Die Burmeister Frakturen - Bernd Schneid - E-Book

Die Burmeister Frakturen E-Book

Bernd Schneid

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Beschreibung

Mara Niemitz kehrt nach langer Zeit wieder in die Stadt zurück, in der sie einst gefangen gehalten wurde. Bei ihrer Arbeit als Exterminatorin soll sie den Syllabus - ein undurchsichtiges Verwaltungssystem - auf frühere Verschleierungen hin überprüfen. Nach langem Zögern überwindet Mara sich zur "Kommandantin" zu gehen. Doch die Begegnung mit ihrer einstigen Unterdrückerin bleibt nicht folgenlos. In den unterhalb der Stadt angeschlossenen Baracken findet Mara allerdings Beistand und schließt sich einer Widerstandsbewegung an. "Die Burmeister Frakturen" sind die Brüche und Wunden in der Fiktion, die Erzählung einer Protagonistin als "Beschreibung eines Märchens, das gar nicht existierte, jenseits der Mauern, die für sie die Realität waren."

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www.tredition.de

Bernd Schneid, geboren 1978, studierte Neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft und Amerikanische Literaturgeschichte in München. 2012 promovierte er dort. Verschiedene Veröffentlichungen.

Publikationen: Die 3 Söhne. Roman (Hamburg 2014). Die Sopranos, Lost und die Rückkehr des Epos. Erzähltheoretische Konzepte zu Epizität und Psychobiograpie (Würzburg 2012). Shakespeares Schriftraum. Zur textuellen Inszenierungsstrategie des Dramas ‚Julius Caesar‘. (Hamburg 2010).

Bernd Schneid

Die Burmeister

Frakturen

Roman

www.tredition.de

© 2015 Bernd Schneid

Umschlag, Illustration:

„Gallery of national history, Brooklyn Institute of Arts and Sciences [Brooklyn Museum]“

Library of Congress, Prints & Photographs Division, Detroit Publishing Company Collection, [reproduction number, LC-DIG-det-4a23760]

S. 5, Zitat:

Jacques Derrida. Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. S. 16.

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Hardcover:

ISBN 978-3-7323-4527-4

Paperback:

ISBN 978-3-7323-6700-9

e-Book:

ISBN 978-3-7323-4528-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

„Die Richtung ändern: das kann bedeuten, daß man das Ziel ändert und für ein anderes Kap sich entscheidet oder daß man den Kapitän auswechselt, daß man einen anderen Kapitän wählt und – weshalb eigentlich nicht – einen Kapitän anderen Alters und anderen Geschlechts;“

Jacques Derrida

Die Waggons rollten schwer über das eiserne Schienensystem, unterhalb der jahrhundertealte Steinbruch, zersetzt von tausenderlei Gängen und Tunneln. Die Oberleitungen umspannten das ganze Land wie ein Fischernetz. Der Himmel war fahl, die Luftfeuchtigkeit hoch, doch es regnete nicht. Keine Wolke war am Himmel zu sehen. Nur eine trübe Glocke aus Düsternis. Kein direkt schöner Augusttag des Jahres 2012 also.

Mara Niemitz saß im Abteil und beobachtete die Landschaft. Sie war ebenfalls grau, nahezu schwarz und schien sich selbst zu absorbieren. Die Wälder waren ausgedünnt, Straßen verschlissen und aufgerissen, einzelne Häuser standen wie Ruinen auf den brachliegenden Feldern. Maras Augen wanderten unstet umher, als würde sie die Landschaft lesen wie ein Buch. Ihre Pupillen waren klein, ihre Augenbrauen nah zusammengekniffen, ihr Gesicht gezeichnet von einer Trauer, die gleichzeitig eine Versteinerung zu beinhalten schien. Das Rollen des Zuges auf den Gleisen war laut und monoton, es wiederholte sich wieder und wieder, als würde es nie enden, wäre eine unendliche Bewegung.

Neben Mara stand eine Aktentasche in der sich ihre Unterlagen befanden. Mara ließ die Verschlüsse aufklappen, legte den Koffer auf ihre Knie und öffnete. Fein säuberlich lagen zwei Stapel Papier darin. Mara nahm ihre Finger, blätterte ein wenig auf dem rechten Stapel, zog ein Journal heraus und legte es neben sich. Sie schloss den Koffer und begann zu lesen. Nach einer kurzen Weile legte sie das Journal auf den Koffer, lehnte sich zurück und atmete tief aus. Sie stand auf, sah im Abteil umher, lief ein wenig herum und spähte durch die gläsernen Zwischentüren in das hintanliegende Abteil. Niemand schien da zu sein.

Auch der Zug war durchzogen von einer Dunkelheit, welche die Luft zu verschlingen drohte und fast gespenstisch war. Mara streckte sich und setzte sich wieder. Aus ihrer Jacke zog sie einen Streifen Kaugummi heraus und steckte ihn sich in den Mund. Die Lautsprecher begannen zu knarzen, ein schrilles Pfeifen und Dröhnen ging durch das Abteil. Mara konzentrierte sich. Doch es kam nichts weiter. Keine verständliche Stimme drang zu ihr. Es war nur das metallische Flackern und das Eigengeräusch des Zuges, der weiter über die Gleise fuhr.

Wieder sah Mara nach draußen, während der Lautsprecher nach einiger Zeit verstummte. Die Landschaft blieb sich gleich. Es dämmerte, auch wenn keine Sonne zu sehen war. Mehr und mehr wurden Gebäude sichtbar, die schon gar nicht mehr ganz da waren, ausgestorbene Hallen, Ruinen mit Fuhrparks, Stahlkonstruktionen und Trümmern. Mara strich sich über ihr Philtrum. Es war weich und mit einem leichten Flaum überzogen, der kaum sichtbar, sondern vor allem spürbar war. Plötzlich ging die Abteiltür auf und ein Schaffner erschien.

„Nächster Halt,“ sagte er laut.

Mara nickte und hatte ihren Finger schnell weggezogen, als fühlte sie sich ertappt. Der Schaffner aber nickte ebenfalls nur kurz und verschwand wieder weiter in die dunklen Gänge.

Der Waggon bremste langsam ab, das Zeichen des Zuges wurde hörbar und Mara packte ihren Koffer wieder fein säuberlich zusammen, zog ihren Mantel an und machte sich bereit. Sie ging durch die gläserne Abteiltür und wartete vor dem Ausgang. Unter ihr rauschte Gestrüpp vorbei, die Dämmerung tauchte alles in ein seltsames Zwielicht. Die Bahnhofsschilder der Stadt wurden sichtbar, dann die Bahnsteige und schließlich hielt der Zug an.

Mara betätigte den Kipphebel, der schwer nach unten ging und die Tür schließlich mit einem Ruck nach vorne klappen ließ. Sie stieg aus. Auf dem Bahnsteig stehend sah sie gen Himmel, den Griff der Aktentasche fest in ihrer rechten Hand. Der Mantel lastete schwer auf ihren Schultern. Hinter ihr fuhr der Zug ohne eine lange Pause weiter. Bald stand Mara allein am Bahnhof. Kein Mensch zu sehen. Kein Lebender ging vorbei.

Die quadratisch gemusterten und sich in einem unendlichen Fluchtpunkt verlierenden Häuserblöcke rahmten das kleine und alte Bahnhofshäuschen wie eine übermächtige Drohung der Architektur ein. Mara ging los. Die Straßen waren leer, es waren kaum Läden zu sehen. Ein paar herabgerissene Plakate, deren einstigen Inhalt man nicht mehr erkennen konnte, hingen lose und zerfetzt an den Wänden. Auch hier war der Asphalt aufgebrochen. Große Gruben klafften aus den Gehsteigen, die man kaum noch so nennen konnte. Mara bog schnell links ab, in eine kleinere Seitenstraße. Sie lehnte sich an die Wand und ließ den Kopf nach unten sinken. Die Mauer hinter ihr schien sie zu absorbieren, aufzufressen. Der Wind blies leise durch die Betonkanäle, die wie ein Schachspiel angelegt waren, zweckmäßig und funktionabel.

Einige Minuten stand Mara da und verharrte fast leblos. Müde raffte sie sich wieder auf und ging weiter die kleine Seitenstraße entlang. Bald bog sie rechts in eine noch schmalere Gasse hoch und lief eine Weile schnell weiter. Nach mehreren Minuten blieb sie wieder stehen, stützte sich an einer Häuserwand ab und versuchte erneut zu Atem zu kommen. Den Kaugummi spuckte sie aus.

Aus einer Seitengasse kam eine Gruppe alter Frauen. Sie liefen schwer gebeugt und hatten grobfasrige Jutetaschen in den Händen, die fast auf dem Boden schleiften. Sie hatten Kopftücher umgebunden. Ihre Gesichter konnte man kaum sehen. Leise sangen sie etwas vor sich her, das wie ein Chor klang, eine Melodie aus einem alten Volkslied, das Mara kannte, doch das ihr nicht einfallen wollte. Sie wusste es nicht mehr.

Mara schaute angestrengt zu der Frauengruppe. Sie kniff die Augen scharf zusammen und versuchte etwas zu erkennen. Doch von den Frauen ging keine Gefahr aus. Sie gingen langsam und schwer beladen weiter ihres Weges. Sie nahmen die Frau mit der Aktentasche gar nicht wahr. Unaufhörlich sangen sie ihren Wechselgesang. Ginster. Moor. Mara folgte ihnen vorsichtig. Sie versuchte leise aufzutreten, doch die zerbrochene Gasse hallte mit ihren Kieseln und Teerverstrickungen freudlos in die Häuserschluchten.

Nun schien die Frauengruppe schneller zu werden. Auch Mara begann etwas schneller zu gehen, wollte fast laufen, doch ihr Schnürsenkel löste sich, vielmehr war er schon eine Weile gelöst und ihr anderer Fuß trat auf den losen Schnürsenkel, was dazu führte, dass Mara der Länge nach zu Boden fiel. Die Frauengruppe, als ob ihnen die Batterien ausgegangen wären, blieb starr stehen. Dann drehten sie sich fast gleichzeitig um. Erschreckte und ausgezehrte Gesichter blickten Mara an, die verwirrt nach oben sah. Die Frauen wandten sich aber schnell wieder ab und gingen rechts weiter. Ihr Gesang war verstummt.

Mara stand auf, klopfte sich den Dreck vom Mantel, nahm ihren Aktenkoffer, der zum Glück nicht aufgegangen war und folgte den Frauen wieder. Sie waren nun auf der großen Straße, von der Mara zuvor abgegangen war, wo mittlerweile ein paar Läden und Passanten zu sehen waren. Die Frauen fühlten sich hier in Sicherheit. Das konnte man merken. Mara war überrascht und ging ihren Weg ebenfalls auf einem der Gehwege der großen Straße entlang weiter.

Bei einer Kreuzung fuhr ein Laster vorüber und die Stadt begann zu leben. Nun erinnerte sich Mara, wie es hier einst gewesen war. Die Stadt schien heute eine recht normale Industriestadt zu sein. Heruntergekommene Läden, Kioske, Waschsalons, Kegelbahnen, Kaufläden und Auslagen mit Lebensmitteln wurden nun sichtbar. Mara nahm alles wahr, die Häuser staken hoch und grau gen dunklen Himmel. Die Laternen gingen an und ein leichter Nieselregen fiel herab, hüllte die Stadt in einen feuchten Schleier. Der Nebel fiel an den Betonblöcken hinab in die Abwasserkanäle.

Mara zog ihren Mantel bis zum Hals zu, schlug den Kragen hoch und ging weiter. Wieder blieb sie stehen, sah unsicher in eine der Seitenstraßen, als wollte sie erneut fliehen, einen Umweg machen, doch sie ging mutig weiter geradeaus. Die Passanten wurden mehr, Mara wurde stellenweise unsanft angerempelt, doch keiner schien wirklich auf sie zu achten. Die Stadt machte allen Anschein so zu sein, wie sie allezeit gewesen war. Die Zeit stand still. Mara blieb ebenfalls stehen. Der Verkehr rollte an den kaputten Straßen langsam entlang. Es gab noch immer kein Entkommen.

Abgase lungerten in der unteren Atmosphäre wie Geier und stiegen den Passanten bis in die Schuhe hinein, wo sie es wärmer hatten. Mara hustete. Wieder blieb sie stehen, lehnte sich an eine Wand, beobachtete den treibenden Strom der Passanten und der Fahrzeuge. Über der Straße nahm sie ein altes Café wahr, das sich zwischen einem Eisenwarenladen und einer Tankstelle befand, etwas der Zeit entrückt. Schwitzend und vom Nieselregen überzogen suchte Mara die nächste Ampel, die ein wenig weiter hinter ihr lag und wechselte die Straßenseite. Ein Hund schnupperte an ihrem Bein, ließ nach kurzer Zeit aber wieder von ihr ab.

Mara ging immer schwereren Schrittes weiter, bis sie schließlich vor dem Café zu stehen kam. Sie drückte die alte Klinke und öffnete die Tür. Aus dem Innenraum drang eine wohlige Wärme heraus, die sie sofort hineinzog. Drinnen aber herrschte ein Vakuum aus Stille. Zwei alte Männer saßen an einem kleinen Tisch und spielten Schach. Nicht einmal das Filz der Figuren war zu hören. Eine Frau mittleren Alters döste gesenkten Hauptes vor einer Tasse Kaffee. Ein jüngerer Mann saß vor einem Spielautomaten, der zwar in allen Farben des Spektrums und darüber hinaus blitzte und glitzerte, doch keinen Ton von sich gab. Hinter der Theke las ein dicker Wirt die Zeitung, ebenfalls geräuschfrei.

Mara bemerkte niemand. Auch sie war ohne einen Ton. Sie setzte sich an einen Tisch, von dem aus sie auf die Straße sehen konnte und wagte kaum zu Atmen. Ihren Aktenkoffer hatte sie auf den gegenüberliegenden Stuhl gelegt. Nun wartete sie. Nach längerer Zeit stand sie auf und ging an die Bar. Der dicke Wirt sah kurz zu ihr auf und las weiter in der Zeitung.

„Haben sie mir bitte eine Tasse Kaffee?“ fragte Mara.

„Kommt sofort,“ murmelte der Wirt und schlug laut knirschend die Seite seiner Zeitung um, die sich verhedderte und störrisch war, wieder und wieder vom Wirt zurechtgezurrt werden musste, während der Spielautomat eine repetitive Gewinnermelodie abspulte, die dösende Frau mit dem Löffel in der Kaffeetasse klapperte und die Schachspieler sich lauthals beschimpften.

Mara wartete noch eine Weile an der Theke, während der Wirt wieder still versunken in seiner Zeitung las und auch die Anderen wieder in ihrer Ruhe eingependelt waren. Dann setzte sich Mara wieder. Nach einiger Zeit stand der Wirt auf, stellte eine Tasse auf den Tresen und schüttete aus einer schwarzen Thermoskanne Kaffee hinein. Langsam ging er um die Theke herum, auf den Tisch mit Mara zu und stellte ihr die Tasse Kaffee hin. Ohne noch weiter etwas zu fragen ging er wieder zurück und las erneut in der Zeitung hinter der Theke.

Mara beobachtete lange ihren Aktenkoffer und nahm schließlich einen Schluck des Kaffees, der noch lauwarm war. Sie sah aus dem Fenster nach draußen und verfolgte den Verkehr, die Menschen, die am Fenster vorbeizogen, wie Enten an einem Schießstand, meist Männer im Erwachsenenalter und ältere Frauen, gehetzt und wichtig. Mara zog aus der Hosentasche ein Stück Papier und betrachtete es lange. Dann steckte sie es wieder in ihre Tasche zurück, legte ein paar Münzen auf den Tisch und ging. Niemand würdigte sie eines Blickes. Die Münzen auf dem Tisch lagen einfach da. Niemand bemühte sich, sie schnell abzuholen. Sie konnten nicht sonderlich viel wert sein.

Als Mara aus der Tür wieder auf den Gehsteig hinaustrat, sprang ihr aus der absoluten Stille kommend im dahingehend tosenden Lärmorkan des Draußen ein Mann entgegen, der sie fast umwarf. Doch die beiden Körper fielen nicht hin. Wütend hatte der Mann sich in Mara festgekrallt, packte sie schließlich am Mantelkragen und drückte sie fest gegen die Wand. Sein Gesicht war wütend, vernarbt und aufgedunsen.

„Pass doch auf…“ schrie er.

„Entschuldigen sie,“ stammelte Mara, „ich habe nicht darauf geachtet…“

„Das habe ich schon gesehen,“ schrie der Mann weiter und Speichel prasselte aus seinem Mund in alle Richtungen, „sie sind wohl nicht von hier, was? Sie müssen mehr auf die anderen achten. Wir achten hier aufeinander! Es ist hier nicht so wie woanders. Hier achtet man aufeinander. Das ist wohl selbstverständlich.“

„Entschuldigen sie,“ sagte Mara, die sich mit dem Gesicht weggedreht hatte, „ich werde in Zukunft darauf achten.“

„Das will ich wohl meinen, ja. Achten sie darauf,“ sagte der Mann und ließ vom Mantelkragen Maras ab, „was suchen sie hier?“

Mara stand kurz da, steckte ihre Hand in die Tasche und zog den Zettel heraus. Sie reichte ihn dem Mann und dieser begann, nachdem er sich die Adresse kritisch und übergenau angesehen hatte, lauthals zu lachen.

„Sie wollen zur Kommandantin,“ sagte der Mann ausgelassen, „na, dann viel Freude. Zu der will schon lange niemand mehr. Immer der Nase nach. Sie können das Haus gar nicht verfehlen. Es ist das bekannteste Gebäude hier. Jeder kennt es. Die Kommandantin. Alte Geschichten. Lass es sein. Viel zu lange her.“

„Ich weiß,“ sagte Mara.

Misstrauisch sah sie der Mann nun an. Er stand eine Weile da und versuchte etwas zu sagen, aber über seine Lippen kam kein Wort. Kurz nickte er Mara zu und ging weiter, wieder schnelleren Schrittes, bis ihn Mara schließlich nicht mehr unter den anderen Passanten erkennen konnte.

Wieder konnte Mara kaum atmen, nahm den Aktenkoffer, der auf den Boden gefallen war und schob ihren Mantel zurecht. Im Strom der Passanten, die sich um den kleinen Vorfall gar nicht gekümmert hatten, sondern weiter in ihrem Fluss dahinschwammen, ging sie weiter, geradeaus, hin zu ihr. Diesen Gang hatte sie zu vermeiden versucht. Doch es führte kein Weg vorbei. Es gab kein anderes Leben, ohne diese Station. Keine Freiheit war möglich. Erst über das Schafott konnte Mara zu ihren wirklichen Erinnerungen zurückkehren. Wenn es das überhaupt gab. Doch zuerst musste sie über diese Schwelle. Die Kommandantin.

Nach einigen Metern ging Mara in einen Laden, fragte nach dem Telefonapparat, legte ein paar Münzen auf den Tresen und wählte die wohlbekannte Nummer. Wenige Momente später hörte sie ihre Stimme. Sie ging noch immer selbst an das Telefon, das für sie schon früher der Vorbote der neuen Zeit gewesen war, viel zu wertvoll, um von einem Bediensteten bedient zu werden.

„Ich bin es. Mara Niemitz. Mara. Sie erinnern sich an mich?“

Einige Momente stand Mara steif da und hörte auf die Stimme. Ihr Blick war leer und ohne Wunsch. Sie hörte auf das, was ihr gesagt wurde. Angestrengt und aufmerksam. Trotzdem schien sie erleichtert zu sein und lächelte beinahe ein wenig. So war es eben mit Erinnerungen. Nicht nur mit den guten.

„Ja,“ sagte Mara mit einer gewissen Ergebenheit, „dann sehen wir uns nachher.“

Mara legte auf, nahm ihren Aktenkoffer, legte wieder ein paar Münzen auf den Tresen, die ebenfalls liegenblieben und ging auf die Straße weiter gen Norden. Zu ihrer Linken, zu ihrer Rechten, überall waren kleine Gassen, Wege, Straßen und innere Kartographien, die in ihrem Hirn die tiefe Verästelung ihrer Vergangenheit aufbewahrten. Wie gerne wäre sie dorthin gegangen, wo sie ihre Erinnerung hinführen wollte, hätte Freunde und Bekannte aufgesucht, an die sie sich erinnerte, zu erinnern meinte, wenn es sie noch gegeben hätte, von denen sie sich gewünscht hätte, dass sie noch da wären, auch wenn sie längst nicht mehr da waren. Von einigen wusste sie, oder hoffte, dass sie noch da waren. Sie war eine, die lange Zeit nicht mehr da war. War es ihre Schuld?

Ihr Schritt wurde stetig. Den Aktenkoffer hatte sie fest in den Händen. Das Telefongespräch, vor dem sie so viel Angst hatte, war überstanden. Sie durfte zu ihr kommen. Sie musste zu ihr. Das Gefängnis hatte sie wieder. Es war das Gefängnis in ihr und um sie, das, was nicht rückgängig gemacht werden konnte, das, was geschehen war. Mara war eine erwachsene Frau. Das stand fest. Aber die Stadt war von einer Kälte durchzogen, die sie erst jetzt richtig spürte. Der Nieselregen schien ihr wie eine Wand aus Eis, die den Nebel in ihren Waben gefangen hielt, wie Zigarettenrauch in einer Seifenblase.

Das Haus der Kommandantin, wie sie inoffiziell genannt wurde, kam näher. Am Hauptplatz wurde es sichtbar, als der graue Palast aus Beton, der seltsam schmal und niedrig zwischen den Hochhäusern lag, aber doch seltsam majestätisch dastand. So lag dieser Ort vor ihr, den sie einst so gut kannte und der nun so nah war und wieder gleichsam bekannt, fast vertraut, vielmehr auf sie zukam, als dass sie auf ihn zuging.

Vieles hatte sich verändert. In Maras Blick brach etwas auf, von dem sie nicht mehr dachte, dass sie sich daran erinnern würde. Ihre Vergangenheit wurde greifbar. Ihre Gegenwart schien vergessen. Sie ging zu ihr. Es wurde wirklich.

*

Mara stand vor der großen Eingangstür und hatte geklingelt. Sie hörte lange nichts, grauer Beton fraß sie auf, auch wenn sie etwas entspannter dastand. Nach einigen Minuten hörte sie Geräusche, das Öffnen eines Schlosses und schließlich ging die Tür weit auf. Ein Dienstmädchen in schwarzweißer Tracht stand vor ihr und sah sie ausdruckslos an.

„Ich habe einen Termin mit der…“ sagte Mara und hielt sofort inne, konnte sich gerade noch verkneifen, das böse Wort zu sagen, „ich habe einen Termin.“

„Treten sie ein,“ sagte das Dienstmädchen, „sie werden erwartet.“

Mara trat ein, ihren Aktenkoffer hielt sie fest umklammert, ihre Fingernägel drückte sie in ihre Handflächen, die etwas zu bluten begannen. Das Dienstmädchen schloss die Tür hinter ihr und verriegelte sie umständlich.

In der großen Durchgangshalle überkamen Mara Erinnerungen an früher. Nun war sie wieder da. Als wäre es nie geschehen, als wäre sie nie fortgewesen. Die hohe Decke erinnerte sie noch immer an eine Schrottpresse, wie sie auf sie herabdrückte, wie sie es seit jeher kannte und empfand. Obwohl sich Mara hier frei bewegen konnte, fühlte sie sich hier nie wohl. Die kahlen Wände waren noch immer wie früher, kein Bild schmückte das Interieur. Der Marmorboden wurde nur von einer schwarzen Gummimatte gesäumt, die sich den Flur entlangrollte und zum Aufzug führte.

„Kommen sie mit,“ sagte das Dienstmädchen und musterte Mara kritisch.

Mit etwas hochgezogener Nase stolzierte sie voran, die Bändel an den weißen Schleifchen, welche die Schürze hinter ihrem Rücken verband, wackelten leicht hin und her. Diese Frau geizte nicht mit ihren Reizen, sie war sich der Perfektion ihres Körpers bewusst. Die Pfennigabsätze ihrer Stöckelschuhe klackerten wie das militärische Rhythmisieren einer Blechtrommel.

Mara folgte ihr, etwas zitternd und doch furchtlos. Die Anstrengungen, die ihr all das verursachte, zeichneten sich tief in ihre Stirn. Eine Überwindung, die schwer zu verstehen war, auch wenn sie vielleicht hätte leicht verstanden werden können, für einen Außenstehenden, dem man sagte, was hier einst geschehen war, vor der Gefangenschaft, der Internierung und der Sklaverei.

Mara war frei, vielleicht, ja, das war allgemeines Recht. Doch innerlich hatte sie sich noch immer nicht daran gewöhnt. Die Jahre der Gefangenschaft, ihre Kindheit, die sie nicht anders kannte, als in dieser Umgebung, hatten fast etwas normales. Denn sie kannte es ja tatsächlich nicht anders. Sie konnte nur in der Fantasievorstellung eines besseren Lebens verweilen, das ihr vielleicht noch ihr Großvater hatte vermitteln können, im Ansatz, das aber für sie damals so klang, als wäre es selbst die Beschreibung eines Märchens, das gar nicht existierte, jenseits der Mauern, die für sie die Normalität waren. Ja, die Fantasie war ihre Brücke ins Überleben, die sich am Ende als brüchig herausgestellt hatte und eben nicht real war.

„Nun kommen sie schon,“ ermahnte das Dienstmädchen Mara etwas ungehalten, während sie aufrecht und gebieterisch dastand und einen Respekt ausströmte, der jeden einschüchtern musste.

Mara schrak auf. Sie hatte nicht gemerkt, wie sie gedankenversunken in der Mitte des Flures stehen geblieben war und den dunklen Fleck im grauen Beton der Wand beobachtete, den sie so oft beobachtet hatte, früher, als sie noch hier gefangen war, den Fleck, der aussah wie ein Bärenkopf, horizontal betrachtet, der sein Aussehen vertikal aber änderte, wenn man seinen Kopf kippte, ganz weit hinab, bis man fast auf dem Kopf stand und der Fleck zu einem Geier wurde. Jedenfalls in Maras Vorstellung. Einmal hatte sie dies ihrem Vater gesagt, der ihr aber nur entgegnete, dass sie sich nicht mit solchen Dingen abgeben solle, wenn sie überleben wolle und ihren Kopf besser aufrecht trage.

Mara schloss schnell zum Dienstmädchen auf, das schon längst wieder vorwärts gegangen war und wenige Meter vor dem Aufzug stand. Als Mara aufgeholt hatte, drückte das Dienstmädchen den Knopf und die beiden warteten.

Der Aufzug stieg langsam und erschöpfend nach oben, machte aus den fünf Stockwerken eine Strecke, die Mara kaum ertragen konnte. An ihren Schläfen standen Schweißtropfen, die sie gar nicht so schnell abwischen konnte, mit ihrem Taschentuch, auf das rosa Blumen gestickt waren, das sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte, damals, und das sie immer noch mit sich herumtrug, wie einen Schatz, etwas Einzigartiges, wo doch alles verloren war, in der Masse. Ein Artefakt. Mara hustete aus Verlegenheit und drehte sich zum Dienstmädchen um, das sie keines Blickes würdigte.

„Wie… wie lange arbeiten sie schon hier,“ fragte Mara und prustete gleich danach verlegen, „ich meine, sind sie schon lange hier?“

„Ja, Madame,“ sagte das Dienstmädchen knapp.

Sie rührte sich nicht. Mara sah verlegen auf ihre Schuhe, die schon abgenutzt waren, die sie aber so gerne trug, weil sie sich nicht von ihnen trennen konnte. Ihre Augen begannen feucht zu werden. Die Pupillen verkleinerten sich. Sie wollte weg. Sie wusste nicht, warum sie hierhergekommen war, warum sie den Auftrag angenommen hatte. Natürlich hatte es mit ihrer Vergangenheit hier zu tun, mit ihrer verlorenen Kindheit, sicher. Aber sie hätte sich auch heraushalten können.

Doch an Flucht war jetzt nicht mehr zu denken, sie würde die Kommandantin in wenigen Augenblicken sehen, ihr Gesicht, ihre Stimme wieder hören, ihren scharfen Geruch bemerken und ihren allesvernichtenden Blick, dem sie nicht widerstehen konnte, wieder begegnen. Und irgendwo fühlte sie absurderweise eine Freude in sich, dass die Kommandantin sie empfangen wollte. Sie war froh, dass sie den direkten Weg hierher genommen hatte, zu ihr gehen durfte und nicht sofort ins Hotel. Sie war glücklich über ihr Engagement für sich selbst, dass sie den Anruf nicht aufgeschoben hatte, sondern sich der Gefahr, die jetzt ja nur in ihr fühlbar war, gestellt hatte. Das machte sie stolz und auch die Tatsache, dass die Kommandantin sie nicht abgelehnt hatte, sondern sie sofort empfangen wollte, nahm ihr eine schwere Last von den Schultern, die man fast sehen konnte, auch wenn sie noch immer hochgezogen waren, angespannt, fast an ihren Ohren hingen, jedenfalls gefühlt, auch wenn sie es nicht fühlte, sie, die nicht fühlen durfte, auch wenn sie es jetzt durfte.