ihm wegtrieb. Die Wand der Arena hinter ihr passte sich an und zeigte ihm Juloss, weit unter ihnen. Es wurde angegriffen. Tausende riesiger Olyix-Regulationsschiffe schossen darauf zu und glühten bernsteinfarben, als sie mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die obere Atmosphäre rasten. Pilzförmige Wolken stiegen an der Oberfläche auf, als Städte und Domänen vernichtet wurden.

»Nein!«, schrie er. »So ist es nicht passiert! Die Olyix sind unsere Freunde. Sie haben das nicht getan.«

»Ich habe den Flaggenball!«, rief Yirella ihm freudig zu. »Ich kämpfe mich zum Torring durch.«

Dellian kniff die Augen zusammen und sah sie in einem schützenden Körperanzug, während sie breit grinsend den blinkenden Flaggenball umklammerte. Der Torring des gegnerischen Teams hing im freien Raum, auf halber Strecke zum brennenden Planeten. Die Geschwindigkeit, mit der sie durch das All flog, war Furcht einflößend.

»Vorsichtig!«, rief er ihr zu.

Sie war auf dem Weg, den Siegtreffer zu erzielen und lachte entzückt.

Er sah den Spieler Nummer acht nicht, der auf sie zuschoss. Nur war es diesmal nicht mehr Nummer acht, sondern es war eine Jagdkugel der Olyix, die stark beschleunigte. Ihre Zielerfassungssysteme hatten sich auf Yirellas schlanken Körper ausgerichtet, als sie mühelos auf den Torring zuflog.

»Nein!«, schrie Dellian. Sein gepanzerter Anzug trieb ihn auf die Jagdkugel zu. Er prallte mit voller Wucht dagegen und brachte sie vom Kurs ab. Seine mit Krallen bewehrten Handschuhe kratzten über die glänzende Kugel und hinterließen lange Furchen in der zähen Hülle. Sie verbog sich, warf Blasen, als versuchte das, was sich darin befand, herauszukommen und mit ihm zu ringen. Er verstärkte seinen Griff und versuchte die Kugel in seinen Armen zu zerquetschen. Die reagierte, indem sie an seiner Brust weich wurde, ihn in sich aufnahm. Irgendwie wusste er, dass er perfekt hineinpassen würde.

Vor ihnen platzte Juloss auf und enthüllte das Ende des Universums, wo die silbernen Reste von Sternen elegante Flüsse aus Zwielicht bildeten und in das Nichts in ihrem Herzen stürzte. Daneben schimmerte ein goldenes Licht, das ihn weiterlockte.

Yirella landete auf der Oberfläche der Jagdkugel, mit gespreizten Beinen. Auf ihrer ebenholzschwarzen Haut glühten rote Hieroglyphen. »Das wird wehtun«, sagte sie ernst.

»Was? Yi, nicht …« Irgendwie blickte Dellian auf sich selbst hinab, auf die Jagdkugel, während Yirella perfekt auf ihm balancierte und hinuntergriff. Ihre Hand durchstieß die Hülle und der Schmerz war unglaublich. Sein Schrei ließ das sterbende Universum erzittern.

Der Schaden, den sie verursacht hatte, bildete lange Risse in der Kugel. Sie zerfetzte sie weiter, bog scharfkantige Abschnitte zurück und schleuderte sie wirbelnd ins Nichts hinaus. Er begann sich zu wehren, wand sich wie verrückt, um ihren gnadenlosen Fingern zu entkommen.

»Vertrau mir!«, bat sie. »Kämpfe nicht dagegen an, Del. Ich reiße den Neurovirus aus dir heraus.«

»Was?« Er schluchzte jetzt, der Schmerz war so intensiv, brannte durch jeden Nerv, um sein lebendes Hirn zu foltern.

»Ich liebe dich, Del, das weißt du. Nichts kann das aus dir herausreißen.«

»Ja.«

»Dann sag es!«, verlangte sie von ihm.

»Ich liebe dich.«

Ihre Hände rissen den letzten Rest der Jagdkugel auseinander – und entblößten seinen Olyix-Fünfling-Körper.

»Das kann nicht ich sein!«, klagte er.

»Ich liebe dich, Del. Auf ewig. Ganz gleich, wo uns das hinführt.«

»Hilf mir!«, flehte er sie an.

Das Ende des Universums umschlang sie, und seine letzten Fragmente bildeten einen stinkenden Strudel, der sie in den Tod der Ewigkeit hinabsog, zu dem goldenen Gottwesen an seiner Seite, das dort auf sie wartete. Yirellas Hände schnitten in das Fleisch des Fünflings.

Dellian fühlte, wie sich Finger um seinen Arm schlossen. Sie zog. Fünfling-Fleisch dehnte sich wie glitschiges Gummi, klebte an ihm, vermischte sich mit ihm, um ihm Kraft zu geben. Jetzt kämpfte er dagegen an, die fremden Gedanken der Hingabe an das Gottwesen am Ende der Zeit wurden in quälenden Rucken aus ihm herausgerissen.

»Yirella! Lass nicht los!«

Das Universum stürzte seiner Auslöschung entgegen, die Wände des Strudels wirbelten in einem tödlichen Mahlstrom aus Albträumen und Dämonen an ihm vorbei.

»Bitte!«, bettelte er.

Yirella riss nach Kräften daran, schrie vor Anstrengung wortlos auf. Langsam, während sich die sehnige, fremdartige Masse an jedem Zentimeter seiner Haut festsog, zog sie ihn aus dem Fünfling-Körper. Mit einem fast unerträglichen Ruck befreite er sich. Das ausgelöschte Universum war verschwunden.

Dellian zitterte heftig. Blendendes Licht flammte um ihn herum auf. Alles tat weh, aber der Schmerz war längst nicht mehr so stark wie noch vor wenigen Augenblicken. Er schüttelte seine Glieder, richtige menschliche Glieder, auch wenn sie immer noch von Drähten und Fasern umgeben waren, als hätte jemand ihn in einem Netz aufgefischt. Sein kurzes Haar brannte, während etwas noch die letzten Follikel aus seiner Kopfhaut zog.

Als seine Kraft schwand, hörte er auf, um sich zu schlagen und fiel auf das Bett. Er bekam keine Luft und seine Brust hob und senkte sich in dem verzweifelten Versuch, Atem zu schöpfen. Die Umgebung verschwamm ständig vor seinen Augen. Leute in medizinischen Kitteln drängten sich um ihn, blickten mit besorgten Mienen auf ihn herunter und redeten unverständlich schnell. Drei Meter von ihm entfernt drückte sich sein ganzes Team gegen eine geschwungene Glaswand. Sie hatten die Münder geöffnet und schrien, hatten Tränen in den Augen. Janc hämmerte an das Glas, Uret war auf die Knie gesunken. Tilliana weinte.

»Was verflucht …?« Die Worte waren ein raues Krächzen. Er drehte den Kopf.

Yirella lag neben ihm auf der Couch, die Schultern von Kissen gestützt. Ihre Kopfhaut war von einem Pelz aus seidenen weißen Strähnen verdeckt, die dünner waren als jedes Haar. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihn anblickte.

»Del?«

»Ich liebe dich«, sagte er. Dann schlugen die Erinnerungen mit der Wucht eines Tsunami über ihm zusammen, schleuderten ihn zurück auf die Matratze. »Die Heiligen sind tot«, verkündete er in die Runde und brach in Tränen aus.

2

LONDON

8. Dezember 2206

Das Zeit-Icon blitzte in Ollies Tarsus-Linsen auf. Es war das Image einer alten Seiko-Armbanduhr mit Zeigern, die von seinem Altme Tye gesteuert wurden. Es erzeugte in seiner Audio-Peripherale ein leises Uhrenticken. Antike Uhren waren gerade sehr populär – was nicht hieß, dass irgendjemand zu wenig Energie für eine Altme-Prozessor-Peripherale gehabt hätte, da sie alle mittels Körperwärme betrieben wurden. Aber es war trotzdem eine nachvollziehbare Modeerscheinung angesichts von Londons chronischem Mangel an Elektrizität und dem derzeitig absolut unzuverlässigen Solnet. Das Problem war nur, dass Ollie seine ersten vierundzwanzig Lebensjahre umgeben von rein digitalen Displays verbracht hatte. Deshalb brachten ihn analoge Anzeigen immer durcheinander. Er brauchte eine Sekunde, um zu kapieren, dass die Zeigerstellung der Uhr sechs Uhr bedeutete, also 18:00 Uhr. Das hieß, es war jetzt offiziell Abend. In der Zeit vor dem Ereignis, das jetzt alle Londoner »Blitz2« nannten, hätten die Leute auch ohne Uhr gewusst, dass es Abend war. Der größte Hinweis darauf wäre der alltägliche Sonnenuntergang gewesen. Aber jetzt gab es diesen Hinweis nicht mehr.

Falls die Sonne überhaupt noch unterging. Ollie vertraute keineswegs darauf, dass die Regierung irgendjemanden informiert hätte, wenn die Olyix das ebenfalls abgeschafft hätten. Als er zum Londoner Schild hochsah, begrüßte ihn der Anblick des Teufelshimmels, wie immer in den letzten zwei Jahren. Ein unheimlicher violetter Schimmer, der etliche Kilometer über seinem Kopf blühte. Wenn er die Augen vor dem intensiven Schein zusammenkniff, glaubte er manchmal Muster in dem Schillern auf der dicken Barriere aus künstlich verdichteter Luft zu erkennen, die die Stadt schützten. Sie waren wie Milchwölkchen im Kaffee, bewegten sich aber schneller als der Schall.

Die Atmosphäre außerhalb dieses Schutzschildes war mittlerweile vollkommen vernichtet, zerstört durch die immense Menge von Energie, die die Olyix-Befreiungsschiffe auf Tausende von Stadtschilden rund um den Globus abfeuerten. Sie hatten die Luft so sehr aufgeheizt, dass die Verdunstung der Ozeane ein bislang unvorstellbares Ausmaß erreicht hatte. Klimaforscher redeten in den Resten von Solnet über einen sogenannten »Venus-Umkehrpunkt«, aber Ollie wusste nur, dass die Luft außerhalb des Schildes zu einem permanenten heißen Nebel geworden war. Pflanzen überlebten die hohen Temperaturen und die aggressive Feuchtigkeit nicht. Und die Tierwelt starb in einer Katastrophe, die selbst die Feuerstürme am Pacific Rim aus dem Jahre 2056 überstiegen.

Vor ein paar Monaten waren Lolo und er an den Rand des Schildes gefahren, draußen nach Epsom, nur um zu sehen, ob es wirklich so schlimm war, wie alle behaupteten. Dort in den verlassenen Vorstädten verdichtete sich das violette Glühen zu schlanken Bändern aus Blitzen, die um den Rand herum knisterten. Diese erlaubten den Dummköpfen einen Blick auf das, was draußen lag: Sie hatten in den kurzen Pausen dieses turbulenten Smogmantels die Survey Hills gesehen. Jenseits dieser riesigen toten Marsch, in deren Würgegriff London jetzt lag, erhoben sich zerklüftete Hänge in einer trostlosen, höllischen Landschaft mit dampfendem Boden, der mit den schlammigen Resten von Vegetation überzogen war. Jede Spur von menschlichem Leben, die uralten Städte, die eleganten Dörfer, die bis in die Zeiten von mystischen Königen zurückreichten, die neuen, den Kohlendioxidgehalt senkenden Wälder, die man während des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts so triumphierend angepflanzt hatte, waren durch die Nachwirkungen des Angriffs der Invasoren ausnahmslos vernichtet worden.

Was sie gesehen hatten, hatte ihn natürlich auch deprimiert, aber seine Wut und Entschlossenheit waren von seinem schlechten Gewissen noch verstärkt worden. Die Olyix haben die Erde getötet und ich habe ihnen geholfen. Das hatte ich nicht gewollt und ich hatte es nicht gewusst. Aber das konnte die Scham nicht von ihm nehmen.

Er warf dem Teufelshimmel einen letzten hasserfüllten Blick zu und ging wieder zu dem kleinen Brückengewölbe zurück, das ihm jetzt als Behausung diente. Eine sehr wohlwollende Beschreibung für einen gemauerten Schuppen mit einem Dach aus Kohlenstoffplatten. Sie hatten es in der Nähe der Bellenden Road gefunden, eingezwängt zwischen den hübschen Häusern von Holly Grove und der alten Eisenbahnlinie. Zuerst hatte er gezögert, dort einzuziehen. Die Gleise ähnelten zu sehr denen, an denen seine alte Gang, die Southwark-Legion, ihr Hauptquartier gehabt hatte. Und jedes Mal, wenn er hinausging, peinigten ihn nicht nur schmerzhafte Erinnerungen, sondern es bestand auch die Gefahr einer Mustererkennung vonseiten der Behörden. Er stand immer noch auf der Liste der meistgesuchten Kriminellen der Sonderabteilung, also verfügten ihre G8Turings mit Sicherheit über sein Profil. Wenn sie jetzt auf die Idee kämen, er wäre emotional instabil und müsste sich an Vertrautes klammern? Sie hätten dieses schäbige, von Efeu zugewucherte Eisenbahngewölbe als psychologische Krücke interpretiert.

Oder …

»Du bist ja so was von paranoid, was die Polizei angeht«, wie Lolo jedes Mal antwortete, wenn er diese Möglichkeit auch nur erwähnte.

Ollies rationale Seite wusste, dass#sie#/errecht hatte. Allen Informationen zufolge, die er bei seinen vorsichtigen und seltenen Zugriffen auf die Reste von Solnet hatte abrufen können, stand er bei den Behörden immer noch weit oben auf der Liste der gesuchten Verdächtigen. Sie würden niemals die Beteiligung der Legion an dem Überfall in Croydon vergeben oder vergessen, und ebenso wenig das Desaster an der Lichfield Road. Dennoch würde die Sonderabteilung keine Überwachung über die gesamte Strecke von Londons unbenutzten Eisenbahngewölben einrichten, nur für den Fall, dass er wirklich so erbärmlich war und eine vertraute Landschaft als Beruhigung brauchte. Außerdem unterstützte die Regierung selbst nach zwei Jahren Blitz2 die Bewohner der Stadt nach wie vor nur minimal. Ihre gesamten Bemühungen waren darauf gerichtet, den Schild aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung mit den nötigsten Nahrungsmitteln zu versorgen. Alles andere war zweitrangig – behaupteten sie jedenfalls. Aber Ollie war sich dessen nicht so sicher. Die Sonderabteilung war wirklich sehr erpicht darauf gewesen, ihn zu fassen.

Der lange Hauptraum des Gebäudes bestand aus unverputzten Ziegelwänden mit Fenstern aus Milchglas, die das Leuchten des Schildlichts dämpften. Eine perfekte Umgebung für sein kleines industrielles Unternehmen. Zuletzt hatte hier eine Keramikfirma ihren Sitz gehabt, die nur auf Kundenbestellung gearbeitet hatte und vor über einem Jahrzehnt dichtgemacht hatte. Nur ihre Brennöfen waren noch da. Fünf davon standen in der Mitte des Raumes. Es waren energiefressende Klötze, die künstlerische, bunte Glasuren bei Temperaturen von weit über tausend Grad brannten. Ihre Klappen waren alle fest verschlossen, aber Ollie roch dennoch den Holzrauch in der feuchten Luft, als er an ihnen vorbeiging. Er fluchte.

Mehr als einen Monat Arbeit hatte er investiert, die Brennöfen zu modifizieren. Die inneren Schamottsteine hatte er mit hocheffizienten Thermoelementen ausgekleidet, um aus allem, was man darin verbrannte, Energie zu gewinnen. Feuer war in London absolut verboten, ebenso wie in sämtlichen anderen Städten der Erde, die von den Olyix belagert wurden. Und Feuer war auch das Einzige, in dessen Ablehnung sich sämtliche Bürger heutzutage einig waren, weil es den kostbaren und begrenzten Sauerstoff verbrauchte, den die Menschen zum Atmen benötigten. Wenn du eins siehst, melde es. Und häufig wurde der Brandstifter übel zusammengeschlagen, bevor die Polizei und die Feuerwehr eintrafen. Ollie konnte sich noch an das erste Mal erinnern, als er einen Feuerwehrwagen über die Straße hatte rasen sehen. Ein prachtvolles Bodenfahrzeug aus der Historie, mit blinkenden Lichtern und lauter Sirene. Lolo und er waren von seinem Aussehen fasziniert gewesen, dann hatten sie ihm zugejubelt und der Besatzung wie zwei ehrfürchtige Schulkinder zugewunken. Seit dem Anfang von Blitz2 waren Dutzende dieser großen Fahrzeuge aus den Museen geholt, instandgesetzt und wieder in Betrieb genommen worden.

Deshalb war es ein durchaus gefährliches Unternehmen, Holz in den Brennöfen zu verfeuern, und man musste es vor den Nachbarn sehr gut verbergen. Nachdem Ollie die Thermoelemente angepasst hatte, hatte er die alten Klimaanlagenröhren von den Dachbalken entfernt und sie umgeleitet. Ventilatoren zogen Luft in die Brennöfen und versorgten das Brennholz mit genügend Sauerstoff, bevor sie den Rauch absaugten und ihn in den alten Überlaufkanal der Eisenbahn hinableiteten, wo es sich harmlos zwischen den Fettbergen im Abwasser und den Ratten auflösen konnte.

Auf einer Bank am Ende der Brennöfen glänzte ein einhundertzwanzig Zentimeter langes Modell des Nightstar-Raumschiffs silbrig im Licht des Teufelshimmels, das durch das Fenster hereinfiel. Ollie hatte bis vor zwei Monaten noch nicht einmal etwas von dieser Science-Fiction-Show gehört, aber Hongkong hatte damals, 2130, hundert interaktive Episoden herausgebracht. Gesponsert hatte das ein Modehaus, das mittlerweile längst nicht mehr existierte. Vor Blitz2 hätte er das ganze Solnet nach jedem Bit an Information darüber abgesucht. Zurzeit jedoch war es keine gute Idee, sich ins Solnet einzuloggen, außer für einfachste Kommunikation. Zu viel selbstanpassende Darkware existierte im Netzwerk, Überreste der Olyix-Sabotage.

Von diesem Modell hatte er über eine Kontaktperson auf dem Markt in der Rye Lane erfahren, kurz nachdem er angefangen hatte, sich nach Sammelobjekten zu erkundigen. Erwachsene bezahlten lächerliche Summen für eigenartige trashige Fiction-Erinnerungsstücke. Von der Existenz dieses Genres hatte er nicht einmal gewusst, bis er Karno Larsen entdeckt hatte – seine goldene Verbindung zu Nikolaj und zu seiner Rache.

Er hatte das Modell nicht einmal stehlen müssen. Niemand bezahlte zurzeit irgendetwas für solche Liebhabereien, also war der Besitzer nur zu bereit gewesen, es gegen eine voll aufgeladene Quantenbatterie für den Heimgebrauch einzutauschen. Ollie hatte das Modell auf einem Fahrradanhänger nach Hause geschafft, und er hatte zugeben müssen, dass es wirklich superb war. DieNightstar sah aus, als wäre sie von einer Insektenspezies entworfen worden, die auf Zero-Nark unterwegs war. Zudem war sie ein handgemachtes Einzelstück, was das Modell zu einem echten Kunstwerk erhob. Er erwartete fast, dass es abheben und mit einem Lichtblitz im Hyperraum verschwinden würde.

»Es wird Zeit!«, rief Ollie.

»Ich weiß!«, antwortete Lolo aus einem Raum am anderen Ende. Früher war es das Büro der Keramikfirma gewesen; jetzt diente es ihnen als Schlaf- und Wohnzimmer. Für Ollie war es ein Platz, um zu schlafen und Sex zu haben, für Lolo aber war es ihr Heim, ihre Honeymoon-Suite, ihre Festung und ihre Burg, die sie vor den Schrecken von Blitz2 schützte. Deshalb ertrug Ollie die Bahnen von weißer, hauchdünner Leinengaze, die #sie#/er um das Bett herum aufgehängt hatte, die kleinen Kerzen mit den falschen Flammen, die einen süßlichen Moschusgeruch abgaben, um die Romantik zu unterstützen, und auch die Teppiche und kleinen Schälchen und Becher aus Perlmutt und Jade, die antiken Möbel aus schwarzem Chinalack, die sie aus einem verlassenen Haus weiter oben auf der Straße erbeutet hatten.

Lolo kam aus dem Raum und lächelte strahlend. #sie#/er war angezogen, als würden sie in eines der Londoner Restaurants aus der Zeit davor zum Dinner gehen. Da #sie#/er sich in #ihrem#/seinem weiblichen Zyklus befand, hatte #sie#/er sich für ein Kleid mit lila-weißem Blumenmuster und einem tiefen Ausschnitt entschieden. #ihr#/sein Gesicht war perfekt geschminkt, mit Highlighter und Rouge, und das Licht des Teufelshimmels schimmerte auf dem glänzenden kirschroten Lippenstift. #ihr#/sein Haar glitzerte in pfauenblauem Mohawk. Allein bei #ihrem#/seinem großartigen Anblick bekam Ollie einen Ständer.

»Du siehst großartig aus«, sagte er.

»Danke.«

Ein schneller Kuss in einer starken Parfümwolke, dann hielt Lolo einen Korb hoch, den sie mit einem Gingham-Karotuch abgedeckt hatte. »Gehen wir.«

Ollie warf im Spiegel einen prüfenden Blick auf seine Fleischmaske. Was Gesichter anging, war sie ganz okay. Er war zwar nicht allzu glücklich mit dem runden Kinn und der längeren Nase, und was die weiße Haut betraf, war er sich ebenfalls nicht sicher, aber die Grübchen waren ganz nett. Außerdem reagierte die Fleischmaske gut, wenn er irgendwelche Grimassen schnitt. Allerdings beeinträchtigte die Creme, die er auf seine eigene Haut auftragen musste, die subtileren Emotionen. Er behielt diese Fleischmaske konsequent die ganze Zeit auf, um zu vermeiden, dass G8Turings ihn mit ihrer Gesichtserkennung ins Visier nahmen. Aber der Preis der Freiheit waren die leichte Entflammbarkeit der Maske, trockene Haut und Ekzeme. Ollie hatte immer äußerst sorgfältig auf sein Äußeres geachtet, deshalb war diese Situation fast unerträglich für ihn. Glücklicherweise konnten Feuchtigkeitscremes und andere Hautcremes diese Krisen meistern – gegen entsprechende Kohle, versteht sich.

Er schnitt ein paar übertriebene Grimassen als letzten Test. »Wir können los«, verkündete er.

»Und ich wünschte, du müsstest dieses Ding nicht die ganze Zeit tragen. Du hast so ein entzückendes Gesicht. Ich liebe es, dich anzusehen.«

»Ich wünschte, du würdest nicht die ganze Zeit einen Büstenhalter tragen, aber he, so ist es nun mal.«

»Du Arsch! Denkt ihr Binären eigentlich nie an irgendetwas anderes?«

Ollie lachte, schlang seinen Arm um #sie#/ihn, und gemeinsam gingen sie hinaus. Sie setzten gleichzeitig ihre Sonnenbrillen auf. Ollies Brille ähnelte einer Skibrille, nicht gerade der Stil, den er bevorzugte, aber ihre dicken Ränder verhinderten, dass das Licht vom Teufelshimmel seitlich hindurchdrang. Selbst mit dem zusätzlichen Schutz, den ihm seine Tarsus-Linsen boten, bekam er Migräne, wenn er sich dem Licht zu direkt aussetzte.

Es war nicht weit zur Reedham Street, wo die Government Nutrition Agency eine öffentliche Küche im Gemeindezentrum eingerichtet hatte. Viele Leute waren dorthin unterwegs. Ollie kannte die meisten von ihnen aufgrund ihrer täglichen Besuche und nickte gelegentlich jemandem zu. Irgendetwas zu sagen war sinnlos, wegen des ständigen Hintergrundbrummens des Schildes, der Mühe hatte, das unaufhörliche Energiebombardement der Olyix-Schiffe abzuhalten, die versuchten, die Schildgeneratoren zu überlasten. Folglich wurden Gespräche sehr laut und zumeist dicht am Ohr geführt.

»Ich habe Mark heute gesehen«, sagte Lolo.

»Klar«, erwiderte Ollie, als sie das Ende der Chadwick Road passierten. Eine der großen alten Platanen hatte den Anfang der Belagerung überlebt, aber in den letzten zwei Monaten war ihr ebenfalls das Fehlen von Regen und das ewige Strahlen des Teufelshimmels zum Verhängnis geworden. Ollie war ein wenig traurig, dass sie jetzt ihre gelben Blätter abwarf. »Wer ist Mark?«

»Er bringt immer die Marshmallows.«

»Ah, der, okay.«

»Jedenfalls hat seine Freundin Sharon eine Schwester, die im Verteidigungsministerium arbeitet. Sie hat erzählt, dass einer der Seismologen jemandem in ihrem Büro erzählt hätte, die Olyix würden nicht mehr versuchen, den Schild zu untergraben. Sie setzen jetzt auf Zermürbungstaktik. Ihre Schiffe fliegen zu den besiedelten Sternensystemen, und wenn sie dort ankommen, unterbrechen sie die Energie, die diese Planeten an die Erde schicken. Dann fallen die interstellaren Portale aus, und wir haben keine Nährstoff-Pellets mehr für die Printer und auch keine Elektrizität, um sie zu betreiben. So hungern sie uns aus.«

Ollie unterdrückte ein Seufzen. Für jemanden, der in dem angeblich so exzellenten und auf Chancengleichheit beruhenden Schulsystem von Delta Pavonis erzogen worden war, war Lolo manchmal verflucht einfältig. »Das ist ein Haufen Blödsinn. Du musst aufhören, ständig diesen Klatsch aufzusaugen. Was du gerade gesagt hast, ist ein Paradoxon. Ich bin sicher, dass die Olyix zu den besiedelten Welten unterwegs sind, aber wenn es ihnen gelingt, die Energie zu kappen, die von Delta Pavonis und New Washington und all den anderen Welten zu uns geschickt wird, werden vor allem die Stadtschilde auf der Erde versagen.« Er deutete auf den Teufelshimmel. »Diese Monstermutter da oben wird uns auf den Kopf fallen, genau wie die letzten Monat in Berlin. Wir würden alle sterben – und genau das können sie sich nicht leisten. Nicht nach der Mühe, die sie sich gemacht haben, uns zu unterwerfen.«

»Das Schildversagen in Berlin hat aber nicht alle Bewohner getötet.« Lolo schmollte. »Nur diejenigen, die von dem Sturm erwischt wurden, als er einstürzte.« #sie#/er machte eine kleine Pause. »Und diejenigen, die ertrunken sind, als die Spree wieder in die Stadt geströmt ist.«

»Und zum Glück für alle anderen sind die Olyix ganz schnell in die Stadt geflogen und haben sie rasch in Kokons verwandelt, damit sie weiterleben können, mehr oder weniger«, spottete Ollie. »Diese Glückspilze. Sie dürfen mit eigenen Augen sehen, wie das Universum am Ende der Zeiten aussieht.«

»Du kannst einen so was von runterziehen.«

»Höchstwahrscheinlich werden die Olyix uns einfach aushungern, wenn die Energie von den besiedelten Welten abgeschnitten wird. Dann werden wir freiwillig in das Archenschiff marschieren, Million um Million um Million.«

»Das machen wir nicht! Die Menschen sind besser als das!«

»Nimm es einfach hin – wenn man die Wahl hat, in einem Tsunami aus zerstörter, superaufgeladener, giftiger Atmosphäre zu verrecken oder eine Chance sieht, als mutierter Freak-Kokon auf einer Trillionen Jahre langen Pilgerfahrt zu überleben, um dann einem Alien-Gottwesen gegenüberzutreten, was würdest du tun?«

»Ich würde jedenfalls nicht aufgeben, nein, ich würde widerstehen.«

Diese Aussage war eine Einladung in eine Welt von bösartigen Bemerkungen, die Ollie aber nicht betreten wollte. Nicht heute Nacht. »Und ich würde genau da neben dir stehen.«

Lolo umarmte ihn glücklich.

Das Bellenden-Gemeindezentrum war eine Halle, die achtzig Jahre zuvor auf dem Grundstück einer alten Schule errichtet worden war. Ihre Kunststoffmauern waren in der Art von traditionellen Londoner Ziegelsteinen geprintet worden, im Laufe der Jahrzehnte aber verblasst, sodass sie jetzt aussahen wie Mauern aus den verblichenen Bauklötzen eines Kindes. Ein ständiger Strom von Menschen bewegte sich durch den Eingangsbogen. Die meisten von ihnen hatten Beutel mit kalten Speisen dabei, die sie sich zu Hause geprintet hatten, als Beilage zu ihrer heißen Mahlzeit. Fast die Hälfte von ihnen waren Flüchtlinge, die beim Beginn der Olyix-Invasion in die Stadt geströmt waren. Alle, die auf dem Land oder in den Containerstädten gelebt hatten, waren gekommen und hatten unter dem Schild Schutz gesucht. Dadurch war die Bevölkerung Londons auf fast elf Millionen Menschen angewachsen. Sie drängten sich in alten, verlassenen Gebäuden zusammen und hatten nur wenige Annehmlichkeiten. Gemeinschaftlich, so lebten die meisten Leute heutzutage. Ollie hatte nichts dagegen. Das bot viel Anonymität.

Der Geruch von Speisen lag in der Luft, als sie die Treppen des Gemeindezentrums hinaufgingen. Die Haupthalle war eingerichtet wie ein improvisiertes Café, das nur bislang von niemandem organisiert worden war. Ein chaotisches Durcheinander aus Tischen und Stühlen nahm fast den ganzen Raum ein und über eine Wandseite zog sich eine Reihe von rostfreien Stahltresen. An einer Durchreiche, neben der zwei leicht bewaffnete Polizisten standen, wurden Rationen ausgegeben. Man konnte wählen, ob man sich die Rationen im Center kochen lassen oder mit nach Hause nehmen wollte. Die meisten Leute aßen in der Halle, weil es nur wenig Elektrizität in diesem Teil der Stadt gab. Wer hatte schon genug Kilowatt, um jeden Tag ein Essen zu erhitzen? Ollie stellte sich in die Schlange und hielt der Frau hinter der Durchreiche die Rationierungsmarke hin. Es war verblüffend einfach gewesen, sich dafür zu registrieren. Kurz nach dem Beginn der Belagerung hatte er Davis Mohans Identität gestohlen, einer seiner alten Nachbarn aus der Copeland Road. Als Lolo und er angefangen hatten, die Häuser in der Nachbarschaft zu erforschen, hatten sie Davis auf dem Küchenboden liegend gefunden. Er befand sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Verpuppung, sein Körper war eine Tonne aus modifizierten Organen, seine Gliedmaßen waren fast verschwunden, und er dämmerte in einem Zustand zwischen Ohnmacht und Bewusstsein. Für Ollie war es kein Problem, eine falsche Identität anzunehmen. Das hatte er Dutzende Male gemacht, als er noch in der Southwark-Legion gewesen war. Wenn überhaupt, war es jetzt noch viel einfacher. Als die Rationierung in jenen chaotischen Tagen eingeführt wurde, war Solnet auf eine Dark-Age-Version seiner selbst reduziert und die Kontrollen waren lächerlich gewesen.

Die Frau hinter der Durchreiche scannte seine Rationierungsmarke und gab ihm einen Streifen mit Pellets-Beuteln und ein Päckchen mit verschiedenen Geschmackspulvern.

Lolo trat vor. »Gibt es Lachspulver?«

»Tut mir leid, Süße, heute nicht. Aber ich habe Blaubeerpulver, wenn du magst. Es ist ziemlich gut, wenn du es mit Wasser mischst und es in eine Schale füllst. Am besten in einem Eiswürfeltablett.«

»Das ist ganz entzückend von dir, danke.« Lolo zog ein kleines Glas unter dem karierten Tuch des Korbs heraus. »Marshmallows mit Mandelgeschmack. Ich habe ein bisschen herumexperimentiert. Sag mir, was du davon hältst.«

Sie lächelten sich an. Ollie hatte den Eindruck, dass der Streifen mit Pellet-Beuteln, den sie Lolo gab, erheblich länger war als der, den er bekommen hatte. Er schüttelte staunend den Kopf. »Gibt es hier eigentlich jemanden, mit dem du nicht flirtest?«

»Ich flirte nicht!«, erwiderte #sie#/er entrüstet. »Ich bin nur nett und rede mit Menschen. Es würde dir nicht wehtun, wenn du es auch mal probierst. Immerhin stecken wir alle zusammen in diesem Schlamassel, weißt du?«

»Ich rede mit Leuten. Mit denen, mit denen ich reden muss.«

»Oh, ein Sturm zieht auf. Du bist so heiß, wenn du diese mürrische Mr. Ernsthaft-Stimme hast.«

»Ach, verflucht!«

»Pass auf, was du sagst, mein Freund. Hier sind Kinder.«

Sie stellten sich am Tresen an. Bei der ersten Station gab jeder von ihnen zwei Pellet-Beutel ab. Ollie warf einen Blick auf die Etiketten der Pulver, die man ihm gegeben hatte, und legte das für Butterhühnchen auf den Tresen.

»Du wirst die ganze Nacht danach riechen«, beschwerte sich Lolo.

»Hör auf zu nörgeln. Es riecht ebenso wenig nach Butterhühnchen, wie es danach schmeckt.«

Zwei Minuten später hatten sie es bis zur Servicestation geschafft. Lolo holte zwei Teller aus dem Korb. Ollie sah gleichgültig zu, wie der Kerl hinter dem Tresen einen Haufen von rötlich brauner Pampe auf seinen Teller löffelte. Es spielt keine Rolle. Du musst das einfach machen, damit du Bik und Gran retten kannst, sagte er sich.

Sie setzten sich an einen der Tische. Lolo nahm umständlich die zusätzlichen Speisen, die #sie#/er vorbereitet hatte, aus dem Korb. #sie#/er war aufgekratzt und kündigte fröhlich jede einzelne an. »Ich habe Salat gemacht, sieh mal, und ein bisschen Naan-Brot, obwohl es ehrlich gesagt mehr wie ein Pizzaboden aussieht. Und ein bisschen Schokoladenmousse als Nachtisch.« #sie#/er holte eine Flasche heraus, in der, wie Ollie hoffte, Apfelsaft war, weil die Flüssigkeit für seinen Geschmack viel zu gelb aussah. Alkoholische Getränke waren im Gemeindezentrum verboten.

»Danke«, sagte er.

»Das ist nicht einfach, weißt du? Ich würde mir etwas mehr Begeisterung wünschen.«

»Ich habe gerade keine übrig. Tut mir leid.«

Lolo seufzte wie eine Märtyrerin. »Schon klar.«

»Hör zu, ich bin dicht dran, verstehst du? Heute Abend sollte ich Larsen erwischen.«

»Ich will nicht, dass du verletzt wirst.«

»Ich tue den Leuten weh, schon vergessen?«

»Ollie, bitte …«

»Mach dir keine Sorgen, ich bin vorsichtig. Das weißt du doch.« Ollie nahm ein Salatblatt vom Teller. Das war ein Fehler. Es war im Grunde ein dünner grüner Keks, der in etwa so schmeckte, wie er sich den unverfälschten Geschmack von Seetang vorstellte, den man neben einem Abwasserrohr gezüchtet hatte.

Die Tische um sie herum füllten sich allmählich, und dadurch stieg auch der Lärmpegel. Kinder rannten herum und ältere Leute wurden von ihren jüngeren Verwandten zu Tischen geführt. Etliche Schwestern der Civic Health Agency patrouillierten durch die Halle und kümmerten sich um ihre Patienten, erkundigten sich bei Familien, ob es den Kindern gut ging.

Ein Pärchen hatte ein Neugeborenes dabei, das Ollie stirnrunzelnd betrachtete. »Wie können sie so was machen? Wie können sie ein Kind zu so einem Ort mitnehmen?«

»Gedd und Lillie-D? Das sind süße Leute und ihr Baby ist ein echtes Schätzchen. Ich habe ihn schon ein paarmal geknuddelt.«

»Warum? Ich meine, begreifen sie denn nicht, was hier passiert? Unsere Chancen, Blitz2 zu überstehen, sind null und nichtig. Wie können sie überhaupt ein Kind in diese Welt setzen?«

»Weil wir es uns nicht leisten können, die Hoffnung fahren zu lassen. Sieh ihn dir doch an, er ist hinreißend. Wir brauchen Babys, damit sie uns daran erinnern, warum wir leben.«

»Das ist keine Hoffnung, sondern dumm und selbstsüchtig.« Missbilligend schüttelte er den Kopf und biss in ein anderes Salatblatt. Er versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen.

»Guten Abend Leute, wie geht’s?«

Ollie sah hoch. Horatio Seymour stand am Ende des Tischs. Der leitende Manager half in diesem Teil von London ein halbes Dutzend Essensorganisationen der Gemeinde zu leiten. Er war früher irgendein hohes Tier bei der Benjamin-Agentur gewesen. Ollie war ihm sogar ein paarmal begegnet, als die Streetworker der Sozialhilfeagenturen versucht hatten, Bik und seine Parkour-Equipe dazu zu bringen, ihre Aktivitäten in eine Sporthalle zu verlegen. Die andere Begegnung war ein beunruhigendes Fast-Aufeinandertreffen an der Themse gewesen, kurz nachdem der letzte von Ollies Freunden aus der Legion getötet worden war.

Damit war Horatio jemand, der Ollies echtes Gesicht kannte. Jedes Mal, wenn er im Bellenden-Gemeindezentrum auftauchte, mit seinem neutralen Lächeln und seiner toleranten Haltung, fingen Ollies Nerven an zu flattern. Er wusste, wie dumm das war. Die Fleischmaske war tadellos. Trotzdem …

»Uns geht’s gut, danke«, antwortete Lolo. »Möchten Sie ein bisschen Zitronensaft?«

»Das ist Zitrone?«, platzte Ollie heraus.

»Ignorieren Sie bitte meinen Freund, er ist so ein Banause.«

Horatios Lächeln wurde etwas herzlicher. »Nein danke. Ihnen geht es also gut? Haben Sie tagsüber was zu tun?«

»Wir handeln«, antwortete Lolo. »Es läuft ganz gut.«

»Nichts allzu Illegales, hoffe ich.«

»Aber nein! Ich produziere Geschmackspulver. Wenn Sie noch ein paar Watt in einer Quantenbatterie übrig haben, akzeptiere ich das als Bezahlung. Ich kann die meisten Geschmäcker herstellen. Gemüse sind meine Spezialität – damit will ich natürlich die Leute hier nicht beleidigen.«

»Natürlich nicht«, gab Horatio zurück. »Freut mich zu hören. Sollten Sie jemals Hilfe brauchen, können Sie sich immer auf mich berufen. Ich bin kein Offizieller und gehöre weder zum Gemeinderat noch zur Polizei, okay?«

»Das ist sehr nett«, sagte Lolo. »Wir brauchen mehr Leute wie Sie.«

Horatio nickte liebenswürdig und ging weiter zum nächsten Tisch.

Ollie löffelte noch etwas von der Butterchicken-Pampe. »Ich mag ihn nicht.«

»Er ist ein guter Mann«, protestierte Lolo. »Du bist nur so schrecklich voreingenommen gegen Behörden. Nicht jeder in der Regierung ist automatisch ein korrupter Faschist. Außerdem, du hast ihn doch gehört – er gehört nicht mal zur Bürokratie.«

»Was macht er dann hier?«

»Er hilft den Leuten.« Lolo fuhr schwungvoll mit dem Arm durch den Raum. »Ohne Leute wie ihn, Leute, die sich um andere kümmern, wo wären wir da?«

»Wir würden die Barrieren durchbrechen, die dieser Mistkerl Zangari vor den interstellaren Portalen errichtet hat, und in ferne Welten verschwinden, wo wir in Sicherheit wären.«

»Nirgendwo in allen Galaxien ist man vor den Olyix sicher.«

»In den Exodus-Habitaten schon. Auch wenn wir es nie bis dahin schaffen werden.«

»Das werden wir«, behauptete Lolo. »Sobald du Larsen gefunden hast, haben wir ein echtes Druckmittel.«

»Ah, jetzt möchtest du also, dass ich ihn aufspüre?«

»Bitte rede nicht so einen Müll. Ich liebe dich, Ollie. Ich habe dir wirklich mein Leben geschenkt, weil ich an dich glaube.«

Das war eine Verantwortung, die Ollie überhaupt nicht hatte haben wollen. Aber er musste zugeben, trotz all #ihrer#/seiner albernen Meinungen und Neurosen und des fragilen Gebarens machte Lolos Gegenwart dieses Fegefeuer gerade so eben erträglich. »Ich werde ihn finden, keine Sorge. Ich bin wirklich dicht an ihm dran.«

Zwei Stunden nach dem Abendessen radelte Ollie zum Nordende der Rye Lane. Die östliche Seite wurde von einem großen alten Einkaufszentrum in Beschlag genommen, das schon vor mehr als dreißig Jahren aufgegeben worden war. Hinter seiner verrammelten Fassade gammelte es vor sich hin und hatte etliche Schichten von Unkraut und Moos angesetzt, während die Stadtplaner mit dem Gemeinderat und der Planungsabteilung darüber verhandelten, diesen großen Bauplatz in Luxuswohnungen zu verwandeln. Seit die Belagerung angefangen hatte und der Solnet-Handel zum Erliegen gekommen war, hatten die Händler ihre eigene Verwendung für den Platz gefunden. In den alten Läden hatten sie ihre Buden aufgebaut, in denen manchmal nur ein überoptimistischer Heranwachsender auf einem Stuhl hockte und eine Kiste mit geklautem Schrott anpries. Die realistischeren Händler hatten mit Maschendraht gesicherte Kioske und auf beiden Seiten einige harte Kerle postiert, die ihre Waren schützten. Mittlerweile hatte Ollie zu einigen von ihnen bereits gute Beziehungen geknüpft. Er fuhr mit dem Fahrrad zu Rebecca The-L, die in ihrem üblichen Gothic-Kleid aus schwarzer Spitze hinter dem Tresen stand. Ihre druidenhaften violetten Dreadlocks reichten ihr bis zur Taille.

»Daaavis«, begrüßte sie ihn gedehnt. »Siehst guuut aus.«

»Bist selbst auch nicht gerade trashy.«

»Bringst du mir ein paar förderliche KiWis?«

»Sehr förderlich.« Ollie nahm drei Quantenbatterien aus der Fahrradtasche.

Rebecca The-Ls weltentrücktes Nark-User-Lächeln verstärkte sich, als sie ihm die Batterien aus der Hand nahm und die erste in eine Ladestation auf dem Kiosk schob. Sie stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als sie ablas, wie viel Kilowatt er ihr gebracht hatte. »Beeindruckend. Hast wohl eine Direktverbindung nach Delta Pavonis?«

»So ähnlich. Also, kommen wir ins Geschäft?«

»Davis, ich weiß Qualität zu schätzen und du hast mich noch nie enttäuscht.«

»Du hast sie?«

Sie deutete auf einen ihrer Schläger. Der holte einen kleinen Aluminiumkoffer aus dem Kiosk und warf Ollie dabei einen Blick voller Abscheu zu.

»Mach nur«, sagte Rebecca The-L, während ihr Gesicht wieder diesen verträumten Ausdruck annahm.

Ollie öffnete die Schlösser und hob den Deckel einen Spalt an. In der schützenden Schaumschicht des Koffers lagen zwei synthetische Schnecken von der Größe seines kleinen Fingers. Ihre dunkle Haut glitzerte, als wären sie mit funkelndem Sternenstaub besprenkelt worden. Sie waren in irgendeinem illegalen Labor hergestellt worden, das mit achtbasiger Hachimoji-DNA arbeitete und damit unnatürliche Komponenten in ihre ursprünglichen Körper einarbeitete. Sie hatten statt der natürlichen Nervenzellen einer Schnecke einen Bioprozessor-Cluster. Er befahl Tye, seinem Altme, sie zu pingen. Daten liefen über seine Tarsus-Linsen und bestätigten ihre Funktionalität. »Wir sehen uns«, sagte er zu Rebecca.

»Du siehst nicht besonders gefährlich aus, Davis. Du hast ein nettes Gesicht und wirkst arglos. Aber deine Augen verraten dich. Wenn ich hineinblicke, sehe ich eine Tiefe, die aus der Finsternis entspringt.«

»Ja … klar. Bis später.« Ollie fühlte, wie Rebecca ihn beobachtete, als er auf seinem Fahrrad davonfuhr. Es kostete ihn viel Selbstbeherrschung, nicht zurückzublicken.

Der nächste Kiosk gehörte Angus Ti, der behauptete, er könnte alles besorgen, was man wollte. Er hatte allerdings längst nicht so gute Beziehungen wie Rebecca The-L. Ollie bot ihm zwei Quantenbatterien an, die er in den Brennöfen aufgeladen hatte. »Ich weiß zwar nicht, wo du ständig Elektrizität herbekommst«, sagte Angus, »aber auf jeden Fall macht dich das zu meinem wertvollsten Lieferanten.«

»Ich helfe gern. Also, was hast du anzubieten?«

Nach relativ gutmütigem Feilschen löste er neun Tuben Proto-Kohlehydrate-Pellets und eine bunte Mischung von Geschmackspulvern ein, außerdem einen Beutel mit leeren Quantenbatterien. »Ich will das Vorkaufsrecht, wenn sie voll sind«, erklärte Angus, als er sie über den Tresen schob. »Du weißt, dass ich hier weit und breit die besten Deals anbiete.«

»Na klar.« Ollie streckte die Hand aus. »Also …«

Angus rückte die eigentliche Ware heraus – ein Paket Zero-Nark-Pads.

»Schon besser.« Ollie hatte seit dem Beginn der Belagerung kein Nark mehr benutzt, aber Lolo hatte nicht aufgehört. #sie#/er hatte sich zwar bemüht, #ihren#/seinen Konsum herunterzufahren, aber #ihre#/seine Abhängigkeit machte Ollie allmählich Sorgen. »He, kannst du noch ein bisschen Klebeband drauflegen?«

Angus warf ihm einen prüfenden Blick zu, dann holte er eine halbe Rolle unter den Tresen hervor. »Willst du noch was? Meine Schuhe vielleicht? Oder eine Nummer mit meiner Freundin?«

Ollie lachte und schnappte sich die Rolle. »Das Klebeband genügt. Wir sehen uns.«

»Na klar. Wofür brauchst du das überhaupt?«

»Ich will mal ausprobieren, ob ich auf Bondage stehe.«

»Pass auf mit dem Scheiß, Junge. Dabei haben Leute sich schon verdammt wehgetan.«

»Danke.« Ollie wandte sich vom Kiosk ab. »Da spricht die Erfahrung.« Er konnte sich die Handbewegung vorstellen, die Angus hinter seinem Rücken machte.

Ollie benötigte mit dem Fahrrad fast eine Stunde von der Rye Lane nach Dulwich. Heutzutage gab es so gut wie keine freie Strecke. Zwei Jahre waren verstrichen, und immer noch hatte niemand die defekten Taxez und Cabez und Bagez weggeräumt, die sämtliche Straßen verstopften. Mittlerweile wurde es immer schlimmer, weil die Leute anfingen, einfach ihren Müll dort abzuladen, wo es ihnen gerade passte. Außerdem verlief der größte Teil seiner Strecke bergauf, was ihn ordentlich ins Schwitzen brachte. Das wiederum war ein Fiasko für sein Gesicht unter der Maske. Er hatte in der Zeit davor nie über das Londoner Metro-Hub-Netzwerk von Connexion nachgedacht. Es war einfach da. Jetzt waren Entfernungen wieder schmerzhaft real geworden, ein Handicap aus Mühe, Schweiß und Zeit. Als er mit brennenden Beinen weiterstrampelte, konnte er nur daran denken, einfach auf sein altes Boardez zu springen und ein letztes Mal mühelos über den Zement zu rollen. Dass er es nicht reaktivierte, lag nicht an zu wenig Elektrizität, aber eine derartige Verschwendung würde zu viel Aufmerksamkeit erregen.

Er erreichte das Ende der Lordship Lane und wandte sich westlich in Richtung der A205. Die Straße führte zwischen Sportplätzen entlang, die jetzt nur noch knochentrockene Flächen aus steinharter Erde waren, umzäunt von stacheligen, toten Hecken. Aber die Tore standen noch. Ihre abblätternde weiße Farbe schimmerte sonderbar unter dem strahlenden Teufelshimmel.

Hinter den Sportplätzen wichen die Hecken hohen Mauern, die große Häuser schützten. Ollie hörte auf zu treten und rollte langsam weiter, bis er ein schickes dreistöckiges zylinderförmiges Haus erreichte. Es hatte eine gefakte Tudorfassade und gehörte einem gewissen Brandon Schumder. Am Ende einer kurzen Schotterauffahrt versperrten hohe Tore den Weg, deren eiserne Spitzen am oberen Rand keineswegs nur Zierrat waren. Allerdings erwartete er nicht, dass sie ein großes Problem darstellten. Stattdessen durchströmte ihn Genugtuung, dass er endlich hier angekommen war.

Ohne Solnet hatte er zwei Jahre gebraucht, in denen er auf Märkten gehandelt und Kontakte aufgebaut hatte, mit Kilowattstunden oder Nark gezahlt und seine eigenen Informationen für ein einziges Ziel eingetauscht hatte: Nikolaj aufzuspüren. Ollie hatte sie zwar immer noch nicht gefunden, aber er wusste jetzt sicher, dass Nikolaj und Jade für die Paynor-Familie arbeiteten, einen der großen Verbrecher-Clans, der in Nord-London operierte. Also musste er jetzt nur noch einen Weg finden, an die Paynors heranzukommen. Aber das war eine verschworene Bande und heutzutage schotteten sie sich noch mehr ab als früher. Aber genau darin war er gut: in Planung. Diese Fähigkeit war so etwas wie seine Superkraft und einer der Hauptgründe gewesen, warum die Southwark-Legion niemals erwischt worden war. Er musste nur einen Ansatzpunkt finden, mit dem niemand rechnete.

Er hatte sich unauffällig umgehört und war auf den Namen Karno Larsen gestoßen. Der hatte unter anderem als Geldwäscher der Paynor-Familie in der Zeit vor Blitz2 gearbeitet. Er hatte illegale Wattdollar gewaschen und sie dann in das legale Banksystem eingeschleust. Es gab jede Menge Gerüchte über Karno, aber an konkrete Informationen, zum Beispiel seine Adresse, war schwer heranzukommen. Zwei Kleinganoven hatten angedeutet, dass Brandon Schumder etwas wissen könnte.

Ollie starrte von der anderen Seite des freien Weges auf die Tore und hob seinen Arm, um einen Scan durchzuführen. Er hatte etliche Systeme aus dem alten Tarnanzug gerettet, den er bei seinen Überfällen mit der Legion getragen hatte. Es war sinnlos, ihn jetzt anzulegen. Nicht einmal der nebelgraue Stoff hätte ihn unter dem durchdringenden Licht des Teufelshimmels verbergen können. Also hatte Lolo in einer Marathon-Mecker-Sitzung einige Systeme mit der Hand in seine Motorradlederjacke eingenäht, zusammen mit einer Schicht aus gepanzertem Stoff.

Tye schickte die Ergebnisse auf seine Linsen. In den Toren und vor allem auch im Schloss strömte keine Energie. Also war nicht einmal Brandon Schumder so wohlhabend, dass er sich einen solchen Stromverbrauch leisten konnte. Ollies Tarsus-Linsen zoomten das Tor heran und zeigten eine dünne Kette, die die beiden Flügel zusammenhielt. Ein Vorhängeschloss hing daran herunter, dessen glänzendes Messinggehäuse geradezu nach Aufmerksamkeit schrie.

»Viel zu leicht«, murmelte er misstrauisch. Aber nein, ein Scan der gebogenen Hauswand ergab keinerlei aktive elektrische Leitungen. Ein Zeichen der Zeit. Vor Blitz2 hatten sich nur die wirklich Reichen ein solches Haus leisten können. Aber materielle Dinge waren heutzutage kein Maßstab für Wohlstand mehr. Aus diesem Grund standen persönliche Schutzmaßnahmen bei niemandem mehr sonderlich weit oben auf der Liste.

Ollie betastete den, wie er ihn nannte, Versicherungskragen – ein schwarzes Band mit einem Spitzenrand, das so eng um seinen Hals lag, dass es auch als Tätowierung hätte durchgehen können. Es war eine alberne, nervöse Geste. Sein Masken-Icon war ein solider, gleichmäßig leuchtender Punkt auf seiner Tarsus-Linse. Aber bedachte er, mit wem er sich da anlegte, war eine kurze Überprüfung keineswegs Paranoia. War Nikolaj wirklich so gut, wie alle behaupteten, hatte sie vielleicht schon gehört, dass er sich nach ihr erkundigt hatte.

Zielstrebig ging er zu den Toren und drückte eine kleine Kugel Thermon auf den Schlossbügel. Es flammte gelblich auf und das Metall schmolz. Die Sensordaten zeigten ihm, dass weder jemand auf der Straße war noch hinter den trockenen Büschen lauerte. Technisch gesehen war es Nacht. Es war schwer zu beurteilen, aber der violette Schein vom Himmel war vielleicht etwas schwächer geworden. Im Haus sah er Lichter, in den Fenstern im ersten Stock.

Er schloss das Tor hinter sich wieder und fuhr mit dem Fahrrad zur Haustür. Es war keine lange Strecke, aber ihn beschlich ein Gefühl, das einen Schub von bittersüßen Erinnerungen auslöste. Er hatte immer die Legion hinter sich gehabt, wenn sie Überfälle oder Einbrüche begingen. Jetzt begleiteten ihre Phantomgesichter ihn die Auffahrt hinauf. Tye schickte ihm Daten über das Netzwerk des Hauses auf die Linsen. Die Signalstärke war sehr klein, aber sie ermöglichte trotzdem eine Verbindung mit den Resten von Solnet. Ollie schickte ein Darkware-Paket in die Nabe.

Die Haustür war eine weitere nachgemachte Monstrosität aus der Tudor-Epoche – protzige Paneele mit eisernen Bolzen. Er nahm einen Streifen Attackband aus der Fahrradtasche und wollte ihn gerade an dem Schloss anbringen, als Tye meldete, dass seine Darkware das Netzwerk des Hauses vollständig kontrollierte. Ollie zog die Lähmungspistole und befahl der Haustür, sich aufzuschließen. Ein leises Klicken bestätigte, dass sie gehorcht hatte, und er trat sie auf. Dann stürmte er ins Innere wie ein Schläger aus einer Sumiko-Interaktivshow, was seine Aufregung noch steigerte. Es war zwar nicht mit dem Erregungslevel vergleichbar, das er bei den Überfällen der Legion empfunden hatte, aber trotzdem war er zuversichtlich und sehr konzentriert.

Die getäfelte Eingangshalle war lang und dunkel und endete an einer breiten, geschwungenen Treppe. »He, Motherfucker!«, brüllte er. »Komm raus! Sofort! Ich will mit dir reden!«

Tye sagte ihm, dass das Altme von irgendeiner Person sich mit einem Haus-Netzwerk-Hub im Obergeschoss verband und ihn anwies, einen Notruf an den Polizei-G8Turing abzusetzen. »Abfangen!«, befahl er seinem Altme. Die Icons veränderten sich und bestätigten, dass er die einzige Hilfe war, die Schumder bekommen würde.

»Scheißidee, Brandon Schumder«, sagte er laut. »Selbst wenn du zu den Cops durchgedrungen wärst, könnte mein Dark-Ops-Team in deinem Haus jede taktische Einheit abschlachten, bevor sie auch nur die Haustür erreichen. Und jetzt schaff deinen Arsch wie ein braver Junge zu mir nach unten oder es drohen Konsequenzen.« Die Phantomgesichter, die ihn eskortierten, lächelten anerkennend, als er sich ihre Reaktion auf Schumders panischen Hilferuf vorstellte.

»Nicht schießen!«, rief jemand aus dem Obergeschoss. »Bitte, wir sind nicht bewaffnet.«

Brandon Schumder tauchte am oberen Treppenabsatz auf. Er war größer als Lolo und so dünn, dass Ollie ihn für krank hielt. Dann tauchte Mensi, seine Frau, hinter ihm auf. Sie war fast genauso groß wie er und genauso dünn. Ollie konnte einfach nicht fassen, wie reiche Leute lebten. Kosmetika und Anti-Aging-Prozeduren, klar, wer würde das nicht machen, wenn er genug Geld hatte? Aber diese Scheiße hier war einfach unheimlich.

»Kommt runter!«, befahl er.

»Ja, sicher«, sagte Schumder ängstlich. Er setzte behutsam einen Fuß auf die erste Stufe, als erwartete er einen elektrischen Schlag. »Nehmen Sie, was Sie wollen. Alles. Wir machen Ihnen auch den Safe auf.«

»Weiter, los, komm!«

Schumder war noch vier Stufen vom Boden entfernt, als Ollie Mensi mit der Betäubungspistole außer Gefecht setzte. Sie zuckte hilflos, ein gepresstes Keuchen kam aus ihrer Kehle, und dann brach sie zusammen.

»Nein!«, schrie Schumder und bemühte sich, sie aufzufangen. Er schaffte es bis zum Boden des Flurs, wo die beiden in einem Durcheinander von Gliedmaßen stürzten, als Mensis Gewicht ihn zu Boden riss. Ollie schoss auch auf ihn.