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Ein entspannter Vorruhestand in einem kleinen Dorf in den Cotswolds – so hatte sich Tanzlehrer Colin Duffot eigentlich sein weiteres Leben vorgestellt. Doch seine Fähigkeit, in den Bewegungen der Menschen zu lesen, und eine besorgniserregende Anzahl ungeklärter Todesfälle haben ihn zu einem durchaus erfolgreichen Privatermittler werden lassen. Gemeinsam mit seinen Freunden, der quirligen Krankenschwester Norma und dem schrulligen Pfarrer Jasper, konnte er bereits einige Mörder überführen. Auch als in dem Dorf das Heiratsfieber ausbricht, zeichnet sich ab, dass Colins Dienste gefragt sind. Denn nach einem Hochzeitstanzkurs baumelt die Ehrendame der Braut von der Decke und niemand glaubt ernsthaft an einen Selbstmord – außer vielleicht dem mürrischen Inspector Hoffer, der sich jede Einmischung in die Polizeiarbeit verbittet. Doch die Rechnung hat er ohne Mittelenglands skurrilstes Hobby-Ermittlertrio gemacht … Die Braut des Mörders ist der fünfte Band der Colin-Duffot-Reihe.
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Seitenzahl: 343
Für gewöhnlich ging Sarah Snow früh schlafen. Nicht nur, weil es für eine Postbotin von Vorteil war, morgens nicht vor Müdigkeit vom Fahrrad zu plumpsen, sondern auch, weil sie es genoss. Die Wärme ihrer zwei Decken, das langsame Wegdämmern über einem guten Buch und das Säuseln des Windes, der um ihr altes Cottage fauchte, waren Annehmlichkeiten, die sie sanft in die Traumwelt gleiten ließen.
Doch heute Abend war Halloween. Und wenn sie nicht aufblieb, bis auch die letzten Dorfkinder an ihre Tür geklopft hatten, um Süßigkeiten einzufordern, würde sie morgen Zahnpasta unter der Türklinke und rohe Eier an den Fensterscheiben vorfinden. Darauf legte sie keinen Wert. So war es bereits nach zehn Uhr, als sie beschloss, sich eine letzte Tasse Tee aufzubrühen.
In der Küche fielen ihr sofort die eigenartigen Geräusche auf, die nicht einmal das Fauchen des Wasserkochers übertönen konnte, und die sie an kämpfende Katzen erinnerten. Als sie aber an ihr Fenster trat und zu dem von mehreren Gartenlaternen erleuchteten Grundstück ihrer Nachbarn hinübersah, erkannte sie den wahren Grund für den ungewöhnlichen Klangteppich: Im trockenen Chinagras stand Luke Masterson und warf unter lautem Gejohle Klorollen in die Zweige des alten Kirschbaums, wo das weiße Papier hängen blieb und traurige, aber immerhin mehrlagige Girlanden bildete.
Sarah hängte einen Teebeutel in die Tasse, goss das heiße Wasser darüber, und fragte sich, ob sie etwas unternehmen sollte. Zwar brannte bei den Carpenters Licht, doch das hieß nicht zwangsläufig, dass auch jemand zu Hause war. Im Carport, gleich neben dem honigfarbenen Cottage des Lehrerehepaars, stand zumindest kein Wagen. Und an einem Abend wie diesem wurde selbst in ihrem sonst so stillen Dorf die eine oder andere Party gefeiert.
Während der Duft ihres Kräutertees sich allmählich in der Küche ausbreitete, beschloss Sarah, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Lehrer waren an Halloween nun einmal das bevorzugte Opfer für die Streiche ihrer Schüler. Und Luke, der sich mit seinen fast zwölf Jahren bereits als Tunichtgut einen Namen gemacht hatte, würde sich von ihr ohnehin nichts sagen lassen.
Noch immer hielt das Gebrüll und Gekicher im Garten der Carpenters an. Kaum anzunehmen, dass Luke allein unterwegs war. Vermutlich tobte sich dort drüben gerade eine ganze Bande aus. Doch solange es bei Klorollen und ähnlichen Kleinigkeiten blieb, konnte man ihr Treiben noch als harmlos bezeichnen.
Mit der Tasse in der Hand schickte Sarah sich an, ihre Küche zu verlassen, als ein lauter Knall alle Stimmen übertönte. Noch einmal trat sie ans Fenster, um zu sehen, was passiert war. Sie beobachtete Luke, der gerade weit ausholte und etwas in Richtung des Nachbarhauses warf. Das Etwas zog einen winzigen roten Funkenschweif hinter sich her und prallte gegen eines der kleinen Fenster im Dachgeschoss. Lukes Gelächter wurde vor Begeisterung schrill.
Sarah überdachte ihre Entscheidung, die sie gerade erst getroffen hatte, noch einmal. Feuerwerkskörper stellten eine neue Stufe der Eskalation dar, die sie nicht ignorieren konnte. Energisch riss sie ihr Fenster auf und brüllte nun ihrerseits in die Dunkelheit.
»Hey! Luke Masterson, ich habe dich genau gesehen! Mach, dass du fortkommst, oder ich rufe bei deinen Eltern an, damit sie dir die Hammelbeine lang ziehen!«
Die Antwort bestand, wenig überraschend, aus einer rüden Geste und einem lauten Kommentar, den Sarah nicht verstand. Aber sie legte auch wenig Wert auf das, was Luke ihr mitzuteilen hatte. Entscheidend war, dass der Junge nun tatsächlich über den niedrigen Gartenzaun sprang und das Weite suchte. Mehr hatte sie ja gar nicht erreichen wollen.
Zufrieden schloss Sarah das Fenster, warf einen Blick auf die Wanduhr und entschied, dass Halloween so gut wie vorüber war und die meisten kleinen Bettelgeister inzwischen in den Federn lagen. Zeit, sich selbst ebenfalls hinzulegen. Sie löschte die Lichter im Erdgeschoss und stieg die steile Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf.
Sarah hatte das Cottage von ihren Eltern geerbt. Selbst hätte sie sich ein eigenes Haus in dieser Lage niemals leisten können, und sie war dankbar für dieses Zuhause auf dem Hügel, abseits stark befahrener Straßen. Von hier oben konnte man fast das ganze Dorf überblicken, das sich malerisch in die Landschaft der Cotswolds einfügte und in den letzten Jahren immer mehr Touristen anzog. Nach und nach verjüngte sich auch die Nachbarschaft um sie herum. Die Carpenters beispielsweise waren erst vor einem Jahr nebenan eingezogen und hatten das alte Haus liebevoll renoviert, was Sarah manchmal ein wenig neidisch über den Zaun blicken ließ. Sie selbst hätte sich einen kompletten Anstrich der Fassade und ein neues Reetdach nicht leisten können.
In ihrem Schlafzimmer angekommen, wollte Sarah gerade die Gardinen zuziehen, als ihr ein penetranter Geruch auffiel. Zuerst glaubte sie an den Kaminduft eines Nachbarn, der sich den Weg durch ihre Fensterritzen suchte. Doch es roch strenger und intensiver als gewöhnlich, was ihr Misstrauen erregte. Besorgt steckte sie die Nase noch einmal zur Schlafzimmertür hinaus. Nein, der Geruch kam nicht aus ihrem eigenen Haus, so viel stand fest. Im Treppenhaus überwog noch der schwache Duft ihres Kräutertees. Doch in den Hauch von Pfefferminz mischte sich immer stärker der Brandgeruch, und der war in ihrem Schlafzimmer besonders intensiv.
Sarah trat ans Fenster, um den Dingen weiter nachzugehen. Da sah sie die Antwort direkt vor sich. Das Reetdach der Carpenters kokelte fröhlich vor sich hin. Funken stoben in die Dunkelheit, ein Knacken, deutlich hörbar, auch für sie, erfüllte die Nacht und verriet, mit welcher Geschwindigkeit sich das Feuer durch seine Nahrung fraß.
Sofort eilte Sarah zu ihrer Handtasche, die neben dem Bett stand, riss das Telefon heraus und wählte die Nummer der Feuerwehr. Einmal ertönte das Freizeichen in der Leitung, dann forderte eine freundliche Frauenstimme sie auf, ihr Anliegen vorzutragen.
»Feuer auf Poppy Hills. Das Haus der Carpenters brennt. Die Nummer neun!«, rief Sarah aufgeregt und bewahrte so gut es ging Ruhe, um alle Fragen, die ihr nun gestellt wurden, zu beantworten.
Mit zitternder Stimme nannte sie ihre eigene Adresse und ihren Aufenthaltsort. Als die Dame in der Notrufzentrale von ihr wissen wollte, ob alle Bewohner das brennende Haus bereits verlassen konnten, stürzte Sarah zurück ans Fenster.
»Ich weiß nicht genau, der Wagen der Familie ist weg. Ich schätze, sie sind gar nicht zu Hause, aber das ist nur eine Vermutung. Ich …« Der Schock traf sie so plötzlich und unerwartet, dass es ihr für einen kurzen Moment die Sprache verschlug. Dann aber brach es aus ihr heraus. »Ich kann dort drüben im ersten Stock jemanden am Fenster stehen sehen. Oh mein Gott, ich glaube, es ist Emily. Die Tochter der Carpenters. Ja! Ja, es ist Emily!«
In diesem Moment fiel im Haus gegenüber der Strom aus und das eben noch helle Fenster lag in Dunkelheit.
»Ich muss sie rausholen!«, rief Sarah wie von Sinnen in ihr Telefon. »Schicken Sie den Löschzug los, ich kümmere mich um das Kind!« Mit diesen Worten warf sie das Handy aufs Bett und rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus.
Draußen erhellte der Feuerschein des jetzt lichterloh brennenden Daches bereits die Nacht. Beißender Qualm stieg Sarah in die Nase und je näher sie dem Haus der Carpenters kam, desto schlimmer wurde die sengende Hitze, die von den Flammen ausging.
Beherzt griff Sarah nach einem Steinhasen, der im Blumenbeet hockte, und schlug eines der unteren Fenster ein. Ihre Angst war kaum noch in Worte zu fassen, doch sie wusste, dass sie es sich nie verzeihen würde, wenn sie jetzt tatenlos zusah, wie ein achtjähriges Kind starb. Was es auch kostete, sie musste versuchen, das Mädchen zu retten.
»Emily!«, brüllte sie aus Leibeskräften und wurde durch einen Hustenanfall unterbrochen, während sie ins Innere des Hauses kletterte, wobei die Scherben im Rahmen ihr die Arme aufrissen. »Ich bin unterwegs zu dir! Ich komme, Emily!«
»Hey Siri! Spiel uns bitte einen Walzer in gemäßigtem Tempo.« Stolz blickte Sidney Baker von seinem Telefon auf und deutete auf zwei Lautsprecherboxen sowie weiteres technisches Equipment, das in seinem ansonsten eher dürftig bestückten Bücherregal stand.
Colin ging davon aus, dass das meiste davon aus den Staaten stammte und von Sidney in das beschauliche und in mancher Hinsicht noch rückständige Dorf in den Cotswolds eingeschleppt worden war. Sidney selbst war hier geboren und hatte aus beruflichen Gründen eine Weile im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gelebt. Jetzt, da er hier seine große Liebe gefunden hatte, plante er, in seiner alten Heimat zu bleiben.
Geduldig wartete Colin darauf, dass diese Wunderwerke der Technik sie mit Musik beglücken würden, denn Grace und Sidney hatten heute ihre erste Privatstunde bei ihm, die auf ihren eigenen Wunsch in dem teilweise ausgeräumten Wohnzimmer des Paares stattfand. Auf Colins Frage, ob der Couchtisch nun auf der Terrasse ausharren müsse und ob dies bei der vorherrschenden Witterung eine gute Idee sei, eröffnete Sidney ihm, die Möbel wären in der angrenzenden Sauna verstaut. Dabei deutete er auf eine verschlossene Tür aus Kiefernholz, in die ein rautenförmiges Fenster eingelassen worden war. Wofür man eine Sauna direkt neben dem Wohnzimmer benötigte, war Colin schleierhaft, aber es ging ihn nichts an. Als Stauraum war sie allemal praktikabel, und das war vermutlich ohnehin das Schicksal der meisten Saunen.
»Es tut mir leid, ich habe keinen gemäßigten Walzer finden können. Möchten Sie stattdessen ein Rezept für Kokosplätzchen hören?«, quäkte eine ihm fremde Frauenstimme laut in die Stille.
Während Colin nur mühsam ein Lachen unterdrückte, lief sein Schüler puterrot an. »Nein. Wir wollen nicht backen, wir wollen tanzen. Hey Siri, spiel irgendeinen Walzer.«
»Ich muss mich für meinen Verlobten entschuldigen.« Grace, die zukünftige Braut, wartete mit verschränkten Armen auf ihren Einsatz. Sie war eine Schönheit, deren Gesicht üblicherweise Sanftmut und Güte ausstrahlte. Im Augenblick wirkte sie allerdings etwas genervt. »Seit er mir diesen ganzen Kram ins Haus geschleppt hat, ist Sidney wie besessen davon. In den letzten Tagen hat er zudem mehrere programmierbare Küchengeräte für mich bestellt, die jetzt nach und nach eintrudeln. Angeblich, um mir das Leben zu erleichtern. Ich habe es nicht immer leicht mit ihm.«
»Aber jetzt!«, rief Sidney in diesem Moment, da eine sanfte Melodie erklang. »Jetzt hat es geklappt.«
»Oh ja.« Colin hatte Mühe, ernst zu bleiben. »Siri spielt zweifellos Musik, was für unsere Zwecke besser als jedes Keksrezept ist. Nur handelt es sich nicht um einen Walzer, tut mir leid.«
»Nicht?« Sidney sah ihn verblüfft an. »Aber warum …?«
»Siri ist wohl der Auffassung, dass jedes Lied mit dem Wort ›Waltz‹ im Titel auch im Dreivierteltakt geschrieben ist. Aber Safe the last Waltz for me geht in dieser Version eher als Rumba durch. Tut mir leid.«
»Jetzt reicht es.« Grace stolzierte aus dem Wohnzimmer und kam gleich darauf mit einer Art Ghettoblaster zurück. »Wenn ich dich bitten dürfte, eine deiner CDs in unseren angeblich vorsintflutlichen Player einzulegen, Colin? Ich denke, so kommen wir schneller zum Ziel.«
»Aber das ist doch nicht mehr zeitgemäß«, jammerte Sidney und verstummte erst, als der gestrenge Blick seiner Verlobten seinen Widerspruchsgeist endgültig erstickte.
Colin öffnete seine gute alte CD-Tasche, entnahm ihr einen schon stark zerkratzten Tonträger, und endlich konnte die Unterrichtsstunde fortgesetzt werden.
Er ließ den beiden Zeit, sich aufeinander einzulassen. Grace war die Talentiertere der beiden und konnte sich nur schwer damit abfinden, nicht die Führung zu übernehmen. Sidney brachte durchaus Potenzial mit, wirkte aber noch sehr unsicher und war sich seiner Rolle als tonangebende Person auf dem Parkett nicht bewusst. Zudem konnte Colin dem Bräutigam ansehen, wie sehr ihn die Niederlage Siris gegen eine herkömmliche Compact Disc nervte.
Eine halbe Stunde später sah die Welt schon wieder anders aus. Er konnte das Paar in relativ zufriedener Stimmung aus seiner ersten Tanzstunde entlassen, und das war, wie Colin fand, das Wichtigste. Den Kaffee, den Grace ihm anbot, musste er leider ablehnen.
»Ich würde gerne bleiben, aber ich habe heute noch eine weitere Unterrichtsstunde. Eine ganze Hochzeitsgesellschaft, die sich entschlossen hat, gemeinsam für den großen Tag zu üben. Neben dem Brautpaar kommen noch Brautjungfern, Trauzeugen und die Eltern.«
»Wie mutig.« Grace zog die Brauen hoch. »Ich bin ja froh, wenn ich meine Verwandtschaft nicht länger als unbedingt nötig ertragen muss. Wie heißt denn dieses andere Brautpaar? Vielleicht kennen wir sie ja.«
»Gut möglich. Zumindest stammen sie ebenfalls aus unserem Dorf, soviel ich weiß.« Colin überlegte einen Augenblick und hatte Mühe, sich die Namen in Erinnerung zu rufen. Dann aber fiel ihm zumindest der der Braut wieder ein. »Helen Bell?«
»Aber ja, natürlich. Helen heiratet.« Grace zog eine Grimasse. »Wie konnte mir das nur entfallen?«
»Oh! Die einzige Tochter der vornehmen Familie Bell?« Sidney lachte auf. »Ich hoffe, du knöpfst denen ordentlich Geld ab, Colin. Denn davon haben diese Leute mehr als genug. Ihnen gehört die Druckerei am Ortseingang.«
»Und der Andenkenladen neben der Kirche«, ergänzte Grace. »Kaum zu glauben, dass Helen den guten Desmond endlich überreden konnte, mit ihr vor den Traualtar zu treten. Ob sie schwanger ist?«
»Das weiß ich nicht.« Colin schob die CD zurück an ihren Platz und zog den Reißverschluss der Tasche zu.
»Ach, komm schon, Colin.« Grace blieb hartnäckig. »Im Dorf erzählt man sich, du könntest einen Mörder nur anhand seiner Bewegungen erkennen und überführen. Und du willst nicht gesehen haben, ob Helen guter Hoffnung ist? Ich glaube dir kein Wort.«
»Ich habe Helen Bell ja noch gar nicht tanzen sehen. Der heutige Abend ist unsere erste gemeinsame Stunde«, verteidigte sich Colin und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Aber natürlich ist mir ihr leicht watschelnder Gang nicht entgangen, als sie persönlich bei mir wegen des Unterrichts anfragte. Gut möglich, dass die Hormone bereits ihre Arbeit aufgenommen haben und ihre Beckenmuskulatur beeinflussen.«
Grace verzog das Gesicht und schüttete den Kopf. »Nein. Helen watschelt schon ihr Leben lang. Sie hat so komische Knickfüße. Du wirst nochmal genauer hinschauen müssen, damit du mir bei unserem nächsten Treffen alles brühwarm berichten kannst.«
Colin grinste. »Tanzlehrer unterliegen zwar nicht der Schweigepflicht, aber mir wäre es trotzdem lieber, du würdest dir deinen Tratsch anderswo abholen.«
»Wie du meinst.« Grace begleitete ihn zur Tür. »Dann werde ich wohl mal wieder neue Postkarten kaufen gehen müssen. Helen hilft nämlich manchmal im Andenkenladen aus. Natürlich nur, wenn der Dame aus gutem Hause vor Langeweile die Decke auf den Kopf fällt.«
»Was unwahrscheinlich ist, da sie gerade eine Hochzeit plant.« Colin winkte Grace zum Abschied und schlenderte die Dorfstraße hinunter.
Dieser erste Teil seines Arbeitstages war angenehm verlaufen, und so war es auch zu erwarten gewesen. Er hatte Grace während den Proben zum Krippenspiel des vergangenen Weihnachtsfestes kennengelernt, wo sie sein Herz zum Klopfen gebracht hatte. Doch mehr war daraus nicht geworden, schon allein deswegen, weil Colin mit Lucy verbandelt war und nichts von Dreiecksbeziehungen hielt. Direkt nach der Aufführung war dann Sidney Baker nach seinem längeren Auslandsaufenthalt aufgetaucht und hatte sich seiner Jugendliebe Grace erinnert. Die wieder aufgewärmte Liebesgeschichte nahm einen recht stürmischen Verlauf und Sidney war binnen kürzester Zeit bei Grace eingezogen. Mittlerweile waren die beiden offiziell verlobt, und auch wenn die Hochzeitsglocken für den hübschen Engel und ihren Reimport aus den Staaten erst im übernächsten Frühling läuten sollten, so hatte Grace beschlossen, frühzeitig mit den Tanzstunden zu beginnen, um an ihrem großen Tag glänzen zu können. Ein ganzes Jahr schien ihr dafür offensichtlich angebracht, und Colin hatte nicht widersprochen.
Auch an diesem Wintertag lag ein Hauch von Frühling in der Luft. Erste Schneeglöckchen schoben sich aus der Erde und der Gesang der Vögel klang für Colin mit jedem Tag mutiger. Im Garten seiner Vermieterin, Dorothy Grey, zeugten noch ein paar letzte Schneeflecken auf dem Rasen von dem strengen Winter, der hoffentlich bald endgültig hinter ihnen lag, und ein wenig Raureif schmückte das Messingschild am Gartentor.
Colin Duffot
Tanzstunden und Ermittlungen aller Art
Unterricht und Problemlösung auf Anfrage
war dort zu lesen.
Colin schmunzelte und verspürte ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit, als er auf die Haustür zuging. Den Beruf des Tanzlehrers hatte er tatsächlich erlernt und über Jahrzehnte hinweg im pulsierenden London ausgelebt. Zum Detektiv hatten ihn die Ereignisse des vergangenen Jahres werden lassen. Auch wenn er zugab, dass er ohne die Hilfe seiner Freunde, dem Pfarrer Jasper und der Krankenschwester Norma, oft aufgeschmissen gewesen wäre, so war es vor allem ihm zu verdanken, dass die Dorfpolizei im vergangenen Jahr gleich mehrere Mörder verhaften konnte. Von einem Fall zum nächsten war er mehr in seine Rolle hineingewachsen, und jetzt fühlte sich die Kombination aus zwei völlig unterschiedlichen Betätigungsfeldern einfach richtig an. Aus finanzieller Sicht hätte ein drittes Standbein aber auch nicht geschadet.
»Du bist spät dran.« Dorothy öffnete ihm die Tür. Sie trug ihren geblümten Morgenmantel und ihr schon leicht ergrautes Haar hatte sie auf große Wickler gedreht. In der Hand hielt sie einen Schlüsselbund, von dem ein grellgrünes Band herabbaumelte.
»Für dich.« Sie drückte ihm den Gegenstand in die Hand. »Der Sportlehrer sagt, du kannst ihn behalten, solange du willst. Er hat noch mehr davon. Der Große da öffnet die Tür zur Turnhalle, und mit dem ganz Kleinen kommst du ins Lernschwimmbecken. Aber es wird ja wohl kein Wasserballett werden, also ist der für dich ohne jede Bedeutung.«
»Du bist meine Rettung.« Er steckte den Schlüsselbund ein und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Was für eine verrückte Idee von Jasper, den Fußboden im Gemeindehaus austauschen zu wollen. Ich bin mit dem alten Linoleum vollauf zufrieden gewesen.«
»Die Arbeiten dauern ja nur ein paar Wochen«, wiegelte Dorothy ab. »Dann kannst du wieder in vertrauter Umgebung unterrichten. Und wer weiß: Vielleicht gefällt dir die Turnhalle auf lange Sicht sogar besser.«
»Das glaube ich kaum.« Colin zog eine Grimasse. »Das Platzangebot ist bestimmt hervorragend, aber der Geruch … nee. Weißt du, was ich meine? Es existiert ein klassisches Turnhallenaroma. Ein Gemisch aus Schweiß, alten Socken, Wollmäusen und Enttäuschungen, egal wie neu und modern das Gebäude auch ist.«
»Modern ist unsere Halle gewiss nicht. Dort hat sich seit Jahrzehnten nichts getan. Schon damals, als ich die Kinder noch über Böcke und Kästen springen ließ, war der Kram alt und marode.« Dorothy blickte mahnend auf das Zifferblatt ihrer Armbanduhr. »Nichtsdestotrotz musst du dich jetzt beeilen. Du kannst meinen Wagen nehmen.«
»Darauf hatte ich gehofft. Ich muss nur noch rasch ein paar Dinge aus meinem Zimmer holen.«
Im Laufschritt brachte er die Treppe zum ersten Stock hinter sich, wo er Lucy im Gemeinschaftsbad singen hörte. Falsch wie immer, aber fröhlich und laut. Es war ein Titel aus dem Musical My fair Lady und handelte von dem Bräutigam, der hofft, rechtzeitig zur Hochzeit zu kommen.
Mit gerunzelter Stirn betrat Colin sein Reich, wo das Muster der Blumentapete mit dem des Teppichs wetteiferte. Der alte Ohrensessel am Fenster rundete das Bild eines völlig aus der Mode gekommenen Interieurs ab, was Colin nicht im Geringsten störte. Alarmierend fand er hingegen das Übermaß an glücklichen Paaren in seinem Umfeld und, dass auch Lucy inzwischen Lieder vom Heiraten trällerte. Vielleicht tat der Frühling gut daran, sich etwas zu beeilen und einem trägen Sommer Platz zu machen, bevor man auch von ihm erwartete, Zukunftspläne zu schmieden.
Lucys Gesang noch in den Ohren, schleppte er die tragbare Musikanlage samt Kabeln und Boxen zu dem betagten Seat seiner Vermieterin und hob alles in den Kofferraum. Da er nicht davon ausgehen konnte, in der Turnhalle die nötige Technik vorzufinden, musste sein altes, aber zuverlässiges Arbeitsmaterial mal wieder zum Einsatz kommen. Was das Gewicht anging, wäre eine modernere Ausstattung durchaus praktisch gewesen. Nur traute er Geräten, die Kochrezepte statt Walzer anboten, nicht über den Weg.
Einen Augenblick später tuckerte der Kleinwagen an der Kirche vorbei, wo zwei Handwerker unter Jaspers Anleitung gerade eine mobile Theke ins Freie schleppten. Colin konnte es gar nicht erwarten, seinen Unterricht wieder in dem gemütlichen Gemeindehaus abzuhalten, trat aufs Gas und bog in die Straße ein, an der die Schule lag. Innerlich wappnete er sich bereits gegen den zweifelhaften Charme einer alten Turnhalle. Aber es war ja nur für eine Weile.
Dorfpfarrer Jasper Johnson war gereizter Stimmung. Seine Haushälterin, Mrs Hobbs, hatte entschieden, dass er zu dick geworden war und zu viel Alkohol trank. Beides mochte stimmen, nur fiel es Jasper schwer, von seinen liebgewonnenen Gewohnheiten zu lassen. Ein Grund für Mrs Hobbs, sich selbst die Rolle einer Aufpasserin aufzuerlegen und ihn auf strenge Diät zu setzen. Der Tag hatte für Jasper mit einer Orange und kaltem Toast begonnen und war über einen Salat zur Mittagszeit nun bei einem Apfel zum Tee angekommen. Mrs Hobbs ahnte noch nicht einmal, wie nah sie einer Kündigung gewesen war, als sie ihm zum Abendbrot mit sauren Gurken gedroht hatte. Da Jasper aber wusste, wie sehr er einen solchen Schritt auf lange Sicht bereuen würde, ließ er seine Laune an den Arbeitern aus, die sein Gemecker stoisch ertrugen.
Inzwischen knurrte sein Magen lauter als sein Hund Dewey, wenn ihn die Katze des Nachbarn neckte, und Jasper sah den Moment der Insubordination gekommen.
»Weitermachen!«, rief er den beiden Handwerkern zu. »Dieses Haus wird gebraucht. Je mehr Zeit ihr benötigt, desto länger wird das öffentliche Leben brachliegen. Keine Tanzkurse, keine Bibelkreise, keine Handarbeitskurse.«
»Das ist natürlich schlimm«, brummelte einer der Männer und spielte mit seinem Leben, weil er ergänzte: »Ein Mangel an Handarbeitskursen wird die Landflucht in dieser Gegend definitiv verstärken. Was sollen die Leute nur tun, wenn sie nicht mehr gemeinsam klöppeln und häkeln dürfen?«
Jasper widerstand dem Drang, über den Ahnungslosen verbal herzufallen. Es lag nur an dem Mangel an Kalorien, dass er so etwas wie Mordlust verspürte. Er musste jetzt unbedingt etwas essen.
»Ich habe noch einen Termin«, erklärte er brüsk, wandte sich ab und stapfte in dem Bewusstsein davon, den Arbeitern damit einen großen Gefallen zu tun.
Mit schnellen Schritten überquerte er den Kirchplatz mit dem Ziel, den Lost Anchor aufzusuchen, den Pub zu stürmen und dessen Wirt eine Wagenladung Bratkartoffeln abzupressen.
»Mit Speck und Zwiebeln«, sagte Jasper zu sich selbst. »Und wenn es sein muss, auch mit sauren Gurken.«
Er konnte das im Wind hin- und herschwingende Holzschild mit dem aufgemalten Anker bereits sehen, als direkt neben ihm eine Fahrradklingel ertönte und Norma neben ihm abbremste. Ihr noch kürzlich christbaumkugelrotes Haar hatte zu einem hellen Blau gewechselt, das Jasper an Strumpfbänder erinnerte, wie Bräute sie in seiner Kirche gelegentlich fast zu verlieren pflegten, weil die Dinger eben gern verrutschten.
»Ich habe keine Zeit«, herrschte Jasper die ziemlich klein geratene Krankenschwester von oben herab an. »Auf mich wartet eine wichtige Aufgabe.« Er glaubte, das Bier schon auf seiner Zunge schmecken zu können.
»Ich weiß, aber heute ist Montag«, sagte Norma und schob ihr Rad neben ihm her. »Der Lost Anchor bleibt also geschlossen.«
»Verflucht!« Jasper blieb abrupt stehen und sah sich nach einem Ausweg um. Konnte er sich bei irgendeinem Gemeindemitglied kurzfristig zu einem frühen Abendessen einladen?
»Ich habe dir ein Carepaket gepackt.« Norma wies auf die Tüte in ihrem Fahrradkorb. »Gebratene Hähnchenschenkel und zum Nachtisch Apfelwaffeln mit Zimt. Gleich nachdem mich Mrs Hobbs angerufen hat, um mich zu bitten, darauf zu achten, dass du deine Diät auch außerhalb ihres Radars einhältst, bin ich in die Küche gelaufen und habe mich an den Herd gestellt. Riskier es ruhig. Seit dem Experiment mit den steinharten Keksen habe ich einiges hinzugelernt. Ich halte mich jetzt ganz genau an die Rezepte.«
»Du bist die beste Freundin, die ein Mann haben kann«, rief Jasper, riss die Tüte an sich und öffnete sie. Der Duft noch warmen Hähnchenfleisches kam ihm entgegen. »Du rettest mein Leben.«
»Na, ich weiß nicht. Hast du in letzter Zeit mal deine Blutwerte überprüfen lassen?« Norma grinste nicht, woran Jasper die Ernsthaftigkeit ihrer Frage erkannte.
»Seit Doktor Grumming in Rente gegangen ist, habe ich keine Arztpraxis mehr betreten.« Er biss in die erste Keule und hatte das Gefühl, vor Glückseligkeit jauchzen zu müssen. »Mir geht es gut, und ich lasse mir von niemandem etwas anderes einreden.«
»Wie du meinst.« Norma zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall sollst du nicht hungern. Mrs Hobbs geht es völlig falsch an. Statt einer Hungerkur brauchst du eine Ernährungsumstellung. Da gibt es aktuell einen Kochkurs im Abendprogramm der Schule, und rein zufällig ist heute die erste Stunde. Gehst du mit mir hin?«
»Was soll das?« Jasper ließ die Keule sinken. »Warum willst du mich in einen Kochkurs schleppen? Weil dir meine Gesundheit so sehr am Herzen liegt? Oder gibt es vielleicht einen anderen Grund für all das?« Er wedelte mit dem abgenagten Knochen in der Luft herum.
Mit einem Mal sah Norma zerknirscht aus. »Nun, ich gebe zu, nicht ganz selbstlos für dich gebacken und gebraten zu haben. Ehrlich gesagt, könnte ich deine Hilfe brauchen.«
Jasper hatte es geahnt. Er langte in die Tüte und holte einen weiteren Hähnchenschenkel hervor, um für das, was jetzt kam, gerüstet zu sein. Er sah Norma auffordernd an. »Heraus damit. Was ist passiert? Ich bin ein guter Beichtvater.«
»Erinnerst du dich an den Polterabend von Gilles und Lani vor zwei Wochen?«
»Natürlich. Wer hätte gedacht, dass Lani in ihrem Alter nochmal heiratet? Erstaunlich, was die Liebe bewirken kann. Das war übrigens die erste Trauung, die ich in der Kapelle von Hodge House durchgeführt habe. Eine nette Abwechslung zu den Beerdigungen, die in einem Seniorenheim ja deutlich häufiger vorkommen.«
»Na, jedenfalls ging es dabei recht feuchtfröhlich zu. Ich habe mich zum Probieren dieser Bowle nötigen lassen. Nicht nur einmal, sondern mehrfach. Und als ich abends nach Hause fuhr, bin ich dummerweise in Hoffers Verkehrskontrolle geraten.«
»Mit welchem Auto denn? Ich dachte, du hast noch nicht einmal einen Führerschein.«
»Mit dem Fahrrad«, erklärte Norma. »Aber er hat mich trotzdem pusten lassen und meinte, in meinem Zustand dürfte ich unmöglich auf der Straße unterwegs sein. Deswegen will er mich jetzt auch für einen Monat aus dem Verkehr ziehen. Als Warnung, gewissermaßen.«
»Wie zieht man jemanden aus dem Verkehr, der gar nicht Auto fährt?« Jaspers Neugier war ehrlich. »Es ist ja nicht so, als könne er dir einen Führerschein wegnehmen, den du gar nicht hast.«
»Er will mein Fahrrad beschlagnahmen!« Jetzt klang Norma aufgebracht. »Ich wette, er hat gar nicht das Recht dazu, so etwas zu tun. Aber er droht mir mit einer richtigen Anzeige, einer Geldstrafe und noch viel weitreichenderen Konsequenzen, wenn ich mich nicht füge. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ja.« Jasper war bei den Apfelwaffeln angekommen. »Hoffer hält sich für den König des Dorfes. Und seit Colin ihm vor Weihnachten die Meinung gegeigt hat, ist er darauf erpicht, allen zu beweisen, wer hier der mächtigste Mann in den Straßen ist. Und du als Colins Freundin bist ihm in deinem Suff direkt vor die Flinte geschwankt. Pech, würde ich das nennen. Geh halt vier Wochen zu Fuß.«
»Das geht aber nicht!«, rief Norma aufgebracht. »Ich bin Krankenschwester, ich habe Patienten zu versorgen. Harriet Honey oben auf den Poppy Hills hat sich das Bein verstaucht, der alte Gregory liegt mit einer Grippe im Bett und so weiter und so weiter. Niemand von diesen Leuten kommt ohne mich zurecht, glaub mir. Oder soll Harriet von den Hills hinuntergehumpelt kommen, um sich helfen zu lassen? Mal ganz davon abgesehen, dass es seit der Schließung von Grummings Praxis keinen praktizierenden Arzt mehr in der Nähe gibt. Was den alten Leuten bleibt, ist eine mobile Krankenschwester. Und deswegen muss ich auch mobil sein, ist doch logisch, oder?«
Jasper verspürte ein angenehmes Gefühl der Befriedigung, als er Norma die Tüte zurückgab. Jetzt fehlte ihm eigentlich nur noch ein gutes Bier zu seinem Glück. Doch er wollte nicht unbescheiden sein. Auch ohne einen guten Tropfen zum Nachspülen war er Norma etwas schuldig. Er fragte sich nur, ob er seine Dankbarkeit unbedingt in einem Kochkurs unter Beweis stellen musste.
»Und wie kann dir nun gesunde Ernährung dabei helfen, dein Fahrrad zu behalten?«, wollte er wissen.
»Hoffer ist in dem Kurs.« Normas Augen hatten zu leuchten begonnen. »Ich weiß es von Sergeant Dieber. Das ganze Revier hat zusammengelegt und ihm die Teilnahme zu Weihnachten geschenkt. Vielleicht bekomme ich dort die Chance, sein Herz zu erweichen. Wenn er erst merkt, was für ein netter und zuverlässiger Mensch ich bin, hat er bestimmt ein Einsehen.«
»Du willst dich bei ihm einschleimen«, übersetzte Jasper. »Jetzt verstehe ich aber immer noch nicht, was ich damit zu tun haben soll.«
»Du kannst viel besser schleimen als ich«, rief Norma.
Jasper konnte fühlen, wie sich seine Miene verfinsterte.
»Entschuldige, so habe ich das nicht gemeint«, ergänzte Norma rasch. »Du bist einfach besser darin, die Leute um den Finger zu wickeln. In der Vergangenheit konntest du beispielsweise Colin überreden, alte Damen zu besuchen, Krippenspieltänze zu proben und vieles mehr. Du hast es einfach drauf, Jasper. Und jetzt bitte ich dich inständig, deinen Zauber bei Hoffer anzuwenden, oder ich bin verloren.«
»In Ordnung.« Es waren die Hähnchenschenkel und die Apfelwaffeln, die da aus ihm sprachen, dessen war er sich bewusst. »Du sagst, es geht schon heute Abend los? Im alten Schulhaus?«
Norma nickte. »Dir bleibt nur wenig Zeit, um einen Plan zu entwerfen, wie wir Hoffer milde stimmen können. Bitte rette mich!«
»Ich werde mein Bestes geben.« Jasper klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Hoffer mag ein Herz aus Stein haben, aber ich bin der Mann, der es erweichen kann. Das hoffe ich zumindest.«
Gleich hinter dem Schulgebäude, dem ehemaligen Herrenhaus der Familie St. Clare, stand eine überdimensionale Schuhschachtel aus Beton. Kreative Kinder hatten sich bemüht, dem Klotz ein freundlicheres Aussehen zu verleihen. Riesengroße Sonnen, farbige Blumen und Schmetterlinge mit dem Durchmesser eines Kleiderschranks prangten an der Fassade und verfehlten leider ihre Wirkung. Die Turnhalle sah dadurch keineswegs ansprechender aus, im Gegenteil. Jetzt war sie hässlich und obendrein auch noch bunt beschmiert.
Colin trug seine Musikanlage über die Gehwegplatten bis zu einer grünen Metalltür. Der Schlüssel, den er von Dorothy erhalten hatte, passte und ließ sich widerspruchslos drehen. Schon bei seinem Eintreten schlug Colin der Geruch von Zitrusreiniger entgegen, der den von ihm befürchteten Turnhallenmief nur unzureichend überdeckte. Er durchquerte eine der Umkleiden, wo vergessene Turnhosen achtlos über Kleiderhaken geworfen worden waren, und stand von jetzt auf gleich in der eigentlichen Halle. Das bleiche Licht der Neonröhren fiel auf einen PVC-Belag, der die typischen Kreise und Linien verschiedener Spielfelder trug. Vor einem offenen Geräteraum standen in langer Reihe niedrige Bänke, als wollten sie eine Grenze zwischen der Folterkammer und ihren Instrumenten ziehen. Colins Blick fiel auf einen Stufenbarren und zwei Böcke, die längst vergessen geglaubte Erinnerungen an finstere Schultage weckten. Einige von ihnen waren durchaus mit Schmerz verbunden.
»Es ist nicht gerade das, was ein Tanzlehrer aus dem schicken London gewohnt ist, nicht wahr?«
Colin fuhr herum und sah sich einer jungen Frau mit einer breiten Stirn voller Sommersprossen und einem spitzen Kinn gegenüber, die ihn keck angrinste. Er war davon überzeugt, ihr noch nie zuvor begegnet zu sein. Und da sie genau zu wissen schien, wer er war, wartete er auf eine Erklärung ihrerseits, die prompt folgte.
»Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet. Mein Name ist Gladys. Ich bin Helens Ehrendame und daher eine der Planerinnen dieses Events. Auch wenn Helen unbedingt selbst die Tanzstunden buchen wollte, kümmere ich mich um vieles, was getan werden muss. Helen und Desmond vertrauen mir völlig, wir kennen uns nämlich schon ewig. Genau genommen seit der Zeit, als wir hier noch von unserem Sportlehrer gequält wurden.« Sie verdrehte die Augen. »Ich habe mir gedacht, ich komme etwas eher und versuche, das Beste aus dieser Bruchbude herauszuholen. Ein paar nette Tischdecken auf den alten Kästen, etwas Knabberkram dazu, und schon haben wir heute Abend vielleicht nicht mehr das Gefühl, in einem Albtraum aus Kindertagen gefangen zu sein.«
Gladys schaute sich suchend um, als ob sie noch nicht so recht wüsste, wo sie mit ihren Bemühungen beginnen sollte. Colin bemerkte, dass aus dem Picknickkorb, den sie bei sich trug, die Hälse einiger Sektflaschen herausragten. Offensichtlich würde dieser Hochzeitskurs zu einer Party unter Freunden ausarten, und er konnte nur hoffen, dass ihm die Führungsrolle nicht völlig entglitt.
»Können wir uns darauf einigen, den Sekt erst zur Pause ins Spiel zu bringen?«, fragte er. »Mir missfällt der Gedanke an den einen oder anderen Hochzeitsgast, der sich Mut antrinkt, bevor er auch nur einen ersten Discofox riskiert hat.«
»Aber dann wird er ja warm. Den Sekt meine ich.« Mit gerunzelter Stirn zog sie ihre Geheimwaffe hervor und betrachtete den feuchten Film auf dem Etikett. Dann aber schien sie einen Einfall zu haben. »Ich stelle ihn einfach vor die Tür, draußen ist es kalt genug.«
Ohne ein weiteres Wort lief sie hinaus und begann bei ihrer Rückkehr, Kästen in verschiedener Höhe aus dem Geräteraum zu tragen. Colin ließ sie wurschteln und begab sich auf die Suche nach einer Steckdose, stellte die Lautsprecherboxen auf, legte die CDs für die erste Stunde griffbereit neben die Anlage und schlüpfte in seine Tanzschuhe. Da bemerkte er ein Loch im Oberleder, das den nahen Tod seiner Arbeitskleidung ankündigte. Verdammt. Es fiel ihm immer schwer, sich von einem alten Paar Schuhe zu trennen und ein neues einzutanzen. Alte Tanzschuhe gaben ihrem Träger ein ganz eigenes Wohlgefühl, während neue zunächst immer eine Zumutung waren. Ob er eine Art Flicken aufkleben konnte? Er würde sich nach einem Schuster umhören müssen.
»Na bitte!«, rief Gladys durch die Halle und deutete auf eine Traube herzförmiger Luftballons, die zwischen den von der Decke herabbaumelnden Ringen schwebte. »So ist es doch gleich viel netter. Noch ein bisschen Konfetti, und schon hat die Hütte etwas mehr Glitzer.«
Bevor Colin sie stoppen konnte, ging eine Wolke aus Gold und Silber über der Tanzfläche nieder. Na wunderbar. Wenn jemand auf dem Kram ausrutschte, konnte derjenige sich direkt bei Gladys bedanken.
Er hatte gerade eine unaufdringliche Begrüßungsmusik aufgelegt, als das zukünftige Brautpaar, gefolgt von einigen seiner Gäste, die Halle betrat und direkt auf ihn zuhielt. Helen Bell war eine farblose Erscheinung mit verkniffenem Zug um den Mund, den nicht einmal die nahende Hochzeit mit ihrem Auserwählten vertreiben konnte. Schon an der Art, wie sie ging, konnte Colin erkennen, dass Körperspannung nicht zu ihren Vorzügen gehörte. Das Watscheln, das er Grace gegenüber erwähnt hatte, war heute einem unsicheren Stöckeln gewichen, was ihren strahlend weißen Schuhen und deren grotesk hohen Absätzen geschuldet war.
Ganz anders wirkte auf ihn ihr zukünftiger Ehemann Desmond Short, der Colin jetzt lässig die Hand entgegenstreckte. Er war groß, blond, hatte ein auffallend hübsches Gesicht und bewegte sich mit natürlicher Anmut. Trotzdem gab es etwas Störendes an ihm, das Colin nicht benennen konnte. Möglicherweise wirkte seine gute Laune eine Spur zu aufgesetzt, denn sein Lächeln erreichte bei der nun folgenden Begrüßung nicht seine Augen.
»Ich muss mich direkt bei Ihnen entschuldigen, Mr Duffot, denn ich bringe Ihnen hier den wohl untalentiertesten Haufen des ganzen Dorfes.«
»Schlicht und einfach Colin, bitte.« Er schüttelte die Hand des Mannes. Desmond war um einiges größer als Colin selbst, weswegen er zu dem Mann aufschauen musste. Eine Perspektive, die für Colin eher ungewohnt war.
»Sprich gefälligst nur für dich.« Eine ältere Ausgabe Desmonds, etwas kleiner, dafür aber wesentlich breiter, war neben ihn getreten. »Ich bin Lewis Short. Und im Gegensatz zu meinem Sohn bin ich auf der Tanzfläche ein Naturtalent. Ich tanze den Hokey Pokey, den Sindy Swing, den Hustle …«
»Das will der Mann alles gar nicht wissen, Schatz.« Eine Frau in den frühen Fünfzigern schob Lewis Short energisch beiseite. Sie wirkte sehr elegant, trug einen flotten Kurzhaarschnitt und besaß die lächelnden Augen, die ihrem Sohn Desmond fehlten. »Philomena Short. Aber alle sagen Fiffi zu mir.«
Colin fand keinen der beiden Namen passend für sie, behielt dies aber für sich. Stattdessen begrüßte er als nächstes die Eltern der Braut, die sich als Moira und Carl vorstellten. Beide wirkten sehr leise und zurückhaltend. Das vermögende Ehepaar Bell schien seine Tochter Helen erst spät bekommen zu haben. Colin schätzte die beiden auf etwa zehn Jahre älter als die Shorts. Tatsächlich wirkte die sichtlich eingefallene Moira schon ein wenig tattrig auf ihn.
Die letzten drei Personen, die die Turnhalle betreten hatten, waren im Alter des Brautpaars. Colin wurde ein schmächtiger Mann mit viel zu großer Brille namens William vorgestellt, bei dem es sich um Desmonds Trauzeugen, den Best Man, handelte. Er stellte sich wie selbstverständlich zu Gladys, wovon diese nicht übermäßig begeistert schien. Das letzte Paar bildeten eine schüchtern lächelnde Frau namens Dina und ein nervöser Typ mit nahezu quadratischem Schädel, der sich als Terry vorstellte. Beide machten keine Angaben darüber, welche Rolle sie in dieser Konstellation spielten.
»Schaut mal, was ich vor der Tür gefunden habe«, rief der schmächtige William in diesem Moment, hielt zwei Sektflaschen in die Höhe und strahlte. »Wollen wir erstmal anstoßen?«
»Die sind für die Pause«, protestierte Gladys, entriss ihm seine Fundstücke und trug sie wieder hinaus.
»Entschuldigung.« William wirkte kurz verunsichert und rückte seine Brille zurecht. »Ich dachte ja nur, es wäre ein netter Einstieg.«
Sobald Gladys zurückgekehrt war, hielt Colin den Moment für gekommen, mit dem Unterricht anzufangen und riss das Wort an sich. Nach einer kurzen Begrüßung ließ er seine Truppe erst einmal belastete und unbelastete Schritte abwechseln und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass die ältliche Moira Bell sich dabei kaum auf den Beinen halten konnte. Ihre Tochter Helen wackelte auf ihren Brautschuhen herum, als ob Seegang in der Turnhalle herrschen würde, und ihre Freundin Gladys hatte schon jetzt Taktprobleme. Neben Desmond Short machte nur noch William eine gute Figur und sah auch hochmotiviert aus. Es wirkte fast so, als ob er schon im Vorfeld geübt hätte. Lewis, das angebliche Naturtalent, mochte vielleicht beim Hokey Pokey glänzen können, aber nicht im Paartanz.
Colin atmete tief durch und wappnete sich in Gedanken für eine anstrengende Stunde. Doch eigentlich hatte er auch nichts anderes erwartet. Gerade vor Hochzeiten entschieden Menschen, die sich zeit ihres Lebens noch nie für Tanzschritte interessiert hatten, diesen Umstand zu ändern. Und einige von ihnen waren sehr überrascht, wenn sie feststellten, dass auch Tanzen mit fortgeschrittenem Alter schwerer zu erlernen war als in der Jugend. Selbst wenn die kichernden Teenager das meiste aus ihren ersten Kursen wieder zu vergessen pflegten, wuchs in ihnen ein kleines Pflänzchen namens Körpergefühl. Genau dort, wo einige dieser Herrschaften nur trockene Erde anzubieten hatten. Fiffi Short allerdings schlug sich, je länger die Stunde dauerte, ganz hervorragend. Ihr zuzusehen, war Colin ein regelrechter Trost.
Jasper schaute beim Schneiden der Zwiebeln sehnsüchtig aus dem Fenster und lauschte nur mit halbem Ohr den Ausführungen von Madame Legrelle, die ihnen heute die Kunst des Gratinierens näherbringen wollte. Jetzt, da sein Hunger dank Norma gestillt war, hatten Essen und insbesondere dessen Herstellung für ihn jeden Reiz verloren, und er sehnte sich nach einem gemütlichen Bier im Lost Anchor. Neben ihm schnippelte ein kahlköpfiger Herr in schwarzem Rollkragenpulli, der fast noch mehr wie ein Geistlicher wirkte als Jasper selbst, Möhren, Schnittlauch und Kartoffelscheiben in eine Schüssel, wobei er ebenfalls immer wieder auf den Schulhof hinaussah. Dieser lag jetzt, nachdem Colins Schüler eingetroffen waren, verlassen da, und es wurde zunehmend dunkler.
»Das Team Schneebesen scheint nicht besonders gut zu harmonieren«, stellte der Rollkragenträger fest und deutete mit der Spitze seines Messers in die Richtung von Norma und Inspector Hoffer. Letzterer hatte eine mürrische Miene aufgesetzt, die er zur Schau trug, seit Norma und Jasper den Hauswirtschaftsraum der Schule betreten und ihr Interesse am Kochkurs bekundet hatten. Madame Legrelle war hocherfreut über den Zuwachs gewesen. Hoffer weniger, und Jasper wurde das Gefühl nicht los, dass der Inspector Normas Plan bereits durchschaut hatte.
Weil Hoffer beim Anblick Jaspers noch viel finsterer dreingeblickt hatte als bei dem Normas, hatte Jasper bei der Zusammenstellung der Teams darauf gedrängt, in einer anderen Gruppe unterzukommen. Hoffer sollte sich nicht wie in einer Falle vorkommen. Noch nicht.
»Eine gute Entscheidung, den zweien keine Messer in die Hand zu geben«, sagte sein Schnippelpartner. »Fühlen Sie nicht auch die Spannung, die in der Luft liegt?«
»Oh doch.« Jasper wischte sich über die tränenden Augen, woraufhin sie nur noch stärker brannten. »Aber deswegen sind wir ja hier.«
Der Rollkragenträger schaute ihn verwundert an, zuckte dann mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf sein Gemüse, während Jasper sehnsüchtig zur Turnhalle hinübersah, vor deren Tür ein nettes Grüppchen aus Sektflaschen auf seinen Einsatz wartete. Warum hatten Hoffers Kollegen dem Kerl nicht einfach ein paar Tanzstunden geschenkt? Dann wären ihm die Zwiebeln erspart geblieben. Auf der anderen Seite hätte Hoffer wohl freiwillig keinen Fuß in Colins Unterricht gesetzt, was ein guter Grund war, ihn lieber in fremden Töpfen rühren zu lassen.
Die Zeit verging, ohne dass Jasper den Eindruck gewann, Fortschritte zu machen. Hoffer versuchte, ihm und Norma auf jede nur erdenkliche Weise aus dem Weg zu gehen, was gar nicht so leicht war. Denn der Rest des Kochkurses bestand aus einer Gemeinschaft älterer Damen, die Jasper schon jetzt in Gedanken nur noch »die wispernden Witwen« nannte. Das Hintergrundgeräusch aus leisem Getuschel dieses Stützstrumpf-Quartetts nahm niemals ab. Jasper fragte sich, was es so Geheimnisvolles zu besprechen gab, doch er fand nicht den richtigen Moment, um die Damen danach zu fragen. Zumal er selbst Gegenstand ihrer Unterhaltung zu sein schien, wie er aufgrund der schrägen Blicke in seine Richtung vermutete.
Direkt neben der Leiterin des Kochkurses bemerkte Jasper ein ihm bekanntes Gemeindemitglied, auch wenn dieses sich nur zu den hohen Feiertagen in seiner Kirche blicken ließ. Es handelte sich um Sarah Snow, eine Frau mit verkrüppelten Fingern, die das Vorbereiten der Zutaten vor einige Probleme zu stellen schien. Doch sie hielt das Kartoffelschälmesser tapfer in der Faust und schien zu allem entschlossen.
»Und nün schieben wir die Gratin in die Ofen«, verkündete Madame Legrelle laut. »Die Garzeit ist lange genug, um Vorspeise und Dessert zuzurischten. Wer möchte die Crème brûlée übernämmen?«