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Wenn sich das Meer blutrot färbt, steht der Krieg bevor!
Die Flut der Gezeiten ist gekommen, und eine scharlachrote Legion versetzt dem Osten einen blutigen Schlag. Im Namen des Kaisers morden seine Inquisitoren auf der Suche nach dem mächtigsten Artefakt aller Zeiten. Doch als der Osten und der Westen endlich durch die Brücke der Gezeiten verbunden sind, erhebt sich eine ungeahnte Macht, die dem Willen des Kaisers trotzt: Ein gescheiterter Magier und ein ungestümes Zigeunermädchen beschließen, den Frieden zurück nach Urte zu bringen. Doch damit dies gelingt, müssen die beiden gegen die scharlachrote Armee bestehen …
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Seitenzahl: 604
DAVID HAIR
Die scharlach-rote Armee
DIE BRÜCKE DER GEZEITEN 3
Übersetzt von Michael Pfingstl
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Scarlet Tides« (Pages 1–315 + Appendix) bei Jo Fletcher, London, an imprint of Quercus.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2013 by David Hair
Originally entitled SCARLET TIDES
First published in the UK by Quercus Editions Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Penhaligon Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Redaktion: Sigrun Zühlke
Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15796-8www.penhaligon.de
Dieses Buch ist ist Mark Fry gewidmet, Freund seit Kindheitstagen, Freigeist und guter Mensch in jeder Hinsicht.
Inhalt
Karte: Urte c. 927
Karte: Yuros
Karte: Antiopia
Was bisher geschah
Die Geschichte Urtes
Die Ereignisse von 927–928 (geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Am Ende des Friedens)
Prolog
1 Dem Ende gegenübertreten
2 Identität und Besitz
3 Domus Costruo
4 Geiseln und Gäste
5 Mercellus di Regia
6 Dienst in der Legion
7 Die Krak
8 Die Flutlande
9 Freiheit
10 Die Glasinsel
11 Wadi Fishil
12 Das Zain-Kloster
13 Die Überquerung
14 Der Lehrer
15 Zwist
16 Gemeinsamkeiten
Anhang
Was bisher geschah
Die Geschichte Urtes
Auf Urte gibt es zwei bekannte Kontinente, Yuros und Antiopia. In Yuros ist das Klima kalt und feucht, seine Bewohner haben helle Haut; Antiopia liegt näher am Äquator, ist größtenteils trocken und dicht von verschiedenen dunkelhäutigen Stämmen bevölkert. Zwischen den beiden Landmassen tost eine unbezähmbare See, ständig aufgepeitscht von extrem starken Gezeiten, welche die Meere unpassierbar machen, sodass die Völker der beiden Kontinente lange Zeit nichts voneinander wussten.
Vor fünfhundert Jahren änderte sich dies grundlegend.
Auslöser des Ereignisses war eine von Corineus angeführte Sekte. Er gab seinen Jüngern einen Trank, der ihnen magische Kräfte verlieh, die sie Gnosis nannten. Noch in derselben Nacht starben die Hälfte seiner Anhänger und ebenso Corineus selbst, der offenbar von seiner Schwester Corinea ermordet wurde. Corinea floh, dreihundert der Überlebenden begannen unter Sertains Führung, den Kontinent mithilfe ihrer neu gewonnenen Kräfte zu erobern. Die Gnosis verlieh ihnen derart große Macht, dass sie das Reich Rimoni mühelos vernichteten und sich selbst als Herrscher des neu gegründeten Reiches Rondelmar einsetzten.
Dieses Ereignis, bekannt unter dem Namen »Die Aszendenz des Corineus«, veränderte alles. Die Magi, wie sie sich selbst nannten, stellten fest, dass auch ihre Kinder über magische Fähigkeiten verfügten. Die Gabe wurde zwar schwächer, wenn der andere Elternteil nicht ebenfalls ein Magus war, doch die Magi breiteten sich unaufhaltsam aus. Im Namen des rondelmarischen Kaisers brachten sie immer mehr Landstriche und Völker Yuros’ unter ihre Herrschaft.
Von den anderen zweihundert, die die Aszendenz überlebt hatten, versammelte Antonin Meiros einhundert Männer und Frauen um sich, die wie er Gewalt verabscheuten, und zog mit ihnen in die Wildnis. Sie siedelten sich im südöstlichen Zipfel des Kontinents an, wo sie einen friedliebenden Magusorden gründeten, den Ordo Costruo.
Die restlichen hundert Überlebenden schienen keinerlei magische Kräfte entwickelt zu haben, doch stellte sich schließlich heraus, dass sie, um die Gnosis in sich wirksam werden zu lassen, die Seele eines anderen Magus verschlingen mussten; also taten sie es. Der Rest der Magigemeinschaft war darüber so entsetzt, dass sie die Seelentrinker gnadenlos jagten und töteten. Die wenigen, die noch übrig sind, leben im Verborgenen und werden von allen verachtet.
Schließlich entdeckte der Ordo Costruo mithilfe der Gnosis den Kontinent Antiopia, oder Ahmedhassa, wie er bei seinen Einwohnern heißt. Antiopia liegt südöstlich von Yuros. Die vielen Gemeinsamkeiten in Tier- und Pflanzenwelt, die die Ordensmitglieder entdeckten, brachten sie zu der Vermutung, dass die beiden Kontinente in vorgeschichtlicher Zeit einmal miteinander verbunden gewesen sein mussten. Meiros’ Anhänger kamen in Frieden und wurden bald dauerhaft in der großen Stadt Hebusal im Nordwesten Antiopias sesshaft. Im achten Jahrhundert begann der Orden mit der Arbeit an einer gigantischen Brücke, die die beiden Kontinente wieder miteinander verbinden sollte, und diese Brücke löste die zweite Welle epochaler Veränderungen aus.
Der Bau der Leviathanbrücke, wie das dreihundert Meilen lange Bauwerk genannt wird, war nur mithilfe der Gnosis möglich, die vieles bewirken kann, aber nicht alles. Sie erhebt sich nur während der alle zwölf Jahre stattfindenden Mondflut aus dem Meer und bleibt dann für zwei Jahre passierbar. Das erste Mal geschah dies im Jahr 808. Zunächst wurde die Brücke nur zögerlich genutzt, doch nach und nach entwickelte sich ein blühender Handel, und nicht wenige wurden dadurch reich. Es entstand eine neue Kaste, die Kaste der Händlermagi, die aufgrund ihres Reichtums auf beiden Seiten der Brücke immer mehr Einfluss gewann. Auch der Ordo Costruo gelangte zu beträchtlichem Wohlstand. Nach etwas mehr als einem Jahrhundert und zehn Mondfluten war der Handel über die Brücke der wichtigste politische und wirtschaftliche Faktor auf beiden Kontinenten.
Im Jahr 902 entsandte der rondelmarische Kaiser, der seine Macht durch die Händlermagi bedroht sah, getrieben von Gier, Neid, Bigotterie und Rassenwahn, sein Heer über die Brücke: gut ausgebildete Legionen, die von Schlachtmagi angeführt wurden. Im Namen des Kaisers rissen sie die Kontrolle über die Brücke an sich, plünderten und besetzten Hebusal. Viele gaben Antonin Meiros die Schuld für diese Ereignisse, denn er und sein Orden hätten den Überfall verhindern können – doch dazu hätten sie die Leviathanbrücke zerstören müssen.
916 kam es zu einem zweiten, noch verheerenderen Kriegszug. Die Menschen Antiopias hatten keine Magi in ihren Reihen und waren den Legionen aus Yuros schutzlos ausgeliefert. Dennoch standen die Dinge für den rondelmarischen Kaiser nicht zum Besten, denn seine tyrannische Herrschaft hatte in mehreren Vasallenstaaten zu einer Revolte geführt, am bekanntesten davon die von 909 im in Zentral-Yuros gelegenen Königreich Noros. Als im Jahr 928 die nächste Mondflut naht, hat der Kaiser bereits neue Pläne geschmiedet, um seine Macht auch in Zukunft zu sichern.
Die Ereignisse von 927–928 (geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Am Ende des Friedens)
Mitte des Jahres 927 präsentieren Belonius Vult und Gurvon Gyle dem Kaiser Constant ihren Plan zur Rückeroberung des Throns. Obwohl sie Veteranen der Noros-Revolte sind, können sie das Vertrauen des Kaisers gewinnen. Ihr Plan, der sich um das Königreich Javon im Nord-Westen von Antiopia dreht, wird akzeptiert. Schon Jahre zuvor hat Gyle dort eine Gruppe Magi als Beschützer des javonischen Königs stationiert, nun will er sie für seine Zwecke nutzen. Die Ermordung der königlichen Familie von Javon wird Platz für eine neue Regierung schaffen, die dem Kaiser gehorchen wird.
Jedoch hat der König von Javon bereits einer dieser Magi, Elena Anborn, auf seine Seite gezogen. Sie schätzt die königliche Familie, und so ignoriert sie Gyles Befehl und wendet sich gegen ihrer früheren Kollegen. Sie tötet die Magi, die noch unter Gyles Befehl stehen. Dennoch stirbt der König im Kampf, nur seine drei Kinder überleben. Der einzige männliche Erbe Timori ist noch minderjährig, und so wird seine 18-jährige Schwester Cera Nesti zur Regentin bestimmt. Als sich herausstellt, dass die mittlere Schwester Solinde auf Seiten Gyles steht, wird sie in den Kerker geworfen.
Elena wird zu Cera Nestis persönlicher Beschützerin ernannt, denn Glye lässt nichts unversucht, die Regentin aus dem Weg zu räumen. Die Mondflut ist nah, und Gyle muss sein Versprechen an Javon in die Tat umsetzen und ihm zur Macht verhelfen.
Währenddessen entwickelt sich in Noros eine völlig unerwartete Bedrohung für das Kaiserreich: Alaron Mercer, ein junger Magusschüler, stößt auf ein tödliches Geheimnis. Die Skytale des Corineus, eine heilige Reliquie, die die Gnosis verleihen kann, ist irgendwo in Noros verschollen. Die Skytale ist das wichtigste Artefakt Urtes: Durch seine Macht könnte eine neue Riege Magi an die Macht kommen und den Kaiser entthronen. Alaron und seine Freunde Ramon Sensini und Cymbella die Regia machen sich gemeinsam mit dem Wachmann Jeris Muhren auf die Suche nach der Skytale. Aber je näher sie der Wahrheit kommen, desto gefährlicher wird die Suche, denn sie sind nicht alleine. Belonius Vult, der Gouverneur von Noros und Gurvon Gyles Verbündeter, ist ihnen dicht auf den Fersen.
Währenddessen trifft Antonin Meiros, der mächtigste lebende Magus, eine schwerwiegende Entscheidung. Er beschließt, wieder zu heiraten. Trotz seines extrem hohen Alters sucht er eine junge Frau aus dem südlichen Königreich Lakh und findet schließlich Ramita Ankesharan. Sie ist nur eine einfache Marktfrau, doch sie entspricht seinen Anforderungen. Bevor sie weiß, wie ihr geschieht, ist sie verheiratet und wird ins luxuriöse Anwesen Antonins im weit entfernten Hebusalim gebracht. Sie muss ihr altes Leben hinter sich lassen, nur ihre Freundin Huriya Makani darf bei ihr bleiben. Obwohl sie noch nicht einmal zwanzig Jahre alt ist, wächst eine tiefe Verbundenheit zwischen den Eheleuten.
Mit der Hochzeit zerbricht Ramitas Verlobung mit Kazim Makani, Huriyas Bruder. Kazim schwört sich, Ramita zurückzuholen.
Zum ersten Mal in der Geschichte nehmen die östlichen Mächte die Verteidigung gegen das rondelmarische Kaiserreich auf: Shihad, der Heilige Krieg, wird ausgerufen. Kazim meldet sich freiwillig und marschiert nach Norden. In Hebusalim trifft er auf die Hadishah, eine Verschwörungsgruppe, die den Shihad unterstützt. Die Hadishah schmuggeln Kazim in das Anwesen des Magus und er verführt Ramita.
Ramita wird schwanger und da alle Magi unfruchtbar sind, hält sie Kazim für den Vater. Meiros ist überglücklich und offenbart ihr, dass die Schwangerschaft ihr die Gnosis verleihen wird. Ihre Schuldgefühle wegen des Betrugs an Antonin lässt ihre Leidenschaft für Kazim schwinden. Da sie aber keine Anzeichen der Gnosis verspürt, hält sie weiter Kazim für den Vater der Zwillingskinder in ihrem Bauch.
Auch Kazim stellt fest, dass er eine Verbindung zur Gnosis hat: sein eigener Vater hatte gnosische Vorfahren – allerdings gab es in seiner Familie keine Magi sondern gefürchtete Seelentrinker. Kazim und Huriya werden von den Hadishah ausgebildet und für die Ermordung Antonin Meiros‘ vorbereitet.
Als die Mondflut ihren Anfang nimmt und sich die Truppen des Dritten Kreuzzuges zum Marsch über die Leviathan-Brücke bereitmachen, spitzen sich die Ereignisse in Javon, Hebusalim und Noros zu.
In Javon nimmt der tödliche Gegenangriff von Gurvon Gyle seinen Lauf. Elena entdeckt, dass Solinde verschwunden ist und von einem Gestaltwandler namens Coin ersetzt wurde. Die junge Herrscherin verliert die Nerven und opfert Elena, um sich und ihren Bruder Timori zu retten. Der Geist von Rutt Sordell, ein Magus und Gefolgsmann Gyles, nimmt Elena gefangen und von ihrem Denken Besitz.
Zur gleichen Zeit ermorden Kazim und der Hadishah Meiros und stürzen damit den Magusorden ins Chaos. Sie nehmen Ramita gefangen, doch sie wissen nichts von ihrer neu erworbenen Gnosis. Entgegen Ramitas Befürchtungen ist Antonin Meiros der Vater ihrer ungeborenen Zwillingskinder. Der Mord an ihm trifft sie hart und sie weist den Mörder Kazim von sich.
In Noros müssen Alaron, Cym und Ramon mit der Hilfe des Wachmanns Murren, General Langstrit und Tesla Anborn Belonius Vult und seine Handlanger konfrontieren, um die Skytale des Corineus zu finden. Es gelingt ihnen, doch Langstrit wird erschlagen und Tesla erliegt später ihren Verletzungen. Vult wird aufgehalten und von Muhren wegen Betrugs und Korruption festgenommen.
Doch Alaron, der gerade erst erfahren hat, dass Cym die Enkelin von Antonin Meiros ist, muss entsetzt mit ansehen, wie Cym die Skytale stiehlt und mit ihr in Richtung der Brücke flieht.
Es ist der Julsep des Jahres 928, und die Mondflut hat begonnen …
Prolog
Die Plagen Kaiser Constants (Teil 2)
Die Kaiserdynastie
Obwohl die Gesegneten Dreihundert sich nach wie vor an ihren gottgleichen Kräften ergötzten und gerade erst eine rimonische Legion vernichtet hatten, stürzte der Tod ihres charismatischen Anführers Johan »Corineus« Corin sie in tiefe Verwirrung. Die Ermordung durch seine Schwester Corinea versetzte sie in einen Schockzustand und stellte sie vor ein schwerwiegendes Problem: Wer sollte die Nachfolge dessen antreten, der ihnen die Gnosis gegeben hatte? Ganitius, Corineus’ »Gesetzesvermittler«, und Baramitius, dessen Trank die Pforte zur Gnosis aufgestoßen hatte, handelten schnell. Um das Fortbestehen der Gruppe zu sichern, etablierten sie im Schulterschluss mit dem Adligen Mikal Sertain eine neue Führung und ernannten Sertain zu Corineus’ Nachfolger. Die restlichen rimonischen Legionen wurden vernichtet und die Sacrecour-Dynastie eingesetzt, die bis zum heutigen Tag in Pallas herrscht.
Weshalb sie sich damals für Sertain entschieden? Weil er aus einer wohlhabenden Familie stammte.
Ordo Costruo, Pontus
Pallas, RondelmarSommer 9271 Jahr bis zur Mondflut
Noch ein Jahr bis zur Mondflut. Das war so gut wie nichts.
Gurvon Gyle musterte die Gesichter um ihn herum. Während der letzten Stunde hatte die Stimmung im Raum sich verändert. Der Plan, den er für die Eroberung Javons ausgearbeitet hatte, war angenommen worden, doch das war nur der erste Schritt. Die noch offenen Fragen waren weit schwieriger zu beantworten. Sie würden darüber entscheiden, ob diese Versammlung wirklich zusammenarbeiten konnte oder nicht. Gyle strich die Ärmel seines einfachen, graubraunen Kittels glatt und fragte sich, ob in Javon tatsächlich alles laufen würde wie geplant.
Wann hat schon jemals etwas so funktioniert wie geplant?
Zu seiner Linken ging sein norischer Landsmann Belonius Vult seine Aufzeichnungen durch. Als Gouverneur von Norostein trug er feinste Gewänder in Silber und Blau. Seine noblen Züge ließen die Weisheit und den Weitblick eines Wegbereiters in die Zukunft erahnen. Das war auch gut so, denn was hier beschlossen wurde, würde über Jahre hinweg die Geschicke der gesamten Welt bestimmen. Noch fünf weitere waren hier im Herzen des Kaiserpalastes von Pallas zusammengekommen, vier Männer und eine Frau; alle stammten aus Rondelmar und gehörten zu den Mächtigsten Urtes.
An allererster Stelle war natürlich der Kaiser selbst zu nennen. Als noch junger Mann herrschte er über eines der größten Reiche, die Yuros je gesehen hatte, doch er trug schwer an seiner Krone, und der von Juwelen glitzernde Kaisermantel schien ihn förmlich zu erdrücken. Seine Miene wirkte unbehaglich, daran änderten auch die makellose blasse Haut und der feinsäuberlich gestutzte dünne Bart nichts. Seine Nase zuckte nervös, als wähne er sich von Feinden umgeben, womit er gar nicht einmal so falsch lag: Constant hatte den Thron bestiegen, nachdem sein Vater frühzeitig verstorben und seine ältere Schwester in den Kerker geworfen worden war. Überall an seinem Hof schwärten Intrigen.
Am häufigsten wanderte Constants angespannter Blick zu der Frau an seiner Rechten, zu Mater-Imperia Lucia Fasterius-Sacrecour, der Kaiserinmutter, die rein äußerlich alles andere als furchterregend wirkte. Dabei waren es einzig und allein Lucias Ränke, die ihrem beeinflussbaren Sohn zum Thron verholfen hatten. Ihr stets heiter-gelassenes Gesicht und die zurückhaltende Kleidung ließen sie nach außen hin fromm und mütterlich erscheinen, und tatsächlich war sie erst gestern vor dem versammelten Volk zur lebenden Heiligen erklärt worden. Die Rücksichtslosigkeit und kalt berechnende Intelligenz waren Lucia während der Zeremonie nicht anzusehen gewesen, doch Gyle hatte ihre Grausamkeit oft genug am Werk gesehen, um zu wissen, dass er für den zweiten Teil seines Plans auf ihre unbedingte Zustimmung angewiesen war.
Und wenn er schiefgeht, brauchen wir ihr Wohlwollenerst recht.
Gyle gegenüber saß der Große Kirchenvater Wurther, der Mann, der Lucia heiliggesprochen hatte. Er trank genüsslich einen Schluck Wein und wirkte auch sonst rundum zufrieden. Als er Gyles Blick auffing, lächelte er liebenswürdig. Der Prälat mochte harmlos aussehen, wie ein einfacher Priester, der selbst nicht wusste, wie er die Karriereleiter so weit hatte hinauffallen können, doch er war gerissen wie ein Fuchs. In der Kirche Kores war kein Platz für Unbedarfte und Narren.
Neben Wurther lehnte sich der kaiserliche Schatzmeister Calan Dubrayle in seinen Stuhl zurück. Den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, ging er vermutlich gerade die Bilanzen der Staatskasse durch. Er war ein schlanker, gepflegter Mann mit aufmerksamem Blick. Sein analytischer Verstand und das offensichtliche Talent, Geld zu vermehren, machten ihn zum perfekten Schatzmeister in Urtes mächtigstem Land, weshalb er praktisch sofort nach Kaiser Constants Krönung ins Amt berufen worden war.
Für die beiden anderen Männer, die sich in der Ecke miteinander unterhielten, hatte Gyle nicht sonderlich viel übrig. Als sich seine Heimat Noros vor achtzehn Jahren gegen die rondelmarische Fremdherrschaft erhoben hatte, hatten er und Vult sich an der Rebellion beteiligt. Kaltus Korion und Tomas Betillon waren die Generäle gewesen, die den Aufstand schließlich niedergeschlagen hatten – und doch waren sie nun, nachdem die Noros-Revolte vergangen und vergessen war, alle hier zusammengekommen, um in einer neuerlichen Verschwörung Seite an Seite zu stehen. Doch so etwas wie die Noros-Revolte vergaß man nicht, egal wie viele Jahre vergingen.
Kaltus Korion sah aus wie ein Held, und genau das war er für die meisten auch. Das helle Haar über den harten Augen und dem kantigen Kiefer trug er streng zurückgekämmt, seine Haltung war die eines Kriegers. Der Mann neben ihm, der untersetzte und ungehobelte Tomas Betillon, nahm gerade einen kräftigen Schluck aus seinem Kelch und tippte Korion auf die Brust, als wollte er seinen Argumenten mehr Nachdruck verleihen.
Denen wird der zweite Teil meines Plans nicht gefallen, dachte Gyle. Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, beschwor seine Gnosis und erwärmte den Wein in seinem Becher, um die eisige Kälte aus seinen Adern zu vertreiben.
Die Blicke der anderen wanderten sofort in seine Richtung. Sie alle waren reinblütige Magi und hatten bemerkt, dass jemand die Gnosis benutzt hatte.
Gyle hielt entschuldigend die geöffnete Handfläche hoch als Zeichen, dass er niemanden hatte bedrohen wollen.
Die Mater-Imperia Lucia nickte ihm gnädig zu und richtete das Wort an die beiden Generäle. »Kaltus, Tomas … ich denke, Magister Vult ist so weit. Wenn wir also um Eure Aufmerksamkeit bitten dürften?«
Die beiden kehrten zu ihren Stühlen zurück, doch Korions leises Gemurmel verstummte erst, als Lucia ihm einen ungehaltenen Blick zuwarf. »Verehrte Herren«, sagte sie schließlich in die Runde, »in zwölf Monaten beginnt der Dritte Kriegszug, und das verschafft uns die Möglichkeit, gleich mehrere unserer Ziele zu verwirklichen. Dazu gehören die Vernichtung der Händler-Magi, die Tötung des einzigen Rivalen meines Sohnes, Herzog Echors von Argundy, die Zerschlagung des Ordo Costruo und die Hinrichtung von Antonin Meiros. Wir können ganz Nordantiopia plündern, unsere Schatzkammern wieder auffüllen und Javon zurückerobern. Magister Vult und Magister Gyle haben viel Zeit und Energie auf die Planung verwendet, und die Javon-Frage haben wir bereits geklärt.« Sie wandte sich an die beiden Norer. »Dieser Teil Eures Plans findet unsere uneingeschränkte Zustimmung, edle Herren. Wenn mein Sohn es erlaubt, Gouverneur Vult, dann fahrt nun bitte fort.«
Der Kaiser nickte abwesend, und Vult stand auf. Er dankte der Kaiserinmutter, dann sprach er mit volltönender Stimme: »Euer Majestät, werte Herren, unser Plan baut darauf, dass Javon die Hände gebunden sein werden, wenn die Mondflut beginnt. Die Javonier werden die Fehde nicht unterstützen können, was unsere Nordflanke sichert und damit die Versorgungswege für die Legionen, die im Kriegszug kämpfen. Dies verschafft uns Gelegenheit, unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden, und zwar der Vernichtung der Feinde Rondelmars. Wie Mater-Imperia Lucia bereits andeutete, handelt es sich dabei zu weiten Teilen um innere Feinde. Ihr alle habt die Dokumente gesehen, die Gurvon Gyle vorlegte. Sie beweisen, dass Herzog Echor Borodium – der Onkel des Kaisers, der sich nach außen hin als enger Verbündeter der Krone gibt – nicht nur in Korrespondenz mit Constants verräterischer Schwester Natia steht, sondern in ihrem Namen auch an die Gouverneure und Fürsten unserer Vasallenstaaten herangetreten ist, um sich ihrer Unterstützung zu versichern. Auf derlei verräterische Umtriebe steht die Todesstrafe. Damals, als Echors Bruder mit Natia konspirierte und hingerichtet wurde, war Echor nicht in der Position, die Hinrichtung zu verhindern, doch sein Groll gegen die Kaiserkrone ist nach wie vor groß. Und jetzt, da er als Herzog über die zweitgrößte Provinz der Reichs herrscht …«
»Wir hätten ihn töten sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten«, knurrte der Kaiser verdrossen. »Als er vor mir kniete und mich um das Leben seines Bruders anflehte, hätte ich ihn nicht meinen Siegelring küssen lassen sollen, sondern die Axt!« Er kicherte, offensichtlich angetan von seinem eigenen Wortspiel.
Gyle sah, wie Lucias Augen sich ganz leicht verengten: Ungeduld gemildert mit der Güte einer Mutter. »Ihr wisst, dass das nicht möglich war«, wies sie ihren Sohn sanft zurecht. »Echor hat in die argundische Königsfamilie eingeheiratet. Hätten wir ihm den Kopf abgeschlagen, hätten wir zum ungünstigsten Zeitpunkt die nächste Revolte am Hals gehabt. Indem wir ihn stattdessen gekauft haben, haben wir uns Zeit verschafft, um uns mit ihm zu beschäftigen, wenn der richtige Augenblick gekommen ist. Und dieser Augenblick ist jetzt.«
Constant verzog kurz das Gesicht wegen der Zurechtweisung, dann senkte er demütig den Kopf.
Belonius sprach weiter, als wäre nichts passiert. »Um Echor zu schwächen, müssen wir zuerst seine Verbündeten schwächen. Das tun wir, indem wir sie am Kriegszug teilnehmen lassen und in die Vernichtung schicken. Der Zweite Kriegszug hat kaum Beute eingetragen und den Handel beinahe zum Erliegen gebracht. Die Vasallenstaaten behaupten, sie hätten ihre Schatzkammern gelehrt, um den Feldzug zu finanzieren, und nichts zurückbekommen. Deshalb würden sie in Zukunft nichts dergleichen mehr tun.«
Betillon schnaubte verächtlich. »Hätten sie mehr Truppen statt Geld geschickt, hätten sie …«
Unerwartet mischte Calan Dubrayle sich ein: »Nein. Magister Vult hat vollkommen recht: Der Zweite Kriegszug war reine Geldverschwendung. Der Sultan von Kesh ist nicht dumm. Wie alle reichen Männer Antiopias hatte er all sein Gold nach Osten geschafft, wo wir nicht herankommen konnten. Sie haben die Brunnen vergiftet und auf Hunderte von Meilen alle Felder niedergebrannt. Es hat uns Millionen gekostet, unsere Truppen bis nach Istabad zu bringen. Und was hat die Unternehmung eingebracht? Gerade mal ein Drittel der Ausgaben. Nachdem ich den Anteil der Krone und den der Kirche einbehalten hatte, war für unsere Vasallen nichts mehr übrig.«
Ihr hättet noch eine dritte Gruppe nennen können, Schatzmeister: die ach so noblen Magi, die ihre eigenen Soldaten beraubten, um sich selbst zu bereichern. Sie haben mindestens so viel genommen wie die Krone, wenn nicht gar mehr.
»Ihr klingt, als wäre das etwas Schlechtes«, entgegnete Betillon lächelnd. »Die Provinzen unter der Knute zu halten, ist schon der halbe Sieg.«
»Mag sein«, gab Dubrayle zu, »aber es fördert nicht gerade ihre Bereitschaft, sich auf weitere Kriegszüge einzulassen.«
Vult räusperte sich. »Argundy, Bricia, Noros, Estellayne und Hollenia haben bereits verlautbaren lassen, dass sie sich nicht am Dritten Kriegszug beteiligen würden.«
»Noros«, wiederholte Korion verächtlich und deutete auf Vult. »Wenn sich Eure Leute uns nicht zu Tausenden anschließen, werde ich ihr Land mit einer weiteren Strafexpedition überziehen, neben der sogar das Massaker von Knebb verblassen wird.«
Betillon lachte polternd. Er war es gewesen, der das Massaker damals befohlen hatte, bis heute nannte man ihn auch den »Schlächter von Knebb«.
Gyle erinnerte sich noch lebhaft an den Anblick der schwelenden Ruinen und überall verstreut liegenden Leichenteile. Etwas in ihm hatte sich verändert damals, für immer, doch er hielt seine Gesichtszüge sorgsam unter Kontrolle.
»Ich werde ihnen einfach befehlen, teilzunehmen«, warf Kaiser Constant fast schon quengelnd ein. »Sie sind meine Untertanen.«
»Geliebter Sohn«, merkte Lucia lächelnd an, »auch Hunde müssen ab und zu gefüttert werden, wenn sie gehorchen sollen.«
»Unsere verehrte Kaiserinmutter spricht weise wie immer«, beeilte Vult sich zu sagen. »Wir brauchen die Vasallenstaaten für den Kriegszug. Jede auch noch so kleine Provinz muss teilnehmen.«
»Wozu?!«, fuhr Korion auf. »Rondelmar muss Antiopia unter Kontrolle halten, und das bedeutet, Herr über seine Armee bleiben. Unsere Bevölkerung macht nur ein Drittel des gesamten Reiches aus. Wenn die Vasallen jeden waffenfähigen Mann entsenden, sind wir in der Unterzahl. Falls es Echor dann gelingt, sie hinter sich zu bringen, sind wir erledigt.«
»Edler General«, entgegnete Vult, »während des Zweiten Kriegszugs befanden sich die Legionen der Vasallenstaaten in Kesh und nicht hier. Dort haben sie genauso verzweifelt nach Beute gesucht wie wir, doch jetzt ist die Lage eine andere: Sie wollen nicht in den Krieg ziehen. Wenn wir ihre Weigerung hinnehmen und allein Rondelmar all seine Truppen nach Antiopia entsendet, wer soll sich dann Echor entgegenstellen, falls er sich erhebt?«
»Das würde er nicht wagen«, warf Constant aufgebracht ein. »Er hat das Knie vor mir gebeugt, meinen Ring geküsst!«
Deinen Arsch küssen heißt noch lange nicht, dir die Treue zu halten, dachte Gyle.
Als Reaktion auf den Einwurf des Kaisers herrschte betretenes Schweigen, und Gyle sah, wie die Miene der Kaiserinmutter nun doch ein wenig unduldsam wurde.
»Magister Vult«, meldete der Große Kirchenvater Wurther sich zu Wort, »Ihr sagt, die Vasallenstaaten für den Kriegszug zu verpflichten, sei unverzichtbar, doch wie wollen wir sie in der Fremde unter Kontrolle halten? Und was noch wichtiger ist: Wie sorgen wir dafür, dass die Beute dorthin gelangt, wo sie hingehört? Eure bisherigen Antworten auf diese Fragen waren etwas vage.« Wurther wackelte mahnend mit dem Zeigefinger.
»Ihre Beteiligung ist unverzichtbar«, betonte Vult. »Wenn Echor und seine Verbündeten nicht an vorderster Spitze des Kriegszugs mitmarschieren, wird es hier in Rondelmar einen Umsturzversuch geben.«
»Unsere Schlachtmagi sind wesentlich stärker als die ihren«, konterte Korion. »Eine einzige unserer Legionen ist mehr wert als drei aus den Provinzen. Sie würden das Risiko nicht eingehen.«
»Nun, das stimmt nicht ganz«, widersprach Calan Dubrayle ruhig und schlug sich damit bereits zum zweiten Mal auf Vults Seite. Unwillkürlich fragte Gurvon sich, was Dubrayle damit zu gewinnen hoffte. Vielleicht gefällt es ihm einfach, Korion ein bisschen zu ärgern.
»Laut der letzten Volkszählung lebt nicht einmal die Hälfte unserer Magi in Rondelmar. Die stärksten unter ihnen mögen hier sein, aber wir dürfen die Zahlenverhältnisse nicht außer Acht lassen. Außerdem können wir nicht für selbstverständlich nehmen, dass sie uns alle treu ergeben sind«, beendete Dubrayle seinen Einspruch.
Constant blickte mit offen stehendem Mund zu seiner Mutter hinüber. »Mein Volk liebt mich«, quiekte er. »Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind.«
Du meinst: Die meisten haben deinen Ring geküsst. Aber manche lieben Echor und andere deine eingekerkerte ältere Schwester. Und sie alle fragen sich, ob du wirklich Kores Stellvertreter auf Urte bist.
»Fahrt fort, Magister Vult«, sagte Lucia und verbot ihrem Sohn mit einem warnenden Blick jedes weitere Wort.
»Der Schatzmeister hat recht: Ein Herrscher muss stets wachsam sein. Unser Kaiser ist die Verkörperung aller Tugenden, doch gibt es auch geringere Anführer von entsprechend geringerer Moral« – er neigte demütig das Haupt –, »weshalb ich vorschlage, uns durch ein Zugeständnis die unbedingte Gefolgschaft aller Vasallenstaaten zu sichern und gleichzeitig jene unter die Knute zu nehmen, die uns übel gesinnt sind. Beides erreichen wir, indem wir Echor den Oberbefehl über den Kriegszug übertragen.«
»Was?!« Kaltus Korion sprang wutentbrannt auf. »Davon war in Euren Unterlagen nicht mit einem Wort die Rede! Für wen, bei Hel, haltet Ihr Euch? Mir und niemand anderem steht es zu, diesen Kriegszug anzuführen!«
»General Korion!« Lucias Stimme war scharf wie ein Peitschenknall. »Setzt Euch!«
»Aber …« Korion sah aus, als wäre er drauf und dran, sie anzuschreien. Dann schluckte er seinen Zorn herunter. »Ich entschuldige mich, Euer Majestät«, sagte er, sichtlich um Fassung bemüht. »Trotzdem befremdet mich dieser Vorschlag. Ich bin oberster General Rondelmars, und als solcher muss ich den Kriegszug anführen.« Er schlug sich mit der Faust auf die Brust. »Es ist mein Recht.«
Gyle musterte Korion nachdenklich. Den Osten plündern, um dann mit der Beute und einem gigantischen Heer im Rücken zurückzukehren, das voller Bewunderung für dich ist und jeden deiner Befehle befolgt? Gehörst du vielleicht auch zu denjenigen, die heimlich ein Auge auf den Heiligen Thron geworfen haben, General?
»Ihr steht ja immer noch, Kaltus«, sagte Lucia mit eisiger Stimme. »Setzt Euch und lasst uns reden, wie es sich unter zivilisierten Menschen gehört.«
Korion starrte sie einen Moment lang an, dann nahm er kleinlaut Platz.
Gyle warf Vult einen kurzen Blick zu. Interessant.
Kaiser Constant wirkte verwirrt, ganz offensichtlich verstand er nicht, was hier vor sich ging. Betillon schien genauso wütend wie Korion zu sein, Dubrayle und Wurther hingegen zuckten nicht mit der Wimper, was im Moment wohl auch das Ratsamste war.
»Sprecht weiter, Magister«, sagte Mater-Imperia Lucia in die entstandene Stille hinein.
Vult holte tief Luft. »Habt Dank, Mater-Imperia«, erwiderte er, als könnte diese Anrede ihn vor Korions Zorn schützen.
»Es ist mein Kommando, Überläufer«, knurrte Korion prompt in Anspielung auf die Tatsache, dass Vult die Noros-Revolte verraten und sich ausgerechnet Kaltus’ Legion ergeben hatte.
Das war offensichtlich zu viel für den Gouverneur. »Die Zukunft des Reiches steht auf dem Spiel!«, fuhr er auf. »Dies ist nicht die rechte Zeit, an den eigenen Ruhm zu denken, sondern es geht um das Wohl Rondelmars.« Sein Blick verharrte irgendwo zwischen Korion und der Kaiserinmutter. »Es ist an der Zeit, das Wohl des Kaisers an oberste Stelle zu setzen.«
»Hört, hört«, warf Wurther mit einem weinseligen Grinsen ein, was ihm einen bösen Blick von Betillon eintrug, der ihn jedoch nicht zu kümmern schien.
»Das gemeine Volk, die Händler-Magi und selbst viele der uns treu ergebenen Magi wollen, dass der nächste Kriegszug anders verläuft als der Zweite«, sprach Vult weiter. »Ihnen wurde Kriegsbeute versprochen, die ihre Vorstellungskraft übersteigt, und dass der Osten nur so überquelle vor Gold, und auch ich habe damals daran geglaubt, so fest wie alle anderen.«
Gyle kannte Vults finanzielle Lage: Der Gouverneur hatte viel in die Kriegszüge investiert und praktisch alles verloren.
»Argundy, Bricia und Noros gehen auf dieselben Häuser zurück wie Rondelmar, und doch sträuben sie sich. Schlessen, Verelon, Estellayne und Sydia lehnen jede Beteiligung rundweg ab. Beim letzten Mal haben sie Soldaten, Geld und Gerät gegeben und alles verloren außer ihren Soldaten. Sie haben die Heiden zu Tausenden hingeschlachtet und was dafür bekommen? Nichts. Pallas hat alles genommen. Warum sollten wir also noch einmal mitmarschieren? Warum?«
Wir? Gyle lächelte still in sich hinein, da sah er, dass Lucia ihn beobachtete. Sie zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts.
Vult tätschelte seine Unterlagen. »Es gibt nur eines, das die Provinzen für diesen Kriegszug gewinnen wird: die Garantie, dass diesmal alles anders sein wird. Und dafür gibt es nur ein einziges glaubwürdiges Signal, nämlich dass der Mann das Oberkommando erhält, der in dem Ruf steht, das Gleichgewicht zwischen Pallas und den Provinzen zu sichern: Herzog Echor von Argundy. Ernennt ihn zum obersten Befehlshaber, und die Provinzen werden folgen. Tut es nicht und stellt Euch darauf ein, diesen Kriegszug allein zu führen.« Falls Ihr dazu in der Lage seid, sagte Vult zwar nicht laut dazu, doch die Worte schwebten auch so im Raum.
Eine Weile sprach niemand. Korion und Betillon blickten einander an, als warteten sie darauf, dass der andere protestierte, und Constant starrte wie ein kleines Kind Löcher in die Luft, aber die anderen begannen zu begreifen: Lucia war dafür, und deshalb würde es auch genau so geschehen.
Schließlich stand Korion auf, und Gyle konnte förmlich sehen, wie er seinen Stolz hinunterschlucken musste. »Ich entschuldige mich, Mater-Imperia«, sagte er. »Es ist ein kluger Plan. Ein Kommando ist nichts im Vergleich zu der Aufgabe, den Fortbestand der Macht und des Ruhms des Hauses Sacrecour zu sichern.«
Niemand hatte es je gewagt, Kaltus Korion für dumm zu erklären.
Niemand außer Tomas Betillon. »Ich sehe den Sinn darin nicht«, brummte er. »Warum nicht erst den Ruf zu den Waffen erschallen lassen und sehen, wie viele sich beteiligen, als etwas tun, das sich im Nachhinein als vollkommen unnötig herausstellen könnte?«
»Und danach unsere Linie ändern, falls es sich als notwendig erweisen sollte?«, fragte Dubrayle bissig. »Wohl kaum. Wenn der Kaiser gesprochen hat, weicht er nicht mehr von seinem Wort ab. Er verhandelt nicht mit seinen Untertanen, sondern sorgt von vornherein dafür, dass sie seinem Ruf folgen.«
»Da ist noch etwas«, warf Gyle ein, als wäre es ihm eben erst eingefallen. »Seit der Rebellion befinden sich die Feldstandarten der norischen Legionen hier in Pallas, genauso wie viele weitere, die bei der Niederschlagung anderer Aufstände in Argundy und anderswo erbeutet wurden. Ich schlage vor, Ihr gebt sie zurück.«
Korions Kiefer klappte nach unten. »Halt den Mund, Norer. Ich behalte meine Trophäen.«
»Wenn Ihr die Standarten zurückgebt, werden die Soldaten Euch nur so zuströmen«, bekräftigte Vult. »Sie werden es als Zeichen der Versöhnung sehen. Gebt ihnen ihren Stolz zurück, dann werden sie der Kaiserkrone verzeihen.«
»Dem Kaiser verzeihen?«, schnaubte Constant. »Ich habe ihnen bereits gezeigt, wie die Vergebung des Kaisers aussieht: Es gibt keine!«
Das hast du in der Tat, Constant. Aber war es nicht vielmehr so, dass du dich während der Noros-Revolte die meiste Zeit versteckt hast aus Angst vor Attentätern wie mir?
»Meine Worte geben selbstverständlich nur die irregeleitete Sicht des gemeinen Volkes wider«, erläuterte Vult gelassen, »und doch sind diese Gefühle da.«
Lucia legte ihrem Sohn eine Hand auf den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Wie meine Mutter mir soeben zu Recht ins Gedächtnis rief, sind die Norer nichts als Bauern«, sagte er mit einem nachdenklichen Nicken. »Wir können uns glücklich schätzen, zwei so seltene Ausnahmen wie Euch beide hier zu haben, so dass nicht der ganze Palast nach Kuhdung stinkt.«
Betillon grinste, aber alle anderen ließen sich keinerlei Reaktion anmerken. Bleiernes Schweigen senkte sich über den Raum.
Jetzt wissen wir wenigstens, wie sehr wir hier willkommen sind, dachte Gyle. Er drehte den Kopf ein Stück und beobachtete aus dem Augenwinkel Belonius’ Gesicht: Vult schien die Beleidigung nichts auszumachen. Andererseits teilte er wahrscheinlich sogar Constants Meinung über sein eigenes Volk.
»Es ist ein hervorragender Vorschlag«, bestätigte die Mater-Imperia schließlich. »Die Provinzen wissen, wer ihr Herr ist. Es ihnen auch noch unter die Nase zu reiben, wäre kontraproduktiv. Übertragen wir Echor das Oberkommando, und geben wir ihnen ihre Standarten zurück, dann werden sie sich ganz von selbst unter unserem Banner versammeln.«
»Und in der Überzahl sein, sobald wir Kesh erreichen«, gab Korion zu bedenken.
»Nicht allzu sehr. Außerdem werdet Ihr es verstehen, diesen Umstand zu unserem Vorteil zu nutzen, dessen bin ich sicher.«
Korion rümpfte die Nase. »Wie? Es wird nicht viele Schlachten geben. Die Amteh haben zwar angeblich eine Fehde gegen uns ausgerufen, aber sie haben weder Magi noch Kriegsmaschinen und schon gleich gar kein diszipliniertes Heer. Nüchtern betrachtet, ziehen wir nicht in einen Krieg, sondern gehen auf eine zweijährige Schatzsuche.«
Lucia gestattete sich ein kleines Lächeln und breitete die Arme zu einer Willkommensgeste aus. »Wozu Magister Gyle noch etwas zu sagen hätte: Unser Gast wartet bereits.«
»Ein Gast?«, stöhnten Korion und Betillon im Chor.
»Das hier ist eine Geheimbesprechung, keine Unterhaltung in einer Hafenkaschemme«, beschwerte sich Constant.
Gyle ignorierte ihn und ging zur Tür. Der Wachsoldat auf der anderen Seite öffnete auf sein Klopfen hin, und Gyle atmete begierig die etwas frischere Luft im Vorraum ein. Sie führen sich auf wie kleine Kinder, dabei haben sie von nichts eine Ahnung und streiten sich um Nichtigkeiten. Ihre eigenen Interessen und Prahlereien sind alles, was sie kennen. Nur Lucia ist anders. Ihr würde ich folgen.
Der Mann, der im Vorraum wartete, trug trotz der sommerlichen Hitze einen schwarzen Umhang mit dickem Pelzbesatz auf den Schultern. Als Gyle hereinkam, legte er die Robe ab und erhob sich. Die kupferfarben schimmernde Haut und das pechschwarze Haar wiesen ihn sofort als Fremden aus. Seine Augen leuchteten wie Smaragde, an den Ohren glitzerten Rubine, und ein Stück unterhalb des akkurat gestutzten Vollbarts glitzerte ein Diamantenamulett. Er war eine beeindruckende Erscheinung.
»Emir«, sagte Gyle. »Ich hoffe, Ihr seid wohlauf?«
»Magister«, erwiderte Emir Rashid Mubar von Hallikut den Gruß. Er umarmte Gyle höflich, küsste ihn auf beide Wangen und klopfte ihm mit einer Hand zwischen die Schulterblätter, wie es in Kesh als Zeichen des Friedens üblich war: Du siehst, ich könnte dir auch einen Dolch in den Rücken stoßen, aber ich tue es nicht. Rashid war ein Dreiviertelblut und damit einer der ranghöchsten Magi in Antonin Meiros’ Ordo Costruo. Seine Mutter war die Tochter einer Reinblüterin gewesen, die in eine Adelslinie der Keshi eingeheiratet hatte, noch bevor die Leviathanbrücke überhaupt fertiggestellt gewesen war, und sein Vater war ebenfalls ein Reinblut. Aus dieser Verbindung war ein Juwel von einem Mann hervorgegangen, schillernd wie ein Brillant und nach allen Regeln der Kunst geschliffen. »Ich bin durchgefroren bis auf die Knochen. Wie könnt Ihr dieses Klima nur ertragen?«
»Wir haben Sommer, Emir. Es scheint, als wärt Ihr gut beraten, Eure Heimreise noch vor Einbruch des Winters anzutreten.«
»Ich werde abreisen, sobald das hier erledigt ist. Wie geht die Besprechung voran?«
»Den Umständen entsprechend gut«, antwortete Gyle. »Constant hat schlechte Laune. Sprecht mit Lucia und ignoriert die Kommentare von Korion und Betillon.«
»Ich kenne diesen Betillon und weiß, wie man ihn anpacken muss.« Rashid zuckte die Achseln. »Wie nennt Ihr uns hier? Barbaren, nicht wahr? Ich denke, eigentlich müsste man ihn als einen solchen bezeichnen.«
Gyle warf einen kurzen Blick in Richtung des Wachsoldaten, der Rashid nur fassungslos anstarrte, als wäre er eine Gnosiszüchtung, und musste ein Lächeln unterdrücken. »Das ist er, Emir, das ist er.« Er deutete auf die Tür. »Wollen wir?«
»Ah, da seid Ihr ja«, begrüßte Vult den Neuankömmling gleich, als er eintrat.
Der Emir verbeugte sich, und Belonius neigte den Kopf. »Es ist mir das allergrößte Vergnügen, Euch endlich kennenzulernen. Magister Gyle hat mir viel von Euch erzählt.«
Vults Mundwinkel zuckten. »Nur Gutes, wie ich hoffe, Gurvon?«
»Nur die Wahrheit, Bel.«
»Tatsächlich? Nun, wie ich sehe, Rashid, seid Ihr trotzdem gekommen. Wir wollten gerade über die Rolle sprechen, die Euch in unserem Plan zugedacht ist. Tretet näher, Freund.«
Rashid rührte sich nicht. »Haltet mich nicht für Euren Freund, Magister Vult. Ich bin alles andere als das.«
Belonius lächelte. »Wir haben gemeinsame Feinde, Emir. Ein stärkeres Band für eine Freundschaft gibt es nicht.«
Dem Ende gegenübertreten
Kettenrunen
Die Möglichkeit, einen Magus von seinen Kräften abzuschotten, ist ein notwendiges Übel. Obwohl wir alle Nachfahren der Gesegneten Dreihundert sind, sind manche unter uns dieses Erbes nicht wert. Einem Magus das Geschenk der Gnosis wieder zu nehmen, ist ein drastischer Schritt, der weder leichtfertig unternommen werden darf noch einfach zu bewerkstelligen ist. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass es auch unter uns Schurken gibt, die ob ihrer Macht umso mächtiger das Böse wirken.
Marten Robinius, Magister am Arkanum von Bres
Norostein in Noros, YurosJulsept 928Erster Monat der Mondflut
Es war noch dunkel, als Jeris Muhren, Hauptmann der Wache von Norostein, die steile Wendeltreppe nach unten ging. Die Stufen waren schmal und glitschig. Ein feuchtkalter, abgestandener Geruch schlug ihm von unten entgegen, begleitet vom metallischen Scheppern der Kerkertüren. Draußen war es Sommer, aber in den Verliesen unterhalb des Gouverneurspalastes lauerte immer noch die Kälte des Winters. Muhren sah keinerlei Wachen. Das war ungewöhnlich. Er lockerte sein Schwert in der Scheide, drückte die Tür am Ende der Treppe auf und erlebte die nächste Überraschung: In der kleinen Kammer dahinter stand ein noch sehr jung wirkender Mann mit schmalem Kinn und ersten Anzeichen eines blonden Barts. Sein schmächtiger Körper war mit samtenen Roben behängt, ein Goldreif prangte auf der von Sorgenfalten gefurchten Stirn.
Muhren beugte hastig das Knie. »Euer Majestät«, stammelte er. Was hat er hier zu suchen?
»Hauptmann Muhren«, erwiderte König Phyllios III. von Noros förmlich. »Bitte erhebt Euch.«
Muhren stand verwirrt auf. Das Scheitern der Revolte hatte die norischen Könige zu ohnmächtigen Nebendarstellern in einem zusehends verfallenden Palast degradiert, und Phyllios war nichts als eine Marionette, fest im Griff des von Pallas eingesetzten Gouverneurs. Normalerweise zumindest, denn ebendieser Gouverneur saß im Moment als Gefangener im Kerker seines eigenen Amtssitzes. »Mein König, Ihr solltet nicht hier sein.«
Phyllios zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Die Wachen wurden vor einer Stunde abberufen, Hauptmann, niemand hat mich herkommen sehen. Ich habe mehr Bewegungsfreiheit, als Ihr denkt.«
Muhren blinzelte. Mein letzter Tag im Amt, und ich lerne immer noch etwas Neues …
»Wie geht es unserem Gefangenen, Hauptmann?«, erkundigte sich der König. Seine Stimme klang zögerlich, aber Muhren hörte auch eine gewisse Befriedigung heraus, eine Rachelust, die ihm noch nie aufgefallen war. Phyllios war während der Revolte noch sehr jung gewesen und hatte tatenlos mitansehen müssen, wie sein Volk niedergemetzelt wurde. Danach hatten die Rondelmarer ein Beispiel an ihm statuiert, indem sie ihn auf dem Stadtplatz nackt auspeitschten und ihn zwangen, Constant auf Knien um Vergebung anzuflehen. Das war das Ende des Mannes gewesen, der er einmal hätte werden können. Nach außen hin war nur noch ein jämmerlicher Bückling übrig geblieben. Den Hauptmann der Stadtwache zu ernennen, war eines von Phyllios’ wenigen Privilegien, und mit Muhrens Ernennung – eines verdienten Veteranen der Revolte – hatte er mehr Stärke gezeigt, als die meisten ihm zugetraut hatten. Trotzdem war er immer noch ein vorsichtiger, beinahe furchtsamer Mann.
»Er ist zutiefst zerknirscht, Herr. Der Kerker ist kalt, er friert, und er hat Angst.«
»Vor wem? Doch sicher nicht vor mir.« In Phyllios’ Stimme schwang Selbstironie mit, aber kein Selbstmitleid.
»Vor den Inquisitoren, Herr.«
»Die Inquisition ist auf dem Weg hierher?«, fragte der König nervös.
»Selbstverständlich, Herr. Er ist ein Kaiserlicher Gouverneur, der wegen Hochverrats im Kerker liegt. Schon in wenigen Tagen werden sie ihn mitnehmen und ihn dann brechen, um herauszufinden, was er sich hat zuschulden kommen lassen. Der Kaiser darf nicht tatenlos zusehen, wie ein Gouverneur ihn hintergeht. Er kann es sich schlichtweg nicht leisten.«
Phyllios nickte ernst. »Was werden sie herausfinden, Hauptmann?«
Ah, das ist also die Frage, die ihn umtreibt. Mir ist es egal, was sie ansonsten herausfinden werden, aber sie werden unweigerlich von Alaron, Cym und der Skytale erfahren und meiner eigenen Rolle in der Geschichte. Und dann wird Hel losbrechen.
Doch all das kann ich Euch nicht sagen, mein König, zu Eurer eigenen Sicherheit.
Nach dem siegreichen Kampf um die Skytale war Muhren in die Amtsräume des Gouverneurs eingebrochen, um sich eine Legitimation für Vults Verhaftung zu verschaffen, und nun blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen König zu belügen.
»Außer Machenschaften, wie jeder korrupte Beamte von Vults Schlag sie begeht, konnten wir nichts Besonderes finden, Herr: Vetternwirtschaft, Bestechung, illegale Geschäfte. Nichts, was sich gegen Euch verwenden ließe.«
»Wie viele wissen, dass er hier ist, Hauptmann?«
»Zu viele, Herr.«
Die beteiligten Soldaten hatten die Kunde von Vults Verhaftung außerhalb der Stadt verbreitet. Es war nicht zu vermeiden gewesen. Muhren hatte sich nicht einen Moment lang der Illusion hingegeben, dass der Vorfall verborgen bleiben würde, vor allem nicht, nachdem drei weitere Leichen gefunden worden waren: zwei von Vults Gehilfen und General Jarius Langstrit, der mittlerweile in einem geheimen Grab beigesetzt war.
»Wollt Ihr, dass er verhört wird, Hauptmann? Von der Inquisition, meine ich.« In Phyllios’ Augen funkelte ein Scharfsinn, den er sich in der Öffentlichkeit niemals anmerken ließ. »Gibt es etwas, womit er Euch belasten könnte?«
Muhren zögerte. Darum geht es nicht, oder? »Ein Inquisitor bringt alles in Erfahrung, was es zu erfahren gibt, Herr. Von jedem. Sobald sie mit ihm fertig sind, werden sie jeden verhören, der auch nur irgendwie mit der Angelegenheit in Verbindung steht.« Er schaute seinem König ins Gesicht und wusste, dass er verstanden hatte.
»Ich werde Euch vermissen, Muhren«, erwiderte Phyllios. »Ihr habt Noros gute Dienste erwiesen. Einen Zweiten wie Euch werde ich nicht finden.«
Muhren beugte das Haupt. Mit einem Mal war ihm klamm ums Herz. Er hatte sich mit Leib und Seele dem Dienst in der Stadtwache verschrieben, doch der König hatte recht: Er musste verschwinden, bevor die Inquisitoren eintrafen. »Ich werde dafür sorgen, dass keinerlei Spur zu Euch führt, Herr. Bei Sonnenuntergang werde ich fort sein.«
»Lebt wohl, Hauptmann.« Phyllios legte ihm eine Hand auf die Schulter, was die emotionalste Geste war, die Muhren je von dem verschlossenen, einsamen Mann gesehen hatte.
»Lebt wohl, mein König. Möget Ihr ewig leben.«
Phyllios schüttelte langsam den Kopf. »Dem Tod entrinnt niemand, mein teurer Hauptmann. Die Frage ist, was wir im Leben erreichen und wie wir dem eigenen Ende gegenübertreten. Das sind die Dinge, die wirklich zählen.« Er seufzte tief. »Ich werde für Euch beten und für die Seele unseres Gefangenen.« Mit diesen Worten ließ er Muhren allein.
Dem eigenen Ende gegenübertreten …
Muhren sammelte sich einen Moment lang und stieg dann noch tiefer in den Kerker hinab. Der König sollte recht behalten: Muhrens Stiefel hallten durch die leeren Gänge, keine Wachen weit und breit.
Als er die Zelle betrat, drehte Belonius Vult sich nicht einmal um. Dem Hauptmann blieb genug Zeit, die Tür hinter sich zu verriegeln und den Gouverneur mit kaltem Blick zu mustern. Vult war ein Vollblut-Magus und damit ungefähr viermal so stark wie Muhren. So funktionierte die Gnosis nun mal. Nicht nur im Vergleich zu Normalsterblichen sind wir wie aus einer anderen Spezies. Selbst unter unseresgleichen ist das so. Manche Magi nahmen diese Begünstigung durch das Schicksal mit Demut hin und stellten ihre Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit, aber die meisten waren wie Vult. Über alle Maßen arrogant pochten sie auf ihre Rechte als Auserwählte, unantastbar und durch und durch von Eigennutz getrieben.
Vult drehte sich endlich um, und als er seinen Besucher erkannte, blitzte es in seinen Augen vor Zorn. Die Schultern hoben sich, er atmete tief ein und öffnete die Handflächen, um einen Vernichtungszauber zu wirken, aber es war vergebens. Er war ein Gefangener und mit einer Kettenrune belegt, die ihn seiner Gnosis beraubte. Normalerweise konnte nur ein stärkerer einen schwächeren Magus mit einer solchen Rune belegen, doch Vult hatte sich vor seiner Verhaftung restlos verausgabt, und Muhren hatte leichtes Spiel mit ihm gehabt. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit war Belonius Vult vollkommen hilflos.
Trotz seiner verzweifelten Lage hatte er sich eine gewisse Ausstrahlung bewahrt. Seine Robe mochte schmutzig sein, das Gesicht verschmiert, Haar und Bart zerzaust, und doch war seine Haltung königlicher als die des Königs von Noros. Falls er Angst hatte, zeigte er sie nicht. Alles, was Muhren erkennen konnte, waren Wut und Rachedurst. Offensichtlich wusste Vult bereits genauestens, wie seine Rache aussehen würde, wenn er erst befreit war; und daran, dass er bald befreit würde, hegte er nicht den geringsten Zweifel.
»Und, hast du die Skytale? Nicht, dass du irgendetwas damit anzufangen wüsstest«, keifte der Gouverneur. »Begreifst du nicht, dass die Inquisition bereits auf direktem Weg hierher ist, du schwertgegürteter Tölpel? Sie werden sie sich holen und dir die Augen dafür herausreißen, dass du sie auch nur angesehen hast.«
»Eure auch, Vult.«
»Langstrit ist auf den Knien gestorben«, höhnte er. »Achtzehn Jahre hat er in Schwachsinn verbracht, nur um lange genug zu Verstand zu kommen, um durch meine Hand den Tod zu finden. Ich frage mich, ob die Mühe sich für ihn gelohnt hat.«
»Um Euch die Skytale vor der Nase wegzuschnappen? Mit Sicherheit.«
Vult verzog kurz das Gesicht und beschloss etwas verspätet, seine Taktik zu ändern. »Muhren, es ist noch nicht zu spät. Ich habe alle Abhandlungen über die Skytale gelesen. Ich kann sie entschlüsseln, und wir können sie gemeinsam einsetzen. Wir sind beide Norer, Veteranen der Revolte. Zusammen könnten wir die Skytale benutzen, um Noros Pallas ebenbürtig zu machen.«
Muhren hatte mit einem solchen Angebot gerechnet, doch hätte er Vult nicht einmal vertraut, wenn sie die letzten beiden Menschen auf Urte gewesen wären. »Wir brauchen Eure Hilfe nicht.«
Vult horchte auf. »Wir? Überlegt, was Ihr sagt, Jeris! Alaron Merser ist ein nutzloser Kindskopf, ein gescheiterter Magus. Und in den Adern dieses rimonischen Weibsbilds fließt kaum ein Tropfen gnostisches Blut. Auf die kleine Schlampe könnt Ihr nicht zählen. Euer kleiner Geheimbund dürfte Euren Feinden nicht allzu viel Furcht einflößen, glaubt Ihr nicht? Oder gar die Mater-Imperia zum Zittern bringen. Ihr braucht mich, Muhren, falls Ihr überleben wollt. Ganz zu schweigen davon, falls Ihr vorhabt, Euch in die Aszendenz zu erheben. Eigentlich solltet Ihr mich auf Knien um Hilfe anflehen.«
Muhren musterte ihn ruhig. Vult mochte als schlau und verschlagen gelten, aber seine Selbstsucht, die Eitelkeit, der Hunger nach Ruhm und Geld machten ihn leicht durchschaubar. »Wo ist Darius Fyrell?«, fragte er. Nur deshalb war er hier. Fyrell war nach dem Kampf um die Skytale als Einziger entkommen. Und das war ein Problem.
»Fyrell? Irgendwo da draußen und plant meine Befreiung.«
»Wie viel wusste er?«
»Alles«, antwortete Vult hämisch.
Muhren überlegte. Darius Fyrell hatte lange für Vult gearbeitet, also wusste er wahrscheinlich, worauf der Gouverneur es abgesehen hatte. Vielleicht hatte er Jarius Langstrit sogar selbst verhört, als der General noch im Kerker saß. Fyrell war ein mächtiger Geisterbeschwörer und absolut skrupellos. Er mochte Vult nicht blind ergeben sein, aber er war loyal. Tesla Anborn hatte ihn schwer verbrannt, doch Geisterbeschwörer waren schwer zu töten und überlebten selbst die grässlichsten Verletzungen. Muhren zweifelte nicht daran, dass Fyrell irgendwo da draußen war und durchaus fähig, das Verlies im Alleingang zu stürmen. »Wo war Euer Treffpunkt?«
»Es gab keinen«, erwiderte Vult mit einem zufriedenen Lächeln. »Wir waren in ständigem Gedankenkontakt. Einen Treffpunkt zu vereinbaren, war nicht nötig.« Er musterte Muhren von oben herab, betrachtete seine Verbände, den verbeulten Harnisch und das zerschlagene Gesicht. »Und inzwischen ist er wahrscheinlich wieder in besserer Verfassung, als Ihr es seid.«
»Wer wusste sonst noch davon?«
Vult wägte die Frage ab wie ein Lehnsherr die Bitte seines Vasallen. »Besko. Aber der ist jetzt tot; Langstrit hat ihm den Schädel weggebrannt. Wie viel Koll wusste, kann ich nicht sagen, und es ist mir auch egal. Die kleine Ratte war nützlich, aber seine Rolle war … sagen wir: nur vorübergehend.«
»Sonst niemand?«
Vult rieb sich das Kinn. »Niemand.«
»Gut.« Muhren seufzte schwer und zog seinen Dolch.
Vult wurde mit einem Schlag bewusst, dass er doch nicht unsterblich war, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich dramatisch. Die Wangen wurden aschfahl, und die Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen, Schweiß glitzerte auf seiner Stirn wie Fettaugen in einem kochenden Eintopf. »Nein … Muhren, denkt nach! All die Reichtümer …!«
Er versuchte noch auszuweichen, aber Vult war kein Krieger. Seiner Gnosis beraubt, war er nicht stärker als ein gewöhnlicher Mensch. Muhren packte ihn mit der linken Hand am Kragen und presste ihn gegen die Wand. Mit der Rechten richtete er den Dolch auf Vults Herz.
»Jeris, nein! Bitte …« Vults Knie sackten weg, und auf seiner Robe bildete sich ein dunkler Fleck. Seine Blase hatte sich entleert. Mit flehendem Blick starrte er den Hauptmann an.
Muhren trieb die breite Klinge durch Stoff und Fleisch, bis sie sich in den pumpenden Muskel darunter bohrte. Vults Gouverneursrobe verfärbte sich purpurn, seine Augen wurden glasig, dann ließ Muhren den erschlafften Körper zu Boden sinken. Fäkaliengeruch stieg ihm in die Nase, als der Schließmuskel des sterbenden Magus versagte. Ein Blutstropfen quoll ihm aus dem Mundwinkel, das linke Bein zuckte ein letztes Mal, dann blieb er reglos liegen – augenscheinlich tot.
Muhren beschwor seine Gnosis. Er sah, wie sich ein feiner Dunstschleier um Lippen und Nase des Leichnams bildete, und konzentrierte sich. Dann sprach er ein einziges Wort: »Entfliehe.«
Es war kein mächtiger Zauber, den er gewirkt hatte. Eine kaum merkliche Brise wehte durch die Zelle und zerstreute den Dunst über Vults Gesicht, bevor er sich manifestieren konnte. Der Bann funktionierte nur in dem Augenblick, in dem der Tod eintrat. Kein Geist konnte sich nun mehr der Seele des Leichnams bemächtigen. Es war nichts mehr da, das die Inquisitoren hätten heraufbeschwören können, um es zu befragen. Vult war so tot wie Stein. Nicht einmal sein Komplize Fyrell konnte ihn jetzt noch zurückholen.
Muhren zog den Dolch aus der Wunde und wischte ihn an Vults Ärmel ab. Er hatte schon viele Male getötet, ob mit dem Schwert oder der Gnosis. Er hatte in der Revolte gekämpft, und auch danach war es immer wieder zu tödlichen Auseinandersetzungen mit Gesetzesbrechern gekommen, die sich der Verhaftung widersetzten. Doch noch nie hatte er es so kaltblütig getan wie eben gerade. Er fühlte sich besudelt, als würde Vults Blut an seiner Seele kleben.
Er steckte den Dolch zurück in die Scheide und verließ die Zelle. Sein Amtszeichen legte er im Vorraum ab, damit der König es an seinen Nachfolger weitergeben konnte. Aus seinem Haus hatte er bereits alles geholt, was ihm etwas bedeutete, und es in die Satteltaschen des Pferdes gepackt, das oben im Hof wartete. Er musste noch zu einer Beerdigung, und dann erwartete ihn die Straße.
Alaron Merser beobachtete, wie die Flammen seine Mutter verschlangen.
Es war Brauch, den Leichnam eines Magus zu verbrennen, bevor er beerdigt wurde. Kein Magus wollte nach seinem Tod von einem Geisterbeschwörer oder Hexer versklavt und als Vermittler zur Geisterwelt missbraucht werden. Die Feuerbestattung half der Seele, den Körper zu verlassen und ungehindert weiterzuziehen in die nächste Welt, wo niemand sie mehr erreichen und kontrollieren konnte. Trotzdem war es ein grässlicher Anblick, den Leichnam seiner Mutter, die ihn auf ihre Weise geliebt hatte, verbrennen zu sehen. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten.
Er war ein junger Mann von durchschnittlicher Körpergröße und eher schmal gebaut, auch wenn er allmählich etwas Muskeln ansetzte. Dichtes rötliches Haar umrahmte ein Gesicht, aus dem die jugendliche Unsicherheit allmählich verschwand. Der kantige Kiefer und die markanten Wangenknochen waren gerade dabei, sich gegen den letzten Rest Babyspeck durchzusetzen. Er trug seine Reisegewänder und ein Schwert am Gürtel. Obwohl es ihm als zurückgewiesenem Magus verboten war, die Gnosis zu praktizieren, baumelte ein Bernsteinamulett an dem Lederbändchen um seinen Hals. Alaron war nicht wegen Unfähigkeit verstoßen worden, man hatte ihn betrogen, doch das würde ihn nicht länger davon abhalten, das zu werden, wozu er bestimmt war. Sollten sie doch versuchen ihn aufzuhalten, wenn sie konnten.
Links von ihm stand Pars Logan, ein Veteran der Revolte. Er hatte sich um die Beerdigung gekümmert. Der Wind spielte mit dem bisschen grauen Haar, das ihm noch geblieben war, seine Schultern waren gebeugt, ebenso der Rücken, aber er hielt sich so aufrecht, wie er nur irgend konnte. Er hatte Tesla Anborn seit dem Ersten Kriegszug gekannt, in dem sie ihr Augenlicht und teilweise auch den Verstand verloren hatte, und Männern wie ihm ging Treue über alles.
Der junge Mann zu seiner Rechten war Ramon Sensini. Dünn und klein gewachsen stand er kerzengerade neben Alaron wie eine Säule. Das fein geschnittene, dunkle Gesicht und der stoische Ausdruck in seinen Augen ließen ihn älter erscheinen als achtzehn. Ramon war Silacier. Gnostisches Blut hatte er nur, weil seine Mutter in einer Taverne von einem Magus vergewaltigt worden war. Trotz seiner niederen Herkunft war Ramon gut gekleidet. Nach seinem Abschluss am Arkanum war er in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Als einzigem Magus weit und breit war es ihm dort nicht schwergefallen, zu Geld zu kommen. Seinen Abschluss hatte er allerdings nur unter der Auflage bekommen, dass er am nächsten Kriegszug teilnahm, weshalb er die schwarze Robe der rondelmarischen Schlachtmagi trug. Noch heute würde er mit seiner Legion die Stadt verlassen.
Außer diesen dreien war nur ein Priester der Kore anwesend, ein Nicht-Magus, kaum älter als Alaron. Eher gelangweilt führte er die Riten durch und behielt die Trauergäste dabei genau im Auge. Zweifellos musste er gleich nach der Zeremonie jemandem Bericht erstatten. Wenn ein Magus starb, gab es immer jemanden, der genauestens über alle Umstände informiert werden wollte.
Die Armen verstreuten die Asche ihrer Verstorbenen gleich hier auf dem Feuerbestattungsplatz, aber Teslas Überreste sollten in die Familiengruft der Anborns überführt werden, die sich auf dem Grundstück ihres Landhauses befand. Da Alaron nicht bleiben konnte, hatte Pars versprochen, diese Aufgabe zu übernehmen.
Die Sonne ging gerade auf, als der Scheiterhaufen in sich zusammenbrach. Teslas Skelett zeichnete sich kurz in den Flammen ab, dann barsten die Knochen in der Hitze. Eine Glutwelle schlug Alaron ins Gesicht, trotzdem zitterte er am ganzen Körper.
Ramon legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Amiki, mein Windschiff legt in einer Stunde ab, und ich muss an Bord sein«, sagte er mit für ihn vollkommen untypischem Ernst.
Alaron nickte. Er fühlte sich leer und dennoch bereiter denn je, jedes Hindernis zu überwinden, das das Schicksal ihm in den Weg werfen würde. Seine Mutter war tot und sein Vater Hunderte Meilen weit weg. Das Mädchen, das er liebte, hatte ihm das Herz gebrochen und dann den wertvollsten Gegenstand auf ganz Urte gestohlen. Sein bester Freund zog in den Krieg, die Inquisition war auf dem Weg hierher, und trotzdem hatte Alaron das eigenartige Gefühl, bereit zu sein.
»Ich weiß. Gib mir noch einen Moment«, flüsterte er, drehte sich zu Ramon um und schloss ihn in die Arme. »Danke.«
»Pass auf dich auf, Amiki. Und versohl Cym ordentlich den Hintern, wenn du sie erwischst«, fügte Ramon mit einem kleinen Lächeln hinzu. »Wer weiß, vielleicht gefällt’s ihr ja.«
»Ich wünschte, du könntest mitkommen.«
»Ich auch, Amiki, aber wenn ich desertiere, bin ich tot, und das gleich doppelt.« Ramons Paterfamilias war ein berüchtigter silacischer Patron und Tyrann, der nicht zuletzt aus geschäftlichen Gründen darauf bestand, dass Ramon am Kriegszug teilnahm. Ihm blieb keine andere Wahl.
Sie umarmten einander ein letztes Mal und schworen, in Kontakt zu bleiben, dann eilte der Silacier davon und ließ Alaron mit glasigen Augen am Bestattungsfeuer zurück.
Die Wellen auf dem See kräuselten sich im Wind, die Glut erstarb allmählich, und die Sonne erhob sich endlich über die Berggipfel des umliegenden Tals, als Jeris Muhren zu Alaron stieß. Selbst in Reisekleidung war der Hauptmann ein beeindruckender Anblick. Sein Hengst schnaubte ungeduldig, nachdem er abgestiegen war und sich zu Alaron gesellt hatte, während Alarons viel kleineres und schmächtigeres Pferd nervös zur Seite tänzelte. Die beiden waren wie ein Spiegelbild ihrer Reiter.
Muhren verneigte sich mit feierlicher Miene vor dem Scheiterhaufen. »Sie war eine gute Frau. Eine ehrenhafte Tochter Noros’.«
»Mein Vater hat mich praktisch allein aufgezogen«, murmelte Alaron. »Mutter war … anders. Sie hatte es nicht so mit Gefühlen.« Er wischte sich über die Augen und schluckte. »Und ich auch nicht.«
»Was sie durchgemacht hat, hätte jeden gebrochen. Dass sie sich Würde und Anstand bewahrt hat, ist ihr hoch anzurechnen, und Vann ebenso. Nur wenige geben einer Frau so viel Liebe und Unterstützung, wenn sie so wenig zurückbekommen.« Muhren legte Alaron eine Hand auf die Schulter. »Sie hatten beide meinen größten Respekt. Vann war für mich wie ein Bruder, und trotz der ständigen Sorge um dich und Tesla war er ein beeindruckender Kämpfer der Revolte.« Er lächelte wehmütig. »Ich hatte gehofft, durch eine Heirat mit Teslas Schwester Elena tatsächlich so etwas wie sein Bruder zu werden, aber meine Gefühle wurden nicht erwidert.«
Alaron hätte gerne noch mehr erfahren, aber das konnte warten. »Wir sollten los«, sagte er. »Das heißt, falls Ihr alles erledigt habt …« Sie wussten beide, was er meinte.
Muhren nickte grimmig. »Es ist getan. Im Palast wird man frühestens in einer Stunde Alarm schlagen, und bis dahin sind wir weit weg.«
Belonius Vult ist tot. Alaron ließ die Information sacken. Der Verräter von Lukhazan hatte endlich bekommen, was er verdiente, und Alaron konnte sich eine gewisse Genugtuung nicht verkneifen. Läutet die Glocken!
Nach einem letzten Abschied kehrte er dem Scheiterhaufen den Rücken zu, umarmte den alten Pars noch einmal und ging zu seinem Pferd. Muhrens Hengst hatte die ganze Zeit nach Alarons Pferd geschnappt, doch jetzt, da der Hauptmann danebenstand, brachte er ihn mit einem einzigen leisen Wort zur Räson. Sie schwangen sich in den Sattel, ließen den warmen Westwind in ihrem Haar spielen und ritten los.
»Wir reiten durchs Hurringtor«, erklärte Muhren und schloss die Spange an seinem Umhang.
Alaron nickte eifrig, doch seine Gedanken waren bereits weit fort, kehrten zurück zu der Frage, die ihn während der letzten drei Tage beinahe um den Verstand gebracht hätte. Wo bist du, Cym?
Erst als sie im lockeren Trab durch die Wälder an den golden schimmernden Weizenfeldern am Fuß der Arken entlangritten, hörten sie von weit weg, wie die Glocken den Tod des meistgehassten Sohns von Norostein verkündeten.
Zwei Tage später tauchte ein Windschiff über dem Windhafen Norosteins, dem Bekontor-Hügel, auf. Dutzende anderer Schiffe aller Größen und Formen hatten bereits an den Plattformen und Türmen festgemacht, die sich wie ein künstlicher Wald dem Himmel entgegenreckten. Am Boden wimmelte es nur so von Karren und Pferdewagen, überall liefen Arbeiter umher, die sich emsig um Fracht und Passagiere kümmerten.
Das Schiff, das sich an diesem Nachmittag im Anflug befand, war ein seltener Besucher. Der Rumpf war zu gleichen Maßen nach künstlerischen wie funktionellen Gesichtspunkten gestaltet und reich mit Schnitzereien verziert. Die Segel hatten Quasten, auf den wehenden Bannern prangte das Heilige Herz – das Wappen der Heiligen Inquisition, der finstersten Söhne der Kirche Kores.
Die Matrosen an Bord waren sorgsam darauf bedacht, ihren hochgestellten Passagieren aus dem Weg zu gehen, die sich am Bug versammelt hatten. Sie hatten die luxuriös ausgestatteten Kabinen auf den insgesamt drei Unterdecks verlassen und beobachteten, wie das altehrwürdige Norostein am Fuß der schneebedeckten, im Licht der Nachmittagssonne glitzernden Arken auftauchte.
Die zehn Inquisitoren kamen direkt aus Pallas: acht mit Langschwertern gegürtete Männer und zwei Frauen in Kettenhemden und pelzbesetzten Umhängen, Lederhandschuhen und auf Hochglanz polierten Stiefeln, auf deren Harnischen rot und golden das Heilige Herz schimmerte. Ein Kommandant und neun Akolythen, die zusammen eine sogenannte Faust bildeten.
Diesmal jedoch hatte die Faust ein zusätzliches Mitglied, das eigens als Berater für die heikle Mission berufen worden war. Er war ein Bischof der Kore, der mit seinen schwarzen Locken und den vollen Lippen etwas weibisch wirkte. Das Schiff näherte sich gerade seinem Landeplatz, als der Bischof geruhte, das Wort an einen der Akolythen zu richten. »Für dich muss es sein, als kämst du nach Hause zurück, Bruder Malevorn«, überlegte er laut.
»Ja, Bischof Crozier«, erwiderte Malevorn Andevarion respektvoll. »Ich habe sieben Jahre in diesem Loch zugebracht.«
Sein Gegenüber räusperte sich leise. »Du konntest also keine Zuneigung zu diesem Ort entwickeln?«