Die Bourne Lüge - Robert Ludlum - E-Book

Die Bourne Lüge E-Book

Robert Ludlum

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Beschreibung

Manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht zu kennen

Jason Bourne will vergessen. Seit dem Tod seiner Partnerin, der temperamentvollen Treadstone-Agentin Nova, arbeitet er vorzugsweise allein und denkt so wenig wie möglich zurück. Doch dann holt ein längst vergangener Einsatz ihn plötzlich wieder ein: Vor drei Jahren waren Nova und er auf Mission im Baltikum. In Estland sollten sie einen russischen Doppelagenten vor dem Zugriff eines mysteriösen Killers bewahren. Die Mission scheiterte. Doch nun ist der Mann wiederaufgetaucht - lebend. Hat man Bourne von Anfang an getäuscht? Die Suche nach der Wahrheit wird zum erneuten Wettlauf mit dem Tod.

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Das Buch

Manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht zu kennen.

Jason Bourne will vergessen. Seit dem Tod seiner Partnerin, der temperamentvollen Treadstone-Agentin Nova, arbeitet er vorzugsweise allein und denkt so wenig wie möglich zurück. Doch dann holt ein längst vergangener Einsatz ihn plötzlich wieder ein: Vor drei Jahren waren Nova und er auf Mission im Baltikum. In Estland sollten sie einen russischen Doppelagenten vor dem Zugriff eines mysteriösen Killers bewahren. Die Mission scheiterte. Doch nun ist der Mann wiederaufgetaucht – lebend. Hat man Bourne von Anfang an getäuscht? Die Suche nach der Wahrheit wird zum erneuten Wettlauf mit dem Tod.

Die Autoren

Robert Ludlum erreichte mit seinen Romanen, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, weltweit eine Auflage von über 300 Millionen Exemplaren. Er verstarb im März 2001. Am Ende des Buches finden Sie ein ausführliches Werksverzeichnis des Autors. Brian Freeman hat über zwanzig Romane geschrieben. Seine Bücher wurden mit dem Thriller Writers Award und dem Macavity Award ausgezeichnet sowie für zahlreiche weitere Preise nominiert.

Weitere Informationen unter heyne.de/ludlum

Robert Ludlum

Brian Freeman

Die Bourne Lüge

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Norbert Jakober

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe THEBOURNETREACHERY erschien erstmals 2022 bei G.P. Putnam’s Sons.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 02/2024

Copyright © 2021 by Myn Pyn LLC

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Rainer Schöttle

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock.com/Efteski Studio

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-30919-0V001

www.heyne.de

|Vor drei Jahren

Aus dem Türeingang eines geschlossenen Antiquitätenladens beobachtete der Mann, der als Jason Bourne bekannt war, den Weihnachtsmarkt auf dem Raekoja plats, dem Rathausplatz der estnischen Hauptstadt. Gleich war es so weit. Er musste den richtigen Moment abwarten und dann schnell handeln, um seine Zielperson in Sicherheit zu bringen. Die Fluchtroute hatte er bereits im Kopf. Er und Nova waren sie zigmal durchgegangen. Es ging darum, mit der Zielperson zur Kullassepa-Straße zu gelangen und sich so schnell wie möglich vom Rathausplatz zu entfernen. Jenseits der mittelalterlichen Stadtmauer würden sie schließlich den vereinbarten Treffpunkt bei der Alexander-Newski-Kathedrale erreichen.

Der Plan war gut – das Problem war die Umsetzung. In einer so dichten Menschenmenge hatte ein Killer tausend Gelegenheiten, unbemerkt zuzuschlagen.

Er spürte die beißende Kälte des Dezemberabends im Gesicht. Die dünne Neuschneedecke war von Hunderten Schritten zu glitschigem Matsch zerstampft worden. Auf den Stufen des spätgotischen Rathauses sang ein Kirchenchor und wetteiferte mit dem aufgeräumten Geplauder der Marktbesucher. Zwischen den Dächern der Marktstände baumelten Lichterketten, und in der Mitte des riesigen Platzes ragte ein fünfzehn Meter hoher Weihnachtsbaum in die Höhe. Von den Glühweinständen wehte ihm Zimtduft in die Nase.

Über Funk hörte Bourne den vertrauten britischen Akzent seiner Treadstone-Partnerin. »Von Kotow schon etwas zu sehen?«, fragte Nova.

Bourne blickte zu dem Torbogen gegenüber. Ein Durchgang führte zu dem Restaurant, in dem die baltischen Verteidigungsminister mit Kollegen einiger Nachbarländer beim Abendessen saßen. »Noch nicht. Er sollte aber jeden Moment auftauchen.«

»Du hast Gesellschaft«, warnte Nova.

»Langer Bart, Fellmütze?«

»Exakt.«

»Wie viele außer ihm?«, fragte Bourne nach.

»Mindestens vier. Ich glaube, Holly hatte recht. Der FSB hat ein Killerkommando auf Kotow angesetzt.«

Bourne ließ seinen Blick über den Rathausplatz schweifen. Etwa zwanzig Meter entfernt sah er Nova bei einem Stand, der deutsche Nussknacker anbot. Sie trug ein Barett über dem langen schwarzen Haar, dazu Leggings und eine Jacke mit Reißverschluss. Nova war klein und gertenschlank. Ihre grünen Augen erwiderten einen Moment lang seinen Blick, dennoch hätte niemand ihr angesehen, dass sie ihn kannte, dass sie im vergangenen Jahr in einem halben Dutzend Treadstone-Operationen zusammengearbeitet hatten oder dass sie noch vor sieben Stunden das Bett eines Stockholmer Hotels geteilt hatten, bevor sie zu dem dringenden Einsatz in Tallinn gerufen wurden.

»Es ist so weit«, meldete Bourne. »Sie kommen heraus.«

Durch den Torbogen traten Männer im Anzug und ein paar Frauen im langen Wintermantel in Zweier- und Dreiergruppen auf den Rathausplatz. Bourne kannte ihre Namen und Gesichter, obwohl er sie noch nie persönlich gesehen hatte. Sie kamen aus dem kalten Norden, aus Finnland, Lettland, Litauen und Polen – aus Ländern, die alle an der Ostsee lagen.

Und aus Russland. Auch die Russen waren dabei.

»Da ist er«, flüsterte Bourne.

Grigori Kotow kam aus dem Durchgang, blieb einen Augenblick unter dem Torbogen stehen und zündete sich eine Zigarette an. Er blies den Rauch in die kalte Luft und tat, als würde er die Weihnachtsbeleuchtung bewundern, während sein prüfender Blick die Leute auf dem Platz musterte. Er war Mitte fünfzig und hatte seine aktive Zeit als Agent längst hinter sich, doch ein Spion blieb ein Spion. Irgendetwas machte ihn nervös. Bourne wusste, dass es nicht etwas war, was er sah, sondern vielmehr etwas, was er vermisste.

Seine offiziellen Sicherheitsleute waren nicht da. Niemand erwartete ihn, um ihn zu beschützen. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, doch hinter der Fassade regte sich Angst. Wo sind sie?

Kotow war mittelgroß und füllig. Er trug keine Kopfbedeckung, wie um zu demonstrieren, wie abgehärtet er gegen die Kälte war, und sein grauschwarzer Wollmantel war aufgeknöpft. Sein rundes Gesicht war von einem grau melierten Bart umrahmt, die braunen Haare waren kurz geschnitten, sodass sie ein scharfes V über der hohen Stirn bildeten. Er hatte eine auffällige Narbe auf der Wange, unergründliche dunkle Augen und dicke, zusammengepresste Lippen. Sein Aussehen war immer noch das des KGB-Killers, der er vor dreißig Jahren gewesen war.

Jetzt!

Mit langen Schritten trat Bourne auf den russischen Verteidigungsminister zu, ohne den bärtigen Killer aus den Augen zu lassen, der an einem Stand Plüschbären begutachtete – wie ein Vater, der ein passendes Geschenk für sein Kind suchte, nicht wie ein Killer, der seinem Opfer auflauerte. Der Mann machte keine Anstalten, auf Kotow zuzugehen. Noch nicht. Bourne beobachtete jedoch, wie seine Lippen sich bewegten, und sah ein Mikrofon unter seiner Fellmütze vorragen.

Die Uhr in Bournes Kopf tickte. Die Zeit war knapp.

»Minister Kotow«, sprach er den Russen an, als er nahe genug herangekommen war. Der Mann sah ihn sichtlich angespannt an – überrascht, dass ein Fremder ihn mit seinem Namen ansprach. »Ich hatte gehofft, dass wir uns auf der Konferenz treffen. Mein Name ist Briggs. Charlie Briggs. Wir hatten voriges Jahr in Kopenhagen nach dem Telekom-Kongress ein paar Drinks zusammen. Sie, ich und Dr. Malenkow.«

Kotow war ein Profi mit ausgeprägtem Überlebensinstinkt. Jeder aus der alten Silowiki-Garde von Putins Gefährten in den ehemals sowjetischen Militär- und Geheimdienstkreisen war sich bewusst, dass dieser Tag einmal kommen konnte. Vor allem ein Mann wie Kotow, der seit fast zehn Jahren als Doppelagent für die USA tätig war. Der Mann nahm einen langen Zug von seiner Zigarette, als könnte es die letzte sein, doch seine Stimme blieb ruhig. »Sind Sie sicher, dass Dr. Malenkow dabei war? In Kopenhagen?«

Der Russe kannte die Bedeutung der CIA-Codewörter.

Malenkow. Kopenhagen. Sie sind aufgeflogen. Ihr Leben ist in Gefahr.

»Ja. Wir waren in einer Kneipe im Nyhavn«, bekräftigte Bourne. »Dr. Malenkow hatte ein bisschen zu viel Aquavit, wenn Sie sich erinnern.«

»Ja, stimmt. Es war ein netter Abend, Mr. Briggs.«

»Hätten Sie vielleicht zehn Minuten Zeit? Meine Firma hat gerade eine verbesserte Version unserer Sicherheitssoftware erstellt. Ich könnte Ihnen die wichtigsten Neuerungen zeigen.«

Kotows Blick schweifte über den Markt, bis er sah, was Bourne sah. Die Killer. Er zertrat die Zigarette im Schnee. »Ja, gern.«

»Mein Hotel ist ganz in der Nähe.«

»Das trifft sich gut.«

Die beiden Männer durchquerten zusammen den Markt. Der Wind wirbelte den Schnee in kleinen Wolken auf. Der bärtige Killer schaute in ihre Richtung und meldete wahrscheinlich, dass die Situation sich geändert hatte. Kotow war nicht allein. Dann folgte ihnen der Bärtige zwischen den Marktständen. Bourne führte den Russen mit der Hand an seinem Ellbogen an einem Stand mit Duftkerzen vorbei.

Nova meldete sich über Funk. »Er ist zehn Schritte hinter dir.«

»Ich brauche ein Ablenkungsmanöver.«

»Verstanden«, bestätigte sie. »Wenn du den ersten Schuss hörst, ist er genau zwei Schritte hinter dir. Geh zur Kathedrale.«

»Wir sehen uns dort.«

Bourne ging weiter, ohne schneller oder langsamer zu werden, ohne sich anmerken zu lassen, dass er seinen Verfolger entdeckt hatte. Er war einfach nur ein amerikanischer Geschäftsmann, der mit einem russischen Politiker ins Gespräch kommen wollte. Er tat so, als friere er, steckte die Hände in die Taschen und schloss die Finger um den Pistolengriff.

Neben ihm schlenderte Kotow scheinbar sorglos weiter. »Ich nehme an, wir werden verfolgt.«

»Ja. In ein paar Sekunden werden Schüsse fallen. Bleiben Sie dicht bei mir.«

»Wie wird Mrs. Schultz mich aus dem Land bringen?«

»Unsere Aufgabe ist es, Sie zu Holly zu bringen. Wie es weitergeht, ist Ihre Sache.«

Bourne konzentrierte sich auf das Knirschen der Schuhe hinter ihm, das immer lauter wurde, je näher der bärtige Killer herankam. Sein Gehirn stellte eine automatische Berechnung an; er schätzte, dass der Mann noch vier Schritte entfernt war.

»Vier Schritte«, bestätigte Nova seine Einschätzung. »Er geht schnell.«

»Bin bereit.«

Bourne legte den Zeigefinger um den Abzug. Im nächsten Augenblick krachte ein Schuss, Glas splitterte, und auf dem Markt brach Panik aus. Bourne zog die Pistole, wirbelte herum und sah den Bärtigen zwei Schritte hinter sich. Trotz des Ablenkungsmanövers hob der Mann geistesgegenwärtig seine Pistole, doch er war nicht schnell genug. Bourne jagte ihm eine Kugel in die Stirn, und der Killer sackte zu Boden.

Nova schoss weiter in die Luft. Leute schrien und rannten panisch in alle Richtungen. Bourne zog Kotow durch die Menschenmenge zur Südseite des Platzes. Als sie sich dem Rathaus näherten, musterte er jedes einzelne Gesicht, nach dem nächsten Killer Ausschau haltend. Überall strömten die Leute vom Rathausplatz in die umliegenden Gassen.

Es war das absolute Chaos.

Nur eine alte Frau blieb in der allgemeinen Panik völlig ruhig.

Zu ruhig.

Die Frau – sie war mindestens achtzig und trug bunte Bauernkleidung – verkaufte geröstete Maronen neben den Steinstufen des Rathauses. Ein Arm hing steif herab, scheinbar infolge eines Schlaganfalls. Doch ihre scharfen Augen suchten den Platz ab, bis ihr Blick an Bourne und Kotow hängen blieb. Im nächsten Augenblick schnellte ihr steifer Arm hoch.

Sie hielt eine Pistole in der Hand.

»Runter! Runter!«, rief Bourne, packte Kotow und warf sich mit ihm zu Boden. Schüsse krachten, die Kugeln prallten von den Pflastersteinen ab und ließen den Schnee explodieren. Die alte Frau feuerte, bis ihr Magazin leer war, und Bourne spürte ein Brennen in der Hand, als ein Splitter ihn traf. Er rollte sich durch den Schneematsch und drückte dreimal ab. Der erste Schuss schlug in die Wand des Rathauses ein, die beiden nächsten Kugeln bohrten sich in die Brust der Frau. Der Kessel mit den heißen Maronen kippte um, als sie nach vorn sackte.

Bourne half Kotow auf. »Schnell weg!«

Rasch entfernten sie sich vom Rathausplatz und hielten sich dicht an den Schaufenstern der Kullassepa-Straße. Mit der Pistole in der Hand eilte er die Straße hinunter; der ältere Russe hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Immer wieder blickte Bourne über die Schulter zurück, konnte aber keinen Verfolger erkennen. Vor ihnen behielt er die Türen und Fenster im Auge. Die Menschenmenge verflüchtigte sich, je weiter sie sich vom Rathausplatz entfernten. Bald waren sie allein in der Dunkelheit.

»Wer sind Sie?«, fragte Kotow keuchend.

»Man nennt mich Cain.«

Kotow blieb stehen, um zu Atem zu kommen. »Cain? Sie sind Cain? Ich habe von Ihnen gehört.«

»Wirklich?«

»Man erzählt sich so einiges. Der Mann ohne Erinnerung. Ohne Vergangenheit.«

Bourne zeigte keine Reaktion, doch er spürte ein Dröhnen im Kopf, als würde eine Meereswelle über ihn hereinbrechen. So ging es ihm meistens, wenn jemand seine Vergangenheit ansprach. Was Kotow gesagt hatte, entsprach der Wahrheit: Bourne hatte sein Gedächtnis verloren, nachdem er bei einer Treadstone-Mission einen Kopfschuss erlitten hatte und beinahe ums Leben gekommen wäre. In diesem Augenblick war sein ganzes bisheriges Leben ausgelöscht worden. Er hatte bei null anfangen müssen, ohne zu wissen, wer er wirklich war.

Doch jetzt war nicht der Moment, sich damit zu beschäftigen.

Die Zeit war knapp, seine Vergangenheit unwichtig. Es zählte nur, was in diesem Augenblick geschah.

»Kommen Sie«, drängte Bourne und zog Kotow mit sich. »Wir müssen weiter.«

»Wer hat mich verraten?«, fragte der Russe.

»Das ist unwichtig. Putin weiß jedenfalls, dass Sie gegen ihn vorgehen wollen. Sie können nicht mehr in Ihre Heimat zurück.«

Kotow zuckte mit den Schultern. »Mir war immer klar, worauf ich mich eingelassen habe und dass ich irgendwann den Preis dafür bezahlen werde.«

»Er wird nichts unversucht lassen, um Sie zu finden.«

»Ich kenne seine Methoden, glauben Sie mir. Damals beim KGB war er mein Mentor. Später habe ich Missionen in ganz Europa geleitet, mit denen ich ihm geholfen habe, seine Machtbasis zu konsolidieren. Aber jetzt steht er der Veränderung im Weg. Er muss weg.«

»Er wird sich an der Macht halten, solange die Silowiki und die Oligarchen ihn stützen«, hielt Bourne dagegen.

»Die sind nur von Eigeninteresse getrieben. Viele von ihnen denken heute schon so wie ich.«

»Mag sein, aber das würden sie nie offen sagen. Ab sofort wäre es gefährlich, sich mit Ihnen einzulassen. Haben Sie Familie?«

»Meine Frau ist tot. Meine Tochter wird sich von mir lossagen.«

»Das wird vielleicht nicht genügen.«

Bourne sah den Anflug einer emotionalen Regung in Kotows Gesicht.

»Glauben Sie mir, ab sofort bin ich für sie gestorben.«

Bourne hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Am Ende der Straße gelangten sie zu einem Fußweg, der am Gelände der mittelalterlichen Nikolaikirche vorbei- und den Hügel zur alten Stadtmauer hochführte. Der Kirchturm ragte zwischen schneebedeckten Bäumen empor. Es war still ringsum, im Schnee waren keine Fußabdrücke zu sehen. Dennoch sagte ihm sein Instinkt, dass hier irgendwo neue Gefahr drohte.

»Hören Sie das?«, murmelte er.

Kotow blieb stehen. »Musik?«

»Ja.«

Ganz in der Nähe durchbrach ein Radio die Stille. Der Wind trug laute Popmusik herüber. Bourne versuchte auszumachen, woher die Musik kam, doch sie hallte von den umliegenden Gebäuden wider – bis sie plötzlich verstummte.

Es war ein Beatles-Song gewesen. Nowhere Man.

»Gehen wir weiter«, drängte er den Russen ungeduldig. »Wir sind fast da.«

In zwei Minuten würden sie die Newski-Kathedrale erreichen. Sie stiegen die Stufen zum Dänischen Königsgarten hinauf. Von diesem erhöhten Standpunkt aus konnte man die Lichter der Wolkenkratzer sehen, dahinter als dunklen Fleck die Ostsee. Ein beißender Wind wehte durch den Garten. Vor der Mauer sah Bourne die geisterhaften Statuen von Mönchen, deren Kutten der Schnee weiß gefärbt hatte.

Seine innere Stimme schrie: Bedrohung!

Und tatsächlich sah er Fußspuren, die der frische Schnee noch nicht zugedeckt hatte. Jemand erwartete ihn.

Einer der gebeugten Mönche bei der Mauer schien sich zu bewegen. Ein Mann sprang hinter der Skulptur hervor und feuerte, doch Bourne hatte sich bereits auf ein Knie niedergelassen, sodass die Kugeln über ihn hinwegpfiffen. Er hob den Waffenarm und drückte ab. Der Mann sackte zu Boden, doch als Bourne sich aufrichtete, musste er feststellen, dass die Verfolger einen Bauern geopfert hatten, um einen Springer hinter ihm in Position zu bringen.

Der Lauf einer Pistole bohrte sich in Jasons Hinterkopf.

»Cain«, sagte eine Stimme. »Lassen Sie die Waffe fallen.«

Bourne ließ die Pistole in den Schnee fallen, hob die Hände und drehte sich langsam um. Der Mann vor ihm, der die Pistole auf Bournes Gesicht richtete, war kaum älter als fünfundzwanzig. Seine zotteligen Haare trug er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Trotz seiner Jugend strahlte er eine selbstsichere Reife aus, die auf eine professionelle Geheimdienstausbildung hindeutete. Er sah jedoch nicht wie ein Agent des russischen FSB aus und schien nicht einmal Russe zu sein. Bourne war schon vielen Geheimagenten begegnet, aber keinem wie diesem jungen Mann. Er hatte so gar nichts von einem Angehörigen irgendeiner Regierungsbehörde an sich.

»Lenin«, murmelte der Mann in ein Mikrofon. »Ich habe sie. Du hast recht gehabt – Cain ist bei Kotow. Anweisung?«

Bourne beobachtete das Gesicht des Killers, als er der Antwort lauschte, die er per Funk erhielt. Jason wusste, dass soeben sein Todesurteil gefällt worden war. Er starrte in den Lauf der Pistole, roch aber keinen Rauch. Dieser Mann hatte nicht dem FSB-Team angehört, das auf dem Rathausplatz gelauert hatte. Er gehörte zu einem anderen Team.

Wer war der Kerl?

Und wer war Lenin?

Doch für solche Fragen war jetzt keine Zeit. In zwei Sekunden würde Bourne tot sein. Er sah den Finger des jungen Mannes am Abzug zucken. Dann explodierte ein Schuss im Park. Das Gesicht des Mannes zeigte einen überraschten Ausdruck, dann schloss er die Augen und sackte zu Boden. Das Blut aus der Schusswunde im Kopf malte einen roten Fleck in den Schnee.

Von der Treppe trat Nova zu ihnen herüber. Der Wind wehte ihr die langen schwarzen Haare ins Gesicht. »Muss ich dich jedes Mal retten, Cain?«

»Sieht so aus.«

»Wir müssen weiter. Holly wartet schon.«

Die drei eilten durch ein Tor in der Steinmauer und stiegen auf dem schneebedeckten Gehsteig zu den hell erleuchteten Zwiebeltürmen der Alexander-Newski-Kathedrale hoch. Hinter der Kirche waren die rosafarbenen Wände des estnischen Parlamentsgebäudes zu erkennen. Mit Kotow zwischen ihnen eilten Bourne und Nova weiter, die Pistolen schussbereit in den Händen. Jason wusste, dass da noch jemand in der Nähe war; das Problem war nur, dass er keine Ahnung hatte, wer.

Lenin! Wer ist Lenin?

Beim Treffpunkt konnte er jedoch keine Anzeichen eines Hinterhalts erkennen.

Auf einer Bank gegenüber der Kathedrale saß eine Frau in den Vierzigern. Obwohl es längst dunkel war, trug sie eine schwarz getönte Sonnenbrille. Quer über dem Schoss hatte sie einen Gehstock liegen. Ihre Statur erinnerte ein bisschen an einen Vogel; ihre dunklen Haare trug sie im Stil von Audrey Hepburn. Neben ihr hockte ein gelber Labrador. Als der Hund Bourne und die beiden anderen kommen sah, bellte er dreimal kurz.

Da kommen drei Leute.

»Danke, Sugar«, sagte die Frau und drehte den Kopf, als sie zu ihr traten. Sie hörte die drei, konnte sie aber nicht sehen. Holly Schultz, die für Russland zuständige Chefanalystin der CIA, war blind.

»Mrs. Schultz«, sagte Kotow. »Es ist einige Zeit vergangen, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Bei der St. Paul’s Cathedral, nicht?«

»Exakt, Grigori. Tut mir leid, dass wir so plötzlich eingreifen mussten, aber es war dringend.«

»Den Eindruck hatte ich auch.«

»Sie wissen, was jetzt sein muss?«

Bourne sah einen schmerzhaften Ausdruck in Kotows Gesicht, als würde ihm jetzt erst bewusst, dass er nie wieder in sein Heimatland zurückkehren konnte. »Ja, natürlich.«

Der Russe drehte sich zu Bourne und drückte ihm fest die Hand. Als er auch Nova die Hand schüttelte, blieb sein Blick lange auf ihrem Gesicht haften. Novas Schönheit verfehlte fast nie ihre Wirkung. »Ich danke Ihnen beiden für Ihre Hilfe.«

»Viel Glück«, sagte Bourne.

»Um die nächsten Schritte wird sich Dixon kümmern«, erklärte Holly. »Es ist alles vorbereitet.«

Wie aufs Stichwort rollten zwei Autos hinter der Kathedrale hervor – eine dunkle Limousine mit getönten Scheiben und ein weißer Kastenwagen mit der Werbeaufschrift eines in Helsinki ansässigen Malerbetriebs. Auf dem Dach des Vans waren Leitern montiert. Die beiden Fahrzeuge hielten vor der Bank, auf der die CIA-Agentin saß, und ein athletischer dunkelhäutiger Mann stieg auf der Beifahrerseite der Limousine aus. Er war etwa dreißig Jahre alt, gut aussehend und trug einen dunklen Anzug. Bourne kannte ihn. Wo immer Holly Schultz und Sugar sich aufhielten, war auch Dixon Lewis nicht weit.

»Minister«, wandte er sich an Kotow und deutete auf den Kastenwagen. »Können wir? Wir haben nur wenige Minuten. Dieser Teil der Reise wird leider etwas unbequem.«

»Kein Problem.«

Die beiden Männer gingen zum Heck des Vans. Bourne hörte, wie Türen geöffnet und zugeschlagen wurden. Zwei Minuten später kam Dixon allein zurück und strich seinen Anzug glatt. Mit einem höflichen Gruß verabschiedete er sich von Bourne und Nova und ging zur Limousine.

Die beiden Fahrzeuge brausten los und verschwanden in der Dunkelheit.

»Mit der Autofähre nach Helsinki?«, mutmaßte Bourne. »Ist das sein Fluchtweg?«

Holly lächelte, ohne Bournes Vermutung zu bestätigen. Sie erhob sich von der Bank und kraulte Sugars Kopf. »Ich danke Ihnen beiden für Ihren Einsatz. Ich werde Nash Rollins wissen lassen, dass Sie wieder mal ausgezeichnete Arbeit geleistet haben.«

Das war alles. Die Mission war vorbei.

Holly tippte mit ihrem Stock zweimal auf den Boden, worauf Sugar lostrottete und sie durch den Schnee in Richtung des Parlamentsgebäudes führte. Bourne sah der Agentin im braunen Trenchcoat nach, bis sie hinter der Kathedrale verschwand. Nova und er blieben allein zurück.

»Das war’s dann für uns«, bemerkte Bourne mit einer gewissen Bitterkeit.

»Holly und Dixon halten sich bedeckt, was ihre Operationen betrifft«, rief Nova ihm in Erinnerung. »Das ist nichts Neues.«

Bourne blickte zum leeren Park zurück. Sein Instinkt witterte immer noch eine Bedrohung in der dunklen, schneebedeckten Landschaft. Sie wurden beobachtet. Jason und Nova entfernten sich von der Kirche. Nach wenigen Schritten blieb er abrupt stehen, als er erneut Musik vernahm, zuerst ganz laut, dann verklang sie nach und nach. Er hatte nur ein paar Wörter des Sängers aufgeschnappt.

Es war wieder ein Beatles-Song.

Nein, falsch. Diesmal war es John Lennon solo. Mind Games.

Automatisch ergänzte sein Gehirn den Rest des Textes. Während er über die Bedeutung des Songs nachdachte, kam ihm ein anderer Gedanke.

Nicht Lenin. Lennon.

Eine halbe Stunde später stand Bourne am Fenster ihres Hotelzimmers und schaute auf den Hafen von Tallinn hinunter. Soeben hatte eine Autofähre von Terminal D abgelegt, die durch den Finnischen Meerbusen nach Helsinki unterwegs war. Irgendwo auf den unteren Decks stand wahrscheinlich ein weißer Kastenwagen, in dem Grigori Kotow in einem geheimen Abteil verborgen war.

Nova trat zu ihm ans Fenster, mit zwei Weingläsern in der Hand. Sie hatte sich bereits ausgezogen; ihr nackter Körper war ein einziges Gemälde aus fantasievollen Tätowierungen, darunter Rosen, griechische Götter und Masken südamerikanischer Stammeskulturen. Zwischen ihren vollen Brüsten baumelte eine goldene Kette mit einer antiken griechischen Münze in einer runden Einfassung. Jason wusste, dass die Kette einst ihrer Mutter gehört hatte. Nova nahm sie nie ab. Wirklich nie.

Sie hob sich auf die Zehenspitzen, knabberte spielerisch an seinem Ohr und hauchte Küsse auf seinen Hals. Ihre Zunge malte kleine Kreise auf seine Haut. Die Frau, die kurz zuvor einem Mann eine Kugel in den Kopf gejagt hatte, war schon ganz auf das Liebesspiel eingestimmt.

Es war eine der Eigenschaften, die ihn an ihr faszinierten; sie konnte mühelos zwischen ihren verschiedenen Identitäten hin und her wechseln, war in einem Moment die abgebrühte Spionin und Killerin, im nächsten die feurige Geliebte. Er war drauf und dran, sich in sie zu verlieben. Das war gefährlich für sie beide.

Regel Nummer eins: Geh keine emotionalen Bindungen ein. Treadstone.

»Lass los, Jason«, murmelte Nova; sie spürte, dass die Mission ihn immer noch beschäftigte.

Er schüttelte den Kopf. »Wir übersehen etwas Wichtiges.«

»Der Auftrag ist erledigt. Kotow ist in Sicherheit.«

»Wirklich – oder sieht es nur so aus?«

Bournes Blick folgte den Lichtern der Fähre auf dem offenen Wasser. Im nächsten Augenblick bekam er die Antwort. Die Nacht verwandelte sich in helllichten Tag, ein Feuerball tauchte den Hafen in grelles Licht. Eine Druckwelle breitete sich vom Meer her aus, zertrümmerte die Fenster des Hotels, ließ den Boden unter ihnen beben und riss sie von den Beinen. Die Explosion dröhnte wie Kanonendonner in seinen Ohren.

Lange Sekunden der Dunkelheit verstrichen.

Taub und benommen rappelte Jason sich auf die Knie hoch. Neben ihm lag Nova bewusstlos auf dem Boden, Glasscherben funkelten auf ihrer tätowierten Haut. Bourne vergewisserte sich, dass sie am Leben war, dann stand er auf und taumelte zum Fenster. Selbst auf diese Entfernung spürte er die Hitze im Gesicht und roch das brennende Benzin.

Draußen in der Bucht von Tallinn war von der Fähre nichts mehr übrig als Flammen und Rauch.

|Erster Teil

|1

|London|Gegenwart

Vadik Reznikow roch das Tränengas, das vom Green Park herübergeweht wurde. Selbst auf diese Entfernung brannte es ihm in den Augen. Er hörte das rhythmische Trommeln und die zornigen, Parolen skandierenden Stimmen der Demonstranten vor dem Buckingham Palace, wo die Delegierten der WTO mit dem König beim Bankett saßen. Befreundete englische Wissenschaftler hatten ihn eingeladen, sich dem Protest anzuschließen, um den Verantwortlichen klarzumachen, dass sie die Erde verschmutzten und vergifteten, doch Vadik hatte es vorgezogen, sich von der Demonstration fernzuhalten.

»Putin hat seine Augen überall«, sagte er zu den Kollegen. »Wenn ich festgenommen werde, komme ich nie wieder nach Hause.«

Es war eine Tatsache, doch in Wahrheit hatte Vadik Wichtigeres in London zu tun.

Es war fast schon dunkel an diesem Juniabend. Vadik stand bei der U-Bahn-Station Green Park mit einem Becher Americano, den er sich in einem Costa Coffee ein paar Blocks entfernt geholt hatte. An der Theke hatte er den Namen Peregrine genannt, den sie ihm als Kennwort mitgegeben hatten. Als das Mädchen mit den vielen Piercings ihm den Kaffee gebracht hatte, war da der Name »Richard Branson« auf dem Becher zu lesen gewesen.

Er hatte den halben Code. Jetzt brauchte er noch die andere Hälfte.

Nervös beobachtete er, wie immer mehr schwarz gekleidete Demonstranten aus der U-Bahn-Station strömten. Es war jede Menge Polizei in der Gegend. Er hatte keinen Grund, anzunehmen, dass er beobachtet wurde, zumal er alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte. Dennoch spürte er Angstschweiß im Nacken. Sobald er mit der Umsetzung seines Plans begonnen hatte, würde es kein Zurück mehr geben. Er hatte in Moskau mehrmals Feuer oder Bomben gelegt, doch das waren nur Anschläge auf Öl- und Gasleitungen gewesen. Nie hatte er jemanden getötet, nie jemandem eine Pistole an den Kopf gesetzt und kaltblütig abgedrückt.

Diese Grenze würde er nun überschreiten.

Nur der Tod vermochte die Eliten aufzuschrecken.

Vadik war vor einer Woche dreißig geworden. Er trug einen abgetragenen weißen Sweater und eine weite schwarze Cargohose. Er war dünn und knochig, hatte kurze schwarze Haare, die seine Frau Tati ihm schnitt, und eng stehende Augen mit buschigen schwarzen Brauen. Sein kleiner Mund hatte einen harten Ausdruck.

Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. Er musste seine Kontaktperson im Park finden. Das war seine erste Aufgabe, das nächste Glied in der Kette. Die Kontaktperson würde ihm den Ort des morgigen Treffens nennen, bei dem er die Londoner Mitglieder von Gaia Crusade kennenlernen würde. Doch er wurde hier aufgehalten. Tati sollte längst hier sein. Er konnte nicht weg, ohne sich zu vergewissern, dass sie sicher in ihrer gemeinsamen Mietwohnung war.

Wie lange dauerte es, mit einem Haufen steinalter, todlangweiliger Klimawissenschaftler zu Abend zu essen? Sie waren alle scharf auf seine Frau – dabei würde keiner von ihnen auch nur zehn Minuten mit Tati im Bett durchhalten, bevor ihn ein Herzinfarkt ins Jenseits beförderte.

»Hallo, Vadik.«

Er atmete erleichtert aus, als er in der Menschenmenge, die aus der U-Bahn-Station strömte, seine Frau erblickte. Wie immer wirkte sie, als würde sie mit den Gedanken weit weg dahinschweben. Ihre schwarze Brille rutschte ihr von der Nase, und sie schob sie gewohnheitsmäßig hoch. Sie war größer als er, und wenn sie – so wie jetzt – auch noch High Heels trug, fühlte er sich neben ihr wie ein Zwerg. Ihre langen blonden Haare waren von lavendelfarbenen Strähnen durchsetzt. Sie hatte volle Lippen, graue Augen und trug einen goldenen Ohrring in ihrer langen, schmalen Nase. In Vadiks Augen sah sie wie ein Model aus, obwohl sie als Klimaforscherin sechs Monate auf der russischen Forschungsstation Wostok verbracht und anhand eines aus dem Eispanzer der Antarktis gebohrten Eiskerns die Klimabedingungen der fernen Vergangenheit erforscht hatte.

»Warum kommst du so spät?« Er zog seine Frau in eine weniger belebte Seitenstraße. Sie bewohnten ein kleines Apartment in Mayfair, das sie sich dank Tatis wohlhabender Familie leisten konnten. Er redete nicht gern über seine Abhängigkeit von der Welt der Privilegierten, die er zu zerstören trachtete.

»Ich habe auf dem Bankett einen Freund getroffen«, erklärte sie. »Wir haben uns eine Weile unterhalten.«

»Welchen Freund?«

»Du kennst ihn nicht.«

»Ein Wissenschaftler?«

»Nein. Ich habe ihn während meiner Promotionszeit kennengelernt.«

Manchmal dachte er, Tati erfand diese Geschichten nur, um ihn ein bisschen zu quälen. Sie waren erst ein Jahr verheiratet, und er war furchtbar eifersüchtig. Tati schien sich gar nicht bewusst zu sein, wie attraktiv sie war.

»Ich will, dass du heute Abend in der Wohnung bleibst«, sagte Vadik. »Die Proteste werden eskalieren – es ist gefährlich auf den Straßen.«

»Mir passiert schon nichts, Vadi.«

»Hörst du nicht, was hier los ist?«

Hinter ihnen heulten Sirenen, mehrere maskierte junge Leute rannten an ihnen vorbei, während er mit Tati die Straße hinuntereilte. Zwei Blocks weiter gelangten sie zu dem dreistöckigen Backsteinhaus, in dem sie wohnten. Seine Frau stieg die Stufen zur Haustür hinauf und zog den Schlüssel hervor, doch Vadik blieb auf dem Bürgersteig. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn überrascht an.

»Kommst du nicht?«

»Nein, ich gehe noch auf einen schnellen Drink.«

»Dann komm ich mit.«

»Nein, es dauert nicht lang. Geh schon mal rein, nimm ein Bad und warte im Bett auf mich.«

Tati zuckte die Achseln und rückte ihre Brille zurecht. Bestimmt würde sie nicht im Bett auf ihn warten, sondern ein Wissenschaftsmagazin lesen, wenn er zurückkam. Im Vergleich zur Wissenschaft war Sex für sie eher nebensächlich.

Vadik wartete, bis sie im Haus war. Dann eilte er los, um sich wieder ins Getümmel zu stürzen. Zwischen roten Bussen und schwarzen Taxis, die im zum Erliegen gekommenen Verkehr feststeckten, überquerte er die Straße und näherte sich dem Green Park. Die Straßenlaternen malten kleine Lichtflecken in die Rauchwolken, in denen die Protestierenden zu geisterhaften Gestalten wurden. Mit gesenktem Kopf eilte er durch den Park, eine Hand in der Tasche, den Kaffeebecher in der anderen Hand.

Einen Moment lang fragte sich Vadik, ob er nicht einen schweren Fehler machte. Vielleicht tappte er in eine Falle von Interpol oder, noch schlimmer, des FSB. Der Geheimdienst mischte sich gern unter die Russen, die in London lebten oder arbeiteten, und suchte nach Verrätern. In Moskau war er über gute Freunde zu Gaia Crusade gekommen, aber online wusste man nie, mit wem man es zu tun hatte. Vielleicht war es klüger, umzukehren und den Abend mit Tati zu genießen. Doch er konnte jetzt nicht mehr zurück. Zu wichtig war die Sache, für die er sich einsetzte.

Die Veränderung duldete keinen Aufschub. Die Erde stand kurz vor dem Zusammenbruch.

Da! Unter den Lichtern des Parks sah er einen Zeitungskiosk, dessen Reklameschild mit der großen Schlagzeile versehen war: PROTESTELÖSENCHOASBEIMBUCKINGHAMPALACEAUS. Das Wort »Chaos« war absichtlich falsch geschrieben.

Das war sein Signal für den nächsten Schritt.

Das war seine Kontaktperson.

Vadik trat auf den Zeitungsverkäufer zu, einen indischen Jungen, der nicht älter als zwanzig zu sein schien, mit gegelten Haaren und buschigem Bart. Er trug ein T-Shirt mit einer schematischen Darstellung des Londoner U-Bahn-Netzes. Die glatte Haut seines Unterarms war mit einer Tätowierung dekoriert, die das Bill-Murray-Chive-Porträt in kleinen grauen Quadraten darstellte.

»Guten Abend, mein Freund«, sagte Vadik.

Der Junge sah ihn mit einem breiten Grinsen an. »Guten Abend, Sir.«

»Bist du auch ein Freund unserer Erde?«

Vadik sah, wie der Blick des Verkäufers nach links und rechts sprang. »Das bin ich, Sir. Absolut.«

»Gaia braucht unsere Hilfe.«

»Unbedingt. Wenn wir sie lieben, wird sie gut zu uns sein.«

»Wie heißt du, mein Freund?«

»Pranav, Sir.«

»Ich bin zum ersten Mal in London, Pranav«, sagte Vadik. »Ich will alle Eindrücke festhalten, darum mache ich Selfies mit allen, die mir begegnen. Darf ich ein Foto von uns beiden knipsen?«

»Klar, Sir.«

Vadik stellte sich neben Pranav und zog sein Einweghandy aus der Tasche. Der junge Zeitungsverkäufer strich sein T-Shirt glatt und machte mit zwei Fingern das Victory-Zeichen. Statt auf ihre Gesichter fokussierte Vadik die Kamera auf das Bill-Murray-Tattoo.

Die Kamera scannte den QR-Code, der in der Tätowierung verborgen war.

»Danke.« Vadik legte eine Ein-Pfund-Münze auf den Tresen und nahm sich eine Zeitung. »Pass auf dich auf, Pranav.«

»Ja. Sie auch auf sich, Sir.«

Vadik klemmte sich die Zeitung unter den Arm und ging weiter. Mit einem flauen Gefühl im Magen schaute er zu den schattenhaften Gestalten der jungen Leute, die sich der Demonstration anschlossen oder sie verließen. Irgendwo hatte jemand etwas angezündet; Rauch hing in der Luft. Er hatte das ungute Gefühl, dass jemand ihn belauerte und sein Gespräch mit Pranav belauscht hatte. Es gab so viele Möglichkeiten, sich in dem dunklen Park zu verstecken, so viele Augen, die ihn beobachten konnten.

Er ging zu einer freien Bank, setzte sich, warf den Kaffeebecher in den Abfalleimer und zog sein Handy hervor. Durch den QR-Code, den er vom Unterarm des Zeitungsverkäufers gescannt hatte, gelangte er zu einer Website für Online-Glücksspiele. Er ignorierte die Wettquoten für die bevorstehenden Fußballmatches und scrollte zu einem Suchfeld am unteren Seitenrand. Hier gab er den Namen »Richard Branson« ein. Als er den Button anklickte, leitete der Browser ihn zu einer anderen Webseite weiter.

Diese Seite war über Google nicht zu finden. Sie war völlig anonym. Nichts auf der Seite ließ erkennen, wer sie betrieb und welchen Inhalt sie hatte. Vadik sah nur eine Textzeile in einer Chatbox, die ihm verriet, wann und wo das Treffen morgen stattfinden würde.

Freitag. 22:00. The Lonely Shepherd.

Darauf hatte er gewartet. Sein Beitrag zur Arbeit von Gaia Crusade nahm konkrete Formen an.

Diesen Anschlag in London würde man als ein Ereignis von historischer Tragweite wahrnehmen. Die Eliten würden erkennen, dass niemand sicher war. Vadik hatte Informationen, die es ihnen ermöglichen würden, mitten im Machtzentrum von Putins Russland zuzuschlagen.

Das Ziel waren die Oligarchen. Die Milliardäre.

Er tippte eine Nachricht ein:

Es lebe Gaia! Gennadi Sorokin kommt nach London!

Stunden später stieg der junge Zeitungsverkäufer an der Haltestelle London Fields aus dem Zug. Durch eine Gasse ging er zu dem Park, an dem die Wohnung seiner Familie in Hackney lag. Es war fast zwei Uhr nachts. Er war beschwipst von den Bieren, auf die die Demonstranten ihn im Pub eingeladen hatten, und seine Augen waren noch feucht vom Tränengas. Seine gereizte Lunge ließen ihn husten, was ihn an seinen Kampf gegen die Covid-Infektion letztes Jahr erinnerte.

Die Gasse war menschenleer, nur ein paar Autos parkten auf dem Gehsteig. Alle Fenster waren dunkel. Nachdem der Zug aus der Haltestelle gerollt war, herrschte völlige Stille ringsum.

Nein, nicht ganz.

Er blieb stehen und lauschte.

Musik. Ein Song, den er kannte: Revolution von den Beatles. Pranav zuckte mit den Schultern. Einer der Radikalen, die in die Stadt gekommen waren, um gegen die Politik der WTO zu protestieren, träumte anscheinend davon, die Weltherrschaft zu übernehmen.

Pranav hielt nichts von Revolutionen. Den Planeten zu retten war gut und wichtig, aber sonst ging es ihm vor allem darum, Geld für seine Familie zu verdienen. Der Brite mit den roten Haaren hatte ihm tausend Dollar dafür gegeben, sich dieses schräge Bill-Murray-Tattoo machen zu lassen und es von den Freunden der Erde fotografieren zu lassen. Damit hatte er kein Problem.

Trotzdem waren diese ganzen Proteste für ihn ein lächerlicher Zirkus.

Pranav blieb beim Eingang zum Park in der Martello Street stehen. Als er durch das Tor trat, hörte er die Musik wieder, diesmal viel näher. Ja, eindeutig Revolution. Er sah sich um, konnte in der Dunkelheit aber niemanden erkennen. Achselzuckend betrat er die Grasfläche und durchquerte sie, um zu dem Apartmenthaus auf der anderen Seite des Parks zu gelangen, in dem seine Eltern wohnten, zusammen mit seinen vier Brüdern, der Frau seines ältesten Bruders und deren kleiner Tochter. Sie alle lebten schon seit fünfzehn Jahren in London, seit Pranav ein kleiner Junge gewesen war. An seine Kindheit in Mumbai erinnerte er sich kaum noch.

Da war es wieder! Die Beatles.

Woher kam die Musik?

Pranav blickte sich in der Dunkelheit um. Diesmal sah er jemanden neben einem dicken Baumstamm stehen. Der Mann war nur als Schatten zu erkennen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Die gedämpfte Musik kam eindeutig von ihm. Dann verstummte sie plötzlich, und der Fremde trat von dem Baum weg.

»Hallo, Pranav.«

Der Mann kannte ihn?

»Wer ist da?«, rief Pranav zurück und blickte angestrengt auf die dunkle Gestalt.

»Ich will mit dir reden, mein Freund.«

Pranav zögerte. Es war spät, und er war allein. Die Radikalen suchten ihn normalerweise nicht in der Nähe seines Zuhauses auf, aber wenn der Typ unbedingt ein Foto von seinem Tattoo haben wollte, dann war nichts dagegen einzuwenden. Er ging auf den Baum zu, blieb aber stehen, als er sah, dass der Mann eine Maske trug, die sein Gesicht bedeckte und nur einen Schlitz für die Augen freiließ.

»Wer sind Sie?«, fragte Pranav misstrauisch. »Was wollen Sie?«

»Ich will das, was du dem Mann im Green Park gegeben hast. Dem Mann mit dem Kaffeebecher.«

»Wenn Sie Informationen wollen, müssen Sie den Code nennen. So sind die Regeln.«

»Verstehe.«

Der hochgewachsene Mann trat näher. Im Licht der Laterne konnte Pranav durch den Maskenschlitz seine blauen Augen erkennen, die einen beängstigend durchdringenden Ausdruck hatten. Er trug eine dicke Jacke, die viel zu warm für die laue Sommernacht war.

»Hör auf, Spion zu spielen, Pranav, und sag mir, was ich wissen will.«

Pranav spürte etwas tief in der Magengrube. Angst. »Klar. Wie Sie wollen. Kein Problem.«

Doch statt ihm etwas zu verraten, rannte Pranav los. Er musste nur die andere Seite des Parks erreichen, dann war er in Sicherheit. Doch der Maskierte war unglaublich schnell. Pranav hatte kaum zwei Schritte gemacht, da lag er auch schon im feuchten Gras und bekam keine Luft mehr.

Der Mann drehte ihn um und drückte ihm das Knie in die Brust.

»Bitte«, flehte Pranav, während der Kerl ihm die Lunge zusammenpresste. »Lassen Sie mich los.«

»Ja, wenn du mir sagst, was ich wissen will.«

»Ich weiß nichts! Ich werde dafür bezahlt, das ist alles!«

»Die Kontaktpersonen kommen zu dir. Wohin schickst du sie?«

Pranav rang nach Luft. »Bitte!«

Der Mann nahm das Knie von seiner Brust, und Pranav sog gierig die Luft ein.

»Rede«, zischte der Mann ihm zu.

Und Pranav redete. So schnell, wie er noch nie geredet hatte. Die Wörter sprudelten nur so aus ihm heraus, und der Mann hörte aufmerksam zu. Pranav erzählte ihm alles. Über den Briten mit den roten Haaren, über die Leute, die zu ihm kamen, und die seltsame Tätowierung auf seinem Arm.

»Das ist alles!«, keuchte er, als er fertig war. »Ich schwöre, mehr weiß ich nicht! Ich gehöre nicht zu denen!«

»Und die Namen auf den Kaffeebechern?«

»Davon weiß ich nichts!«

Der Mann mit der Maske nickte zufrieden. »Danke, Pranav. Das hast du gut gemacht.«

»Ja, jetzt lassen Sie mich gehen!«

»Zeig mir zuerst dieses Tattoo.«

Pranav hob den Unterarm. Der Mann über ihm lachte sarkastisch, als er mit dem Finger über Bill Murrays Gesicht fuhr. »Ein integrierter QR-Code. So was von schlau.«

»Okay, wenn Sie es sagen! Jetzt lassen Sie mich gehen!«

»Es gibt da nur ein kleines Problem, Pranav.«

»Nein, wieso? Es gibt kein Problem!«

Der Maskierte schob die Hand in die Jackentasche. »Weißt du, ich habe kein Handy dabei, darum kann ich den Code nicht scannen. Du musst mir die URL der Website verraten. Wie finde ich sie?«

»Das weiß ich nicht!«, versicherte Pranav. »Bitte, ich weiß es wirklich nicht!«

»Das habe ich befürchtet. Schade.«

Langsam zog der Mann die Hand aus der Jackentasche, in der er nun ein Messer mit einer scharfen Klinge hielt, die mindestens zwanzig Zentimeter lang war. Pranav riss die Augen weit auf.

»Dann muss ich mir anders behelfen«, fuhr der Mann fort. »Ich muss die Tätowierung haben.«

|2

An diesem Freitag machte Jason Bourne, was er jeden Tag um Punkt neun Uhr morgens machte. Er schlenderte nahe der Pont des Invalides die Seine entlang. Die Bateaux-Mouches glitten mit ihren Touristenhorden übers Wasser. Bourne trank starken schwarzen Kaffee, atmete den Duft des Flusses ein und sog die Bilder der Stadt in sich auf: die Liebenden am Fluss, den Eiffelturm am Horizont, die Kalksteinfassaden der Gebäude, den trottoir, den von den Hinterlassenschaften der Hunde verunzierten Bürgersteig. Im Gehen musterte er ein Gesicht nach dem anderen und traf jedes Mal eine blitzschnelle Einschätzung.

Bedrohung. Keine Bedrohung.

Paris war sein Lebensmittelpunkt, wenn er nicht auf einer Mission für Treadstone war. Er wusste selbst nicht so genau, warum, aber es zog ihn immer wieder in diese Stadt. Nachdem er sein Gedächtnis verloren hatte, war er hierhergekommen, um Antworten auf seine vielen Fragen zu finden. Er wusste, wer er war, und vor allem, was er war, doch was er von seiner Vergangenheit wusste, fühlte sich für ihn unwirklich an. Seine Herkunft, seine Familie – das alles waren für ihn bloße Fakten, die mit keinen Emotionen verbunden waren.

Selbst der Name, den er heute benutzte – Jason Bourne –, war nicht sein eigener. Man hatte ihm gesagt, dass es der Name eines Mörders war, den er vor vielen Jahren zur Strecke gebracht hatte. Ein übler Kerl. Ein Monster. Er hatte diesen Namen angenommen, als er bei Treadstone begonnen hatte; nun war es die einzige Identität, die ihm geblieben war.

In Paris hatte sein neues Leben begonnen, deshalb hielt er sich auch heute noch in der Stadt auf und führte ein anonymes Leben in einem kleinen Apartment im Quartier Latin, wenn er nicht irgendwo im Einsatz war. Er trainierte täglich mehrere Stunden, um sich die körperlichen Fähigkeiten zu erhalten, von denen oft genug sein Leben abhing. Besonders gern besuchte er die Museen und studierte die Gemälde der großen Impressionisten. Er schlenderte durch die Parks und wartete auf den Tag, an dem jemand aus seiner Vergangenheit auftauchen würde – jemand, dessen Gesicht er nicht wiedererkennen würde und der nur ein Ziel hatte: ihn zu töten.

Die Vergangenheit ist nie vorbei. Treadstone.

Bourne hatte ein kantiges, alles andere als makelloses Gesicht; doch es waren gerade die Unregelmäßigkeiten, die ihn interessant und attraktiv erscheinen ließen. Etwa die kleine Narbe nahe der Schläfe oder die Tatsache, dass eines seiner blaugrauen Augen meist ein wenig zusammengekniffen war. Seine dunkelbraunen, immer etwas ungeordnet wirkenden Haare waren über der hohen Stirn kurz geschnitten. Seinem durchdringenden Blick schien nichts zu entgehen. Er hatte schmale Lippen, die zumeist ausdruckslos blieben und sich nur gelegentlich zu einem ironischen Lächeln krümmten. Er war groß und kräftig; man spürte, dass dieser Körper, wenn nötig, hart zupacken konnte.

In Paris führte er ein abgeschiedenes Leben, hatte keine Freunde und ging Frauen normalerweise aus dem Weg; er gönnte sich höchstens einmal eine kurze, anonyme Affäre. Dieses Leben hatte er sich nicht ausgesucht. Er war ein Einzelgänger, weil seine Tätigkeit es erforderte. In der Vergangenheit hatte es jedes Mal schlimm geendet, wenn er eine enge Bindung eingegangen war. Eine Frau an seiner Seite war automatisch in Lebensgefahr; daraus hatte er die Konsequenzen gezogen. Heute machte er sofort Schluss, wenn er spürte, dass er im Begriff war, sich zu verlieben. Vor einem Jahr hatte er sich auf eine Beziehung mit einer kanadischen Journalistin namens Abbey Laurent eingelassen; er hatte es beendet, als sich zeigte, wie sehr sie sich zueinander hingezogen fühlten. Bourne wollte nicht, dass sie so endete wie die anderen.

Wie Marie.

Und Nova.

Beide hatten ihre Nähe zu Jason Bourne mit dem Leben bezahlen müssen.

Vor allem Nova verfolgte ihn immer noch in seinen Gedanken, als Spionin und als Geliebte. Er hatte keine Fotos von ihr – Agenten fotografierten sich nicht –, doch es fiel ihm nicht schwer, sie sich in Erinnerung zu rufen. Ihren zierlichen, aber kräftigen, mit fantasievollen Tattoos geschmückten Körper. Ihr üppiges schwarzes Haar, das über ihre Brüste fiel. Die Glut in ihren grünen Augen, wenn sie ihn ansah. Das knisternde Gefühl, ihre Haut auf seiner zu spüren. Er konnte sich noch genau an den Schmerz erinnern, mit dem er vor zwei Jahren hatte zusehen müssen, wie Treadstone-Agenten ihren schlaffen Körper weggetragen hatten, nachdem sie bei einem Massaker in Las Vegas getötet worden war.

Nein! Lass es!

Obwohl Bourne ein Mann ohne Gedächtnis war, hätte er doch manchmal gern auch die wenigen Erinnerungen ausgelöscht, die er hatte, weil sie meist mit Tod und Verlust verbunden waren. Wie er so am Fluss entlangschlenderte, wurde ihm klar, dass er keine Zeit hatte, an seine Vergangenheit zu denken. Nicht heute.

Treadstone war zurück.

Ein Stück voraus erblickte Bourne ein am Ufer vertäutes Hausboot. Es war immer da, Tag für Tag. Der lange, schmale Rumpf hätte einen frischen grünen Anstrich gebrauchen können, die Fenster waren mit Sperrholz vernagelt. Das Deck war sonst immer leer; da war nicht einmal ein Picknicktisch oder ein Topf mit welken Blumen.

Doch heute sah er ein rostiges Fahrrad, das mit einer Kette an der Laufplanke des Boots befestigt war. Sonst nichts; nur ein Fahrrad.

Aus diesem Grund kam er jeden Morgen hier vorbei. Manchmal vergingen Wochen oder gar Monate, bis er das Fahrrad wiedersah. Wenn es nicht da war, hatte er einen weiteren Tag seines abgeschiedenen Lebens in Paris vor sich.

Doch heute war das Signal gekommen – und er wusste, was es bedeutete: Nash Rollins war in der Stadt.

Von der Seine ging Bourne auf der Allée centrale durch den Garten der Tuilerien. Er war innerlich angespannt. Nash kam nie allein in die Stadt. Bestimmt waren mehrere Treadstone-Agenten im Park postiert – theoretisch, um für ihrer beider Sicherheit zu sorgen, aber in Wahrheit wohl eher, um sich zu vergewissern, dass Bourne nicht aufgeflogen war. Er hatte einen Deal mit Nash: keine Überwachung, wenn er in Paris war. Keine Agenten, die ihn beschatteten. Bislang hatte Nash sich an die Vereinbarung gehalten, doch er wusste, dass es andere bei Treadstone gab, für die Bourne ein Sicherheitsrisiko war.

Leute, die der Meinung waren, dass man einem Mann, der sein Gedächtnis verloren hatte, nicht trauen konnte.

Er sah Nash auf einem Stuhl beim Teich sitzen und die Enten füttern. Bourne setzte sich zwei Stühle entfernt, zog ein Taschenbuch aus der Gesäßtasche und tat so, als würde er lesen. Es dauerte nicht lange, bis er die anderen Agenten ausfindig machte. Sechs an der Zahl. Allesamt neue Leute, die nicht schwer zu entdecken waren. Er kannte keinen von ihnen.

Nash schwieg mehrere Minuten lang. Er war von kleiner Statur, Mitte fünfzig und ein hartgesottener Veteran im Geheimdienstgeschäft. Sein Gesicht war zerfurcht, die schütteren grauen Haare waren glatt zurückgekämmt. Er trug eine braune Sportjacke über einem weißen Hemd, dessen oberste Knöpfe offen waren, dazu eine weiße Sommerhose und rote Schuhe. Seine Augen waren von einer Schildpattsonnenbrille bedeckt.

An seinem grünen Stuhl lehnte ein Gehstock. Dass er hinkte, war die Folge einer Schussverletzung, die er vor einem Jahr in der Stadt Quebec erlitten hatte. Den Schuss hatte Bourne abgegeben. Damals hatte Nash ebenso wie alle anderen bei Treadstone gedacht, dass Bourne zum Killer geworden war, der auf Rache für Novas Tod aus war.

»Hallo, Jason«, murmelte Nash endlich und wischte sich etwas Vogelfutter von den Händen.

»Nash.«

»Heiß heute. Diese verdammte Erderwärmung.«

»So ist der Sommer in Paris«, erwiderte Bourne.

»Wie geht es dir? Wir haben uns drei Monate nicht gesehen. Gibt es etwas Neues zu berichten?«

»Alles ruhig.«

»Keine Besucher aus der Vergangenheit?«

»Denkst du an jemand Bestimmten?«, fragte Bourne.

Nash zuckte mit den Schultern. »Das nicht, aber man kann nie wissen. Ich habe zwar die Nachricht verbreitet, dass du tot seist, aber die CIA weiß natürlich, dass du noch da bist, und die hat mehr undichte Stellen als ein Sieb. Im Geheimdienstgeschäft ist es ein offenes Geheimnis, dass du gesund und munter bist. Eigentlich sollte niemand wissen, wo du dich aufhältst, aber es empfiehlt sich trotzdem, auf der Hut zu sein.«

»Bin ich immer.«

»Gut. Ich habe eine Anfrage von einer alten Freundin von dir. Sie hat ausdrücklich nach dir verlangt.«

»Wer?«

»Holly Schultz.«

Bourne kniff die schmalen Lippen zusammen, und sein Blick verhärtete sich. »Holly ist nicht unbedingt das, was ich eine Freundin nennen würde.«

»Das verstehe ich.«

»Sie hat Nova und mir die Schuld an Kotows Tod in Tallinn in die Schuhe geschoben. Dabei hat ihr Assistent den Mann auf die Fähre gebracht.«

»Im Geheimdienstgeschäft ist es wie in der Politik; man schiebt sich gegenseitig die Schuld zu. Du weißt ja, wie das Spiel läuft.«

»Was will Holly von mir?«, fragte Bourne.

»Du hast wahrscheinlich gehört, dass die Welthandelsorganisation dieses Wochenende in London ihre jährliche Konferenz abhält. Die Veranstaltung löst immer wieder Protestaktionen und Demonstrationen aus. Diesmal dürfte es zu besonders schweren Unruhen auf den Straßen kommen. Im Darknet kursieren Ankündigungen von Terroranschlägen.«

»Das ist nichts Neues«, meinte Bourne.

»Aber in diesem Fall gibt es eine spezielle Bedrohung, die die CIA einigermaßen beunruhigt. Darum will Holly dich dafür.«

Bourne schwieg einen Augenblick. Er dachte an Tallinn, erinnerte sich daran, wie Holly sich auf dem schneebedeckten Gelände entfernt hatte, von ihrem Blindenhund Sugar geführt. Er erinnerte sich an das Hotelzimmer, in dem Nova und er die verheerende Bombenexplosion erlebt hatten.

Vor allem aber erinnerte er sich an den Beatles-Song.

»Lennon?«, mutmaßte er.

»Exakt.«

»Interpol ist seit drei Jahren hinter ihm her, kommt aber nicht an ihn heran. Warum glaubt Holly, dass ich ihn aufspüren kann?« 

»Sie meint, dass dir viel daran liegt, nach dem, was in Tallinn vorgefallen ist. Interpol ist ihm zwar immer noch auf den Fersen, aber Holly will jemanden von unserer Seite. Jemand, der verdeckt operieren kann. Sie hat dabei an dich gedacht.«

»Ich traue ihr nicht.«

»Ich weiß.«

»Damals in Tallinn hat uns jemand verraten«, betonte Bourne. »Lennon wusste, dass Kotow auf dieser Fähre sein würde. Jemand in der CIA muss ihm die Fluchtroute gesteckt haben.«

»Ich weiß, dass du Dixon Lewis im Verdacht hast.«

»Ich nehme an, Dixon arbeitet immer noch für Holly?«

»Soweit ich weiß, ja«, räumte Nash ein. »Hör zu, Jason, ich teile deinen Verdacht, dass damals Verrat im Spiel war, aber der CIA ist es wichtig, dass Treadstone eingebunden ist. Und Holly will nun mal dich. Wenn sich hier eine Gelegenheit bietet, Lennon zur Strecke zu bringen, müssen wir sie nutzen. Seit Carlos hatten wir es nicht mehr mit einem Killer zu tun, der über ein so undurchdringliches Netzwerk verfügt.«

Bourne sah sich einen Moment lang im Park um. »Warum sind die sich so sicher, dass Lennon noch aktiv ist? In den meisten Fällen hat sich erst Monate später herausgestellt, dass er hinter einem Anschlag steckte. Er versteht es verdammt gut, seine Spuren zu verwischen.«

»Ich weiß nicht, woher Holly ihre Informationen hat. Vielleicht ist sie einfach nur extrem vorsichtig. Sie scheint aber überzeugt zu sein, dass die Russen diese Gelegenheit nutzen wollen, um zuzuschlagen. Und wenn sie Lennon engagieren, könnte man sie nicht dafür verantwortlich machen.«

»Wer ist das Ziel?«

»Sagt dir Clark Cafferty etwas?«, fragte Nash.

»Der CEO von Right Angle Capital«, sagte Bourne.

»Ja. Right Angle ist einer der weltweit größten privaten Investoren in grüne Energieprojekte. Außerdem ist Cafferty ein wichtiger Berater des Präsidenten und ein entschiedener Gegner von Putins Russland. Er hat die Sanktionen eingefädelt, die im Frühjahr gegen Russland verhängt wurden, um Moskaus schmutziges Geld aus dem Verkehr zu ziehen. Das schmeckt Putin und den Oligarchen natürlich gar nicht. Kommenden Montag hält Cafferty einen Vortrag im Naval College in Greenwich. Holly glaubt, dass Lennon den Mann im Visier hat.«

»Montag?«, sagte Bourne. »Das ist in drei Tagen. Viel Zeit ist das nicht.«

»Darum bin ich heute hier.«

»Die werden bei der WTO-Konferenz doch sicher eine massive Polizeipräsenz haben. Warum wollen sie auch noch mich dort?«

»Holly vermutet, dass Lennon die Sicherheitsvorkehrungen umgehen kann. Es wäre ja nicht das erste Mal. Sie traut dir eher zu, in sein Netzwerk einzudringen.«

Bourne nahm die Sonnenbrille ab und sah Nash an. Die beiden kannten sich schon lange. Im Laufe der Jahre waren sie Kollegen, Freunde und zuletzt auch Feinde gewesen. Bourne kannte den Mann ziemlich gut.

Er wusste, dass Nash ein eingefleischter CIA-Mann war, der stets seine Befehle befolgte und etwaige Zweifel für sich behielt.

Außerdem wusste Bourne, wann Nash log. In diesem Moment log er.

»Da gibt es etwas, was du mir nicht sagst«, hakte Jason nach.

»Was meinst du damit?«

»Du glaubst allen Ernstes, es ginge um einen Racheakt wegen der US-Sanktionen? Deswegen würde Putin nicht riskieren, einen persönlichen Freund des Präsidenten zu eliminieren. Und noch dazu während der WTO-Konferenz? Warum sollte Lennon ausgerechnet dort zuschlagen, wo er mit extremen Sicherheitsvorkehrungen rechnen muss? Viel einfacher käme er an Cafferty heran, wenn der Mann im Urlaub ist oder mit seinem Hund spazieren geht. Worum geht es eigentlich? Warum ist Cafferty wirklich in London?«

Nash blickte über den Teich hinweg zu den Statuen im Tuileriengarten. »Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß, Jason. Wenn es da noch etwas gibt, dann behält Holly es für sich.«

Bourne stand von seinem Stuhl auf. Er hatte nicht zugesagt, den Auftrag zu übernehmen, doch das war gar nicht nötig. Nash kannte seinen Mann. Jason würde sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, an Lennon heranzukommen. »Wirst du auch in London sein?«

»Nein. Holly will, dass ich eine Mission in Kalifornien übernehme.«

»Was ist in Kalifornien los?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber du bist in London nicht auf dich allein gestellt. Holly wird selbst da sein. Wenn du ankommst, quartiere dich im Radisson Blu im Docklands-Viertel ein. Dort wird sie Kontakt mit dir aufnehmen.«

»Die Leiterin der Russland-Abteilung der CIA wird mit Cafferty in London sein?«

»Ja.«

»Zusammen mit Dixon?«

»Vermutlich.«

»Und das alles nur wegen eines Vortrags?« Bourne schüttelte den Kopf und setzte die Sonnenbrille wieder auf. Seine inneren Alarmglocken schrillten. »Wäre ich wirklich in London, um Lennon zu erwischen? Oder eher als Sündenbock, falls etwas schiefgeht? Das Szenario erinnert verdammt stark an Tallinn.«

Nash schwieg, doch sein Schweigen war Antwort genug.

»Also gut, ich fliege gleich morgen früh«, sagte Jason. »Ich muss aber einen Zwischenstopp einlegen.«

»Wo?«

»In Stockholm. Ich muss mit jemandem reden, der viel mehr über Lennon weiß als du oder ich. Oder als Holly.«

Bourne hatte sich bereits ein paar Schritte entfernt, als der alte Treadstone-Agent ihm mit gedämpfter Stimme nachrief: »Jason.«

»Ja?«

»Was ich vorhin über deine Vergangenheit gesagt habe, war verdammt ernst gemeint«, betonte Nash. »Pass auf dich auf.«

|3

Das erste Mal fiel ihm die junge Französin mit dem Bürstenschnitt auf, als er am Bahnhof Châtelet auf den Zug zum Flughafen Charles de Gaulle wartete. Sie war gekleidet wie ein Teenager, doch er sah ihr an, dass sie älter war, als sie sich gab. Sie trug ein Jeanshemd mit Antifa-Aufnähern, knappe Shorts und kniehohe schwarze Stiefel. Ihren schmutzigen Rucksack trug sie lässig auf einer Schulter. Die kurzen Haare waren knallgelb gefärbt, dazu trug sie große weiße Ohrringe. Ihr Outfit zog die ganze Aufmerksamkeit auf sich, sodass man kaum auf ihr Gesicht achtete. Gerade deshalb prägte sich Bourne ihr leicht nach oben gekrümmtes Kinn und die knollige Nasenspitze ein.

Das nächste Mal sah er sie vier Stunden später bei den Taxis am Flughafen Arlanda in Stockholm. Der Rucksack fehlte ebenso wie die Ohrringe. Ihre Kurzhaarfrisur war unter einer kupferroten Perücke versteckt, die Punk-Klamotten hatte sie durch ein Taylor-Swift-T-Shirt und hautenge Jeans ersetzt. Sie hatte keine Mühen gescheut, um anders auszusehen als zuvor, doch sie war es eindeutig, wie Bourne an ihrem Kinn und der knolligen Nasenspitze erkannte.

Er wurde also bereits beschattet.

Sein Taxi brachte ihn zum Waterfront-Kongresszentrum. Von dort ging er zu Fuß zum Hauptbahnhof. Die junge Frau hielt sich in sicherem Abstand. Sie war gut, aber nicht gut genug, um zu merken, dass sie aufgeflogen war. Er kaufte sich ein Ticket für den nächsten Zug nach Uppsala, dann tauchte er in der Menge der Passagiere unter, die aus einem ankommenden Zug ausstiegen, und verließ mit ihnen den Bahnsteig. Von seinem Beobachtungsplatz im Bahnhofsgebäude sah er die Frau nervös am Bahnsteig auf und ab gehen, bis ihr klar wurde, dass er ihr entwischt war. Frustriert schlug sie mit der Faust gegen eine Säule. Sie hatte offenbar noch nicht gelernt, ihre Emotionen im Zaum zu halten. Für eine Agentin war das gefährlich.

Bourne ließ sie auf dem Bahnhof zurück und tauchte in die Straßen Stockholms ein. Er bemerkte keine weiteren Beschatter; umso mehr beschäftigte ihn eine Frage: Für wen arbeitete die junge Frau?

War es Nash, der ihn im Auge behalten wollte? Oder Holly Schultz?

Oder wusste Lennon bereits, dass Bourne ihm auf der Spur war?

Er fand ein unscheinbares Hotel über einem indischen Restaurant im Östermalm-Viertel und wartete, bis es dunkel wurde, ehe er sich wieder ins Freie wagte. Sein Weg führte ihn nach Süden über die Djurgården-Brücke, von wo er auf dem Gehsteig am Wasser entlangging, das die Insel umgab. Hier waren viele Passanten unterwegs, doch die junge Frau tauchte nicht wieder auf. Dennoch drehte er zwei Runden, ehe er auf sein eigentliches Ziel, das Vasa-Museum, zuging. Das Gebäude war geschlossen und dunkel, doch er ging zum Personaleingang auf der Hinterseite und wartete, bis für einen Augenblick keine Touristen unten am Wasser zu sehen waren, ehe er das Schloss knackte.

Drinnen stieg er die Treppe ins Herz des Museums hinunter. Vor sich sah er die schwedische Galeone aus dem siebzehnten Jahrhundert aufragen wie ein Meeresungeheuer. Die Vasa war schon auf ihrer Jungfernfahrt im Jahr 1628 gesunken und nach drei Jahrhunderten vom Meeresgrund geborgen worden. Heute thronte das sechzig Meter lange Kriegsschiff in dem dunklen Raum wie das Geisterschiff des Fliegenden Holländers, der der Sage nach dazu verdammt war, auf dem Meer herumzuirren.

Auf der anderen Seite des Schiffes sah Bourne Licht in dem abgetrennten Bereich, in dem die Museumswissenschaftler ihren Forschungen nachgingen. Er wusste, dass Gunnar Eriksson gern noch spätabends arbeitete. Lautlos schlich Bourne zu dem verschlossenen Tor, doch als er da war, konnte er niemanden erkennen. Ein Stuhl war vom Tisch zurückgeschoben, aus einer Teetasse stieg heißer Dampf auf, und der Computerbildschirm war noch nicht in den Schlafmodus gewechselt. Gunnar war erst wenige Augenblicke zuvor weggegangen.

Er hatte Bourne kommen sehen.

Jason drehte sich langsam um und rief in die Dunkelheit, die die alte Galeone umgab: »Ich bin’s, Gunnar. Cain.«

Sekunden später antwortete eine Stimme auf Englisch mit schwedischem Akzent: »Soso, dann stimmen die Gerüchte also. Du bist es wirklich.«

Ein dünner blonder Mann in den Vierzigern trat unter den schokoladebraunen Planken der Vasa hervor. Seine Schritte hallten durch den Ausstellungsraum. Er trug einen weißen Labormantel über einem blassgrünen Sweater und Jeans. Die fettigen Haare waren in der Mitte gescheitelt, sein langes Gesicht mit Tränensäcken unter den blauen Augen war von einem schütteren Bart umrahmt. In der Hand hielt er eine Pistole, die er wegsteckte, als er Bourne sah.

»Man kann nie vorsichtig genug sein«, meinte Gunnar. »Auf den Kamerabildern habe ich dich nicht erkannt.«

»Entschuldige, dass ich so überraschend reinplatze.«

»Nein, ist schon okay. Ich vermisse unsere nächtlichen Gespräche, in denen wir die Probleme der Welt gelöst haben, du, ich und Nova. Willst du einen Tee?«

»Nein, danke.«

»Dann gehen wir erst mal nach hinten. Sag mir, was du brauchst.«

Bourne folgte Gunnar in den Forschungsbereich, wo der Wissenschaftler sich an seinen Tisch setzte und Bourne über den Rand seiner Teetasse hinweg musterte. Gunnar war Anthropologe und hatte die letzten zwanzig Jahre damit zugebracht, alles zu analysieren, was sich an Bord der Vasa befand, um ein Bild vom Leben in Schweden im siebzehnten Jahrhundert zu erhalten. Zudem hatte er einen Nebenjob, von dem nur wenige wussten. Interpol wandte sich regelmäßig an ihn, wenn es darum ging, die Verhaltensmuster gefährlicher Terrornetzwerke vorherzusagen. Gunnars Profile stützten sich auf kleinste Details, wie etwa die Schuhmarke der Terroristen, die Autos, die sie fuhren, und die Musik, die sie streamten. Seine Analysen waren unglaublich treffend. Einmal hatte er vorgeschlagen, dass das FBI