Die Brotbäckerin - Nadja Raiser - E-Book

Die Brotbäckerin E-Book

Nadja Raiser

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Pfisterei, eine junge Frau und ein Traum von Freiheit  München, 1810: Nach dem Tod ihres geliebten Vaters stehen die beiden Schwestern Elisabeth und Anna kurz davor, das gesamte Lebenswerk ihrer Familie zu verlieren. Georg Huber, ein Kontrahent, giert schon lange nach der kleinen florierenden Backstube und nutzt die tragische Lage der Frauen aus, um selbst endlich Fuß in der Münchner Bäckerzunft zu fassen. Aber die leidenschaftliche Bäckerin Liesi gibt nicht kampflos auf. Ihre Chance: Vor dem königlichen Hofstaat ihr Können beweisen und Brot für die kommende Hochzeit des Prinzen zubereiten. Dies versucht jedoch Huber zu verhindern. Jakob, sein engster Freund, soll Elisabeths Gunst gewinnen und gleichzeitig die traditionellen Familienrezepte stehlen. Doch bald schon schlägt Jakobs Herz nicht nur für die junge Bäckerin, sondern teilt auch ihre Leidenschaft für das Handwerk, aber die Chancen, die kleine Bäckerei und Liesi zu retten, werden von Tag zu Tag geringer... Ein Roman wie ein warmer Laib Brot: verlockend, wohltuend & mit Liebe zubereitet!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Brotbäckerin

NADJA RAISER lebt mit ihrer Familie in einem bayerischen Dorf am Rande der Allgäuer Alpen. Seit ihrer Kindheit liebt sie es, zu schreiben und auf diese Weise in verschiedene Leben und Welten einzutauchen. Anfang 2020 hat sie ihren ersten Roman im Selbstverlag veröffentlicht, inzwischen hat die gelernte Erzieherin drei Jugendbücher und zwei historische Romane geschrieben. Neben ihrer Autorentätigkeit liebt sie es, draußen in der Natur zu sein, zu reisen und zu musizieren.

Nadja Raiser

Die Brotbäckerin

Historischer Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Januar 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka, MünchenTitelabbildung: Arcangel / © Crow‘s Eye Productions (Frau); ullstein bild / Süddeutsche Zeitung Photo / © Scherl (Stadtansicht);shutterstock / © Andrii Hushtiuk (Hand); shutterstock / © GemaIbarra  (Halstuch); shutterstock / © Sablegear (Schild/Rahmen);shutterstock / © monticello (Korb); shutterstock / © Africa Studio (Tuch, Korb); shutterstock / © Picture Partners (Brot 1);shutterstock / © Picture Partners (Brot 2); shutterstock / © Anastasiia Malinich (Blume)E-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3069-3

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

Epilog

Historische Anmerkung

Liesis Bauernlaib

Liesis Rahmfleckerl

Marillendatschi wie zu Liesis Zeiten

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

1

Liesi

Er war perfekt.

Mit einem Lächeln im Gesicht knetete Liesi noch ein letztes Mal den Teig. Dann teilte sie ihn und formte die einzelnen Stücke zu runden Laiben. Sie liebte das Gefühl, wenn aus einem anfänglich klebrigen Klumpen ein glatter, glänzender und weicher Brotteig wurde. Wenn aus unterschiedlichen Zutaten plötzlich eine neue Einheit entstand. Schon jetzt fühlte sie den lockeren und würzigen Geschmack auf ihrer Zunge, sie roch den sanften und leicht süßlichen Duft und hörte das knusprige Krachen beim Anschneiden des Brotes. Ja, dieser Teig war perfekt, und er würde nach einer angemessenen Ruhe ein herrliches Brot werden! Gab es ein schöneres Gefühl?

»Liesi! Wo bleibst du?«

Die Stimme ihres Vaters donnerte zum wiederholten Mal durch die offen stehende Tür der Backstube, und Liesi verdrehte die Augen.

»Ich komme gleich!«, antwortete sie ebenfalls zum wiederholten Mal und legte die zubereiteten Teiglinge in die dafür vorgesehenen Gärkörbchen. Anschließend wischte sie ihre Hände an der Schürze ab, griff nach dem Holzschießer, öffnete die Ofentür und holte weitere frisch gebackene Brotlaibe aus dem Ofen. Ein herrlicher Duft stieg ihr in die Nase, und Liesi beeilte sich, die noch heißen Brote in die hergerichteten Körbe zu verteilen. Anschließend klopfte sie sich die Teigreste und das Mehl von den Händen und löste die Schürze, die sie hinter der Tür an einen Haken hängte.

»Liesi! Himmelherrschaftszeiten noch mal!«, ertönte es erneut, dicht gefolgt vom lauten Knall einer Tür, die ins Schloss fiel.

»Ja, Vater!«, schrie sie zurück, obgleich er es sicherlich nicht hörte. Sie zog behutsam ihre Bäckerhaube aus und schlüpfte anschließend in den dunkelblauen Spenzer, den sie letzte Woche von ihrer Schwester Anna zum Geburtstag bekommen hatte. Dann raffte sie ihre Röcke, griff nach den Brotkörben und eilte aus der Backstube. Sie durchquerte den leeren und noch verschlossenen Verkaufsraum sowie den Hausflur und betrat die direkt anliegende Wohnstube ihrer Familie.

Doch bevor sie Vaters Arbeitszimmer erreichen konnte, trat Anna ihr in den Weg und grinste breit.

»Was?«, fragte Liesi und fasste sich mit der freien Hand unsicher in das Gesicht, um möglicherweise vergessene Mehlflecken zu entfernen, aber ihre Schwester schüttelte nur den Kopf, wobei ihr dunkle Locken aus der Haube rutschten und ihr rundes, rotwangiges Gesicht einrahmten.

»Sag, hast du Vater absichtlich warten lassen?«

Liesi presste die Lippen zusammen und unterdrückte ein Schmunzeln. Es war nicht das erste Mal, dass Liesis Vater Besuch von Herrn Huber bekam. Schon seit Monaten versuchte der Landpfister, Herrn Gmeiner dazu zu überreden, die kleine Bäckerei an ihn zu verkaufen, beziehungsweise, mit ihm zu fusionieren, wie Huber es nannte. Und jedes Mal verlangte er während seiner Anwesenheit, mit frischem Brot verköstigt zu werden.

Liesi konnte Huber nicht ausstehen und zuckte daher kurz mit den Schultern, allerdings nicht, ohne Anna einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Denn ja, möglicherweise hatte sie absichtlich etwas länger in der Backstube ausgeharrt, als es nötig gewesen wäre. Nur um Herrn Huber ein wenig zu ärgern.

Anna lachte laut auf. »Du kleines hinterhältiges Ding! Sieh zu, dass Vater das niemals herausfindet!«

Liesi ignorierte Annas Worte, stellte einen der Brotkörbe auf den Boden des Flurs und klopfte an die angelehnte Tür des Arbeitszimmers. »Guten Tag, die Herren«, sagte sie förmlich und neigte den Kopf. Ihr fiel auf, dass Huber diesmal nicht allein gekommen war. Ein weiterer Mann erhob sich neben ihm von seinem Sitzplatz und schenkte ihr ein kurzes Lächeln. »Entschuldigen Sie bitte die Wartezeit«, murmelte Liesi und platzierte den Brotkorb in die Mitte des Tisches. Schon spürte sie Vaters Hand an ihrer Taille, der sie lachend an sich heranzog. Verschwunden war der wütende Unterton in der Stimme, der noch wenige Augenblicke zuvor durch die Bäckerei gehallt war.

»Darf ich vorstellen? Meine Tochter und Engel aus der Backstube, Elisabeth Gmeiner. Ist es nicht unglaublich, dass so eine zarte Schönheit in der Lage ist, Tag für Tag das beste Brot Münchens zu backen?«

Liesis Wangen flammten heiß auf, und sie blickte schnell zu Boden. Sie liebte ihren Vater über alles und wusste, dass er nur das Beste für sie wollte, dennoch hasste sie diese Art von Zurschaustellung, vor allem Huber gegenüber, zumal dieser längst wusste, wer sie war und welche Funktion sie in der Backstube ausführte.

»Nun, das ist immer eine Frage des Geschmacks, Herr Gmeiner, finden Sie nicht?« Der Blick des Pfisters konnte nicht eisiger sein, und Liesi strich sich verstohlen über ihre Arme.

»So oder so entspricht es dennoch der Wahrheit«, antwortete Liesis Vater, und sie spürte seine schwieligen Finger auf ihrem Gesicht – die Hände eines Bäckers, der Jahrzehnte damit verbracht hatte, Teige zu kneten, zu formen und zu backen. Sie hob den Kopf und fing den liebevollen Blick ihres Vaters auf, sah die unzähligen Lachfältchen, die die großen Augen einrahmten, und die tiefen Grübchen, die trotz des lockigen graubraunen Barts zu sehen waren.

»Sie übertreiben, Vater«, antwortete sie und verfluchte ihre immer noch glühenden Wangen, während sie kurz zu den beiden Herren sah.

Herr Huber nickte ihr mit einem gelangweilten Blick zu und trommelte unruhig mit den langen, dünnen Fingern auf der Tischplatte herum. Der andere Mann verbeugte sich und streckte im Anschluss seine Hand entgegen.

»Ach ja, Elisabeth, das ist – ja Kruzifix noch mal, jetzt habe ich Ihren Namen vergessen, ist denn das zu fassen!«, fluchte ihr Vater und kratzte sich nachdenklich am Kopf.

Der junge Mann räusperte sich ein paarmal und schenkte Liesi ein schüchternes Lächeln.

»Das macht nichts. Hofbauer«, sagte er, und Liesi hörte ein schwaches Zittern in seiner Stimme. »Jakob Hofbauer. Freut mich, Fräulein Elisabeth. Ich bin der Buchhalter der Pfisterei Huber.«

Selbst der Händedruck des jungen Mannes war zittrig, und als er sich wieder setzen wollte, blieb er versehentlich mit dem Gehrock an der Stuhllehne hängen. Er stolperte und plumpste mit ungelenken Bewegungen ächzend zurück in seinen Stuhl. Liesi biss sich auf die Innenseite der Wangen, um sich ein Lächeln zu verkneifen, und wandte sich schnell ihrem Vater zu.

»Brauchen Sie noch etwas von mir, Vater?«

Bevor der antworten konnte, hörte sie ein gedehntes Seufzen, dicht gefolgt von einer durchdringenden, sonoren Stimme.

»Das Einzige, was wir nun benötigen, ist Ruhe, Fräulein Elisabeth«, sagte Herr Huber und warf ihr ein falsches Lächeln und ein Zwinkern zu. »Wir haben uns ausreichend oft angehört, dass Sie das angeblich ›beste Brot‹ Münchens backen. Wir sollten uns allmählich auf das Wesentliche konz–«

»Sie glauben mir nicht?«, unterbrach Herr Gmeiner Hubers Wortschwall und deutete auf den Laib Brot vor ihnen. »Dies ist das beste Brot Münchens! Vermutlich sogar besser als das Brot der Hofpfisterei Seiner Königlichen Majestät. Und das ist eine Tatsache, sonst wären Sie nicht hier, nicht wahr?« Er holte ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche hervor und schnitt eine Scheibe Brot ab. Anschließend drückte er es dem Buchhalter in die Hände, der erschrocken die Augen aufriss.

»Kosten Sie, Herr Hofbauer. Dann werden Sie verstehen, wovon ich spreche.«

Liesi beobachtete, wie der junge Mann mit ungelenken Bewegungen das Brot zaghaft in den Mund steckte. Herr Huber stöhnte ein weiteres Mal genervt auf, während ihr Vater mit glänzenden Augen den Buchhalter beobachtete. Der kaute allerdings immer noch, und Liesi spürte kurz da­rauf seinen flackernden Blick auf ihr ruhen. Sie schluckte. Er wirkte nicht sonderlich begeistert.

Es herrschte eine seltsame Stille im Arbeitszimmer ihres Vaters, und alle schienen wie gebannt auf das Urteil Herrn Hofbauers zu warten. Liesi hielt sogar den Atem an, als der junge Mann endlich zu kauen aufhörte. Selbst wenn es lächerlich war, denn die Meinung eines Buchhalters sollte ihr gleichgültig sein, zumal sie von ihrem Kundenstamm und den Marktbesuchern in Sendling wusste, dass ihr Brot sehr geschätzt wurde. Dennoch wartete sie angespannt auf sein Urteil, als Herr Hofbauer schwach lächelte und den Rest der Brotscheibe in seiner Faust verschwinden ließ.

»Es schmeckt«, begann er und schenkte Liesi ein kurzes Lächeln, wurde allerdings von Herrn Huber unterbrochen.

»Es schmeckt wie Brot! Grundgütiger! Können wir endlich unser Anliegen vortragen, oder wollen Sie uns weiterhin zum Narren halten?« Er seufzte und zupfte zeitgleich am Kragen seines Hemdes herum, als würde er um Atem ringen. »Unterschätzen Sie mich nicht, Herr Gmeiner. Ich mag jung sein, aber ich weiß, was ich tue, und vor allem kenne ich meine Ziele und meine verfügbare Zeit. Fräulein Elisabeth«, Herr Huber nickte ihr zu, ein Zeichen, die Herren allein zu lassen, dennoch wartete Liesi auf die Zustimmung ihres Vaters, der langsam und mit pfeifenden Lungen durchatmete.

Er lächelte sie ein weiteres Mal verschmitzt an, als würde ihn die zornerfüllte Rede des Pfisters überhaupt nicht stören. Stattdessen deutete er auf den Brotkorb. »Hast du das Brot für die Armenspeisung hergerichtet?«, fragte er.

Liesi unterdrückte ein Augenrollen. Als hätte sie jemals das Armenhaus vergessen!

»Sie müssen wissen, meine Frau – Gott hab sie selig – begann vor fünfzehn Jahren damit, die Bedürftigen im Haus der Heiligen Sankt Maria mit Backwaren zu beliefern, und noch immer …«

»Herr Gmeiner!«, unterbrach Huber ihn.

Liesi erkannte rote Flecken auf seinen glatt rasierten Wangen, während er ungeduldig die weiße Krawatte zurechtrückte.

»Nein. Es genügt. Jakob, vielleicht sollten wir besser gehen«, richtete er die letzten Worte an den Buchhalter und klappte überdeutlich die mitgebrachten Unterlagen zu.

»Das ist das Problem mit den jungen Leuten – sie haben keine Geduld. Immerzu diese Eile«, entgegnete Liesis Vater und lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich wäre dann so weit«, antwortete er weiter, ohne sich anmerken zu lassen, ob er die Wut in Hubers Stimme erkannt hatte oder nicht. »Falls Sie denn noch ein paar Minuten Ihrer überaus kostbaren Zeit erübrigen können.« Er strich Liesi über den Rücken und zwinkerte ihr kurz zu, und sie verschwand aus dem Arbeitszimmer.

Zurück in der Wohnstube fand sie Anna, die ihren Morgenrock gegen ein schlichtes, hellblaues Tageskleid eingetauscht hatte und nun versuchte, die wilde Lockenpracht unter einer farblich passenden und modischen Haube zu verstecken. Als sie ihre junge Schwester entdeckte, winkte sie diese zu sich.

»Hast du Hubers Gehrock gesehen? Oder den Krawattenknoten? Ich wette, er stand über eine Stunde lang in seinem Ankleidezimmer, allein um die Krawatte zu binden!«, scherzte Anna.

Liesi lächelte vergnügt und half ihrer Schwester mit der Frisur. »Er gefällt dir, nicht wahr?«

»Als ob du ihn nicht auch attraktiv finden würdest!«, erwiderte Anna und drehte sich einmal vor Liesi im Kreis.

»Vater mag ihn nicht«, antwortete sie schlicht und nickte anschließend. Die Frisur saß perfekt, und nicht zum ersten Mal beneidete sie Anna um ihre braunen Locken, das rundliche Gesicht und den strahlenden Blick ihrer dunklen, fast schwarzen Knopfaugen. Wie gern hätte auch sie Vaters Lockenpracht oder die Augen geerbt, doch stattdessen musste sie die rotblonden dünnen Haare jede Nacht eindrehen, um eine einigermaßen ansehnliche Hochsteckfrisur und ein paar Locken zu bekommen. Ganz zu schweigen von ihrer mager wirkenden Figur und den markanten Kieferknochen. Nicht nur ein Mal besahen die Leute Liesi ungläubig, wenn sie von ihrer Bäckertätigkeit erfuhren, weil sie nicht begriffen, wie ein so schmächtiges Mädchen in der Lage war, Bottiche voller Teig zu kneten und zu rühren. Doch seit dem Tod ihrer Mutter vor fünf Jahren hatte sie ihr Handwerk perfektioniert und war inzwischen durchaus imstande, mit männlichen Bäckern zu konkurrieren, trotz ihres Körperbaus.

Anna seufzte. »Das ist keine richtige Antwort, Schwes­terherz«, sagte sie und hing offensichtlich immer noch gedanklich bei Herrn Huber.

Liesi grinste. »Ich weiß.« Da sie genau wusste, wie sehr ihre Schwester von dem Landpfister eingenommen war, verschwieg sie lieber ihre eigene Meinung. Solange es bei einer Schwärmerei blieb, musste sie Anna nicht unbedingt davon berichten, wie wenig sie Herrn Huber leiden konnte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihre Schwester auf die Wange. Anschließend ergriff sie den zweiten Brotkorb und blickte aus dem kleinen, quadratischen Stubenfenster. Vor der Tür erkannte sie bereits Gustavs Zweiergespann. Wie jede Woche nahm der Nachbar sie mit nach Haidhausen, damit sie dort das Brot vom Vortag im Armenhaus Sankt Marien verteilen konnte.

»Ich muss los! Bis heute Abend!« Sie eilte aus der Stube und schnappte sich ihre dünnen Handschuhe, die auf der Kommode im Flur bereitlagen. Als Anna den Laden der Bäckerei öffnete, verließ Liesi das Wohnhaus der Familie Gmeiner und kletterte mit einem Korb voller Backwaren auf den Kutschbock.

Mit einem Lächeln im Gesicht atmete sie durch und genoss die Augenblicke der Stille, während der lauwarme Frühlingswind ihre Nase kitzelte.

Liesi seufzte zufrieden. Sie liebte ihre Arbeit. Sie liebte das Gefühl, mit der Kraft ihrer Hände so etwas Wunderbares und Kostbares erschaffen zu können. Brot zu backen war ihre Passion, ihr Lebensinhalt, und für einen kurzen Moment schloss Liesi die Augen und dankte Gott dafür.

Denn das Leben war absolut wundervoll.

2

Am Abend saß die Familie Gmeiner in der Stube und aß gemeinsam Brotzeit. Der Tisch der Eckbank war eingedeckt mit Schinken, einer großen eisernen Pfanne gerösteter Erdäpfel und Rettich.

Liesi schenkte sich aus einem Krug Apfelmost ein und schloss genüsslich die Augen.

Es war ein herrlicher Tag gewesen. Liesi liebte den Frühling und den dazugehörenden Neuanfang. Vor allem, wenn sich die Jahreszeit, wie an diesem Tag, mit reichlich Sonnenschein und angenehm warmen Temperaturen zeigte.

»Jedenfalls habe ich ein Schreiben an die Getreidebauern verfasst und ihnen ein neues Angebot gemacht. Ich denke, dass sie zustimmen werden, da es, langfristig gesehen, auch für sie nur Vorteile bringt«, erklärte Anna, die wie jeden Abend über die Finanzen der Bäckerei sprach. Ihre Schwester hatte das Talent ihrer Mutter geerbt und wusste genau, was zu tun war, um ihr kleines Geschäft zu optimieren. Immer wieder kam sie mit weiteren Ideen und handelte neue Verträge mit den Bauern aus, die bisher noch nie abgelehnt hatten. Allerdings verstand Liesi davon nicht einmal die Hälfte. Sie vertraute auf Anna und zusätzlich auf das Urteil ihres Vaters.

»Wie lief eigentlich das Gespräch mit Huber?«, fragte Liesi, nachdem sie ihren Krug ausgetrunken hatte.

Herr Gmeiner fluchte etwas Unverständliches. Anschließend nahm er sich eine Gabel voll knuspriger Kartoffeln und schnitt sich ein Stück Käse ab.

»Genau wie das vor zwei Wochen und wie das drei Monate zuvor. Er gibt nicht auf.«

»Aber das spricht doch für ihn«, entgegnete Anna mit einem verträumten Blick. »Er weiß, was er will, und kämpft dafür. Das zeugt von Stärke.«

»Er kämpft auf einem verlorenen Posten und akzeptiert keine Niederlage. Das zeugt von Dummheit«, antwortete ihr Vater. »Ich werde die Bäckerei nicht verkaufen. Und schon gar nicht fusionieren. Außerdem weiß ich längst, dass der Huber nur nach einer Möglichkeit sucht, ein Mitglied der Münchner Bäckerzunft zu werden. Weiß Gott, was den Zunftbrüdern bevorstünde, wenn jemand wie er Mitspracherecht bekäme!« Herr Gmeiner verdrehte die Augen, und Liesi erinnerte sich an den letzten Zunftbrief, den ihr Vater von der letzten Sitzung mit nach Hause gebracht hatte, in der eine Absage für die Landpfisterei formuliert wurde. Nur verstand sie nicht, warum ein junger Geschäftsmann wie Huber freiwillig ein Mitglied dieser inzwischen deutlich alten Herrengemeinschaft werden wollte. Wie oft hatte ihr Vater bereits versucht, Liesi als eine von der Zunft anerkannte Gesellin einzuschreiben, doch die alten Männer waren bis zuletzt stur bei ihrer Aussage geblieben, dass Frauen zwar im Familienbetrieb arbeiten durften, jedoch keinerlei Ansprüche auf eine Mitgliedschaft der Zunft hätten. Die Gründe hierfür klangen mehr als haarsträubend, und Liesi verband keinerlei Sympathie mit dieser Gemeinschaft. Anna warf Liesi einen vielsagenden Blick zu und grinste, da sie offensichtlich dasselbe dachte wie Liesi.

»Es täte der Zunft nicht schlecht, wenn sie von jungen Geschäftsmännern aufgemischt werden würde«, sagte Anna.

Doch Herr Gmeiner brummte nur abweisend in seinen Bart hinein. »Ein Landpfister hat in München nichts verloren! Und ich werde nicht verkaufen, da kann er mir noch tausendmal mit seinen Zahlen und dem Versprechen kommen, wohlhabender zu werden. Dies ist unsere Bäckerei. Und das bleibt sie auch!« Als wollte er die Worte verdeutlichen, schlug er mit der geballten Faust auf den Tisch. Doch dann zuckte er selbst zusammen und seufzte. »Sie hätte niemals gewollt, dass wir verkaufen«, fügte er leise hinzu.

Liesi schluckte und ergriff die schwielige Hand ihres Vaters. Sogar nach fünf Jahren spürte sie noch immer seinen Schmerz, wenn er von ihrer Mutter sprach. Die Schwindsucht hatte sie heimgesucht und ihr ein rasches Ende bereitet. Auch Liesi vermisste ihre Mutter jeden Tag aufs Neue, doch sie hatte im Gegensatz zu ihrem Vater längst akzeptiert, dass das Leben ohne sie weiterging.

»Wie genau hat er denn die Verkaufszahlen berechnet? Hat er irgendwelche Unterlagen hiergelassen, die ich mir ansehen dürfte?«, fragte Anna weiter, die offensichtlich nichts von der Niedergeschlagenheit ihres Vaters wahrgenommen hatte.

Liesi schüttelte den Kopf und versuchte mit Blicken, ihre Schwester zum Schweigen zu bringen, allerdings erfolglos.

»Es spricht doch nichts dagegen, wenn eine zweite Person das Angebot überprüft, oder, Vater?«

Herr Gmeiner richtete sich auf und musterte seine ältere Tochter. Die buschigen Augenbrauen standen so tief, dass sie sich beinahe berührten, und sein Blick wirkte eisern und bestimmt. Doch Anna hielt ihm stand und wartete geduldig und mit ebenso ernster Miene auf eine Antwort.

Liesi drehte die Scheibe Rettich auf ihrem Teller im Kreis. Sie hasste Diskussionen solcher Art. Sie hasste allgemein Unstimmigkeiten. Außerdem verstand sie Vaters Gründe. Er und ihre Mutter hatten die Bäckerei vor vielen Jahren erstanden und sie zu einem festen Bestandteil Sendlings etabliert. Die Anwohner kamen gern und häufig zu ihnen, und sie liebten ihre Brote. Natürlich wurden sie davon weder reich noch wohlhabend, und die Arbeit war hart, doch es genügte, um ihren Lebensunterhalt zu bezahlen. Es genügte, um glücklich zu sein. Zumindest für Liesi.

»Die Unterlagen liegen auf dem Sekretär. Wenn du sie lesen willst, bitte. Ich habe keine Geheimnisse vor dir. Dennoch werde ich meine Meinung nicht ändern. Ich verkaufe nicht. Und schon gar nicht an einen Landbäcker aus Pasing, da kann er sich noch so oft als ›Großpfister‹ bezeichnen.«

Vaters Stimme war leise und zeitgleich so schneidend, dass Liesi den Schauer auf ihren Armen vertreiben musste. Auch Anna schluckte und nickte schweigend. Die Diskussion war beendet, das verstand sogar sie.

»Sag mal, Liesi«, wechselte Herr Gmeiner kauend das Thema. »Hast du uns heute Morgen eigentlich absichtlich das alte Brot bereitgestellt?«

»Welches alte Brot?«, fragte sie und betrachtete verwirrt den amüsierten Gesichtsausdruck ihres Vaters.

»Du hättest Hubers Reaktion sehen sollen, als er hineingebissen hat.«

Er lachte so heftig, dass sein gesamter, fülliger Körper bebte, doch Liesi verstand nicht, worauf er hinauswollte.

»Wovon sprechen Sie, Vater?«

»Na, vom Brot! Du hast ihnen heute das Brot vom Vortag gereicht! Im Nachhinein verstehe ich auch die seltsame Reaktion des Buchhalters. Und ihm habe ich auch noch das Randstück gegeben. Herrlich, einfach herrlich! Und wie lange er gekaut hat!«

Liesi wurde aschfahl und riss die Augen auf. »Die Brotkörbe! Ich muss sie verwechselt haben«, dachte sie laut und schluckte. »Dann haben die Bewohner des Sankt-Marien-Heims heute frisch gebackenes Brot erhalten. Das erklärt, warum sie so gierig waren.« Und es erklärte das schüchterne, beinahe verlegene Lächeln des Buchhalters am Morgen. Himmel! Liesi wollte gar nicht erst wissen, wie hart das Randstück gewesen war, das er bekommen hatte.

»Das ist unsere Liesi!«, rief ihr Vater und legte ihr liebevoll eine Hand auf die Schulter. »Sogar für die Ärmsten des Landes ist nur das Beste gerade gut genug. Ach Liesi, deine Mutter wäre so stolz auf dich.«

Liesi schluckte. Sie wusste, dass sie das Ebenbild ihrer Mutter war. Zumindest, wenn man das Äußere betrachtete. Das Bäckertalent hatte sie hingegen von ihrem Vater geerbt, genau wie die Leidenschaft und die Liebe zum Brot.

Herr Gmeiner räusperte sich und nickte mit einem Zwinkern in Annas Richtung. »Sie wäre auf euch beide sehr stolz«, korrigierte er sich und atmete tief durch. »Jetzt fehlen nur noch zwei geeignete Burschen, nicht wahr? Ein Bäckermeister wäre ideal, dann könnte ich mich nach und nach aus dem Geschäft zurückziehen.«

Liesi presste die Lippen aufeinander, und ihr Gesicht färbte sich dunkelrot. Ein weiteres Thema, das sie nur ungern ansprach. Sie war noch nicht bereit, über einen passenden Ehegatten für sich nachzudenken, geschweige denn, aktiv nach einem zu suchen. Ganz im Gegenteil zu ihrer Schwester.

»Na, der Huber wäre ein Pfistermeister«, antwortete Anna kichernd.

Herr Gmeiner verzog das Gesicht. »Ach, Annerl«, sagte er und seufzte. »Der Huber hat dich doch gar nicht verdient. Keine von euch beiden«, fügte er mit einem Blick in Liesis Richtung hinzu. Er ergriff das letzte Stück Rettich, steckte es sich in den Mund und stapelte die Brotzeitbretter aufei­nander. »Und jetzt geht und räumt das auf. Es ist schon spät!«

Kurze Zeit später standen Liesi und Anna in der kleinen Küche und kicherten, während sie das Geschirr wuschen und anschließend verräumten. Anna warf das nasse Geschirrtuch quer durch den Raum und traf direkt Liesis Gesicht.

»Erwischt!«, rief sie vergnügt und versteckte sich lachend unter dem Tisch.

»Du benimmst dich schlimmer als ein Kleinkind«, schimpfte Liesi, lächelte jedoch und wischte sich die feuchte Stirn trocken.

»Na, das sagt ja die Richtige. Wer hat denn sofort glühend rote Wangen bekommen, als Vater von geeigneten Ehemännern sprach?«, entgegnete Anna.

Liesi seufzte und legte das feuchte Tuch über den Holztrog, der auf der Arbeitsplatte stand. »Mir gefällt das Leben so, wie es ist. Ich brauche keinen Ehemann oder gar einen Bäckermeister, der mir ins Handwerk pfuscht. Außerdem denke ich gewiss nicht an den Tag, an dem sich Vater zurückzieht, denn wenn es nach mir ginge, passiert das erst in zwanzig Jahren.«

»Ach, Schwesterherz«, sagte Anna und schüttelte mitfühlend den Kopf. »Du wirst schon sehen, eines Tages begegnest du einem Mann, der dein Herz im Sturm erobert, und dann wirst du anders darüber denken. Über alles.«

Liesi zuckte mit den Schultern und atmete tief durch. Nein, sie bezweifelte, dass sie jemals anders darüber denken würde. Anna kam auf sie zu, legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie ganz nah an sich heran.

»Irgendwann stolpert ein wunderschöner, erhabener Prinz über seine langen Beine, und du wirst ihn auffangen müssen. Und dann, liebste Liesi, bist du verloren«, scherzte sie weiter.

Liesi verzog das Gesicht und schluckte, als sie plötzlich den jungen Mann aus Vaters Büro vor ihrem geistigen Auge sah. Er war tatsächlich über seine Beine gestolpert, nachdem er sich vorgestellt hatte. Nur war er kein Prinz, sondern ein Buchhalter der Konkurrenz.

»Was ist?«, fragte Anna, und erst in diesem Moment bemerkte Liesi ihr Grinsen. Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte schnell den Kopf.

»Nichts. Du solltest dir Gedanken über die Schriftstellerei machen. Bei deiner Fantasie.« Sie küsste Anna flüchtig auf die Wange und eilte zur Tür. »Ich muss mich noch um den Vorteig kümmern, bevor ich zu Bett gehe. Bis später!«, rief sie und verschwand mit eiligen Schritten zurück in die Backstube. Fort von Anna und ihren kuriosen Ideen. Und fort von ihren eigenen seltsamen Gedanken über Jakob Hofbauer und sein schüchternes Lächeln.

3

Eine Woche später saß Liesi erneut neben Gustav auf dem Kutschbock und genoss die frühlingshafte Luft, die ihr die Haare aus dem Gesicht wehte. Sie hielt den Brotkorb – diesmal tatsächlich mit den alten Backwaren – fest in den Händen und verfolgte das morgendliche Treiben auf den Straßen Sendlings. Eine Frau rannte wild gestikulierend über das Pflaster und rief den Namen ihres Kindes, das lachend einige Meter vor ihr hinter einer Schar Tauben hersprang. Liesi beobachtete, wie die ersten Geschäfte geöffnet wurden, sie hörte das Rücken von Verkaufstischen und das fröhliche Plappern der Marktweiber, die ähnlich große Körbe wie Liesi in den Armen hielten. Ein alter Bauer trieb ein Ross an, um einen voll beladenen Karren mit Stroh zu bewegen. Seine Miene war, wie die Gustavs, finster und griesgrämig, doch bei Gustav wusste Liesi, dass seine Miene rein gar nichts über sein wahres Wesen verriet. Ihr Nachbar mochte mit seinem langen, ungepflegten Bart und den vielen Falten im Gesicht wild und gefährlich aussehen, doch Liesi kannte und genoss seine ruhige und liebenswerte Art, die erst auf den zweiten oder gar dritten Blick sichtbar wurde.

Die Kirchturmuhr Sankt Margarets schlug die achte Stunde an, und Liesi seufzte, als das Gespann die Kirche passierte. Sie liebte diese Fahrten und die Ruhe, die sie dabei verspürte. Die wöchentlichen Ausflüge nach Haidhausen waren Liesis Auszeiten vom harten und anstrengenden Bäckeralltag. Gedankenversunken fuhr sie mit den rauen Fingerkuppen über die Krusten ihrer Brote und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Als sie die Isarbrücke überquerten, zupfte sie ein Stück von einem Brotlaib ab und warf es einem Bettler zu, der dort am Ufer mit einem Krückstock saß. Als dieser erkannte, was vor seinen Füßen gelandet war, riss er erschrocken die Augen auf und lachte anschließend laut auf. Gustav grummelte etwas Unverständliches, doch ein Blick in das Gesicht des alten Mannes genügte, um das sanfte Lächeln hinter dem buschigen Bart zu erkennen. Er mochte Liesi und vor allem ihre Hilfsbereitschaft, das wusste sie genau.

Als Gustav zwanzig Minuten später in Haidhausen angekommen war, kletterte Liesi vom Kutschbock und nahm den Brotkorb entgegen. »Ich danke Ihnen für die Fahrt. Es war wie immer eine große Freude.«

»Jetzt mach, dass du fortkommst. Und spar dir die Höflichkeitsfloskeln«, murrte er, zog, begleitet von einem lauten Pfiff, an den Zügeln und fuhr davon, um seine Lieferung, die aus zehn Bierfässern bestand, in den anliegenden Gaststuben abzuladen.

Liesi blickte ihm kichernd hinterher. Möglicherweise musste man auch öfter als drei Mal hinsehen, um das freundliche Wesen hinter Gustavs Fassade zu erkennen.

Mit der freien Hand raffte sie ihre Röcke und machte sich auf den Weg zum Armenhaus Sankt Marien. Es handelte sich um ein riesiges Gebäude, das mit seinen vielen kleinen Fenstern und dem Torbogen in der Mitte des Hauses sonderbar herausstach. Dennoch wirkte es, wie alle Bauwerke in Haidhausen, alt und heruntergekommen. Hier lebte das arme Volk Münchens, und es hatte eine Zeit gegeben, in der Herr Gmeiner Liesi niemals allein in diesen Bezirk geschickt hätte. Die Gefahr, in dieser Gegend auf gewalttätige Verbrecher zu stoßen, war immerhin nicht gering. Doch Liesi war stur, und dass Gustav sie jede Woche direkt vor dem Eingang des Armenhauses absetzte und dort auch wieder abholte, hatte ihren Vater einlenken lassen.

Gerade als sie das Tor des Hauses öffnen wollte, hörte sie erneut das Geräusch von Pferdehufen, und eine dunkelblaue Postkutsche hielt wenige Meter vor dem Armenhaus. Liesi blieb stehen und betrachtete neugierig die Kutschentür, die sich schwungvoll öffnete.

Eine junge Frau in einem einfachen, aber modischen weißen Tagesgewand stieg aus und sprach ein paar Worte mit einer älteren Begleitperson, die noch in der Kutsche saß und nun mit verkniffener Miene herausblickte. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie ausstieg und dem Kutscher ein Zeichen gab, bevor der die Pferde dazu antrieb, weiterzugehen. Als das Pferdegespann mit Tempo an Liesi vorbeirauschte, wurde sie plötzlich zur Seite gestoßen und fiel schreiend auf die Knie.

»Das Brot!«, rief sie und sah aus dem Augenwinkel, wie ein Junge – kaum älter als zehn Jahre – mit ihrem vollen Brotkorb davonrannte. So schnell wie möglich rappelte sie sich auf und verfolgte den jungen Dieb.

»Bleib stehen!«, schrie sie. »Bitte!«

Der Junge sprang in eine Seitengasse, und als Liesi ihm dort hinein folgen wollte, sah sie das rotwangige Gesicht der jungen Frau neben sich. Offenbar war sie ihr gefolgt und deutete mit einem vielsagenden Lächeln in die staubige Gasse hinein. »Ich nehme die Parallelgasse, und du folgst ihm dort. Dann keilen wir ihn vielleicht ein«, flüsterte sie und erlaubte Liesi keine Antwort, denn schon war sie in der nächsten Straße verschwunden. Liesi stöhnte auf und strich sich die Haare hinters Ohr, die sich während des Sturzes aus ihrer Frisur gelöst hatten. Dann raffte sie ihre Röcke und lief in die Seitengasse.

Sie ignorierte den unangenehmen Geruch, der ihr in die Nase stieg, genauso wie die warnenden Worte ihres Vaters, die sie in ihren Gedanken hörte.

»Sei auf der Hut. Haidhausen ist ein gefährliches Pflaster!«

Nein! Sie würde sich keine Angst erlauben. Dieser Junge hatte ihr das Brot geklaut, das für die Bedürftigen bestimmt war. Für die Ärmsten der gesamten Stadt. Das würde sie nicht hinnehmen.

Sie passierte verfallene Gebäude, Häuser ohne Fenster, deren Türen schief in den Angeln hingen. Immer weiter rannte Liesi, bis sie plötzlich einen lauten Schrei hörte.

»Ah! Lass mich runter! Du tust mir weh! Aua!«

Liesi rannte weiter und erkannte hinter dem nächsten Haus die junge Frau, die den Jungen am Ohr gepackt hielt und ihn finster anstarrte.

»Ich lass dich erst los, wenn du das zurückgibst, was nicht dir gehört«, antwortete sie und deutete auf den Brotkorb, den das Kind mit beiden Armen fest umschlungen hielt.

»Aber ich habe so Hunger!«, jammerte er mit schmerzverzerrter Miene.

Liesi schluckte, denn sie erkannte allein an seinem verzweifelten und leidenden Blick die Wahrheit dieser Aussage. Tatsächlich sahen seine Arme und Beine so dünn aus, als wären es lediglich mit Haut überspannte Knochen. Der Junge weinte und schluchzte leise, dennoch gab er zögerlich den Korb an sie zurück.

»Und was sagst du nun?«, fragte die Frau weiter und deutete erneut in Liesis Richtung.

»Es tut mir leid. Aber bitte, bitte verpfeift mich nicht! Ich habe nur Hunger!«

Liesi spürte sowohl den abwartenden Blick der Frau als auch den flehenden Blick des Kindes auf ihr ruhen und atmete laut aus. Schließlich griff sie in den Korb und reichte dem Jungen einen Laib Brot, der daraufhin die Augen ungläubig aufriss.

»Du hättest mich auch einfach um ein Brot bitten können«, antwortete Liesi lächelnd. »Wo wohnst du denn?«

»Hier. Überall. Nirgendwo«, nuschelte der Junge kauend, und Liesi staunte, wie schnell ein so kleines Kind ein solch großes Stück Brot vertilgen konnte. Ihm war ganz offensichtlich egal, wie alt und hart die Kruste war. Er verschlang die Backware, als handelte es sich dabei um ein Festmahl.

»Hast du denn keine Eltern?«, fragte die junge Frau. Etwas, das auch Liesi brennend interessierte.

Doch er schüttelte den Kopf.

»Du könntest mit mir kommen«, schlug Liesi vor und deutete auf den Brotkorb in ihren Händen. »Ich besuche das Armenhaus Sankt Marien. Dort haben sie sicherlich einen Platz für dich, wenn du das möchtest.«

Der Junge verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse und spuckte auf den Boden. »Ich gehe nirgendwo hin.« Und noch bevor eine der beiden Frauen darauf antworten konnte, war er davongerannt.

Liesi sah ihm schweigend nach, dann seufzte sie. Sie wollte sich erst gar nicht vorstellen, was dieses Kind in seinen jungen Jahren bereits alles an Leid erfahren hatte.

»Das war ein sehr herzlicher Zug von dir«, sagte die junge Frau und schenkte Liesi ein Lächeln. »Nicht jeder hätte einem Dieb Teile des Diebesguts geschenkt.«

Liesi hob unschlüssig die Schultern. »Das Brot ist genau für Menschen wie ihn gedacht«, antwortete sie. »Er kann es gut gebrauchen. Ich wünschte nur, er würde sich helfen lassen. Er wäre im Sankt-Marien-Heim sicher gut aufgehoben.«

»Nun, vermutlich ist nicht jedes Armenhaus ein gutes Haus. Wer weiß, was er schon alles erlebt hat?«, wiederholte die Frau Liesis eigene Gedanken. Sie strich sich eine dunkelbraune, glänzende Locke hinters Ohr und schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln.

»Darf ich dich zum Armenhaus begleiten?«

Dem Klang ihrer Sprache nach kam die Frau definitiv nicht aus München. Liesi deutete eine Verbeugung an und nickte.

»Aber natürlich. Wenn das Ihre Begleitung gestattet.« Liesi hielt inne. »Wo ist sie überhaupt?«

Die junge Frau lachte herzlich auf und zuckte kurz mit den Schultern. »So, wie ich meine Anstandsdame kenne, wird sie gewiss ein Kirchengebäude aufgesucht haben. Und keine Sorge, sie kennt mich inzwischen.«

Liesi lächelte. »Dann freue ich mich sehr über Ihre Begleitung. Und vielen lieben Dank für Ihre Hilfe. Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«

Die Frau lachte erneut und hakte sich anschließend bei Liesi unter, als wären sie seit Jahren beste Freundinnen.

»Aber das ist doch selbstverständlich. Wir Frauen müssen doch zusammenhalten. Übrigens heiße ich Amalie, und du kannst mich ruhig duzen.«

Liesi erwiderte das freundliche Lächeln, während sie auf die Hauptstraße zurückkehrten. »Elisabeth, aber alle nennen mich Liesi.«

Am Armenhaus angekommen, stemmte sich Liesi gegen das Tor und wartete, bis Amalie an ihrer Seite stand.

»Vielen Dank, Liesi. Oh, warte, ich helfe dir!«, rief sie und fing gerade noch rechtzeitig Liesis Brotkorb auf, der ihr aus den Händen rutschte, als sie das schwere Tor öffnete. Bevor sie sich bedanken konnte, hörte sie bereits die durchdringende Stimme der Ordensschwester durch den dunklen Gang hallen.

»Liesi! Jesus Maria! Wie oft sage ich dir, dass du die Glocke betätigen sollst! Das Tor ist doch viel zu schwer für dich, Mädchen!«, schimpfte sie und eilte ihnen mit schnellen Schritten entgegen.

Liesi unterdrückte ein Seufzen und schenkte ihr ein höfliches Lächeln. »Guten Morgen, Schwester Hildegard. Ich versuche, das nächste Mal daran zu denken«, antwortete sie, obwohl sie bereits jetzt wusste, dass sie auch in der folgenden Woche nicht die Glocke betätigen würde. Für ein gewöhnliches Mädchen mochte das Tor vielleicht schwer erscheinen, jedoch nicht für Liesi, die tagein, tagaus Bottiche voller Brotteig rührte und knetete. Aber das würde Schwester Hildegard niemals verstehen.

Die Ordensschwester blickte von ihr zu Amalie, die den Brotkorb in den Händen hielt. »Oh, und du hast heute eine Freundin mitgebracht. Wie wunderbar! Gott segne Sie! Willst du sie mir nicht vorstellen, Liesi?«

Liesi betrachtete Amalie neben ihr, die ihr einen amüsierten Blick zuwarf und leise kicherte. »Nun, das ist ein Missv–«, begann Liesi, doch Amalie unterbrach sie und verneigte sich kurz vor der Ordensschwester.

»Mein Name lautet Amalie. Und ich freue mich sehr, dass Liesi mich heute mitgenommen hat. Ich kann es kaum erwarten, dieses wunderschöne Haus mit eigenen Augen zu sehen.«

Amalie streckte Schwester Hildegard die Hand entgegen und zwinkerte im Anschluss Liesi zu, die sie völlig sprachlos anstarrte. Aus welchem Grund belog sie eine Ordensschwester?

»Es freut mich sehr, Amalie. Aber sei gewarnt, der Anblick mancher Anwohner ist nichts fürs schwache Gemüt. Das muss dir klar sein, bevor du in unsere Räumlichkeiten eintrittst. Nicht jeder erträgt das Bild von Leid und Pein und wahrhafter Armut.«

Liesi merkte, wie die Frau schluckte, und sah, wie sich ihre Finger um den Brotkorb verkrampften. Doch dann nickte sie.

»Ich scheue mich nicht davor. Außerdem ist Liesi ja bei mir«, fügte sie hinzu und warf ihr erneut ein Lächeln zu.

Liesi schluckte nun ebenfalls und folgte Schwester Hildegard durch den Gang. Sie blieb absichtlich einige Schritte hinter der Ordensschwester, und als Amalie ebenfalls langsamer wurde, zupfte sie an ihrem weißen Ärmel.

»Was soll das?«, fragte sie und deutete auf Schwester Hildegard.

Sie seufzte. »Darf ich dich um Geduld bitten? Ich erkläre es dir später, versprochen.«

Liesi verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dennoch akzeptierte sie Amalies Antwort und trat schließlich in den Speisesaal ein.

Nachdem sie das gesamte Brot an die Bedürftigen verteilt hatten, zeigte Liesi Amalie den Innenhof und den Garten des Armenhauses. Eigentlich war dies als Rückzugsort für die Kranken bestimmt, doch die Anwohner des Hauses waren nur selten in der Lage, sich draußen aufzuhalten.

Eine Ordensschwester arbeitete in einem Gemüsegarten, während ein Mönch auf der anderen Seite des Geländes die Äste eines Baumes beschnitt. Ansonsten befand sich niemand dort draußen.

Amalies Gesichtsfarbe glich noch immer der eines Geistes, und Liesi streckte vorsichtig die Hand nach ihr aus.

»Geht es wieder?«, fragte sie, doch Amalie schüttelte nur den Kopf.

»Wieso ist unsere Welt so grausam? So ungerecht? Warum lässt Gott es zu, dass die Könige unserer Länder in Saus und Braus leben, während andere Menschen so sehr leiden? Und vor allem so viele Kinder! So viele Kinder!« Sie wischte sich Tränen von den Wangen und atmete zittrig durch. Erst dann sah sie zu Liesi und lachte freudlos. »Entschuldige, ich wollte nicht weinen. Ich dachte, ich wäre stärker.«

Liesi zuckte mit den Schultern und blickte auf die Kieselsteine, die sie mit ihren Fußspitzen anstieß. »Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem mich meine Mutter zum ersten Mal mit hierher gebracht hat. Ich konnte nicht mehr aufhören, zu weinen. Die gesamte Kutschfahrt nach Hause habe ich geweint, sogar noch am Abend und in der Nacht.« Liesi atmete tief durch und sah das liebevolle Gesicht ihrer Mutter vor ihrem geistigen Auge. »Meine Mutter hielt mich die ganze Zeit fest. Sie erklärte mir, dass dies meine größte Stärke sei. Sie meinte, die Fähigkeit, mit dem Leid anderer mitzufühlen, sei ein Geschenk Gottes, das ich bewahren sollte.« Sie zuckte mit den Schultern und sah zu Amalie. »Du bist also sehr stark, Amalie.«

»Du hast eine sehr weise Mutter.«

Liesi schluckte und biss sich auf die Unterlippe. Dann nickte sie. »Ja, sie war wundervoll«, antwortete sie flüsternd, ohne dass Amalie die Worte verstehen konnte.

Eine Zeit lang liefen die beiden Damen schweigend durch den Garten, als Amalie erneut tief durchatmete. »Verzeih mir die Lüge vorhin«, begann sie und strich sich die weißen Röcke glatt. »Ich kam nach München, um meinen Verlobten kennenzulernen.« Sie seufzte und hielt das Gesicht in Richtung Sonne. »Nur interessiere ich mich nicht ausschließlich für meinen zukünftigen Gatten, sondern auch für das Land, in dem er lebt. Allerdings bezweifle ich, dass er gutheißen würde, wüsste er, wo ich mich aktuell befinde.«

Liesi kicherte leise. »Du bist vor deinem Verlobten fortgelaufen?«