Die Buchhändlerin von Paris - Kerri Maher - E-Book
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Die Buchhändlerin von Paris E-Book

Kerri Maher

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Beschreibung

Eine Buchhandlung mitten in Paris. Für die junge Amerikanerin Sylvia Beach ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Dass sie mit »Shakespeare & Company« in die Geschichte der Weltliteratur eingehen wird, ahnt sie bei der Eröffnung 1919 nicht. Schon bald wird »Shakespeare & Company« zum literarischen Treffpunkt in Paris: Hemingway, Gide, Valéry und Gertrude Stein gehen hier ein und aus – und nicht zuletzt James Joyce. Als nach Abdruck einzelner Episoden die vollständige Publikation seines umstrittenen Romans Ulysses verboten wird, ist es die unerschrockene Sylvia Beach, die ihn gegen alle Widerstände veröffentlicht – und damit ihre ganze Existenz aufs Spiel setzt.

Doch in der gleichgesinnten französischen Buchhändlerin Adrienne Monnier findet Sylvia Beach nicht nur eine wagemutige Mitstreiterin, sondern auch die Liebe ihres Lebens.

Ein Roman über zwei starke Frauen, das »gefährlichste Buch des Jahrhunderts« und eine Liebe im Paris der zwanziger Jahre.

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Seitenzahl: 437

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Titel

Kerri Maher

Die Buchhändlerin von Paris

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann

Insel Verlag

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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel The Paris Bookseller bei Berkley, New York 2022.

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4933.

Erste Auflage 2022insel taschenbuch 4933Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© 2022 by Kerri Maher

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung von ZERO Media, München, unter Verwendung des Originalumschlags von Berkley Books, Illustration: Tara Miura

eISBN 978-3-458-77502-7

www.suhrkamp.de

Die Buchhändlerin von Paris

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Erster Teil. 1917-1920

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Zweiter Teil. 1921-1922

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Dritter Teil. 1925-1931

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Vierter Teil. 1933-1936

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Ulysses

-

Urteil bestätigt

Kapitel 29

Kapitel 30

Nachwort

Danksagung

Ausgewählte Bibliografie

Zur deutschen Ausgabe

Informationen zum Buch

Pour mes amis – nah und fern, alte und neue.

Ihr habt diese Geschichte möglich gemacht.

Paris ist so wunderschön, dass es etwas in einem sättigt, das in Amerika immer hungrig bleibt.

Ernest Hemingway

Erster Teil

1917-1920

Berühmte Menschen wurden nicht berühmt geboren.

Am Anfang ist man immer unbekannt.

Adrienne Monnier

Kapitel 1

Paris war einfach die Stadt.

Sylvia hatte schon fünfzehn Jahre lang versucht, wieder dorthin zu kommen, seit sie mit ihrer Familie dort gelebt hatte. Ihr Vater, Sylvester Beach, war damals Pastor der amerikanischen Kirche im Quartier Latin gewesen und sie ein romantisches junges Mädchen, das Balzac und Cassoulet liebte. Woran sie sich am deutlichsten erinnerte und was sie im Herzen getragen hatte, als ihre Familie in die Vereinigten Staaten zurückkehren musste, war das Gefühl, dass die französische Hauptstadt heller war als alle anderen Städte, die sie kannte oder je kennenlernen würde. Und das lag nicht nur an den flackernden Gaslaternen, die die Straßen nach Einbruch der Dunkelheit erleuchteten, oder an dem schimmernden, fast weißen Stein, aus dem ein großer Teil der Stadt erbaut war – es war das funkelnde, überschäumende Leben in jedem Wasserspiel, jedem Studententreffen, jedem Puppentheater im Jardin du Luxembourg und jeder Oper im Théâtre de l’Odéon. Auch ihre Mutter sprühte vor Lebendigkeit, las Bücher, lud Professoren, Politiker und Schauspieler ein und servierte ihnen üppige Mahle im Schein der Kerzen, während angeregt über Bücher und Geschehnisse in der Welt diskutiert wurde. Eleanor Beach sagte ihren drei Töchtern – Cyprian, Sylvia und Holly –, dass sie an einem wunderbaren, außergewöhnlichen Ort wohnten, der ihr Leben für immer verändern würde.

Nichts hatte da herangereicht, weder das Plakatebasteln, Telefonieren und Von-Haus-zu-Haus-Gehen für die National Woman’s Party in New York zusammen mit ihren Schwestern und ihrer Mutter noch die Reisen allein kreuz und quer durch Europa, bei denen sie die Kirchtürme und Kopfsteinpflaster vieler anderer Städte bestaunt hatte, noch der lang ersehnte erste Kuss von ihrer Klassenkameradin Gemma Bradford oder das Lob ihrer Lieblingslehrerinnen.

Doch nun war sie wieder hier und lebte sogar in der Stadt, die ihre Seele gefangen genommen hatte.

Sylvia verließ die Zimmer im unfassbar schönen, wenn auch halb verfallenen Palais Royal, die sie sich mit ihrer Schwester Cyprian teilte, ging hinunter zur Pont Neuf und überquerte die Seine. Der Wind, der vom Fluss heraufwehte, zerzauste ihre kurzen Locken und drohte ihre Zigarette auszupusten. Mitten auf der Brücke blieb sie stehen, um Notre-Dame zu betrachten, mit ihren symmetrischen gotischen Türmen, die neben dem großen Rosettenfenster aufragten, und den so zierlich wirkenden Bögen, die dennoch seit Jahrhunderten die mächtigen Mauern stützten.

Bald darauf wanderte sie durch die schmalen Straßen des Quartier Latin, die ihr noch von früher vertraut waren. Dabei verlief sie sich ein wenig, aber das war nicht weiter schlimm, denn so bekam sie Gelegenheit, die Église de Saint-Germain-des-Prés zu bewundern und eine hübsche Studentin, die an einem der Tische vor dem Les Deux Magots einen Café Crème trank, nach dem Weg zu fragen. Schließlich blieb sie vor dem Haus Rue de l’Odéon 7 stehen, der Buchhandlung von A. Monnier.

Die Fassade des kleinen Ladens von Madame – ou peut-être mademoiselle? – Monnier war in einem angenehmen hellen Grau gestrichen, und über den großen Schaufenstern zog sich in einem dunkleren Ton der Schriftzug mit dem Namen der Inhaberin. Als Sylvia die Tür öffnete, bimmelte fröhlich ein Glöckchen. Zwischen den deckenhohen, dicht mit Büchern gefüllten Regalen standen mehrere Kunden; sie stöberten und lasen, aber da niemand etwas sagte, war es so still wie in einer leeren Kirche. Von plötzlicher Scheu erfasst, was den Anlass ihres Kommens anging, blickte Sylvia sich um und verschob ihre Frage auf später.

Sie war froh über diese Entscheidung, denn sie entdeckte ein paar schöne Ausgaben ihrer französischen Lieblingsromane und las fast eine ganze Kurzgeschichte in der neuesten Ausgabe von Vers et Prose. Während sie das tat, erwachte die Buchhandlung um sie herum zum Leben. Kunden tätigten Käufe, die die Kasse zum Klingeln brachten, und gesprächigere Paare kamen herein und vertrieben die Stille.

Sylvia nahm das Buch, das sie hatte kaufen wollen, und die Zeitschrift, in der sie gelesen hatte, und ging damit zu der großen Registrierkasse aus Messing, hinter der eine junge Frau, ungefähr in ihrem Alter, stand und sie mit schmalen Lippen anlächelte. Mit ihren mittelmeerblauen Augen, der hellen Haut und dem rabenschwarzen Haar war sie so bemerkenswert, dass man sie einfach ansehen musste. Im Geist hörte Sylvia, wie Cyprian die Kleidung der Frau als altmodisch kritisierte – der bodenlange Rock und die bis zum Kinn zugeknöpfte Bluse bildeten einen allzu strengen Schutzschild für den sinnlichen Körper darunter –, aber ihr gefiel einfach alles an dieser Frau. Sie sah aus wie jemand, mit dem man reden konnte. Doch da war noch mehr, und Sylvia verspürte den starken Impuls, über die weiche Wange der Frau zu streichen.

»Haben Sie gefunden … wonach Ihr Herz verlangt?«, fragte die Frau auf Englisch, mit starkem Akzent.

Wonach mein Herz verlangt? Sylvia schmunzelte über die typisch französische Leidenschaft in der Wortwahl und erwiderte auf Französisch: »Ja, habe ich, allerdings bin ich ein wenig enttäuscht, dass Sie mich sofort als Ausländerin erkannt haben.« Sie war sehr begabt, was Sprachen anging, und in der Tat wirkte die Frau beeindruckt, als sie so fließend und akzentfrei antwortete.

»Woher kommen Sie?«, fragte sie, nun auf Französisch.

»Aus den Vereinigten Staaten. Zuletzt habe ich in Princeton, New Jersey, gewohnt, nicht weit von New York City. Ich heiße übrigens Sylvia. Sylvia Beach.«

Die Frau klatschte in die Hände und rief: »Aus den Vereinigten Staaten! Der Heimat von Benjamin Franklin! Er ist mein Lieblingsautor! Ich bin Adrienne Monnier.«

Sylvia lachte, als wäre es vollkommen logisch, dass diese hübsche junge Frau in den altmodischen Kleidern denselben Mann bewunderte, der auch ihr liebster Gründungsvater war. Sie war eindeutig eine Mademoiselle; an ihr war keine Spur von Madame. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mademoiselle Monnier. Ihr Buchladen ist etwas ganz Besonderes. Und ich schätze Ben Franklin auch«, gab sie zu. »Aber haben Sie Hawthorne gelesen? Oder Thoreau? Was ist mit Moby-Dick? Das ist eins meiner Lieblingsbücher.«

Und schon waren sie mittendrin. Sylvia erfuhr, welche amerikanischen Autoren ins Französische übersetzt wurden und welche nicht und wie schwer es selbst im kosmopolitischen Paris war, an englischsprachige Bücher heranzukommen. »Aber mein Englisch ist ohnehin nicht gut genug, um diese großartige Literatur in ihrer Muttersprache zu lesen«, sagte Adrienne bescheiden und senkte den Blick.

»Vielleicht noch nicht«, widersprach Sylvia, deren Herz sanft zu glühen begann. Zwischen ihnen war ein Funke übergesprungen, und das hatte nicht nur mit den Büchern zu tun, davon war sie überzeugt. Ihre Hände wurden plötzlich ganz feucht.

»Da bist du, Adrienne«, sagte eine bezaubernde, melodiöse Stimme hinter Sylvia.

Sie wandte sich um und erblickte eine außergewöhnlich zierliche Frau mit üppigem, rotblondem Haar, das zu einem Knoten hochgesteckt war. Sie trug ein ganz ähnliches Ensemble wie Adrienne, das an ihrem kleinen, schlanken Körper jedoch vollkommen anders wirkte. Ihre Finger waren lang und schmal und ständig in Bewegung, als führten sie ein Eigenleben. Doch als sie sich besitzergreifend auf Adriennes kürzere, fülligere Hand legten, wusste Sylvia sofort, dass die beiden Frauen ein Liebespaar waren.

Und sie hatte gedacht, sie und Adrienne würden flirten. Sie hatten bereits zum vertrauten tu gewechselt, statt vous.

Die Wärme und Bewunderung, mit der Adrienne diese Frau, die jetzt neben ihr stand, anlächelte, versetzte Sylvia einen Stich. Diese beiden Frauen besaßen etwas in ihrem Leben und in dieser Buchhandlung – etwas, wonach sie lange gesucht hatte, ohne zu wissen, wie sehr sie sich danach sehnte, bis sie es vor sich sah. Würde sie es auch finden können? Und was genau war es überhaupt? Mit einem Mal fühlte Sylvia sich orientierungslos, aus dem Gleichgewicht gebracht von dem, was sie umgab: der Laden, die Frauen, die Bücher, das gedämpfte Gemurmel der anderen Kunden.

»Suzanne«, sagte Adrienne, »das ist unsere neue Freundin Sylvia Beach aus den Vereinigten Staaten. Sylvia, das ist Suzanne Bonnierre, meine Geschäftspartnerin.«

Mit übertrieben enthusiastischer Geste streckte Sylvia die Hand aus, und Suzanne nahm sie leicht amüsiert. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mademoiselle Beach.«

»Sylvia, bitte«, sagte sie. »Das ist wirklich eine wunderbare Buchhandlung. So gemütlich und einladend, und Sie führen nur die besten Autoren.« Allerdings fragte sie sich, warum Suzannes Name nicht außen an der Fassade stand. Nun ja, Monnier & Bonnierre wäre, obwohl es gut klang, vielleicht etwas zu offensichtlich gewesen, auch wenn Paris in solchen Dingen recht liberal war. Neulich Abend hatte Cyprian Sylvia einen Hosenanzug und sich selbst ein perlenbesticktes Kleid verpasst, und dann waren sie, in knöchellange Mäntel gehüllt, mit der Metro zu einer neuen Bar in der Rue Edgar-Quinet gefahren, die nur von Frauen besucht wurde, von denen die Hälfte Monokel und Gamaschen trug. Von außen sah das Etablissement ganz normal aus, mit einer kleinen Markise, auf der schlicht »Bar« geschrieben stand, aber die laute, aufgeheizte Atmosphäre im Innern war Sylvia unangenehm gewesen. Sie hatte sich bemüht, locker zu sein und es zu genießen, dass sie in einer Stadt lebte, in der so etwas möglich war und wo sie ganz offen zu ihren Neigungen stehen konnte; es war sogar gesetzlich gestattet, denn gleichgeschlechtliche Beziehungen waren im Zuge der Französischen Revolution legalisiert worden. Aber sie war sich vorgekommen wie ein Stück Obst auf einer Marktauslage. Die Leserin in ihr zog die Stille und Feinsinnigkeit von A. Monnier vor.

»Vielen Dank für das Kompliment«, erwiderte Suzanne. »Ich war noch nie in Ihrem Land, aber ich habe schon viel Großartiges darüber gehört und gelesen. Es ist sehr inspirierend für Frankreich.«

»Mein Land hat sicher viele Vorzüge, aber ich bin froh, hier zu sein«, sagte Sylvia und dachte an die Einschränkung der Pressefreiheit durch die Comstock- und Spionage-Gesetze, den langen und mühsamen Kampf für das Frauenwahlrecht und die abstruse Idee eines Alkoholverbots, die überall kursierte. Ihr schien, dass sich in Amerika immer mehr abseitige Ideen durchsetzten, während die guten, starken, die das Land in ein fortschrittliches neues Jahrhundert hätten führen können, dahinsiechten.

»Wir sind auch froh, dass du hier bist.« Adrienne lächelte ihr zu.

»Sie müssen heute Abend zu der Lesung kommen!«, rief Suzanne aus. »Unsere lieben Freunde Valery Larbaud und Léon-Paul Fargue werden da sein. Und Jules Romains. Kennen Sie diese Autoren?«

»Natürlich! Es wäre mir eine Ehre, sie persönlich kennenzulernen.« Bei aller Freude zog sich Sylvia auch der Magen zusammen. Jules Romains? Vraiment? Was konnte sie ihm schon zu sagen haben?

»Kommen Sie um acht wieder. Wir kümmern uns nicht mehr um die Luftangriffe.«

Tja. Danach konnte sie sich einfach nicht mehr auf ihren Essay über Spanien konzentrieren. Während sie an ihrem kleinen Schreibtisch im Palais Royal saß, stieg Sylvia immer wieder die Mischung aus Staub und Lavendel in die Nase, die sie an A. Monnier erinnerte – sowohl die Buchhandlung wie die Frau –, aber jedes Mal, wenn sie an ihrem Ärmel schnupperte, um die Quelle zu finden, verschwand der Duft.

Wahrscheinlich war diese Unkonzentriertheit nur ein weiteres Zeichen dafür, dass sie nicht zur Schriftstellerin geschaffen war, auch wenn aufgrund ihrer Liebe zu den Büchern alle um sie herum – ihre Eltern, ihre Schwestern und auch ihre älteste Freundin Carlotta Welles – davon ausgingen, dass sie eine werden würde.

»In dir steckt ein Walt Whitman«, hatte ihr Vater immer gesagt, wenn sie eine gute Note für einen Aufsatz bekam. »Ich weiß es einfach.«

Aber Aufsätze waren keine Gedichte oder Romane. Wenn sie sich an einem Vers oder einer Geschichte versuchte, kam nichts Gescheites dabei heraus. Sie verehrte Whitman. Der Versuch, ihm – oder Kate Chopin oder einer von den Brontë-Schwestern – auch nur im Entferntesten nachzueifern, erschien ihr fast wie eine Beleidigung. Hinzu kam, dass sie nun, da sie älter wurde, die Schriftsteller bevorzugte, die Whitmans Erbe weitertrugen, und sie sangen so ergreifend von sich und der Welt, dass sie manchmal nach der Lektüre die halbe Nacht wach lag und sich fragte: Wie machen sie das? Wie schaffen sie es, in mein Innerstes zu greifen, meine Seele zu packen und sie in ihrem Käfig hin und her zu rütteln? Vor allem bei Kate Chopins Das Erwachen und Ein Porträt des Künstlers als junger Mann von James Joyce hatte sie es so empfunden. O Gott, wenn sie an diese beiden Romane dachte, verzehrte sie sich förmlich vor Lust, Bewunderung und Neid! Diese atemberaubende Offenheit, mit der sie über Körper und ihre Begierden schrieben, und über die Schuldgefühle und Folgen dieser Begierden, indem sie Worte zu aufwühlenden Sätzen verknüpften, die den inneren Aufruhr ihrer Figuren so treffend schilderten, dass Sylvia in ihren Laken der Schweiß ausbrach.

Könnte sie jemals so mutig schreiben, in dem Wissen, dass ihr Vater, der Pastor, den sie von Herzen liebte, jedes Wort davon lesen würde? Zwar schien er ihr Unverheiratetsein und vielleicht sogar ihren diskreten Sapphismus stillschweigend akzeptiert zu haben – schließlich hatte er sie nie dazu ermuntert zu heiraten und ihre Frauenfreundschaften, die nicht alle rein platonisch gewesen waren, nie kommentiert –, aber es wäre doch etwas ganz anderes, wenn sie mit derselben Offenheit, die sie an den neuen Veröffentlichungen in den progressiveren Literaturzeitschriften so bewunderte, über ihr Verlangen schriebe.

Könnte sie freizügig über ihre innersten Sehnsüchte schreiben, ohne sich dabei zu verlieren? Könnte sie helfen, die Seiten ihrer Lieblingszeitschrift The Little Review zu füllen, die die Herausgeberin Margaret Anderson im vergangenen Jahr so kühn leer gelassen hatte? Sie hatte einen Schwung weiße Seiten veröffentlicht, nur mit einem Redaktionskommentar, dass sie von nun an nichts »Passables« mehr publizieren würde, sondern nur noch echte Kunst. Kunst, die die Welt verändern würde. Und Sylvia war aus tiefstem Herzen überzeugt, dass genau das der Sinn der Kunst war – neu zu sein, etwas in Gang zu bringen, Sichtweisen zu verändern.

Einmal hatte ihre Mutter auf die Bemerkung ihres Vaters bezüglich Whitman erwidert: »Oder vielleicht wird sie die nächste Elizabeth Cady Stanton.« Warum mussten ihre Eltern die Latte für sie so hoch legen? Waren sie schuld daran, dass sie Cyprian im Stillen um ihren Erfolg als Schauspielerin beneidete?

In gewisser Weise war ihre Schwester der Grund dafür, dass sie überhaupt in Paris waren, insofern sollte sie ihr wohl dankbar sein. Cyprian spielte eine Rolle in der beliebten Filmserie Judex und war so bekannt, dass sie regelmäßig auf der Straße angesprochen und um ein Autogramm gebeten wurde. Manchmal wurde auch Sylvia um ein Autogramm gebeten, wohl in der Annahme, sie sei eine angehende Schauspielerin, die mit dem strahlenden Star befreundet war. Sylvia seufzte dann leise; so war es zwischen ihr und ihrer jüngeren Schwester schon immer gewesen: Cyprian bekam Aufmerksamkeit allein durch ihr hübsches Aussehen, während sie sich in Bibliotheken und an Schreibtischen abrackerte, in der Hoffnung, dass eines Tages jemand ihre Worte und Ideen entdeckte.

»Aber es sind immer nur halbwüchsige Jungen und kleine Mädchen«, beschwerte sich Cyprian, nachdem sie wieder einmal auf einer Serviette oder einem Bierdeckel unterschrieben hatte. »Wo sind die ducs und andere wohlhabende Verehrer?«

»Die gibt es doch, Schwesterherz. Das sind die, die dir im Ritz Champagner und Pernod schicken lassen.« Außerdem willst du die männliche Aufmerksamkeit ja ohnehin nur wegen des äußeren Scheins. Cyprian war eher willens, sich an einen Mann zu binden, als Sylvia, die eine Heirat kategorisch ablehnte, selbst eine Zweckheirat zum Schein. Sich mit einem Mann zusammenzutun, selbst wenn der es vorzog, sein Bett mit einem anderen Mann zu teilen, sagte ihr einfach nicht zu. Denn nach ihrer Erfahrung bedeutete das immer auch, sich unterzuordnen. Sylvia war eine der wenigen Eingeweihten, die wussten, dass ihre Schwester die Zuneigung von Frauen bevorzugte. Dennoch spielte Cyprian gern Rollen, die ihr schmeichelten und es ihr ermöglichten, sich Kleider von Chanel und italienische Schuhe zu kaufen und ihrer Neigung für schöne Dinge nachzugeben, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

»Wenn ich doch nur eine Bühnenrolle bekommen würde, dann könnten sie mir Blumen in die Umkleide schicken«, klagte sie oft.

Als es endlich Zeit war, wieder in die Rue de l’Odéon zurückzukehren, lief Sylvia eine halbe Stunde lang auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Théâtre de l’Odéon auf und ab, rauchte eine Zigarette nach der anderen und zermarterte sich das Hirn, worüber sie sich mit den berühmten Schriftstellern unterhalten könnte; dann beschloss sie, dass das albern war, und marschierte zu Adriennes Buchladen.

Im sommerlichen Dämmerlicht schimmerten die Lampen sanft. Adrienne und Suzanne gingen im Raum umher, füllten Gläser, berührten Schultern, lösten Gelächter aus. Vor allem Adrienne war gefragt und wanderte von Grüppchen zu Grüppchen wie eine Hestia der Bücher. Sie war gerade mit ein paar Gästen in ein ernstes Gespräch vertieft, als Suzanne Sylvia an der Hand nahm und sie Valery Larbaud und Jules Romains vorstellte. Beide Männer begrüßten sie mit Wangenküssen, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. »Monnier hat uns schon alles über Sie erzählt«, sagte Romains. »Dass Sie gern lesen und die amerikanischen Transzendentalisten mögen. Vielleicht wäre Baudelaire auch etwas für Sie, aus derselben Zeit hier in Frankreich?«

»Oh, natürlich. Die Fleurs du Mal waren auf beiden Seiten des Atlantiks sehr wichtig«, erwiderte sie und genoss sein erfreutes Interesse. Sie plauderten eine Weile über die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, dann wanderte das Gespräch von neueren Romanen und Gedichten über den Krieg, der kein Ende nehmen wollte, zu den Aussichten für die Literatur in Frankreich.

Na, vielleicht war das viele Lesen ja doch nicht umsonst.

Eine Hand, die sie leicht am Ellbogen berührte, ließ Sylvia zusammenzucken, sodass ein wenig Wein aus ihrem Glas schwappte. Adrienne. Sylvia wandte sich von Larbaud und Romains zu ihrer Gastgeberin, die lächelte und sie ebenfalls auf beide Wangen küsste. Sylvia erwiderte die Begrüßung, wenn auch mit übertrieben gespitzten Lippen.

»Amüsierst du dich gut?«, fragte Adrienne, wartete jedoch Sylvias Antwort nicht ab, sondern sah die beiden Männer streng an. »Ich hoffe, ihr habt unsere neue amerikanische Freundin nett empfangen?«

»Sehr nett«, beeilte Sylvia sich zu sagen.

»Und wie so oft, Monnier«, sagte Larbaud, »hast du dieser Fülle einen neuen Schatz hinzugefügt.«

Sie konnte kaum glauben, dass er von ihr sprach. Und dass sie noch vor einer Stunde so nervös gewesen war. Sylvia fühlte sich so zu Hause, als würde sie schon ihr Leben lang hier ein und aus gehen. Und zugleich war es ein aufregendes neues Abenteuer, ein Sprung ins Ungewisse.

»Nicht rot werden, Sylvia!« Adrienne lachte. »Ich wusste vom ersten Moment an, dass du ein Schatz bist.«

»Nun ja, meine Schwester ist Schauspielerin, deshalb bin ich eher daran gewöhnt, dass sie der Schatz ist.«

»Schauspielerin?« Romains zog die Augenbraue hoch. »Irgendetwas, das wir vielleicht gesehen haben?«

»Judex. Das ist eine Filmserie.«

Die beiden Männer lachten schallend, und der Wein, den sie getrunken hatten, färbte ihre Wangen rot.

»Beachte sie gar nicht«, sagte Adrienne und tätschelte scherzhaft Romains’ Arm. »Die beiden sind schreckliche Snobs. Ich liebe das Kino und auch einige der Serien. Judex kenne ich nicht. Vielleicht sollten wir mal zusammen hingehen?«

Da war es wieder. Dieses frisson. Warum hatten die Franzosen die besten Wörter für alles, was mit Anziehung zu tun hatte?

»Sehr gern. Cyprian würde sich riesig freuen.«

»Suzanne gefällt es bestimmt auch.«

Suzanne. Wie konnte ich sie vergessen?

Und schon tauchte sie auf, gab Adrienne einen leichten, aber innigen Kuss auf die Wange und schenkte den beiden Männern ein herzliches, vertrautes Lächeln – ein Signal an Sylvia, dass sie die Neue, die Außenseiterin war und dass trotz des liebenswürdigen Empfangs nichts von alldem ihr gehörte.

Kapitel 2

Dennoch zog es sie Tag für Tag wie durch Sirenengesang zu A. Monnier.

Die französischen Schriftsteller waren sehr daran interessiert, welche amerikanischen und englischen Autoren sie gelesen hatte, und so lieh Sylvia ihnen ihre persönlichen Ausgaben von Wordsworth und Whitman sowie einige ältere Ausgaben von The Dial, The Egoist und The Little Review, die sie bei ihren letzten Reisen nach London und New York erworben hatte. Sie schrieb an ihre Mutter und bat sie, noch mehr Bücher aus ihrer Bibliothek, die sie zu Hause in Princeton gelassen hatte, zu schicken.

Manchmal begleitete Cyprian sie in die Buchhandlung, und dann rauchten sie und flüsterten miteinander, was Sylvia ein wenig mehr Selbstvertrauen in Suzannes Gegenwart gab. Cyprian nannte sie – ganz leise und nur gegenüber Sylvia – boshaft la crapaudette, eine Abwandlung des französischen Worts für Kröte. Ursprünglich hatte sie sie toady – Speichelleckerin – genannt.

»Aber das ist sie nicht«, hatte Sylvia protestiert, obwohl sie sich insgeheim über die wenig schmeichelhafte Bezeichnung freute. »Der Laden war genauso ihre Idee wie die von Adrienne.«

»Warum steht ihr Name dann nicht über der Tür?«

»Wahrscheinlich, weil es Adriennes Eltern waren, die das Geld dafür gegeben haben.«

Cyprian schüttelte den Kopf. »Glaub mir, Sylvia, da steckt noch mehr dahinter.«

Wenn dem so war, sprach niemand darüber. Die offizielle Version lautete, dass die beiden Frauen schon in der Schule in Paris befreundet gewesen und anschließend zusammen nach London gegangen waren, wo sie die Idee für die Buchhandlung gehabt hatten, die dann 1915 eröffnet wurde. Sylvia wusste nicht, worum sie die beiden am meisten beneidete: die unkomplizierte, alltägliche Partnerschaft, die gemeinsame Liebe zu den Büchern oder die offensichtliche körperliche Intimität. Wie lange war es her, dass Sylvia auch nur jemanden geküsst hatte? Und sie hatte zwar ein paar kurze Romanzen gehabt, aber wirklich geliebt hatte sie noch nie. Auf jeden Fall war sie noch nie jemandem so nah gewesen, wie es bei Adrienne und Suzanne der Fall war; die beiden waren praktisch verheiratet. Zumindest so verheiratet, wie es zwei Frauen sein konnten. Sie küssten sich im Laden nicht, aber wenn eine von ihnen irgendwo eingeladen wurde, ging man davon aus, dass die andere sie begleiten würde.

Sylvia hasste sich für ihre Eifersucht, zumal Suzanne stets nett zu ihr war. Sie war diejenige, die eines Sonntagnachmittags sagte: »Heute wiederholen sie die ganzen Folgen von Judex. Lasst uns hingehen.« Und so hatten sie und Adrienne und Sylvia und Cyprian, die Taschen voll Lakritz und Brandy, im dunklen Kino gesessen und sich zunehmend beschwipster in das Melodram gestürzt. In der Pause, als Suzanne und Cyprian zur Toilette gegangen waren, hatte Adrienne sich zu Sylvia gebeugt und gesagt: »Deine Schwester ist fast so wunderbar wie du.«

Gütiger Himmel, was für eine Hitze diese Worte in ihrer Brust ausgelöst hatten!

»Nett, dass du das sagst, aber das ist doch Unsinn.«

»Nicht jeder Stern ist wie der étoile polaire, chérie. Manche sind schwerer zu finden und dezenter. Aber sie sind nicht weniger strahlend, nicht weniger wichtig.«

»Danke.« Sie hätte gern noch so viel mehr gesagt – dass Adrienne wie die Sonne war, der hellste Stern von allen, der alle in seinem warmen Licht badete. Aber das wäre unpassend gewesen, da Suzanne jeden Moment zurückkommen konnte. Überzeugt, dass sie knallrot geworden war, entschuldigte Sylvia sich unter dem Vorwand, ebenfalls zur Toilette zu gehen.

Als das Grüppchen nach vier Stunden den Kinosaal verließ, war es draußen dunkel, und Cyprian sagte: »Na, das war zwar hochnotpeinlich, aber danke, dass ihr Eintrittskarten gekauft und damit für mein Einkommen gesorgt habt.«

»Du warst wunderbar!«, riefen Adrienne und Suzanne aus und begannen, all ihre Lieblingsszenen mit Cyprian aufzuzählen.

»Wirklich lieb von euch, aber ich brauche etwas zu trinken. Wie wär’s mit der Bar in der Rue Edgar-Quinet?«

Sylvia hielt den Atem an, und ihre Gedanken überschlugen sich: Sie nahm zwar an, dass Adrienne und Suzanne ihre lesbische Neigung ahnten, aber sie hatte es nie klar geäußert; ihre Schwester wiederum dachte offenbar, dass es einer Klärung bedurfte; sie waren nicht passend gekleidet, denn wer dort hinging, trug entweder einen Anzug oder Glitzerfummel; somit war allen Anwesenden klar, was Cyprian mit ihrem Vorschlag bezweckte.

Doch weder Suzanne noch Adrienne zuckten auch nur mit der Wimper. Mit einem übertriebenen Gähnen sagte Suzanne: »So gern ich ein Gläschen bei Lulu trinke, es ist mir jetzt zu viel Aufwand, mich dafür extra umzuziehen.«

»Geht mir genauso«, stimmte Sylvia hastig ein. »Ich bin auch zu müde.«

Somit hatte Cyprians Schachzug seinen Zweck erfüllt, und falls es zwischen ihnen noch irgendwelche unausgesprochenen Fragen bezüglich ihrer jeweiligen sexuellen Orientierung gegeben hatte, waren sie jetzt beantwortet.

Cyprian spielte die Schmollende und schob die Unterlippe vor. »Ihr seid langweilig.«

»Ein anderes Mal, chérie«, sagte Adrienne. »Habt ihr Hunger? Gar nicht weit von hier ist ein Bistro, wo es eine köstliche sole meunière gibt.«

Als sie die Straße hinuntergingen, Cyprian und Suzanne vorneweg, hakte Adrienne sich bei Sylvia unter, und die lehnte sich ein wenig mehr als nötig an den üppigen, weichen Körper der Buchhändlerin.

Zu Beginn des Herbstes, als sie nach einer Lesung mit André Spire gerade die leeren Flaschen und die Stühle wegräumten, gingen die Luftschutzsirenen los. Als ob es ihr Ritual wäre, wenn die Sirenen jaulten, hob Suzanne eine Flasche, in der noch ein wenig Bordeaux war, stieß damit gegen eine andere Flasche und leerte den Rest mit einem schwungvollen Zug.

Sie hustete. Das tat sie immer öfter, seit die Tage kürzer wurden und eine herbstliche Kühle in der Luft lag.

Sylvia schämte sich der Gefühle, die Suzannes Husten in ihr auslöste. Der Husten und die dunkelvioletten Schatten unter ihren Augen. Niemand sprach es aus, aber Sylvia vermutete, dass Suzanne Tuberkulose hatte. Schwindsucht. Irgendwie war es die perfekte Krankheit für diese Dickens’sche Schönheit und ihre ebenso viktorianische Gefährtin.

Obwohl sie es nicht mal vor sich selbst zugeben mochte, begann Sylvia, den Laden nur noch dann zu besuchen, wenn sie wusste, dass Suzanne nicht da sein würde, denn die legte sich wegen des Hustens jeden Tag nach dem Mittagessen eine – zunehmend längere – Weile hin.

»Ich lebe eher unter Büchern als unter Menschen«, sagte Adrienne an einem dieser ruhigen Nachmittage, als sie und Sylvia eine Lieferung neuer Romane einsortierten.

»Ich auch!« Sie lächelten sich in innigem Verständnis zu. Es war eine Erleichterung zu hören, dass die Göttin der Rue de l’Odéon, die so viele große Geister anzog, ebenfalls lieber literarische als menschliche Gesellschaft hatte.

Nach einem kurzen Blick durch den leeren Laden sah Adrienne Sylvia mit ihren aquamarinblauen Augen an und sagte: »Aber selbst ich brauche ab und an eine Pause von den Büchern. Es ist ohnehin bald Feierabend. Wie wär’s, wenn wir uns die Impressionisten im Louvre anschauen? Ich habe Olympia schon viel zu lange nicht mehr besucht.«

Eine Stunde später standen sie vor Manets prachtvoller nackter Prostituierter, die Sylvia und Adrienne unverwandt und ohne jede Scham ansah.

»Mit ihr hat alles angefangen«, sagte Adrienne. »All die anderen Bilder – die Morisots, die Monets, die Renoirs, Bonnards und Cézannes – sind aus ihr entstanden.«

Sylvia betrachtete aufmerksam die alabasterne Gestalt, die von hauchfeinen Pinselstrichen zusammengehalten wurde, die afrikanische Dienerin, die fast mit dem dunklen Hintergrund verschmolz, und den Blumenstrauß, den sie ihrer Herrin hinhielt und der paradoxerweise in denselben reinen, hellen Farben gehalten war. Sylvia nahm an, dass sie Olympia erregend finden sollte, wie das schockierte Publikum vor knapp sechzig Jahren, doch sie sah das Gemälde eher mit Adriennes anerkennendem Blick, und was sie da vor sich hatte, war der Beginn der modernen Kunst – eine Entwicklung, die noch immer anhielt, nicht nur in den Werken von Picasso und Matisse und Man Ray, sondern auch in denen der Schriftsteller, die mit dem literarischen Äquivalent zu den Maltechniken experimentierten: der Beschäftigung mit den Eigenschaften der Sprache, die der Besessenheit des Malers mit den Eigenschaften der Farbe ähnelten, und ihrer beiderseitigen Entschlossenheit, das »moderne Leben«, wie Baudelaire es genannt hatte, in all seiner Pracht und Absurdität darzustellen. Denn das moderne Leben war in der Tat göttergleich, wie der Name für Manets Prostituiertenmodell ganz klar sagte.

»Es muss unglaublich gewesen sein, mit diesen Bildern in der eigenen Stadt aufzuwachsen«, sagte Sylvia. »Zu wissen, dass dein Land eine der bedeutendsten künstlerischen Bewegungen seit Jahrhunderten in Gang gesetzt hat.«

Adrienne schürzte die Lippen, ohne den Blick vom Bild zu wenden. »Nicht unglaublicher, als zu wissen, dass die Revolution meines Landes andere inspiriert hat.«

Bei dem Vergleich musste Sylvia lachen. »Das ist doch ewig her. Das hier« – sie deutete auf die Olympia – »passiert immer noch.«

»Rom ist ewig her«, erwiderte Adrienne. »Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg und die Französische Revolution waren erst gestern. Zumindest für einen Franzosen. Dieses Bild wurde 1863 gezeigt, weniger als ein Jahrhundert nach eurer Unabhängigkeitserklärung. Und es verdankt dieser Erklärung eine Menge. All diese Kunst wäre ohne Unabhängigkeit nicht möglich gewesen, davon bin ich überzeugt.«

Sylvia holte tief Luft. Hatte sie schon mal solche Gespräche geführt? Mit einer schönen Frau, deren Haut und Augen und Geist sie so sehr bewunderte? In dieser Stadt, die sie liebte? Alles an diesem Moment hatte etwas von Zuviel. Doch trotz des Drucks, den er in ihr erzeugte, wünschte sie, er würde ewig dauern.

Leider kam ein Wachmann und teilte ihnen mit, dass das Museum in zehn Minuten schließen würde.

»Mach’s gut, Olympia«, sagte Adrienne. Dann löste sie endlich den Blick von dem Bild und wandte sich zu Sylvia. »Und jetzt ist es an der Zeit, dass du die beste heiße Schokolade von Paris kostest.«

Gott sei Dank. Sie wollte auch noch nicht, dass der Tag endete. »Ich folge dir.«

»Das gibt ein Unglück«, sagte Cyprian eine Woche später auf dem Rückweg vom Buchladen.

»Was meinst du?«

»Spiel nicht die Ahnungslose, das passt nicht zu dir. Ich spreche von Adrienne. Ich glaube nicht, dass eine Ménage-à-trois etwas für dich ist, Schwesterherz. Und für Suzanne ebenfalls nicht. Bei Adrienne bin ich mir da nicht so sicher. Sie erscheint mir … fantasievoll. Und ihre Schwester Rinette schläft eindeutig sowohl mit Fargue wie auch mit ihrem Mann.«

Sylvia seufzte. Leugnen war zwecklos. »Ich weiß, ich weiß. Ich …« Ich bin dabei, mich in Adrienne zu verlieben. – Moment mal. »Glaubst du wirklich, Adrienne würde sich auf eine Ménage-à-trois einlassen?« An so eine verwirrende Beziehung mochte sie nicht mal denken. Sie hatte Geschichten darüber gehört, was in den Wohnungen der Pariser Bohème vor sich ging, aber bisher nichts davon selbst gesehen oder erlebt. Und sie wollte sich Adrienne auf keinen Fall in diesem Licht vorstellen; dann wäre es ihr immer noch lieber, Adrienne bliebe Suzanne treu, sosehr sie das auch schmerzen würde.

»Adrienne scheint mir eine Frau mit großem Appetit zu sein, die sich schnell langweilt.«

»Nur weil sie gern gut isst, heißt das noch lange nicht, dass sie in der Liebe Bäumchen-wechsel-dich spielt.«

Ihre Schwester zuckte die Achseln. »Mag sein.«

Manchmal machte Cyprian sie wahnsinnig. Trotzdem war Sylvia froh, sie bei sich zu haben, während sie überlegte, was sie mit sich anfangen sollte. Ihr Spanischstudium führte nirgendwohin, und sie war schon dreißig. Sie brauchte ein Ziel, eine Aufgabe. Sie konnte nicht ewig unbezahlt in Adriennes Laden aushelfen. Vor allem in Anbetracht dessen, wie sich ihre Gefühle entwickelten.

Gerade als sie anfing, ob ihrer Ziellosigkeit zu verzweifeln, keimte in Sylvia eine Idee.

Ein eigener Buchladen.

Ein Ort, der dieselbe Art von Leuten anzog wie der von Adrienne. Aber fern von diesem Laden, den sie so liebte, und von dieser Frau, die sie zu sehr zu lieben begann. New York war weit genug weg, um ihr Herz zu schützen.

Ja, eine eigene Buchhandlung! Die Idee schlug Wurzeln in ihr, und sie konnte es sich nicht verkneifen, Adrienne und Suzanne davon zu erzählen, während sie für eine Lesung Stühle und Weinflaschen bereitstellten. Sylvia hatte auf eine Gelegenheit gewartet, allein mit Adrienne darüber zu sprechen, aber irgendwie war Suzanne immer in der Nähe.

»Ich denke darüber nach, einen französischen Buchladen in Amerika aufzumachen«, sagte Sylvia, bemüht, sich ihre Begeisterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

»Was für eine großartige Idee!«, rief Suzanne, wurde jedoch sofort von einem Hustenanfall geschüttelt.

Adrienne eilte zu ihr, legte eine Hand auf ihren Arm und strich mit der anderen in sanften Kreisen über ihren Rücken.

Wie sich das wohl anfühlt?

»Das ist wirklich eine wunderbare Idee«, sagte Adrienne, den Blick noch immer auf Suzanne gerichtet. »Aber was sollen wir ohne dich hier in Paris anfangen?«

Sylvia wurde warm ums Herz. »Ihr würdet mir auch alle fehlen.«

»Aber Amerika ist dein Zuhause«, fuhr Adrienne mit – tatsächlich? – Wehmut in der Stimme fort.

»Da bin ich mir nicht so sicher. Während der letzten Monate war ich glücklicher, als ich in Worte fassen kann.«

»Du hast uns auch glücklich gemacht.«

Wieder Husten, wieder Reiben.

Sylvia verspürte einen Stich. New York. War es wirklich weit genug?

Sie wusste, dass sie Paris verlassen sollte, um ihr Herz zu schützen, aber sie war noch nicht bereit, Europa den Rücken zu kehren und mit den Vorbereitungen für ihren New Yorker Buchladen zu beginnen, und so war sie sofort begeistert, als sie im Büro des Roten Kreuzes ein Plakat erblickte, dass Freiwillige für einen Hilfseinsatz in Serbien gesucht wurden. Sie war noch nie in Belgrad gewesen, und sie wollte die Kriegsanstrengungen unterstützen. »Der Ruf zum Dienst ist so edel wie der Ruf zu Gott«, hatte ihr Vater immer gesagt, und sie hatte 1916 bereits bei den Bauern im ländlichen Frankreich auf den Feldern geholfen. Es war nicht dasselbe, wie Wunden zu versorgen oder eine Ambulanz zu fahren, aber es war harte, befriedigende Arbeit, und sie sehnte sich nach sinnvoller körperlicher Aktivität.

Und so befand sie sich Ende 1918 in Felduniform fast zweitausend Kilometer östlich von Paris, den Rucksack beladen mit Blechgeschirr und ein paar kostbaren Büchern, darunter Joyce’ Porträt, das sie gern noch einmal lesen wollte, so tröstlich erschien ihr das Streben der Hauptfigur nach einem authentischeren Leben. Sie sah sich selbst in Stephen Dedalus’ Suche nach Bedeutung mittels intellektueller Erforschung und empfand eine Art stellvertretender Erlösung in seinen Beschreibungen der Lust, die für einige wohltuende Augenblicke die Hyperaktivität seines Geistes überlagerte. Wie mag das wohl sein, so von Leidenschaft verzehrt zu werden, dass ich all meine anderen Sorgen vergesse?

Fürs Erste gelang es ihr nur durch die Konzentration auf die Bedürfnisse der Menschen in den Dörfern rund um Belgrad und durch tagelange harte Arbeit, anderes zu vergessen. Obwohl kurz nach ihrer Ankunft der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, lagen überall noch Landminen, und der Hass auf beiden Seiten loderte weiter. Es gab immer wieder Scharmützel, was zu Schuss- und Schrapnellwunden führte, die versorgt werden mussten, und alle, jung und alt, brauchten Decken, Kleidung, Schuhe, Seife und Lebensmittel. Sie war Krankenschwester, Tante, Arzneiausgabe, Sockenstopferin, Vorleserin, Briefschreiberin, Handhalterin und was sonst noch vonnöten war.

Jedes Mal wenn es ein lautes Geräusch gab, und sei es etwas so Harmloses wie eine zuschlagende Tür oder die Fehlzündung eines Automotors, sah Sylvia, wie die jungen Männer um sie herum – ob in Lazarettbetten oder in der Kneipe oder auf dem Markt – zusammenschraken, sich duckten oder sogar versteckten, wenn es nichts anderes gab, auch in einer umgekippten Mülltonne. Es war bemerkenswert, wo diese armen, traumatisierten Jungen hineinpassten, wenn sie sich nur klein genug zusammenfalteten.

Sylvias Hände rissen in der Kälte immer wieder ein und bluteten, bis ein nettes ungarisches Mädchen ihr eine Dose mit Salbe gab, die nach Schafspisse roch, aber ihre Haut während der Wintermonate schützte. Bald wurde die Arbeit so hart, dass ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief, aber das war ihr nur recht. Am Ende des Tages zündete sie eine Kerze an, legte sich auf ihr hartes Feldbett und las. Das Porträt, ja, aber es war vor allem Whitman, der sie abends in den Schlaf sang. Ihr weich gelesener, geliebter Band der Grashalme war wie ein Gebetbuch, das ihr Trost und Gesellschaft schenkte. Obwohl seine Worte auch bisweilen Sehnsucht in ihr weckten, zum Beispiel bei den Zeilen: »Oh, dass du und ich den andern entrinnen und weit fort von dannen gehen könnten, frei und gesetzentbunden/Zwei Falken in der Luft, zwei Fische, die in der See schwimmen, nicht gesetzentbundener als wir«. Sie sehnte sich nach einem eigenen gesetzentbundenen Falken, obwohl sie wusste, dass Whitman selbst nicht nur einen gehabt hatte. Er hatte nie geheiratet und war auch keine dauerhafte Beziehung eingegangen wie Adrienne und Suzanne. Er hatte eindeutig gewusst, was Nähe war, und den Drang zur Vereinigung gespürt. Doch sein Samen war seine Lyrik gewesen, seine Arbeit.

Die Vorstellung, dass Arbeit eine erfüllende Lebensaufgabe sein könnte, ließ sie nicht mehr los. Sie dachte daran, während sie Knöpfe annähte und in Lastwagen über staubige Straßen fuhr, um Konservendosen mit Lebensmitteln zu verteilen, und sie nutzte sie dazu, romantische Gedanken an Adrienne beiseitezuschieben, wenn sie sich in ihren Kopf schlichen. Doch sosehr sie die Arbeit, die sie in Serbien verrichtete, schätzte, es war nicht ihre Art von Arbeit. In ihr steckte zu viel von ihrer Mutter, zu viel Begeisterung für Paris, geistreiche Gespräche und leckeres Essen. Wenn sie das jemals offen zugab, würde Cyprian sich fürchterlich über sie lustig machen, dachte Sylvia schmunzelnd.

Eine französische Buchhandlung in New York – ja, das war’s! A. Monnier hatte ihr gezeigt, dass ein Leben mit Büchern und für die Bücher nicht nur möglich, sondern erfüllend war. In ruhigen Momenten oder wenn sie Dinge tat, die sie nebenbei erledigen konnte, malte sie sich aus, wie sie die Regale und Möbel stellen würde. Ein kleiner Laden in einer baumbewachsenen Straße, vielleicht in einem Brownstone-Haus, mit einer Wohnung direkt obendrüber. Er wäre gemütlich beleuchtet, und an kalten Wintertagen würde sie Tee ausschenken. Sie würde Professoren für französische Literatur von Columbia und Princeton einladen und Autoren aus der Stadt, die mit Flaubert und Proust vertraut waren, und es würde sole meunière und bœuf bourguignon geben, und sie würden Burgunder und Bordeaux trinken, während sie über Neuerscheinungen und den Zustand der Welt nach dem Großen Krieg diskutierten. Wichtige Leute aus der Literaturszene würden bei ihr ein und aus gehen; vielleicht würde Margaret Anderson von der Little Review sogar Stammkundin werden. Vielleicht würde sie in New York eine Suzanne für sich finden, und sie könnten zusammen am Washington Square leben, ohne dass die Nachbarn ihnen komische Blicke zuwarfen. Vielleicht musste sie sich dann nicht mehr nach einer schwarzhaarigen Unerreichbaren aus dem Quartier Latin verzehren.

Leider berichtete ihre Mutter, die ganz begeistert von der Idee mit dem französischen Buchladen war und voller Elan in Manhattan nach einem passenden Ort suchte, dass sie kein Glück hatte. In einem Brief schrieb sie:

Man wünschte sich beinahe, dass es keinen Waffenstillstand gegeben hätte, denn offenbar hat der Krieg die Mieten niedrig gehalten. Nun sind alle von Optimismus erfüllt, und das Geld strömt durch die Stadt wie der letzte noch erlaubte Gin, und treibt die Preise von allem und jedem in die Höhe.

Der Pessimismus ihrer Mutter ließ Sylvia nicht unberührt, aber er schreckte sie nicht ab. Sie war dazu bestimmt, eine Buchhandlung zu führen. Wenn es in New York nicht klappte, dann vielleicht in Boston oder Washington. Sie weigerte sich aufzugeben.

Ihre Schwester Holly schrieb ihr einen Brief, der ihr ausgezeichnete Neuigkeiten brachte und sie daran erinnerte, wie wichtig es war, sich nicht kleinkriegen zu lassen:

Das Frauenwahlrecht ist jetzt in der Verfassung verankert! Alles, wofür wir gekämpft haben! Ich kann es kaum erwarten, zum ersten Mal zu wählen, und es ist mir gleich, was die anderen sagen, ich finde, es war den Einsatz wert, auch wenn es einen Preis hatte – die Prohibition, für die ja so viele unserer Schwestern waren. Vor allem zum Ende hin dachte ich manchmal, dass den Frauen mehr daran lag, ihre Männer vom Trinken wegzubekommen, als mittels ihrer Stimme das Land zu verändern. Anscheinend herrscht noch immer der Küchentisch über das Leben unseres Geschlechts.

Nur ein Brief brachte Sylvia aus der Ruhe, er kam von Adrienne.

Suzanne hat den Sohn von einem Freund ihres Vaters geheiratet, der sie schon seit Jahren liebt. Nun, wer würde Suzanne nicht lieben? Die beiden sind zufrieden, aber sie hat mir während der Hochzeitsreise gefehlt. Doch sobald sie wieder in Paris waren, ist sie zurück in den Laden gekommen, und alles fühlt sich mehr oder weniger so an wie immer.

Sylvia las den Absatz so viele Male, dass die Wörter vor ihren Augen zu verschwimmen begannen. Es musste sich um eine Zweckheirat handeln, denn sie glaubte nicht, dass Suzanne wie Cyprian war und die Lust, die Männer ihr bereiten konnten, zu genießen vermochte; außerdem hatte sie nie auch nur gerüchteweise etwas von einem Verehrer gehört. Sie verstand nicht, wozu das Ganze gut sein sollte. Welche Vorteile brachte dieses Arrangement der Braut und dem Bräutigam – ganz zu schweigen von der Geliebten der Braut? Hatte es etwas mit Suzannes Gesundheit zu tun? Adrienne äußerte sich nicht dazu, und Sylvia fragte nicht nach.

Als ihr Einsatz beim Roten Kreuz beendet war, wusste Sylvia, dass es an der Zeit war, ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen. Doch vorher musste sie noch einmal nach Paris. Die Stadt rief nach ihr; die nächste Sirene, die sie von ihrem Neuanfang ablenkte.

Es musste eine Sirene sein.

Aber warum klang sie dann eher wie Odysseus’ Penelope, eine liebende Stimme, die sie über die trennenden Weiten hinweg nach Hause rief?

Kapitel 3

Im Juli 1919 kam Sylvia im trubeligen, stickigen Gare de l’Est an. Über dem gewölbten Glasdach leuchtete ein klarer blauer Himmel. Durch die großen halbrunden Fenster zu beiden Seiten des riesigen Bahnhofs fiel noch mehr Sonnenlicht herein, und während sie sich ihre Taschen über die Schultern hängte, lauschte sie auf die drängenden Rufe der Schaffner, das übermütige Geschrei der Kinder und die Freudenrufe des Wiedersehens – und beinahe kamen ihr die Tränen. Sie verspürte Erleichterung, aber auch eine kribbelnde Erwartung. Es gibt so viel zu tun.

Ohne ihr bescheidenes Gepäck erst in das Hotel zu bringen, das sie gebucht hatte – Cyprian hatte ihre Zimmer im Palais Royal aufgegeben, als Sylvia nach Serbien gegangen war –, ging sie direkt zu A. Monnier. Adrienne wirkte erschöpft; bei ihrem Anblick warf sie die Arme in die Luft, kam unter Begeisterungsrufen auf sie zugelaufen und schloss sie in die Arme. »Mon amie! Sylvia, bienvenue! Dieu merci!« Sylvia erwiderte die Umarmung, und fast im gleichen Moment verwandelte sich Adriennes freudiges Lachen in Schluchzen.

Die drei Kunden im Laden wandten höflich den Blick ab.

»Kannst du für ein paar Minuten verschwinden?«, flüsterte sie Adrienne zu.

Adrienne nickte und wischte sich schniefend mit dem Handrücken über die Augen, dann zog sie ein benutztes Taschentuch aus den Falten ihres Rocks, putzte sich die Nase und trocknete ihre Tränen.

Im kleinen Hinterzimmer packte ein junges Mädchen gerade einen Karton mit Zeitschriften aus. Adrienne schickte sie hinaus in den Laden, schloss die Tür und ließ sich auf den Karton sinken.

Sylvia kniete sich vor sie und nahm ihre Hände. »Was ist passiert?«

Adrienne sah sie aus rot geränderten Augen an und sagte mit bebendem Kinn: »Suzanne ist gestorben. Letzte Woche.« Erneut stieg ihr ein Schluchzen in die Kehle.

»O Adrienne, das tut mir so leid. Ich weiß, wie sehr du sie geliebt hast.«

Adrienne schloss die Augen und nickte nur stumm.

So blieben sie eine ganze Weile dort hocken und hielten sich nur an den Händen, während Adrienne mühsam nach Luft rang. Sylvia fühlte mit ihr, aber sie war entschlossen, stark zu bleiben, um für sie da zu sein. Dennoch fragte sie sich, was das bedeuten mochte. Konnte es sein, dass die Stimme, die sie nach Paris gelockt hatte, gar nicht die der Stadt gewesen war, sondern die von Suzanne, die sie auf dem Sterbebett herbeirief, damit sie sich um Adrienne kümmerte?

Lieber Gott, betete sie, obwohl sie gar nicht an den Gott ihres Vaters glaubte, und sie kam sich dabei ein bisschen vor wie Joyce’ suchender, schuldzerfressener Stephen Dedalus, lass es so gewesen sein.

»Wie wäre es, wenn ich statt eines französischen Buchladens in Amerika einen amerikanischen Buchladen hier in Paris eröffnete? Mir scheint, es gibt ein großes Interesse daran, mehr Werke im Original zu lesen, und keine Buchhandlung oder Bibliothek, wo man sie bekommen könnte.« Die Idee war Sylvia morgens beim Aufwachen gekommen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und sie hatte den ganzen Tag gebraucht, um den Mut aufzubringen, Adrienne davon zu erzählen.

Nun, da es Abend war und sie Adriennes wunderbares Brathähnchen mit Rosmarinkartoffeln genossen, war der Zeitpunkt gekommen.

Adrienne stutzte kurz und strahlte dann. »Oui! Das ist eine hervorragende Idee. Und so könntest du in Paris bleiben«, sagte sie aufgeregt.

Bei ihren Worten fühlte Sylvia sich leichter, als hätte sie plötzlich Wind in den Segeln. »Paris fühlt sich wie Heimat an.«

Mittlerweile war es August, und Adrienne weinte nicht mehr jeden Tag; mehr noch, sie war wieder gern im Laden und in ihrer geliebten Küche, in die sie Sylvia fast jeden Abend einlud. Sie aßen und lasen und redeten stundenlang, oft über ernsthafte künstlerische Dinge wie bei ihrem Besuch des Louvre, aber manchmal auch über leichte, heitere Themen wie das neue Süßwarengeschäft im Viertel.

»Pâtes de fruits sind immer noch meine Lieblingsleckerei.« Voller Wonne biss Adrienne in ein festes, orange-goldenes Viereck. Dann murmelte sie mit vollem Mund: »Mmh, die sind köstlich.«

Sylvia knabberte an einem leuchtend roten Viereck. »Cerise.« Sie zuckte die Achseln. »Da ist mir Zuckerwatte lieber. Aber am allerliebsten mag ich Schokolade.«

»Am Eiffelturm gibt es wunderbare Zuckerwatte!«

Und so gingen sie am nächsten Tag nach Feierabend zu dem Verkäufer mit dem grünen Wagen und teilten sich eine rosafarbene Wolke, die größer war als ihre Köpfe, und ließen den Zucker auf ihrer Zunge zergehen, während sie an Gustave Eiffels außergewöhnlichem Monument hinaufblickten. »Der Turm wurde drei Jahre vor meiner Geburt eröffnet«, sagte Adrienne.

»Warst du schon mal oben?«

»Bei den ganzen Treppen? Um Gottes willen! Spätestens in der zehnten Etage würde mein Herz wahrscheinlich schlappmachen.«

Sylvia fragte sich, ob Adrienne damit auf das Gewicht anspielte, das sie seit ihrer ersten Begegnung zugelegt hatte. Sylvia gefielen ihr rundlicheres Gesicht und der üppigere Busen, und sie liebte Adriennes unbefangene Freude am Essen, während ihre Mutter und Cyprian und so viele andere Frauen nur wie Vögelchen aßen, aber das behielt sie für sich. »Das glaube ich nicht.«

»Ich mache gern lange Spaziergänge, zum Beispiel bei meinen Eltern auf dem Land, aber nur mit sanften Steigungen. Und Wildblumen drum herum. Aber jedes Mal wenn ich die Stufen zu Sacré-Cœur am Montmartre hochlaufe, muss ich mich anschließend hinsetzen.«

»Das mit dem langen Spaziergang bei deinen Eltern klingt verlockend.«

»Ich muss dich mal dorthin mitnehmen. Sie werden dich mögen. Und du wirst unseren Hund Mousse mögen. Er sieht aus wie ein Bär, ist aber ganz lieb.«

»Sehr gern.« Sylvia schob sich eine Handvoll Zuckerwatte in den Mund, um nicht noch mehr zu sagen oder allzu breit zu lächeln. Sie war sich nicht sicher, was Adriennes Gefühle für sie betraf, und sie hielt es für klüger, ihr genug Zeit für die Trauer zu geben.

Ihre gemeinsamen Abende begannen meist gegen acht, und im Handumdrehen war es ein Uhr morgens. Dann ging Sylvia rauchend das kurze Stück von Adriennes Wohnung in der Rue de l’Odéon 18 bis zu ihrem Hotel. Manchmal hörte sie dabei den sonoren Glockenschlag von Saint-Étienne-du-Mont, aber sie fühlte sich nicht einsam, sondern erfüllt, von Adriennes Essen, ihren Ideen, ihrer Stimme, ihrem Duft nach Lavendel und Olivenöl. Von Adrienne.

Sie wusste nicht, wie Adrienne es schaffte, aber egal wie spät es geworden war, um neun stand sie munter und lächelnd in ihrem Laden. Sylvia hingegen erschien bisweilen erst um elf, woraufhin Adrienne den Kopf schüttelte und ihr etwas zu tun gab: Einladungen für eine Lesung schreiben, Bestellungen aufgeben, Buchhaltung, Regalbestände sortieren. »Das musst du alles können, wenn du deine eigene Buchhandlung eröffnest«, sagte sie, und Sylvia staunte, dass ihr Gegenüber fünf Jahre jünger war als sie. Ganz gleich, was Adrienne übers Treppensteigen sagte, sie besaß eine schier unerschöpfliche Energie. Und Mut. Und Stärke. Schließlich hatte sie mitten in einem Weltkrieg einen Buchladen eröffnet und es geschafft, ihn bis zum Ende geöffnet zu halten. Und das mit gerade mal dreiundzwanzig!

Mehr und mehr hatte Sylvia das Gefühl, dass aus ihrer Freundschaft allmählich etwas anderes wurde. Bildete sie es sich ein, oder berührten sich ihre Hände in letzter Zeit öfter? Hatte Adrienne neulich Abend auf dem Sofa wirklich dichter neben ihr gesessen?

Sie schob diese Gedanken und Gefühle beiseite. Hab Geduld. Sie ist noch in Trauer. Doch der Nebel, den Suzannes Tod hinterlassen hatte, begann sich zu lichten. Der Geist von Adriennes früherer Gefährtin war zu einer Art Schutzheiliger geworden, von deren Vorlieben und Ideen sie sprachen, oft voll Ehrerbietung, und auf deren Wohl sie manchmal sogar eine Tasse Tee tranken oder eine ihrer Lieblingsmacarons aus der Patisserie nebenan aßen.

Dann fand Adrienne eines Tages, ohne Suzannes Namen auch nur zu flüstern, den idealen Ort für Sylvias neuen Buchladen, gleich um zwei Ecken in der Rue Dupuytren 8. Die Frau, die dort seit Jahrzehnten ihre Wäscherei betrieben hatte, setzte sich zur Ruhe und zog aufs Land.

»Der Laden ist perfekt«, sagte Adrienne zu Sylvia, als sie davon erfuhr. »Das Einzige, was ihn noch perfekter machen würde, wäre, wenn er in derselben Straße läge wie meiner.«

»Vielleicht klappt das ja eines Tages.« Sylvia jubelte innerlich. Es wurde Wirklichkeit: ihr eigener Buchladen, in ihrer Lieblingsstadt!

»Und ich hätte da noch eine Idee«, fügte Adrienne überraschend schüchtern hinzu.

»Was denn?«

»Ich dachte, ich sollte vielleicht den Namen meines Ladens ändern. Als Zeichen eines Neubeginns.«

Sylvia lächelte, bemüht, sich die freudige Hoffnung, die diese Worte in ihr auslösten, nicht allzu sehr anmerken zu lassen. »Meinst du wirklich?«

Adrienne nickte energisch. »Ja. Ich dachte an La Maison des Amis des Livres.« Sie sprach den Namen langsam und betont aus und bewegte dabei die Hände über ihrem Kopf, als stempele sie jedes Wort an seinen neuen Platz über der Tür und dem Schaufenster ihrer Buchhandlung.

»Das Haus der Bücherfreunde«, übersetzte Sylvia. »Das ist es auf jeden Fall.«

»Bon. Ich bestelle gleich einen Maler, damit er den Namen ändert.«

Sylvia strahlte so sehr, dass ihr die Wangen schmerzten. Ein Neubeginn. »Ich bewundere deine Entschlossenheit.«

»Wozu sollte es gut sein, noch zu warten?«

»Nun ja, es ist natürlich leichter, wenn du weißt, was du willst.«

Später an dem Abend setzte Sylvia sich an den Sekretär ihrer Freundin, um ihrer Mutter zu schreiben, dass ein Ladenlokal für die Buchhandlung ihrer Träume freigeworden war, und falls sie und der Rest der Familie ihr in irgendeiner Weise helfen konnten, abgesehen davon, ihr alle Bücher aus ihrem Zimmer in Princeton zu schicken, wäre sie ihnen auf ewig dankbar. Sie hasste es, um Geld bitten zu müssen, aber niemand, den sie hier im kriegsgebeutelten Frankreich kannte, konnte auch nur einen Centime erübrigen, außerdem war Adrienne ihr ein leuchtendes Beispiel, denn sie hatte ihren Eltern bereits die gesamte Summe zurückgezahlt, die diese ihr 1915 gegeben hatten, damit sie den Laden eröffnen konnte. Sylvia beabsichtigte, es ihr gleichzutun.

Ihre Mutter schrieb umgehend zurück, dass die gewünschten Bücher, ergänzt um ein paar literarische Überraschungen, bald auf dem Schiff zu ihr unterwegs sein würden, ebenso auch Geld: