Die Bürde der Hoffnung - Shpresa Macula - E-Book

Die Bürde der Hoffnung E-Book

Shpresa Macula

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Beschreibung

Als ihr Sohn durch Starkstrom schwerste Verbrennungen erleidet, beschließt Shpresa aus dem Kosovo zu fliehen, um medizinische Hilfe für ihn zu erhalten. Nach aufreibender Flucht mit ihrem Mann, zwei Kindern und dem Sohn, der ständiger Pflege bedarf, erreichen sie zu Fuß Deutschland, wo man sie trotz des Krieges in Jugoslawien am liebsten wieder abschieben will. In Berlin begegnen sie jedoch Menschen, die sie unterstützen. Die Autorin erlernt die deutsche Sprache und erreicht, dass ein Spezialist aus Belgrad ihren Sohn in Deutschland behandeln darf. Trotzdem steht ihr ein jahrelanger bedrückender Kampf mit den deutschen Behörden bevor. Dabei hält Shpresa zwischen Krieg und neuer Heimat an ihren Träumen fest: Ihre Familie soll in Sicherheit leben und sie will als Dozentin arbeiten. Dieser ergreifende persönliche Lebensbericht ist eine Wertschätzung und kritische Betrachtung der in Deutschland erhaltenen Hilfe. Ein tiefer Einblick in die Schicksale der Menschen, die hierherkommen und auch eine Betrachtung des eigenen Lebens. Aus dem Bericht über die Suche nach medizinischer Hilfe für den eigenen Sohn wird so das Porträt einer Familie und nicht zuletzt die Geschichte einer Frau, die den Schicksalsschlägen mit unglaublichem Lebensmut – und mit einem umwerfenden Humor – begegnet.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I: Ein Wimpernschlag verändert mein Leben

Unter Strom

Die Entscheidung ist gefallen

Kapitel II: Rückblick

Die Hoffnung ist geboren – Das bin ich

Zwei Melonen in einer Hand halten, ohne dass eine kaputtgeht

Wenn aus Liebe Leben entsteht

Omas Kind

Wiederkehrende schwere Zeiten

Kapitel III: Beginn einer ungeplanten Flucht quer durch den Balkan und weiter

Unser erstes Ziel: Albanien

Bulgarien – ein noch immer ungelöstes Rätsel

Ungarn – Brot stehlen ist (k)eine Straftat?

Polen – Die Fähre nach Schweden wird immer kleiner

Mama, werden wir erschossen?

Eisenhüttenstadt – Oje, unerwünschte „Gäste“

Kapitel IV: Aufgeben ist keine Option

Der Kampf ist noch lange nicht vorbei

Tschüss, Heim – Hallo, Wohnung

Nun muss medizinisch etwas unternommen werden

Die notwendigen Operationen beginnen

Eine Last weniger

Kapitel VI: Freude und Leid liegen nah beieinander

Das ist verboten, Baba

Oma zu Besuch

Mit einer Duldung reisen?

Endlich dürfen wir arbeiten

Der Kampf gegen die Gutscheine im Landkreis Oberhavel

Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere

Wenn die Seele schmerzt

In Brandenburg unerwünscht – Umzugszwang nach Berlin

Ein kleiner Einblick in mein heutiges Leben

Professor Perovic ist tot

Kapitel VI: Mein Geburtstagsgeschenk – eine Herausforderung

Schreiben war meine Therapie

Mama, was ist das für ein Deutsch?

Schlusswort

KAPITEL I

Ein Wimpernschlag verändert mein Leben

Unter Strom

Samstag, der 05.04.1997, Aprilwetter. Es hatte tagelang geschneit und dann geregnet, draußen war es nass und matschig. Vor zwei Wochen hatten wir den Garten für den Frühling vorbereitet, die Hecke schön gerade geschnitten, den Rest der im Herbst gefallenen Blätter weggeräumt und freuten uns jetzt auf die ersten Blumen. Die Schneeglöckchen und ein paar Tulpen waren bereits durch den Schnee gewachsen und schenkten uns einen schönen Blick in den Garten. Die Sonne strahlte ab und zu durch die Fenster, mir kam es vor, als ob die Scheiben regelrecht nach einem Frühjahrsputz schrien. Ich hatte aber keine Lust dazu, ich würde sie vielleicht am nächsten Wochenende reinigen lassen, jetzt, da es ständig regnete, wäre es eh umsonst gewesen.

Am Vormittag hatte ich den Einkauf auf dem Markt erledigt. Meine Schwiegermutter hatte gekocht und gab mir zu wissen, ich solle den Tisch decken. Wir warteten, bis mein Ehemann Besnik und unser Sohn Dion kamen. Ardora, unsere große Tochter, war bei ihrer Tante Neda zu Besuch. Mit unserer kleinen Unesa, die dreieinhalb Jahre jung war, spielten wir, während wir warteten, „Es fliegt, es fliegt“, wobei wir Gegenstände und Tiere benannten, die fliegen oder nicht fliegen können. Wenn etwas fliegen konnte, musste die Hand gehoben werden. Unesa lachte, als ich sie reinlegte, und sagte: „Es fliegt, es fliegt, ein Eeeelefant!“ Sie wollte schnell sein und hob ihre Hand. Sie wollte immer gewinnen, ich hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, so schnell so viele Gegenstände und Tiere anzugeben. Am Ende sagte sie: „Es fliegt, es fliegt … die Oooommmaaaa.“

Die Oma kam aus der Küche. „Was hast du gesagt, Oma soll fliegen?“

„Jaaaa, Oma, sag bitte, dass du fliegen kannst, dann hebt Mama die Hand hoch.“ Sie lachte dabei so laut und ansteckend, dass wir mitlachen mussten.

Gegen 15 Uhr sollten Besnik und Dion kommen. Doch keiner von ihnen tauchte auf. Ich wollte gerade Besnik im Büro anrufen und fragen, wo er bleibe und ob Dion bei ihm sei, da hörte ich Kinder auf den Hof kommen, es waren Dions Freunde. Sie wirkten ängstlich und aufgeregt. Alle sprachen auf einmal, ich verstand sie kaum.

„Es geht um Dion, er liegt auf dem Boden, hat die Augen geschlossen und antwortet nicht!“

Ich folgte den Kindern schnell. Dion war ein sehr aufgeweckter und aktiver Junge, ich dachte, er sei wie immer irgendwo hinaufgeklettert, und fragte spontan, von welchem Baum oder Dach er gefallen sei.

„Nein, von keinem Dach oder Baum, komm mit!“, sagten die Kinder und rannten voran.

Ich folgte ihnen und wusste nicht, wohin ich überhaupt musste. Die Stelle befand sich hinter dem Hof der Grundschule. Auf einmal stand ich allein da, die Kinder waren weg und von Dion war keine Spur zu sehen. Doch, eine Spur schon, auf dem Boden lag seine Jacke. Ich nahm sie in die Hand und wusste nicht, wohin damit. Ohne dass ich es wollte oder wusste, lief ich den Weg, den ich da gekommen war, zurück und versank dabei tief in Gedanken. Die Kinder hatten doch gesagt, dass Dion auf dem Boden liege und nicht antworte. Was war hier passiert, wo war Dion? Unterwegs traf ich eine Nachbarin. Aufgeregt erzählte sie, sie habe Dion gesehen, er sei auf der Straße zusammengebrochen und unser Nachbar habe ihn in die Notaufnahme gefahren. Mehr konnte sie mir nicht sagen. Wenigstens erfuhr ich, wo ich mein Kind jetzt suchen musste.

Ich lief nach Hause zurück und versuchte, meinen Mann im Büro zu erreichen. Er sei losgefahren. Ich konnte nicht länger warten, rief ein Taxi und ließ mich zur Notaufnahme des Krankenhauses fahren.

Als ich ankam, war Dion bei Bewusstsein. Die Ärzte waren bei ihm. Sein linker Unterarm und die Hand waren geschwollen, sie sahen wie ein aufgeblasener Ballon aus. Seine Hose war heruntergezogen, der Bauchbereich mit einem Laken bedeckt. Eine Ärztin und ein Arzt wollten mit mir reden. Er habe hochgradige Verbrennungen im Unterbauchbereich und im linken Unterarm, teilten sie mir mit. Als die Ärztin das Laken hochzog, wurde mir schwarz vor Augen. Sie meinte, hoffentlich gebe es keine weiteren Folgen des Stromschlags am Kopf, an den Nieren und in der Lunge. Es würden weitere Untersuchungen folgen.

„Haben Sie Stromschlag gesagt?“, fragte ich.

„Ja, Stromschlag, Hochspannung, es ist ein Wunder, dass ihr Sohn lebt.“

Ich war sprachlos, mir fiel ein, stimmt, das Häuschen hinter dem Hof der Grundschule war eine Trafostation. Die hatte es schon immer gegeben, sie war aber immer verschlossen. Ich konnte nicht verstehen, wie Dion da hatte hineinschleichen können.

„Er muss dringend nach Belgrad in eine Kinderchirurgie gebracht werden, die auf schwere Verbrennungen spezialisiert ist, wir können hier nichts für ihn tun“, sagte die Ärztin und versuchte einen Krankenwagen zu organisieren, leider ohne Erfolg. Normalerweise hätte ihn ein Arzt nach Belgrad begleiten müssen. „Normalerweise“, doch was war schon normal in diesem Land!

In diesem Moment kam mein Mann. Als ich ihm von Dions Unfall berichtete, fing er an zu zittern und ihm wurde schlecht. Ich schloss die Tür des Behandlungsraums, in dem unser Sohn lag. Ich wollte nicht, dass er das alles mitbekam.

Die formalen Vorbereitungen liefen, jede Menge Papierkram war zu erledigen. Inzwischen ging es meinem Mann besser. Die Ärzte sagten, es könnte bei unserem Sohn unterwegs zu Komplikationen kommen wie hohes Fieber oder Bewusstlosigkeit, dann sollten wir sofort das nächste Krankenhaus aufsuchen. Ich hatte Angst wie nie zuvor in meinem Leben.

Wir mussten los, erst nach Pristina, um eine spezielle Überweisung zu holen und wo man uns eventuell einen Krankenwagen zur Verfügung stellen würde. Mein großer Bruder und mein Cousin würden Dion und mich dort hinfahren. Mein Mann würde zu Hause bleiben, um alles andere telefonisch zu organisieren. Er informierte seinen Bruder, der Arzt war – ein Neuropsychiater –, und ließ Dions Aufnahme in Belgrad durch seinen besten Freund Nebojsa vorbereiten.

Bei meinem Sohn wurde vor der Fahrt noch einmal der Verband gewechselt. Die Ärzte waren geschockt, so einen Fall hatten sie noch nie gehabt. Uns war kein Krankentransport angeboten worden, weil es keinen gab. Also kein Krankentransport, kein Arzt und auch keine Krankenschwester konnte uns begleiten. Dion wurde an eine Infusionsflasche angeschlossen, die ich an der Autotür am Handgriff festband. Unterwegs hielt ich sie zeitweise mit der Hand hoch. Mein Sohn lag hinten, seine Füße lagen auf meinem Schoß. Als ich seine Beine bequemer ausrichten wollte, merkte ich, dass seine Schuhe und Socken klitschnass waren.

„Ist dir kalt?“, fragte ich ihn.

„Ja, Mama.“

Ich zog ihm Schuhe und Socken aus, leider hatte ich nichts zum Wechseln dabei, aber dafür eine kleine Decke. Als ich seine linke Socke auszog, fiel mein Blick auf den großen Zeh. Das sah nicht wir eine Wunde aus, eher wie eine im Backofen geplatzte Kartoffel, wie in einem Animations-Kinderfilm, nachdem eine Bombe geplatzt oder ein Vulkan ausgebrochen war. Es blutete jedoch nicht. Mein Sohn war ansprechbar, so konnte ich ein bisschen mit ihm reden. Das sollte ich auch tun und ihn beobachten, er sollte wach bleiben, hatte der Arzt gesagt. Ich fing mit leichten Fragen an: „Wie fühlst du dich? Hast du Kopfschmerzen?“ Fieber hatte er nicht. Seine Infusion lief, die Flasche war fast zur Hälfte leer.

Er fing an zu erzählen: „Wir haben Fußball im Schulhof gespielt, siehst du, Mama, ich habe die alten Sportschuhe angezogen, weil du immer schimpfst, wenn die Schuhe ein Loch an der Spitze bekommen.“ Dabei lachte er.

Es war schön, ihn in diesem Zustand lachen zu sehen. Ich konnte mich unterwegs zusammenreißen und versuchte, meine Gefühle zu unterdrücken und nicht zu weinen. Andererseits hatte ich Angst, dass sich der Zustand meines Sohnes verschlechtern könnte.

Er erzählte weiter: „Uns war kalt, die Füße waren nass und wir sind in dieses Häuschen hinter der Schule gegangen. Wir wollten uns in der Anlage wärmen, weißt du, Mama, da ist die Zentralheizung unserer Schule, es ist schön warm, wir haben uns da öfter mal gewärmt, wenn uns kalt war. Wir haben Witze erzählt und gelacht. Ich musste dringend pinkeln, habe mich umgedreht und an die Geräte gepinkelt. Auf einmal begann mein Körper zu zittern. Mehr weiß ich nicht. Als ich wach wurde, lag ich ganz allein auf der Erde. Ich weiß nicht, wie ich da gelandet bin. Meine Freunde waren weg. Ich nahm meinen Ball unter den Arm und lief die Straße entlang bis vor das Haus von Armend, unserem Nachbarn. Er rief mir vom Fenster aus etwas zu, mehr weiß ich nicht. Als ich wieder wach wurde, lag ich schon im Krankenhaus.“

Eine Heizungsanlage? Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade hörte. Das war keine Heizungsanlage direkt hinter dem Schulhof, sondern eine Trafostation. „Erzähl mir bitte, wie du da reingekommen bist.“ „Durch die Tür, Mama“, sagte er und wunderte sich, warum ich das gefragt habe, so etwa, wieso sollte die Tür verschlossen sein. Ich konnte nicht klar denken, aber eines wusste ich genau, dass es, wie die Ärztin gesagt hatte, ein Wunder war, dass mein Sohn lebte.

Die Fahrt nach Belgrad dauerte fast fünf Stunden. Ich bat meinen Cousin Naim und meinen Bruder Shemi ein paarmal, langsamer zu fahren. Dions Blase drückte. Er versuchte zu urinieren, aber es ging nicht. Am Ende kamen ein paar Tröpfchen, später noch ein bisschen. Das war eine Erleichterung für ihn, für mich aber nur eine kleine Hoffnung. Unterwegs wurden wir an einer Straßensperre von Verkehrsmilizen angehalten. Als sie meinen Sohn mit dem Verband und der Infusionsflasche sahen, machten sie uns den Weg frei.

Das Krankenhaus mit der Abteilung für plastische Chirurgie bei Verbrennungen in Belgrad war von meinem Schwager und seinem besten Freund Nebojsa informiert worden. Wir wurden dort schon erwartet. Nebojsa empfing uns unten und Dion wurde nach oben gebracht. Sie untersuchten ihn noch einmal, die Verbände wurden gewechselt und eine neue Infusionsflasche angeschlossen. Dann wurde er mit dem Krankenwagen in die Kinderchirurgie transportiert. Wir fuhren hinterher.

Der dort tätige Professor Zamaklar war auf schwere Verbrennungen spezialisiert und zum Glück gerade im Dienst. Die Untersuchung dauerte sehr lange. Während ich wartete, trafen mein Mann und mein Doktor-Schwager ein. Wir warteten, unterhielten uns dabei aber nur mit den Augen. Jeder schaute immer wieder auf die Uhr, warf den anderen einen Blick zu und versank wieder in Gedanken.

Endlich kam Professor Zamaklar aus dem Untersuchungsraum. Er sagte, unser Sohn habe einen Schutzengel gehabt. Einen Hochspannungsstromschlag würden nur wenige Menschen überleben. Wenn Strom in den Körper hineinfließt, sucht er einen feuchten Weg, um einen Kreislauf zu bilden, also über Kopf, Lunge oder meistens das Herz. Wie es aussah, waren Dions Füße sehr nass gewesen, so dass der Strom durch das ganze Bein und die Zehen wieder aus ihm herausgeflossen sei. Das war seine Rettung. Mir fiel sofort Dions Zeh ein, den ich unterwegs gesehen hatte, als ich ihm die nassen Schuhe und Socken auszog. Dion müsse weiter überwacht werden. Die Verbrennungen seien hochgradig bis karbonisierend. Im linken Unterarm und an der Hand, im Bauchbereich und besonders im Genitalbereich sei es sehr kritisch. Er könne nicht urinieren, weswegen ein Katheter vom Bauch in die Blase eingesetzt werden müsse.

Unser Sohn kam auf die Intensivstation. Der Professor sagte uns deutlich, es sei sehr kritisch, sein Zustand könne sich schnell verändern. Aus Erfahrung wolle er uns keine falsche Hoffnung machen. Wir sollten Geduld haben und warten. Was den Genitalbereich betraf, wollte er erst die Meinung des Urologen Professor Perovic hören. Dieser sei viel unterwegs und würde am nächsten Tag aus Amerika zurückkommen.

Eines wollte der Professor dann noch wissen: Wie ein Kind in eine Trafostation gelangen und dort mit Hochspannungsstrom in Berührung kommen konnte. Das sollten doch abgeschlossene Sicherheitsbereiche sein! – Ja, das war tatsächlich die Frage. Wir lebten im Kosovo und „Sicherheit“ sei da ein Fremdwort, antwortete ich. Der Arzt wendete den Kopf nachdenklich hin und her. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich war gleichzeitig wütend und traurig. Wir sollten gehen, sagte der Arzt. Er würde sich melden, wenn Veränderungen aufträten.

Mein Mann und ich verbrachten diese Nacht in Belgrad bei Nebojsa. Am nächsten Tag waren wir noch mal im Krankenhaus. Keine Veränderung. Am späten Nachmittag fuhren wir nach Hause. Die ganze Stadt wusste schon, was mit meinem Jungen passiert war. Am Montag musste ich arbeiten. Die Kollegen und Kolleginnen hatten auch bereits davon gehört. Ich redete mit dem Chef, dem Präsidenten des Bezirksgerichts. Er sagte, falls ich wieder nach Belgrad müsste, bräuchte ich nur Bescheid zu sagen.

Am Abend rief mein Schwager an und teilte uns mit, unser Sohn sei notoperiert worden. Der Zeigefinger der linken Hand musste zur Hälfte amputiert werden. Das sei nicht so tragisch, sagte er, „dir und deinem Mann fehlt auch ein Stück Finger und ihr lebt“. So versuchte er mich zu beruhigen. Ich war sehr traurig, aber mit der Amputation eines halben Fingers konnte ich leben. Ich betete, dass keine weiteren schlechten Nachrichten kämen.

Nach zwei Tagen rief der Arzt an, wir müssten dringend nach Belgrad fahren. Dions Zustands habe sich verschlechtert, das Gewebe sterbe ab, er müsse operiert werden. Die lange Fahrt mit dem Auto – dazu waren mein Mann und ich nicht in der Lage. Um den Bus zu nehmen, müssten wir bis zum nächsten Tag warten. So stiegen wir noch am selben Abend in den Zug. Ich hatte einen Koffer für mich gepackt, weil ich damit rechnete, eine Weile in Belgrad bleiben zu müssen.

Am nächsten Tag kam mein Schwager nach Belgrad. Ich vertraute ihm als Mediziner sehr. Als der Arzt ihm und meinem Mann den geplanten OP-Verlauf erklärte, wurde meinem Mann schlecht. Er war dermaßen überfordert, dass er den Ärzten Geld anbot, damit sie Dion retteten. Der Professor verstand zum Glück die Sorge meines Mannes und nahm es nicht persönlich, er versicherte ihm, dass er und sein Ärzteteam alles tun würden, um Dion zu helfen. Meinem Schwager war das Verhalten meines Mannes gegenüber dem Arzt sehr unangenehm und er versuchte ihn davon zu überzeugen, dass der Professor die besten Spezialisten des Landes ins Team geholt habe, um Dion zu operieren. Er beschrieb mir den geplanten Verlauf der Operation, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Als ich es mir anhörte, wurde mir schlecht. In diesem Moment konnte an nichts anderes denken, außer dass mein Sohn am Leben bleiben sollte.

Am nächsten Morgen wollten wir ihm vor der OP alles Gute wünschen, doch mein Mann hatte keine Kraft mitzukommen. Er wollte lieber zuhause bei Nebojsa warten. Ich musste einfach stark sein oder besser gesagt die starke Mama spielen und das auch zeigen. Ich schaffte es, meinem Sohn viel Glück zu wünschen, ohne dass ich schwach wurde.

„Es wird alles gut, Mama“, sagte er, bevor er in den OP-Saal geschoben wurde, und gab mir einen Fern-Kuss. Es vergingen Stunden, ohne dass ein Arzt zu uns kam.

Erst nach vollen acht Stunden kam Professor Zamaklar aus dem OP-Saal. Seine erste Frage war, wo denn mein Mann sei und warum ich allein warte. Ich erklärte ihm, dass es ihm nicht gut gehe und Nebojsa mich begleite. Er fing sehr vorsichtig an zu berichten. Um den linken Unterarm und die Hand gründlich zu säubern, hätten die Beugemuskeln am Unterarm, der Nervus medianus, der Mittelarmnerv und der größte Teil der Muskeln entfernt werden müssen. Der Daumen sowie der Zeige- und der Mittelfinger seien ebenfalls komplett amputiert worden. Der Oberbauchbereich musste nur gesäubert und die verbrannte Haut entfernt und zusammengenäht werden. Dann kam er auf den nächsten Bereich zu sprechen – den Genitalbereich. Der Penis war komplett verbrannt, leider konnten sie ihn nicht retten, er musste amputiert werden. Das war der Moment, in dem mir der Atem stehen blieb, weil ich gehofft hatte, dieser Bereich könnte vielleicht gerettet werden. Professor Zamaklar reichte mir ein Glas Wasser. Mir liefen einfach die Tränen herunter. Am liebsten hätte ich vor Schmerz laut geschrien. Ich musste aber an meinen Sohn denken und riss mich zusammen.

Der Arzt sagte, dass mein Sohn gleich in die Intensivstation gebracht werde und ich ihn sehen könne. Ich wollte das nicht. „Ich möchte nicht, dass mein Sohn mich so sieht“, sagte ich leise. Der Professor sagte nichts, nahm mich nur ganz fest in den Arm und ging dann. Ich sah meinen Sohn im Krankenhausbett liegen, als die Krankenpfleger ihn in sein Zimmer brachten. Er sah sehr müde aus. Ich stand im Ärzteraum am Fenster, er konnte mich nicht sehen. Ich war tieftraurig und hörte mein Herz laut und schnell schlagen.

Auf dem Rückweg holte Nebojsa Beruhigungstabletten für mich. Ich nahm sofort eine. Ich war nicht in der Lage, meinem Mann alles zu erzählen. Das übernahm Nebojsa.

Abends ging ich noch einmal ins Krankenhaus, wo ich meinen Sohn kurz sehen konnte. Er lag auf dem Bett und war mit einem weißen Laken bedeckt. Sein linker Arm war komplett verbunden und an der Seite fixiert. Ich trug wegen des Infektionsschutzes einen grünen Kittel, OP-Haube, Mundschutz und Handschuhe. Dion war ansprechbar, sah aber sehr müde aus.

Am nächsten Tag ging ich ihn wieder besuchen. Er guckte mich traurig und sehr besorgt an, hob das Laken und sagte: „Schau, Mama, sag mir bitte, wie ich so leben kann.“

„Du lebst und das ist wichtig, die Wunden werden mit der Zeit heilen“, sagte ich. Ich sagte das, wusste aber selber nicht, ob das überhaupt möglich war.

Dion schaute mich traurig an, ihm liefen die Tränen herunter. „Ich bin kein kleines Kind mehr, Mama, sag bitte nicht, es wächst alles wieder nach.“

„Ja, das stimmt, es wächst nichts nach, aber die Ärzte werden alles versuchen, um dir ein normales Leben zu ermöglichen, außerdem, wenn sie behaupten, du könntest irgendwo in dieser endlos weiten Welt geheilt werden, da werde ich dich hinbringen, mein Kind, darauf kannst du dich verlassen.“

Er fragte leise, ob das eine Besa sei.

„Ja“, sagte ich, „das ist eine Besa.“

BESA ist ein Begriff, ein Ehrenkodex, der sich schwer ins Deutsche und auch in andere Sprachen übersetzen lässt, der in Albanisch für Ehre, Sicherheitsgarantie, Treue, Ehrenwort und vieles mehr steht.

Im 15. Jahrhundert wurde eine Gesetzsammlung namens Kanun, von Leke (Aleksander) Dukagjini, ein Zeitgenosse von Skanderbeg ( Gjergj Kastrioti), verfasst. Dieses regelte die Bereiche wie Schuldrecht, Ehe, Strafrecht, Kirchen und noch vieles mehr. Andere Gesetze gab es nicht. Kanun im Vergleich mit nachkommenden und modernen Gesetzen beinhaltete negative, aber auch positive Aspekte. Die positiven, wie Gastrecht und Besa hat das albanische Volk behalten und an die nächsten Generationen weitergegeben.

Im Namen der Besa fanden über 2000 Juden auf der Flucht vor Nationalsozialisten in Albanien Schutz. Die Albaner weigerten sich, Namenlisten der Juden an die Nazis auszuhändigen. Sie brachten die Familien bei sich unter und besorgten ihnen auch gefälschte Papiere. In Berlin wurde als Anerkennung eine Schule nach „Refik Veseli“ genannt. Er war einer von vielen Albanern, der mit seiner Familie während der Zeit der deutschen Besatzung Albaniens jüdische Familien bei sich versteckt hatte. Sie haben den Familien versprochen, ein Besa gegeben, sie mit ihren Leben zu beschützen.

Nun zu meinem Sohn.

Er guckte seinen Arm an und fragte, was dort gemacht worden sei. Ich fing mit dem Zeigefinger an, weil er schon wusste, was mit diesem geschehen war. „Dein Zeigefinger musste bis ganz unten amputiert werden.“

„Ja, Mama, das war auch abzusehen.“

„Dein Mittelfinger leider auch.“

„Okay“, sagte er, „dann fehlen mir zwei Finger, oder, Mama?“

„Ja, und der Daumen, der musste auch amputiert werden.“

Da war er erst einmal sprachlos und schloss die Augen, Tränen liefen über sein Gesicht.

Ich musste mich in diesem Moment zusammenreißen. Im ersten Moment wollte ich „Willkommen im Fingerlosen-Club“ sagen, um ihn ein kleines bisschen aufzumuntern, aber ich brachte es nicht über meine Lippen, weil es verdammt weh tat.

Nach ein paar Minuten Schweigen sagte Dion: „Ah, Mama, ich kann doch das Lenkrad im Auto mit meiner halben Hand halten und mit der rechten den Gang wechseln. Ich werde wieder Auto fahren können.“

„Ja, mein Kind, das wirst du.“

Ich weiß nicht, was geschah, aber statt dass ich ihm Mut gab, war es genau umgekehrt. Er gab mir Mut und ganz viel Kraft. Mir war klar, er will leben, er will es schaffen und meine Aufgabe ist, mein Versprechen zu halten und ihm zu helfen.

Am nächsten Tag kam mein Mann mit auf die Intensivstation. Die Stationsschwester benachrichtigte den Arzt, dass wir zu unserem Sohn wollten. Wir durften ihn nur durch eine Glasscheibe sehen und keinen direkten Kontakt haben, weil schon eine minimale Infektion lebensgefährlich für ihn sein konnte. Ich bekam eine Sondergenehmigung vom Arzt und konnte ihn besuchen, aber nur unter der Bedingung, ich solle täglich für ihn frisch kochen und selbstgepressten Obstsaft mitbringen. Die Hygienemaßnahmen gehörten ebenfalls täglich dazu.

Das hieß für mich, ich musste weiterhin in Belgrad bleiben. Mein Schwager und mein Mann versuchten, mir in der Nähe des Krankenhauses ein Zimmer mit Küche zu mieten. Nebojsa ließ das nicht zu, ich solle besser bei ihm im Haus wohnen. So blieb ich weitere drei Monate dort. In dieser Zeit besuchte ich meinen Sohn zweimal täglich und brachte ihm das Mittag- und Abendessen sowie selbstgepressten Fruchtsaft. Jedes Mal, wenn ich die Intensivstation betrat, musste ich mich von Kopf bis Fuß mit einem Schutzanzug, Mundschutz und Handschuhen bedecken. Das Essen servierte ich ihm auf seinem Betttisch, dann entfernte ich mich und hielt Abstand. Berühren durfte ich ihn nicht. Ich hielt mich streng an diese Regeln. Auch wenn es mir schwerfiel, riss ich mich zusammen und spielte vor meinem Sohn die starke Mutter.

Bei Nebojsa zu Hause konnte ich auch nicht so richtig nachdenken oder trauern. Ich hatte das Bedürfnis zu weinen, konnte es aber nicht. Diese ständige Unterdrückung verursachte mir überall Schmerzen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Bauch gleich platzte. Im großen Park des Krankenhauses saß ich nach dem Besuch meines Sohnes immer auf einer Bank und weinte, bis ich mich ganz leer fühlte. Das war meine tägliche Therapie. Ich weiß nicht, wie ich das alles sonst geschafft hätte. Einerseits war da der Zustand meines Sohns und die schweren Folgen für ihn, dann auch noch meine Mädels, die ich zuhause, weit weg, allein bei der Oma gelassen hatte und sehr vermisste.

Die Belastung nahm zu und ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen. Die Tabletten, die mir Nebojsa besorgte, nahm ich nicht mehr, ich versuchte, es irgendwie anders zu schaffen, was nicht so leicht war. Schafe zählen hieß es, aber kurz vor dem Einschlafen sah ich meinen Sohn mitten unter den Schafen, die über ihn hinwegrannten, er kämpfte um sein Leben und ich rannte um mein Leben, um ihn zu retten, aber ich erreichte ihn nicht, ich hing fest und kam keinen Schritt weiter. Dann wurde ich wach, schweißgebadet und mit Herzrasen. Vor lauter Angst, dass ich wieder in einem Traum landete, traute ich mich nicht, die Augen zu schließen und weiterzuschlafen. Ich versuchte mir einen Fluss, der langsam dahinfließt, vorzustellen – da sah ich kurz vor dem Einschlafen wieder meinen Sohn, er war am Ertrinken und ich konnte ihn nicht retten. Wieder war ich wach und hatte mit dem Einschlafen zu kämpfen. Ich sollte Schlaftabletten nehmen, hatte aber Angst davor, im Schlaf wieder Herzrasen zu bekommen, aber wegen der Tabletten nicht wachzuwerden und zu sterben. Wer sollte sich dann um meinen Sohn kümmern oder um meine Mädels? So ging das weiter und weiter und ich konnte mit niemandem darüber reden. Hilfe zu suchen hatte ich keine Zeit und ehrlich gesagt, ich wusste nicht, wo ich sie hätte finden können. Mein Schwager, der Facharzt für Neuropsychiatrie, meinte, wenn es Dion bessergehe, werde es mir auch bessergehen. Ich solle spazieren gehen, lesen, möglichst nicht viel nachdenken und abends Schlaftabletten einnehmen. Ich wollte das alles versuchen, aber ich war fest überzeugt, dass ich die Tabletten nicht nehmen würde.

Nebojsa merkte, dass es mir nicht gut ging, obwohl ich versuchte, es nicht zu zeigen. Er wollte mir mit ein paar Videoaufnahmen von Operationen auf der der ganzen Welt, die er aus dem Fernsehen aufgenommen hatte, Mut und Hoffnung geben. Er erzählte, dass die Medizin sich in allen Bereichen gut entwickelt habe und ihm bald geholfen werden könne, ein normales oder fast normales Leben zu führen. Ehrlich gesagt, ich wollte es glauben, aber ich konnte es nicht. Die Videokassette zeigte OPs jeder Art, aber keine behandelte das Problem meines Sohns. Ich war ihm aber sehr dankbar, dass er versuchte mich aufzumuntern und mir Hoffnung zu geben. Er war für mich eine große seelische Unterstützung. Ich werde es nie vergessen.

An einem Abend bekam Nebojsa Besuch von zwei Bekannten. Ich wollte mich zurückziehen und in mein Zimmer gehen, weil ich nicht stören wollte, aber seine Frau bat mich zu bleiben. Nebojsa brachte einen selbstgebrannten Schnaps namens Slivovica auf dem Tisch. Er hatte schon zwar längst aus gesundheitlichen Gründen aufgehört zu trinken, aber er schenkte uns gerne etwas ein. Ich kannte diesen Schnaps und mochte den Geruch von Slivovica nicht, aber aus Höflichkeit ließ ich mir ein Gläschen geben. Ich gab mir Mühe, den Inhalt herunterzuschlucken. Ich ekelte mich, ließ mir aber aus Trotz noch einmal nachschenken, runter damit, dachte ich und schluck-schluck ging es dann auch. Als ich das dritte Glas zu mir nahm, merkte ich den Geruch nicht mehr, also nahm ich noch eins. Wir unterhielten uns, Nebojsa erzählte Witze und wir lachten. Das machte der Schnaps, hallo, ich konnte lachen. Ich hatte ganz vergessen, wie man lacht, dabei hatte ich das früher immer sehr gern getan. Das Schöne an der Situation war, dass ich nur noch positive Gedanken hatte. Ich stellte mir mit einem Mal alle Probleme so einfach vor, die Sorgen waren wenigstens für diesen Abend weg. Ich ging bald ins Bett und schlief wie ein Lamm, was ich ebenfalls seit langem nicht mehr gekonnt hatte. Ich wurde morgens von Nebojsas Mutter geweckt, die zu Besuch da war. Sie brachte mir das Telefon ins Zimmer. Es war ein Anruf für mich von meinen Kolleginnen auf der Arbeit, sie meldeten sich mindestens zweimal in der Woche, um zu fragen, wie es Dion und mir gehe. Ich konnte nur kurz mit „Ja“ und „Nein“ antworten, weil mir übel war. Sie fragten noch mal, ob alles in Ordnung sei, doch ich konnte nicht länger sprechen, ich legte auf, weil ich schnell ins Bad musste. Ich brach mir die Seele heraus und hatte das Gefühl, mein Kopf platzte gleich. So schlimm war es mir noch nie gegangen. Schnell duschte ich und putzte mir die Zähne, sogar mehrmals, weil ich diesen Geruch nicht ertragen konnte. Ich nahm ein in Wasser aufgelöstes Aspirin zu mir, danach einen starken Kaffee.

Ich musste einkaufen gehen und für meinen Sohn kochen, so machte ich erst mal einen langen Spaziergang an der frischen Luft, kaufte dann ein und trank unterwegs noch einen Kaffee. So überstand ich den Tag. Seitdem ist Slivovica aus meinem Menü für immer gestrichen.

Dion wurde noch mehrmals operiert. Bei jeder Operation wurde ihm weiteres Gewebe entfernt, auch ein Stück von seinem Unterarm. Das Schlimmste für mich war die Angst, die ich hatte, wenn ich die Station betrat und ganz langsam zu seinem Zimmer ging. Als ich dann vom Flur aus seinen Fuß und den Verband an seinem großen Zeh sah, freute ich mich, weil ich wusste: Er war da, er lebte. Ich war froh, wenn mich im Flur eine Schwester begrüßte und etwas sagte wie: „Haben Sie wieder etwas Leckeres für ihren Sohn mitgebracht?“, oder: „Was haben Sie heute Schönes für ihren Sohn gekocht?“ Das war immer ein gutes Zeichen, dass er lebte. Diese Angst belastete mich täglich, denn ich wusste ja nie, ob sie im Krankenhaus nicht zwischenzeitlich versucht hatten, bei Nebojsa anzurufen. Es gab damals noch keine Handys.

Es war ein Donnerstag, ich hatte für meinen Sohn Pferdefleisch, ein paar Kartoffeln und Gurkensalat vorbereitet. Das Pferdefleisch sollte seine Muskeln stärken. Ich kam im Krankenhaus an, es waren nur zehn Minuten von Nebojsas Wohnung entfern. Das Essen war noch warm. Professor Zamaklar wollte mich sprechen. Mein Atem stockte. Mein Sohn hatte in der Nacht hohes Fieber bekommen, ein Anzeichen für eine Blutvergiftung. Sie gaben ihm sofort intervenös eine Flasche Antibiotikum. Das Problem war, dass sie im Krankenhaus keine Antibiotika mehr hatten. Ich sollte versuchen, selbst etwas in der Apotheke zu bekommen. Nebojsa gelang es, schnell eine Flasche zu besorgen, und auch ich konnte noch zwei in einer Apotheke kaufen. Aber es wurden noch 26 weitere gebraucht, die wir aber nirgendwo auftreiben konnten.

Mein Mann kam so schnell es ging nach Belgrad. Wir fuhren zusammen durch die ganze Stadt zu allen Apotheken, doch vergebens. Der Arzt gab uns die Adresse einer Apotheke außerhalb von Belgrad, zum Glück konnten wir dort Antibiotikum kaufen. Eine Flasche kostete 130 Deutsche Mark. Als wir sie endlich bekommen hatten, kam es mir so vor, als ob man sie uns geschenkt hätte. Was, wenn wir das Geld nicht gehabt hätten? Ich konnte mir vorstellen, wie es war, wenn Menschen dringend Medikamente brauchten, aber kein Geld hatten. Allein der Gedanke daran machte mich fertig und mir wurde schlecht.

Auch diesmal war wieder alles gutgegangen. Unserem Sohn ging es besser, aber leider nur für kurze Zeit, er musste wieder operiert werden. Die nächste OP dauerte gut zweieinhalb Stunden. Ich wartete draußen im Flur. Auf einmal hörte ich jemanden weinen. Es war ein fünfjähriger Junge aus dem Kosovo, ich kannte ihn bereits, er hieß Daut. Er lag im selben Raum wie Dion, aber hinter einer Trennwand. Er hatte schwere Verbrennungen an seinen Beinen. Bei ihm war die Ferse amputiert worden, den Rest konnten die Ärzte retten. Mein Sohn übersetzte für ihn, wenn er dazu in der Lage war, weil Daut kein Serbisch konnte. Er weinte und rief nach meinem Sohn. Ich ging langsam zur Tür, doch durfte ich nicht hineingehen. Er sah mich und fragte: „Warum kommt er nicht, ist er tot?“

Diese Frage machte mich fertig. Ich antwortete ihm nur kurz: „Er kommt gleich.“ Was, wenn er es dieses Mal nicht schafft, dachte ich, wollte es aber nicht wahrnehmen. „Hör auf, so zu denken“, sagte ich laut zu mir selbst und lief den Flur entlang bis vor die Tür des OP-Saals. Dann war die Operation beendet, Dion hatte alles gut überstanden. Dieses Mal hatte das Gewebe des Unterarms bis zum Knochen entfernt werden müssen.

Während der Operation waren die Ärzte im Team uneinig gewesen, wie uns der Arzt hinterher berichtete. Einige waren der Meinung, der Arm müsse bis zum Ellbogen amputiert werden, um Komplikationen zu vermeiden, die lebensgefährlich sein könnten. Professor Zamaklar wollte den Arm jedoch retten. „Lieber eine halbe Hand als gar keine“, sagte er. Andererseits war es aber auch sehr riskant. Er entschied, erst einmal zu beobachten, wie sich die Situation weiterentwickelte. Wenn es nicht mehr ginge, müsste er den Arm amputieren, um das Leben unseres Sohns zu retten. Gott sei Dank verlief alles gut und sein Unterarm wurde gerettet.

Nach fast zwei Monaten wurde Dion von der Intensivstation in die stationäre Abteilung verlegt. In dem großen Raum lagen noch vier andere Kinder. Sie konnten sich unterhalten und auch mal lachen. Ein Junge war von einem Bus überfahren worden und ein Bein musste fast bis zum Knie amputiert werden. Bei ihm bestand auch die Gefahr, das ganze Bein zu verlieren.

Dann lag da noch der kleine Daut, der meinen Sohn gebeten hatte, ihm Serbisch beizubringen. Ja, das hatte er. Doch was Dion ihm beigebracht hatte, waren nur Blödsinn und schlechte Ausdrücke! Für die anderen war das lustig, für mich nicht. Ich habe mich geärgert, aber andererseits war es ein Zeichen, dass es meinem Sohn besser ging. Das war nämlich nicht zu übersehen. Dion, Ivan – der Junge, der von einem Bus überfahren wurde – und noch zwei andere Jungs waren durch alle Zimmer gegangen, hatten die Getränke von den anderen aus den Kühlschränken genommen und sie vom dritten Obergeschoss aus dem Fenster geschmissen. Sie hatten Spaß gehabt, dabei zuzuschauen, wie die Packungen auf dem Beton zerplatzten. Das berichtete mir am nächsten Tag die Stationsschwester, als ich Dion das Mittagessen brachte. Ich hatte eine schöne Hühnersuppe mit Gemüse und Fadennudeln gekocht, dazu ein Kalbsschnitzel mit Reis und Gemüse sowie als Nachtisch einen Schokopudding. Nichts davon durfte Dion am diesem Tag essen. Ich war angesichts dessen, was sie getan hatten, enttäuscht und sauer. Ich ging mit Dion zu den Frauen und sagte ihm, dass er sich entschuldigen müsse. Das tat er, natürlich weil ich darauf bestand. Dabei lernte ich eine Frau kennen, die aus dem Kosovo kam und Albanisch sprach. Ich traute mich nicht, die anderen Frauen zu fragen, ob sie das Essen annehmen wollten, weil ich es selbst gekocht hatte und nicht wusste, wie sie reagieren würden, aber diese Frau aus dem Kosovo fragte ich. Ich erzählte ihr, ich hätte zu viel gekocht. Sie nahm es gerne an und ich fand es schön, ihr eine Freude gemacht zu haben. Dions Gesicht hätte man in diesem Augenblick sehen sollen. Er war sauer, aber mir war das egal. Er sollte an diesem Tag das Essen des Krankenhauses essen. Er wollte wenigstens den Pudding haben, aber auch den bekam er nicht, das sollte ihm eine Lehre sein. Nachdem ich die Frauen gefragt hatte, was sie für Getränke bräuchten, ging ich in die Stadt einkaufen. Die Mütter lagen im Krankenhaus zusammen mit ihren Babys, die wegen ihrer Gaumenspalte operiert werden mussten, und hatten keine Möglichkeit, einkaufen zu gehen. So besorgte ich für alle Getränke, Obst und Süßigkeiten. Sie freuten sich darüber, aber nach dem, was mein Sohn und die anderen Kinder angerichtet hatten, war dies das Mindeste, was ich tun konnte und musste. Mir war es sehr unangenehm, obwohl Dion es nicht allein getan hatte, aber ich konnte mir vorstellen und glaubte daran, dass diese Aktion auf seinem Mist gewachsen war. Ich kannte mein Kind.

Auf der Station lag auch Dunja, ein kleines Mädchen von vier Jahren, es war von einem Rottweiler angegriffen und schwer verletzt worden. Ihr Gesicht, ein Ohr und die halbe Kopfhaut waren zerfetzt. Es war einfach unglaublich, wie es die Ärzte geschafft hatten, das ganze Gesicht, das herabhängende Ohr und die Haut auf dem Kopf mit so wenigen Narben wieder zusammenzunähen. Die Eltern besuchten sie täglich. Mit der Mutter freundete ich mich an und mein Sohn hat heute immer noch Kontakt mit Dunja.

Die Kinderstation war fast vollständig belegt mit Kindern, die leider sehr lange dortbleiben mussten. Mein Schwager, der Arzt und Bruder meines Mannes, leitete ein Projekt und konnte für die Kinder Stofftiere organisieren. Er kam mit vollgeladenen Paketen in die Station und jedes Kind durfte sich ein Kuscheltier aussuchen. Die Kinder freuten sich sehr darüber. Auch ich fand die Idee meines Schwagers super.

Als der Arzt den Verband an dem operierten Arm meines Sohnes wechselte, wurde ich dazugerufen. Ich fiel fast um, als ich die Innenseite des Unterarms sah. So platt und dünn war sie. Ich konnte den Knochen unter der Haut sehen, die von einem seiner Oberschenkel transplantiert worden war. Bei der nächsten Operation wurde mit einer anderen Methode versucht, den Muskel durch einen Tubus zu ersetzen. Dazu wurde das seitliche Gewebe am Bauch mit der inneren Seite des Unterarmes verbunden. Dions Arm war am Körper fixiert und sollte mit sterilem Wasser feucht gehalten werden. Leider ohne Erfolg. Es trat eine Infektion auf, mein Sohn bekam hohes Fieber und der Arm musste wieder von dem Gewebe getrennt werden. So bekam er noch eine zusätzliche Narbe im linken Bauchbereich. Nachdem die Wunde etwas abgeheilt war, zeigte mir der Arzt, wie er den Arm bis zum Ellbogen in einer Schüssel mit Hypermangan badete, das ist Kaliumsalz mit Permangansäure. Das sollte Infektionen vermeiden. Er zeigte mir auch ein paar Übungen gegen die Rotation des Arms. Denn der ganze Arm war bis in die Schulter nach links gedreht, so dass mein Sohn seine Schulter und den Rücken nicht strecken konnte. Nach der Entlassung sollte ich das zuhause zusätzlich zur physiotherapeutischen Behandlung weiter durchführen.

Nach drei Monaten durften wir nach Hause. In dieser Zeit hatte ich nur einmal für ein Wochenende meine Mädels besuchen können, während mein Mann mich in Belgrad vertrat. Ich wurde von dem Arzt noch weitere drei Monate krankgeschrieben wegen der Pflege und Unterstützung der Psyche meines Sohnes. In dieser Zeit waren wir in Urlaub, in einem Kurhaus in Igalo in Montenegro.

Zurück aus der Kur, zurück in den Alltag. Einen Alltag, an den ich mich gewöhnen musste. Morgens zur Arbeit fahren, in der Pause von 9 Uhr bis 9:30 Uhr Dion zur Physiotherapie bringen, Elektrotherapie sollte die Muskeln stimulieren, danach ein paar Übungen. Die Übungen in der Physiotherapie waren gut, aber leider zu kurz. So übten wir täglich nach der Arbeit zu Hause weiter.

Nachdem ich seinen Arm angewärmt hatte, massierte ich seinen Rücken bis zur Schulter und den zwei Fingern. Ich drehte seinen Arm so, wie mir der Arzt es beigebracht hatte, bis zur Schmerzgrenze nach rechts. Da Dion Schmerzen gewohnt war, musste ich dabei immer seine Mimik beobachten. Das machten wir täglich. Als wir eines Tages wie gewohnt die Therapie durchführten, hörte ich es auf einmal beim Drehen seines Ellbogens knacken. Mein Atem blieb stehen, ich dachte, ich hätte etwas falsch gemacht. Sein Unterarm war so dünn, ich hatte jedes Mal das Gefühl, eine falsche Drehung zu machen und seinen Arm zu brechen.

„Tut das weh?“, fragte ich ängstlich.

„Nein, Mama, es tut nicht weh.“

Er drehte seinen Arm nach links und nach rechts, ebenso seine Schulter. Ich konnte in diesem Moment nicht glauben, was ich da erlebte. Ein Freudenschrei war von Dion zu hören und er rannte im Zimmer hin und her. Dann rief er seinen Vater an. Er erzählte und schrie vor Freude: „Mein Arm und meine Schulter sind wieder gerade, ich kann meinen Arm wieder richtig strecken.“

Die Mühe hatte sich gelohnt, wenigstens hatten wir – eine – Freude gespürt.

Durch die Verbrennung und die zusätzlichen OPs wegen des Tubus für den Unterarm wuchsen im Unterbauchbereich sämtliche Narben in Form von Keloiden. Für die mussten wir, nach Empfehlung des Arztes, Auflagen aus Silikon und Massagegel aus der Schweiz bestellen. Dies besorgte uns die Schwester meines Mannes. Ich musste die Narben jeden Abend mit dem Gel massieren, um sie weich zu kriegen und danach mit dem Daumen auszubügeln. Nach der Massage wischte ich das Gel mit einem sauberen Tuch ab und legte die Silikonauflagen darauf. Sie sollten helfen, die Narben zu glätten. Die Massage war zum Glück schmerzfrei für meinen Sohn. Mit viel Geduld und regelmäßiger Behandlung bekamen wir die Narben nach einem Jahr glatt.

Zu den täglichen Aufgaben gehörte auch eine Therapie mit speziellen Dehnungsstiften aus Titan, die Professor Perovic aus der Schweiz mitgebracht hatte. Ich musste einen Titanstift mit Hilfe eines Schmerzgels in ein Loch stecken, wo einmal der Penis gewesen war. Das musste drei Mal am Tag gemacht werden. Mein Sohn weinte vor Schmerzen und ich musste mit meinen Tränen kämpfen, weil ich es nicht ertragen konnte, wie er litt. Meine Schwiegermutter versuchte mehrmals, mich von der Therapie abzubringen, und sagte: „Du siehst doch, dass er Schmerzen hat, lass das sein, du bist kein Arzt.“ Ja, ich war und bin kein Arzt, ich war und bin nur eine Mutter, die das einfach machen musste. Ich habe versucht, meiner Schwiegermutter zu erklären, dass die Therapie notwendig war, aber ich verstand auch, dass sie unseren Sohn so sehr liebte, dass sie ihn nicht leiden sehen konnte. Für sie war er ihr Ein und Alles. Die Therapie machten wir zwar in einem separaten Zimmer, aber Dions Oma hielt es nicht aus, sie musste nach oben kommen und nachfragen.

Dion musste noch einmal operiert werden wegen Problemen beim Wasserlassen. Wir mussten mit dem Bus fahren, denn die Fahrt mit dem Auto wäre wegen der Kontrollpunkte von Milizen und Militär nicht sicher gewesen. Die politische Situation wurde immer komplizierter. Das Kosovo stand kurz vor dem Krieg und keiner war mehr sicher, sich frei zu bewegen. Mein Sohn und ich fuhren frühmorgens mit dem Bus los. Mein Mann war nicht dabei, weil das zu riskant gewesen wäre, denn Männer wurden eher kontrolliert und auch öfter mitgenommen, inhaftiert und gefoltert. Beim ersten Kontrollpunkt musste ich meinen Ausweis zeigen. Ich zeigte die Krankenhauspapiere und sagte, dass ich meinen Sohn zur Kontrolluntersuchung nach Belgrad bringen würde. Dion lag auf zwei Sitzen ausgestreckt im Bus.

„Der kleine Terrorist ist ihr Sohn?“

„Ja“, sagte ich. „Das ist mein Sohn, er ist ein Kind und kein Terrorist.“

Einer lachte laut, der andere gab mir meinen Ausweis zurück und sie gingen zum nächsten Fahrgast. Zwei Männer mussten aus dem Bus steigen. Ich sah vom Fenster aus, dass ein Polizist den beiden ins Gesicht schlug. Nach etwa fünfzehn Minuten durften sie wieder einsteigen und der Bus fuhr weiter.

Unterwegs erzählte Dion, dass er in der Schule von ein paar Kindern gefragt worden sei, ob er durch ein Kunststoffteil uriniere. Einer fragte sogar, ob er jetzt einen Pimmel aus Plastik habe.

„Und was hast du geantwortet?“, fragte ich und war dabei innerlich geschockt.

„Nichts, ich habe ihm eine reingehauen.“

„Das solltest du nicht machen, warum hast du mir nichts davon erzählt?“

„Ich erzähle es dir jetzt“, sagte er.

Ich hatte das Gefühl, er wollte gar nicht darüber reden, sondern dass er mir sagen wollte: „Ich erzähle dir das jetzt, na und, was willst du dagegen tun?“ Ich versuchte ihm zu erklären, dass viele Menschen nicht wissen, was plastische Chirurgie bedeutet. Sie denken, Organe werden dabei durch Kunststoff und Plastik ersetzt.

„Ja, Mama, interessiert mich das?“, sagte er darauf und drehte sich auf die andere Seite, er wollte schlafen.

Das war das, wovor ich die ganze Zeit Angst gehabt hatte, der Anfang vom Ende. Mein Kind würde aggressiv werden und mit der Zeit würden Depressionen eintreten. Was dann? In diesem Moment wusste ich nicht, was als Nächstes kommen würde. Ich war traurig und gleichzeitlich wütend. Wer kam auf die Idee, eine Trafostation mit Hochspannungsstrom direkt neben einen Schulhof ungesichert und zugänglich für die Kinder zu bauen, wenn nicht die Stadt, das Regime, die mit allen Mitteln versuchte, unsere Kinder und Jugend zu zerstören? Und ich konnte nichts dagegen tun, außer mit Gott streiten und fragen, was ich ihm denn getan habe, dass er mich so hart bestraft. Ich glaube, ich war nahe daran, verrückt zu werden, aber genau das durfte nicht passieren – nicht jetzt bitte, dachte ich und sagte zu mir selbst: Ich muss einen Ausweg finden, um meinem Kind zu helfen, ich wusste aber nicht wie. In Belgrad erzählte ich dem Arzt, wie unsere Fahrt verlaufen war, und berichtete über Dions Erlebnis in der Schule, ich sagte, dass es wohl nicht das letzte dieser Art sein würde. Der Professor bat Dion, ein paar Freunde, die er kannte, in der Station zu besuchen, sie würden sich freuen, ihn wiederzusehen. Dion fragte neugierig, ob der und der wieder da sei. „Ja, leider“, antwortete der Arzt, „sie mussten wiederkommen und operiert werden.“