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Endlich: neuer Lesestoff für Kichererbsen
Psst! Bei den Chaosschwestern ist mächtig was im Busch. Denn warum läuft Livi nur noch mit einem fetten Glücksgrinsen im Gesicht herum? Und wieso spioniert Malea Bond samt Agentenhund ausgerechnet im Seniorenheim »Lauschige Eiche«? Und wo ist eigentlich Tessa abgeblieben? Zum Glück hat auch Kenny das Geheimsein voll drauf und legt mit ihrem Geheimclub jetzt so richtig los … Irrungen, Wirrungen und jede Menge falsche Fährten – die Chaosschwestern sind wieder in ihrem Element!
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Seitenzahl: 290
Dagmar H. Mueller
Mit Illustrationen von
Franziska Harvey
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Für Wilma und Harald Wengler, die jeden Schritt meines Schreiblebens unterstützt haben. Für Ating, in sonnig-verklärter Erinnerung an »The Brats« (aka »Yours Sincerely«) und chipsgefüllte Stunden im Übungsraum.Und für Antje, die unser aller Leben in geregelte Bahnen lenkt und trotzdem jederzeit auf den Tischen tanzen kann.
D. H. M.
1. Auflage 2017© 2017, cbj Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House Gmbh, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle Rechte vorbehaltenUmschlagbild und Innenillustrationen: Franziska HarveyUmschlaggestaltung: Basic-Book-Design, Karl Müller-Bussdorfcl ∙ Herstellung: UKSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18382-0V001www.die-chaosschwestern.dewww.cbj-verlag.de
… Weltbürgerin (das zeigt doch wohl schon der hawaiianische Name!).
… Tiefseeforscherin (später).
… eine knallharte, gerissene, mit allen Wassern der Weltmeere gewaschene Spionin (so etwa wie James Bond, nur weiblich natürlich).
… keine Welle hoch genug. Als echte Surferin schreckt sie auch auf dem Land vor kaum einer Herausforderung zurück.
… Sternenguckerin (abends durchs Dachfenster).
… Ponybesitzerin (im Traum).
… große Schwester (eines Tages, wenn sie Mama endlich überredet hat, noch ein weiteres Kind zu bekommen. So lange ist sie leider nur »eine« Schwester. Aber ist doch völlig egal, ob die anderen älter oder jünger sind. »Klein« ist sie jedenfalls nicht.).
… gut drauf (»Lasst mich bloß in Ruhe!«).
… auf jeden Fall groß genug, um jederzeit mitzumachen, mitzureden und mit aufzubleiben.
… irgendwie fehl am Platz in dieser Familie (nach Aussage von ihr selber) und kann den Gedanken nicht ganz aufgeben, als Baby im Krankenhaus vertauscht worden zu sein, nur leider sprechen alle familiären Fakten gegen diese Hoffnung versprechende Theorie.
… langweilig (nach Aussage von Malea).
… gaaanz toll (nach Aussage von Kenny, weil Livi oft mit ihr malt, bastelt oder ihr vorliest).
… eben eine von unzählig vielen Schwestern (nach Aussage von Tessa).
… schön (das ist nun mal so, dafür kann Tessa ja nichts).
… interessiert an fast allem (besonders am anderen Geschlecht, schließlich muss sie sich aufs Leben vorbereiten, und zu Hause hat sie nur wenig Anregung in der Beziehung – zumindest, was das andere Geschlecht angeht).
… wirklich nicht dumm. (Wenn die Lehrer das endlich mal einsehen würden!)
… jeden Tag schwer beschäftigt (da gibt es ständig neue Telefonnummern zu sortieren, Make-up-Produkte zu vergleichen und Mails an Dodo, Tessas beste Freundin, zu schicken).
Wenn man Geheimagentin und Surferin und Hundebesitzerin und Weltbürgerin ist, dann ist das ziemlich viel auf einmal. Aber man kann natürlich nicht einfach aufhören, Geheimagentin und Surferin und Hundebesitzerin und Weltbürgerin zu sein. Man kann auch nicht einfach aufhören, geniale Ideen zu haben oder andere und die Welt ein Stück zu retten. Und, ja, manchmal hat man dann wellenbrecherviel zu tun …
Ich bin Malea Martini. Ich bin fast zwölf Jahre …«
»STOP!«, unterbricht mich Frau Heinzig mitten im Satz. »Du bist elf Jahre alt, oder? Wenn du fast sagst, bedeutet das nur, dass du dir sehr wünschst, schon zwölf Jahre alt zu sein. Du willst bei deiner Vorstellung aber neutral bleiben.«
Die Klasse kichert.
Haha, sehr komisch! Ich funkele ganz besonders Lasse und Miri böse an. Sollen die doch mal hier vorne stehen und sich zum Affen machen! (Außerdem BIN ich fast zwölf!)
Und überhaupt – Lasse und Miriam sollen bloß aufpassen! Frau Heinzig hat gesagt, der, der sich vorne vor der ganzen Klasse vorstellt, darf den Nächsten bestimmen, der das Vorstellen üben muss. Und ich kriege gerade eine meerkristallklare Ahnung, wer das sein könnte!
Lasse kann anscheinend Gedanken lesen, denn genau in diesem Moment hört er auf mit der blöden Kicherei.
»Bitte weiter, Malea!«, lächelt Frau Heinzig ihr Lottofeelächeln. »Fang am besten noch mal ganz von vorne an.«
Ich schlucke meine Wut runter, reiße mich zusammen (ehrlich – das ist sooo dämlich, hier zu stehen! Ich meine, jeder in der Klasse kennt mich doch seit hundert Jahren!), spule im Kopf zurück auf Anfang und beginne noch mal.
»Ich bin Malea Martini. Ich bin … mmmpf … elf Jahre alt. Ich gehe in die sechste Klasse der Bettina-von-Arnim-Schule. Ich habe eine Mutter, einen Vater, eine Rema – das ist unsere Renate-Oma –, nette Nachbarn und einen Hund, der Hugo heißt.«
Ich kann ein leises Stöhnen nicht unterdrücken und gucke zu Frau Heinzig. Muss ich noch mehr …?
Frau Heinzig lächelt beinhart und nickt aufmunternd.
Mist!
»Okay, ich habe auch noch drei Schwestern – eine ist jünger, die beiden anderen sind älter – und außerdem …« Ich stocke. Was soll ich denn nun noch sagen? »… und außerdem finde ich es voll blöd, dass wir jetzt so’n Zeug machen!«
Die Klasse wiehert wieder los.
Frau Heinzig zieht die Augenbrauen hoch, doch das Lächeln bleibt. (Frau Heinzig lächelt IMMER. Weswegen sie auch den Spitznamen Lottofee hat.)
Dabei ist das doch echt wahr. Bald sind Sommerferien und die Noten stehen sowieso schon fest. Und bloß weil wir nicht jeden Tag Klassenausflüge machen dürfen, müssen wir jetzt die Stunden mit Dummschrott füllen. Auch wenn unsere Klassenlehrerin meint, das könnten wir später im Leben gut gebrauchen. Wieso soll ich mich meinen eigenen Freunden vorstellen?
»Weiter, Malea!«, ruft Frau Heinzig. »Dass du eine Mutter und einen Vater hast, ist selbstverständlich. Das brauchst du bei deiner Vorstellung nicht extra zu erwähnen. Erzähl lieber noch etwas von dir, das individueller ist.«
»Indi-vidi-was?«
Ich fürchte, nach diesem Zungenbrecherwort glotze ich unsere Lehrerin gerade etwas fischaugenglubschig an, denn meine netten Klassenfreunde (Na, wartet!) grölen schon wieder los.
»In-di-vi-du-ell ist etwas, was nicht jeder hat«, erklärt Frau Heinzig. »Bitte weiter!«
Was nicht jeder hat? Da kann ich ja ALLES aufzählen. Ist doch jeder indi-vindi-… – ist ja auch egal –, ist doch keiner gleich auf der Welt, oder?
Gerade als ich meinen Mund wieder aufmache, ruft Tanja, die blöde Nuss, in die Klasse: »Carla hat aber KEINEN Vater!«
Empört dreht sich Carla zu Tanja um. »Das stimmt nicht!«
»Natürlich stimmt das nicht!«, gibt ihr Frau Heinzig sofort recht. »JEDER hat einen Vater UND eine Mutter.« Sie guckt Tanja sehr streng an. »Nur manchmal ist ein Elternteil tot, oder ein Elternteil lebt ganz woanders, oder die Eltern sind geschieden und das Kind hat zwei Zuhause, oder es lebt bei Pflegeeltern. Das ist individuell sehr unterschiedlich.«
»Indi-vidi…«, murmele ich leise vor mich hin. Das muss ich mir unbedingt merken! Scheint ein cooles Wort zu sein, was man anderen total klasse an den Kopf schmeißen kann. »Indi-vidi…«
Tanja guckt trotzig, als würde sie Frau Heinzig kein Wort glauben. »Aber Carlas Vater gibt’s überhaupt nicht!«
»DENGIBT’S DOCH!«, brüllt Carla und springt mit geballten Fäusten auf. »DUBLÖDEKUH, DUHASTJAKEINEAHNUNG, OBES…«
»RUHE!«, brüllt Frau Heinzig. »RUUUUHE! Und du, Carla, setzt dich auch wieder hin!«
Gehorsam lässt sich Carla zurück auf ihren Sitz sinken. Doch jeder im Raum kann sehen, dass sie Tanja am liebsten an die Gurgel gehen würde.
Kann ich gut verstehen. Wie fies ist das denn, jemanden damit aufzuziehen, dass er seinen Vater nicht kennt!
Gregory von nebenan bei uns in der Kastanienallee, der kannte seinen Vater Gerold schließlich auch praktisch sein ganzes Leben lang nicht. Weil Gerold nämlich sehr weit weg in England lebte und Gregorys Mutter keinen Kontakt mehr zu ihm hatte. Das war natürlich schade für Gregory, aber auf der anderen Seite kann man ja schlecht den Geschmack von englischen Walderdbeeren vermissen, wenn man noch nie welche gegessen hat und deswegen überhaupt keine Ahnung hat, wie die schmecken. Aaalso, was ich damit sagen will, ist, dass Gregory auch ohne seinen Vater sehr glücklich war. (Oder, ähm, glücklich hätte sein können, wenn seine Mutter nicht auch dauernd weg gewesen wäre – aber das ist eine andere Geschichte.)
Carla hat auf jeden Fall eine ganz tolle Mutter. Und Tanja ist einfach stinkdoof.
Na ja, Gregory hatte natürlich Riesenglück, als Gerold plötzlich auftauchte und sich als der ungefähr meerwasserbeste Vater entpuppte, den man sich nur wünschen kann. Dass Gerold auch noch unser neuer Schuldirektor wurde, war dann der komplette Meeresknaller! (Jetzt haben wir einen wirklich tollen Schuldirektor!)
»Du weißt ja nicht mal, wie dein Vater heißt!«, zischt Tanja, die blöde Schlange, zu Carla rüber.
»SCHLUSSJETZT!«, ruft Frau Heinzig, die Lächelfee, und lächelt tatsächlich mal nicht.
»Weiß ich WOHL!«, ruft Carla böse und springt schon wieder auf.
»Wie heißt er denn? Wie heißt er denn?«, zickt Tanja weiter und zieht eine echt ätzende Grimasse.
Oh, diese algenstinkige Planschkuh möchte man am liebsten mit einer einzigen Spaghettinudel so lange auspeitschen, bis sie auf dem Boden liegt und um Gnade fleht!
Ich fürchte, in jeder Klasse gibt es mindestens einen Nervklotz, den man eigentlich jeden Morgen vor der Schule einmal gründlich verkloppen sollte, damit er den Rest des Tages Ruhe gibt. Was ich – ähm, zugegeben – schon ein paar Mal gemacht habe. Mich mit Tanja gekloppt nämlich.
Das letzte Mal hat uns leider unser Musiklehrer Herr Nolte dabei erwischt. Nachdem er Tanja und mich getrennt hatte und uns mit ausgestreckten Armen davon abhielt, uns trotzdem noch gegenseitig zu treten, hielt er uns eine ausgiebige Strafpredigt.
In wütendem Ton schnaubte Herr Nolte uns an, dass es sich für heranwachsende junge Damen nicht gehöre, sich zu prügeln. Darauf hab ich ihm aber sehr freundlich erklärt, dass ich durchaus nicht die Absicht habe, jemals eine Dame zu werden, sondern dass ich eine heranwachsende Geheimagentin sei. Und die prügeln sich sehr wohl.
HA! Da hat Herr Nolte aber dämlich geguckt!
Tanja allerdings auch. Tanja versucht nämlich immer, einen auf superschick und so ’n Meermist zu machen. Sie trägt sogar schon Schuhe mit Absatz! Nicht ganz so meterhohe wie die von meiner Schminkschwester Tessa, aber flach ist auch was anderes. (Hab ich aber gar nix gegen. Mit diesen affigen Tretern verliert sie viel leichter das Gleichgewicht, wenn Miri, Lasse oder ich ihr ein Bein stellen. Höhöhö!)
Von hier vorne vor der Tafel hat man übrigens einen agentenscharfen Überblick. Ich kann die gesamte Klasse hervorragend sehen. Kein Wunder, dass den Lehrern vorne nichts entgeht!
»NA? Was ist denn nun? Kennst du den Namen von deinem Vater oder kennst du ihn nicht?« Tanja, die blöde Natter, zickt immer noch.
Ja, will denn Frau Heinzig einfach nur weiter daneben stehen?
»Ich KENNE ihn!«, brüllt Carla böse.
»SCHLUSSJETZT!«, versucht es Frau Heinzig auch mal lauter.
Leider ist sie nicht besonders gut im Training. Denn hinter Carlas wesentlich stärkerer Stimme hört man unsere arme Lottofee-Lehrerin kaum.
»Er heißt JAN!«, schreit Carla – die Augen wild aufgerissen wie eine Tigermama, die ihre Jungen verteidigt. »Jan Brandt! Und – und – und er lebt in Australien!«
Okay, Australien ist natürlich echt weit weg. Verständlich, dass Carla ihren Vater deswegen noch nie gesehen hat.
Tanja, die ihren Mund gerade wieder aufgerissen hatte, klappt ihn zu und guckt Carla mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen an. »Ach, wirklich?«
»Ja! WIRKLICH!« Carla atmet tief aus, als hätte sie gerade einen Kampf gewonnen.
Und das hat sie ja auch. Mensch, bin ich froh, dass sie es dieser dämlichen Kuh gegeben hat! Und dass sie den Namen ihres Vaters wirklich kannte.
»Cool!«, sage ich vorne – beinahe, als wäre ich die Lehrerin. Weil ich Carla natürlich beistehen will. »Jan Brandt ist ein klasse Name!«
Da nicken die meisten im Zimmer heftig. Carla mögen fast alle total gern.
Dankbar sieht sie mich an. Und ich lächele zufrieden zurück.
Siehst du, Frau Heinzig? SO macht man das! Fast ein bisschen stolz gucke ich zu unserer Klassenlehrerin rüber, die neben den Topfpflanzen am Fensterbrett steht.
Frau Heinzig atmet ebenfalls hörbar aus. »Na schön! Dann ist das ja nun geklärt.« Danach atmet sie leider wieder ein. »Machen wir also weiter!« Sie sieht nach vorne. »Malea?« Und lächelt wieder. (Hilfe!) »Wo waren wir?«
»Bei Maleas Schwestern!«, ruft Camilla und guckt mich so erwartungsvoll an, als würde ich ein Märchen vorlesen, das an der spannendsten Stelle unterbrochen wurde. »Erzähl weiter von deinen Schwestern!«
Frau Heinzig lacht und schüttelt den Kopf. »Nein, nein, Camilla! Malea erzählt uns hier nichts. Sie stellt sich vor!« Sie macht eine kleine Pause. Vermutlich damit wir Zeit haben, den Unterschied zu begreifen. »Beim Vorstellen hält man alles sehr knapp und liefert nur die wichtigsten Informationen. Also, bitte, Malea! Noch ein paar Informationen zu deiner Person!«
Ich fühle mich wie ein Auto in tiefem Nebel und gucke vermutlich auch so. Was für Informationen will sie denn nun?
»Sie will wissen, wie groß du bist und wie viel du wiegst!«, raunt mir John aus der ersten Reihe zu.
»Das geht ja wohl keinen was an!«, raunze ich zurück und gucke an mir runter.
Ich sehe prima aus. Aber das brauche ich ja wohl bei einer Vorstellung nicht extra zu erwähnen. Außerdem kann ich mich nicht erinnern, wann Iris mich das letzte Mal gemessen hat oder wann ich auf einer Waage stand.
Frau Heinzig lacht. »Nein, nein, natürlich brauchst du uns nicht zu sagen, was du wiegst oder wie groß du bist. Aber du könntest deine Hobbys aufzählen und deine Lieblingsfächer in der Schule«, schlägt sie vor.
Ich seufze erbärmlich. Das kann ja noch Jahre dauern!
»Okay«, nicke ich ergeben, »also, meine Hobbys sind Surfen und …«
Ich überlege. Spionieren, wollte ich eigentlich sagen. Schließlich ist mein tägliches Geheimagententraining das, was ich am liebsten mache. Aber ein Hobby ist das natürlich nicht! Ich trainiere ja für meinen späteren Beruf!
Dann fällt mir unser kleiner Hugo ein, den wir gerade ein paar Wochen haben und mit dem ich zweimal die Woche nachmittags zum Welpentraining in eine Hundeschule gehe. »Und Hunde.«
»Sehr schön, Malea!«, lobt Frau Heinzig endlich. »Bravo! Das hast du fürs erste Mal wirklich sehr gut gemacht! Und jetzt darfst du den Nächsten aussuchen, der sich vorstellt. Und DU übernimmst dann das Korrigieren, ich werde nur still zuhören.«
Was, ich? Au ja!
Ich sehe, wie Lasse erschrocken versucht, sich auf seinem Stuhl zu verkriechen, und grinse schon. Hihi – selbst schuld! Was lachst du auch eine arme Freundin aus, die hilflos vor der Klasse steht! Doch dann fällt mein Blick auf die fiese Tanja. Na warte, der werd ich’s geben!
»Ich wähle Tanja«, verkünde ich sehr laut und sehr deutlich.
So deutlich, dass Tanja, die gerade damit beschäftigt war, bunte Herzchen auf ihr Schulheft zu malen, fast vom Hocker kippt. »ICH soll nach vorne?«
Carla und die meisten anderen in der Klasse grinsen schadenfroh.
Und Frau Heinzig, unsere weltbeste Lottofee, lächelt, wie nur Frau Heinzig lächeln kann.
»Ja, du, Tanja!«, bestätigt unsere Lehrerin. »Oder haben wir noch mehr Tanjas in der Klasse?«
»Köche in köstlich kunstvollen Klamotten kochen köstlich kunstvolle Kartoffelklöße in köstlich kunstvollen Kartoffelkloßkochtöpfen.« Dreimal hintereinander ganz schnell sagen! Haben wir in der Schule gelernt.
Höhö, ich bin immer noch bestens gelaunt, als ich nach der Schule in die Kastanienallee einbiege und an den hohen Hecken vorbei zu unserem Haus schlendere. Wie genial von Frau Heinzig, mir auch das Korrigieren von Tanjas Vorstellung zu überlassen! Hochzufrieden kicke ich ein paar Steinchen vor mich hin.
Ja, ja, Tanja kann mir dankbar sein! Ich habe wirklich keine Mühe gescheut, mit ihr das Vorstellen vor einer Gruppe von Menschen so ausführlich wie möglich zu üben. Mehr geht nicht. Über eine halbe Stunde lang – nämlich den gesamten Rest der Schulstunde – habe ich ihr gegönnt. Immer wieder habe ich sie ermuntert, doch noch etwas mehr von sich zu erzählen, und natürlich hab ich sie unzählige Male ihre Sätze wiederholen lassen. Schließlich ist es bestimmt unheimlich wichtig später im Leben, dass man die Betonung in einem Satz wie »Im Garten zuhause haben wir frische Kartoffeln« optimal hinkriegt. Sicherheitshalber habe ich sie genau diesen Satz fünfundzwanzig Mal wiederholen lassen und das Wort Kartoffel noch zwanzig Mal extra. (Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich man ein Wort betonen kann!)
Ich fürchte zwar, ich werde Tanjas kartoffeligen Garten den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen können. Aber Sophie, Lasse, Miriam, Carla und die meisten anderen in der Klasse lagen vor Kichern fast unter den Pulten. Erstaunlich, wie komisch das Wort Kartoffel wird, wenn man jemand anderen damit eine halbe Stunde lang kitzelt. Kar-tooo-fl. Karrrr-toffelllll. Höhöhö! Nach der Stunde kamen sogar ein paar zu mir, schlugen mir auf die Schulter und sagten, sie hätten schon lange nicht mehr so unterhaltsamen Unterricht wie den mit Kartoffel-Tanja gehabt und ich solle später bitte unbedingt Lehrerin werden.
Das werde ich natürlich nicht. Als Geheimagentin bin ich nämlich NOCH besser!
HUPS! Gregory!
Wo kommt der denn so plötzlich her? Fast bin ich in ihn reingerannt!
»Hallo Gregory!«, grüße ich und füge im gleichen Atemzug hinzu: »Wo ist Livi?«
Schließlich sieht man die beiden seit Mattes und Katrin Dornkaters Hochzeit bloß im Doppelpack. Tessa und ihre Freundin Dodo nennen sie nur noch Livory. (LIVi und GregORY.)
»Wo sind denn Livory«, fragt Tessa zum Beispiel, wenn Livis Platz beim Abendessen leer ist. »Essen die heute drüben?«
Denn dass die beiden unzertrennlich sind, ist inzwischen allen meerwasserklar. Wo Livi ist, kann Gregory nicht weit sein. Und entweder Gregory isst mit bei uns, wie früher fast jeden Tag – ich meine, bevor sein Vater Gerold, genannt Goldi, auftauchte und sich wieder mit Gregorys Mutter Sibylle versöhnte –, oder Livi geht zum Essen zu Goldi und Sibylle nebenan in Gregorys Haus, was früher nie vorkam. Es ist also ziemlich ungewöhnlich, Gregory allein irgendwo rumstehen zu sehen. Außerdem sieht Gregorys Gesicht ernst aus. Fast besorgt.
»Ist was passiert?«, frage ich alarmiert.
In meiner Familie muss man mit allem rechnen. Bombenalarm, einstürzende Häuser oder Abstürze von Dächern sind da noch Kleinigkeiten. Ein knackiges Gipsbein (vor allem an unserem Vater Cornelius), das bei jedem Schritt fröhlich im Raum klackert, ist für uns ein mindestens so normales Geräusch wie Schlagzeugwirbel zum Frühstück. Obwohl es selten Cornelius ist, der in solcher Hühnerfrühe morgens probt. Das ist dann eher meine kleine Frühaufsteherschwester Kenny. Die spielt inzwischen fast so gut wie Cornelius. (Dem Meereshimmel sei Dank, dass unsere Schlafzimmer im ersten Stock liegen und der Probenraum für Cornelius’ Band Rainbow im Keller ist! Ich schlafe nämlich morgens lieber!)
Gregory dreht sich zu mir und zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung! Livi ist bloß reingegangen, um ihre Schultasche in ihr Zimmer zu bringen, und dann wollten wir los, um für die Schülerzeitung noch ein paar Fotos zu machen.« Er zieht eine angemuffelte Grimasse und nickt zu unserem Haus rüber. »Aber irgendwas ist da drin los.«
»Ach, ja?« Interessiert fährt mein geschulter Agentenblick über unsere alte rosarote Villa.
Hm, von außen kann ich nichts Auffälliges sehen. Sogar das Dach, auf das Mimi sich ab und zu vor Hugo rettet, ist hühner-, hunde- und auch katzenleer.
Mimi heißt die alte Katze von Frau Büntig, die bei uns lebt. Also die Katze lebt bei uns, nicht Frau Büntig. Die wohnt nämlich jetzt in der Lauschigen Eiche, wohin sie Mimi leider nicht mitnehmen durfte.
»Sie hat nur einmal kurz rausgerufen, dass Tessa nicht da ist«, sagt Gregory.
»Wer hat gerufen?«
»Na, Livi!«, antwortet Gregory, als hätte ich nicht mehr alle Fische im Teich, so eine dumme Frage überhaupt zu stellen.
Meerwasserklar, Livory! Wie blöd von mir anzunehmen, dass ihr auch mit anderen Leuten als euch selber reden könntet!
Allerdings freue ich mich natürlich total für meine Miesmuschelschwester und für Gregory. Die beiden strahlen seit ein paar Wochen so glücklich, wie ich sie noch nie vorher gesehen hab. Deswegen sage ich bei komischen Bemerkungen nichts und lasse Livory einfach Livory sein.
Stattdessen nicke ich. »Klar. Tessa war doch seit Donnerstag auf Wochenendklassenreise.«
War eine richtige Erholung, sie am Wochenende mal nicht hier zu haben. Sie hat ja am Samstag Geburtstag und feiert ihn im Garten. Mit all den hunderttausend megawichtigen Vorbereitungen zu dieser Party hat sie uns alle schon ganz gehirnmatschig gemacht. Jedes kleinste Fitzelchen ist Tessa wunderwichtig. Die Farben der Dekos und Blumen auf den Holztischen im Garten müssen perfekt zu Tessas Kleid passen. Nur kann sie sich dummerweise nicht entscheiden, welches Kleid – also welche Farbe – sie tragen will. Das hat Iris etwas genervt, weil sie nämlich die ganze Tischdeko, Tücher und so, besorgt und wegen Tessas Unentschiedenheit jetzt in der Warteschleife hängt.
Außerdem will Tessa für SOS, also für die Schulband, bei der sie singt, unbedingt eine Bühne haben, obwohl Cornelius’ Band Rainbow auf Matte und Katrin Dornkaters Hochzeit auch einfach auf dem Rasen gespielt haben. Aber weil man nur einmal im Leben sechzehn wird (O-Ton Cornelius), hat Cornelius versprochen, eine Bühne zu bauen. Als er stolz mit von Bekannten geschenkten Holzplatten ankam, flippte meine perfekter als perfekt Schwester allerdings schon wieder aus. Das Holz war zu dunkel.
»Das sieht totaaaal spießig aus!«, heulte sie.
Ich weiß nicht genau, was spießig ist, aber besonders glücklich machte Cornelius diese Reaktion nicht.
»Wenn es nur die Farbe ist«, hab ich da freundlich angeboten, »dann streiche ich dir das Holz an. Wie willst du es denn?«
Weiß wollte sie es.
»Okay«, hab ich gesagt, »das ist mein Geburtstagsgeschenk für dich. Ich kaufe weiße Farbe und male dir deine Bühne.«
Da hat Tessa mal einen Moment gelächelt. »Danke, Malea! Das ist lieb von dir!«
Cornelius hat übrigens auch ziemlich erleichtert ausgesehen.
Leider hat sie dann aber hinzugefügt: »Das heißt aber nicht, dass du und Kenny eingeladen seid. Das ist keine Party für Kinder.«
Für Kinder? Ich bin nächsten Monat zwölf! Und – hallo? – außerdem wohne ich hier! Ich meine, wie unfair ist das denn?
Doch das hat Tessa nicht beeindruckt. Und Cornelius und Iris, die mir ja wohl hätten beistehen müssen, haben nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass es Tessas Party ist und dass sie einladen – und ausladen – kann, wen sie will. Und dieser fiesen Schwester mache ich auch noch so ein tolles Geschenk!
»Tessa kommt doch erst heute zurück«, erinnere ich Gregory noch mal.
»Das weiß ich.« Gregory klingt allmählich ungeduldig, na gut, sagen wir gereizt. »Deswegen frage ich mich ja auch, wieso das so lange dauert, eine Tasche abzustellen und einen Fotoapparat zu holen!«
Ich öffne die Gartenpforte. »Willst du mit reinkommen und nachsehen?«, biete ich freundlich an.
Doch bevor Gregory oder ich einen Schritt in unseren Vorgarten machen können, werden wir von einem Polizeiauto abgelenkt, das scharf abbremst und mit quietschenden Reifen hält. Direkt vor unserem Haus!
Polizei?! Vielleicht hat Gregory recht? Vielleicht ist da drinnen tatsächlich was los?
Ich lasse ihn stehen und rase zur Haustür. Eine echte Geheimagentin muss immer VOR der Polizei am Ort des Geschehens sein!
Eilig fummele ich meinen Schlüssel ins Schloss, bevor ich merke, dass die Tür überhaupt nicht abgeschlossen ist, und hetze durch den Flur in die Küche. (Bei uns finden die meisten interessanten Dinge in der Küche statt.) Und tatsächlich sehe ich dort alle versammelt: Iris, Cornelius, Kenny, Livi, Rema und sogar Walter Walbohm von nebenan.
»… noch nichts passiert!«, beendet Walter gerade in seiner sanften Art einen Satz, dessen Anfang ich leider verpasst habe.
»NICHTSPASSIERT? Was soll das heißen?«, fährt Iris sofort aus der Haut. (Okay, sie neigt leider auch bei kleineren Brisen schnell zu stürmischem Wellengang.) »Tessa ist verschwunden! Aus einem fahrenden Zug heraus! Was soll denn noch passieren?!«
Tessa ist weg?
»Nun ja …«, murmelt Walter verunsichert und macht sich vor Iris’ empörten Blick auf seinem Küchenstuhl ganz klein, »… bis jetzt sind sie ja noch nicht …« Er räuspert sich. »Ich meine, sie sind ja noch nicht … Wie gesagt, es ist ja noch nicht wirklich was passiert.«
»Zumindest nichts, von dem wir wissen«, nuschelt Cornelius leise.
Ah, ich bin mir sicher, Tessa wird schon wieder auftauchen! Allerdings… auch, wenn ein Fall auf den ersten Blick recht harmlos aussieht, muss ein Geheimagent natürlich sehr sorgfältig vorgehen. Also versuche ich, die gesamte Lage mit allen zur Verfügung stehenden Informationen sorgfältig zu erfassen. Meine älteste Schwester ist offenbar im Zug auf der Rückfahrt von ihrer Klassenreise verloren gegangen.
Nun muss ich doch grinsen. Weil ich direkt vor mir sehen kann, was meine Schwester in einem fahrenden Zug macht. Die wird sich im Waschraum eingeschlossen haben – zur Auffrischung ihres Make-ups (etwa alle sieben Minuten) braucht sie ja immer einige Zeit –, und darüber wird sie einfach vergessen haben, auf dem Bahnsteig auszusteigen.
In diesem Moment klingelt es an der Haustür.
»Ist offen!«, brülle ich zu Gregory raus, bevor mir einfällt, dass das vermutlich gar nicht Gregory war.
»Ach, übrigens, die Polizei ist draußen«, lasse ich die Küchenrunde wissen.
»Na, endlich!«, ruft Iris und schießt von ihrem Sitz hoch, als hätte sie auf einer Sprungfeder gesessen.
Auch Rema scheint aufzuatmen. »Das wurde auch Zeit!«
Die beiden Polizisten – eine Frau und ein Mann – sehen nicht übermäßig erfreut aus, Iris und Cornelius die Hand zu schütteln. Das kann ich ihnen nicht übel nehmen. Der Name Martini ist auf der Polizeistation bei uns im Ort ohne Zweifel das reinste Schreckgespenst. Vermutlich haben vorhin alle auf dem Revier durch Würfeln entschieden, wer von ihnen den Schwarzen Peter kriegt und zu uns rausfahren muss. Diese beiden hier scheinen nicht viel Würfelglück gehabt zu haben.
»Setzen Sie sich!« Cornelius stellt den Beamten zwei Stühle hin.
Der männliche Polizist holt zügig einen Notizblock aus seiner Hosentasche. »Wir haben eine Meldung der Bettina-von-Arnim-Schule, dass Ihre Tochter Tessa-Tiara Martini zusammen mit ihrer Freundin Dorothea Dunst aus einem Zug verschwunden ist.«
»So ist es«, nickt Cornelius.
Noch sieht er erstaunlich ruhig aus. Nur seine Ohren glühen feuerquallenrot, was, wenn man ihn kennt, doch ein ziemlich bedenkliches Zeichen ist.
»Die Lehrerin, Frau Meyer-Buchsbaum, gibt an«, fährt der Polizist fort, »kurz vor Ankunft hier im Ort die Klasse abgezählt zu haben, wobei sie feststellte, dass Ihre Tochter und besagte Freundin Dorothea fehlten.«
Iris und Cornelius nicken nun beide und starren stumm auf die Tischplatte.
Hinter dem Polizisten schleicht Gregory in den Raum und quetscht sich neben Livi auf denselben Stuhl. Sofort huscht ein Lächeln über das Gesicht meiner Schwester und ihre Hand greift nach seiner.
Ein paar Sekunden lang bin ich direkt abgelenkt. Mann, sind die dick zusammen!
Aber Abgelenktsein, bloß weil meine Miesmuschelschwester plötzlich mit einem Jungen Händchen hält, das darf einer Agentin natürlich nicht passieren. Nicht in einem so wichtigen Moment!
»Daraufhin«, rattert der Polizist weiter runter, was offenbar auf seinem Zettel steht, »hat Frau Meyer-Buchsbaum den zweiten Lehrer, einen gewissen Herrn Nolte, sowie das Zugpersonal alarmiert und danach den Zug systematisch von vorne bis hinten durchkämmt.«
Leider muss ich mir jetzt vorstellen, wie ein Zug mit einem Kamm – oder einer Bürste? – einmal durchgekämmt wird, was mich weitere Sekunden Aufmerksamkeit kostet. Meermist! Jetzt hab ich nicht gehört, was die Polizistin gesagt hat. Auf jeden Fall scheinen sie Tessa und Dodo nirgends gefunden zu haben.
»Wie können zwei Mädchen aus einem fahrenden Zug verschwinden?«, donnert Cornelius nun doch los – kaum, dass die Polizisten ihren Bericht beendet haben. Vorwurfsvoll starrt er sie an, als hätten die beiden die Antwort sofort mitliefern müssen.
Doch als Agentin weiß ich, dass Kriminalfälle manchmal ganz schön knifflig sein können und nicht immer schnurgerade oder einfach zu lösen sind. Da muss man geduldig sein und auf kleine Einzelheiten achten.
»Ich habe keine Lust, hier rumzusitzen, während meine Tochter womöglich schon längst …!« Cornelius lässt das Satzende irgendwo in der Küchenluft hängen.
Ich gucke zu Iris rüber, der zwei Tränen die Wange runterlaufen.
Mann-Mann, wieso sind denn hier alle so dramatisch drauf? Ich wette, Tessa hat sich nur einen blöden Scherz erlaubt. Die taucht schon wieder auf. Meine wimpernbetuschte Schicki-Schwester macht gerne mal ein bisschen auf sich aufmerksam.
»Wir MÜSSEN sie finden!«, haucht Iris und wischt sich mit einem Küchenhandtuch übers Gesicht. »Bevor es dunkel wird!!«
Bei dem Wort »dunkel« entfährt auch Cornelius ein meerfetter Seufzer.
Meine Meerwelt, was für eine Aufregung! Bloß, weil meine Schwester und Dodo der Klasse vermutlich einen Streich spielen wollen! Zum Glück fällt mir da ein, was auch James Bond als Allererstes gemacht hätte. Unfassbar, dass die Polizisten darauf nicht selbst gekommen sind!
»Warum rufen wir Tessa nicht einfach an?«, frage ich freundlich in die Runde. »Tessa und Dodo gehen ohne ihre Handys nirgendwohin.« (Das ist eine Tatsache.)
Als Antwort weint Iris nun offen. Und nicht nur Cornelius’ Ohren, sondern auch sein Gesicht wird rot und düster.
Immerhin antwortet er mir: »Das haben wir selbstverständlich bereits getan. Tessas und Dodos Handys wurden in ihren Handtaschen zusammen mit dem restlichen Gepäck bei ihren Sitzen gefunden. Sie haben nicht mal Jacken mitgenommen.«
»Dann sind sie also noch im Zug«, folgere ich agentenscharf.
»NEIN!«, rufen Iris und Cornelius im Chor und werden dabei auch noch von den Stimmen der beiden Beamten unterstützt.
Bedauernd erklärt mir die Polizistin: »Der gesamte Zug wurde bei der Ankunft hier im Ort sofort ein weiteres Mal von einer Polizeimannschaft durchsucht, bevor er schließlich mit einer Stunde Verspätung weiterfahren durfte.«
Vermutlich denkt sie, ich mache mir große Sorgen um meine Schwester. Doch um Tessa braucht man sich wirklich keine Sorgen zu machen. Eigentlich um gar keine meiner Schwestern. Wir können alle prima auf uns selbst aufpassen. Nur … hm …, dass Tessa und Dodo wirklich gar nicht mehr im Zug sind – nirgends! –, und … hm … noch merkwürdiger, dass sie ihre Handys UND Handtaschen (mit Schminkzeug!) nicht mitgenommen haben, also das ist … das ist doch ein bisschen verdächtig. Denn das würde Tessa niemals freiwillig machen!
Jetzt werde ich auch still. Weil ich nachdenke. Wie kann ein Mensch überhaupt aus einem fahrenden Zug verschwinden?
Und warum sollte er?
Und warum hat Tessa nicht mal ihr heiliges Schminkzeug und Handy mitgenommen? Das ist noch nie, nie, NIE passiert!
Bentje ist meine allerbeste Freundin. Sinan ist mein allerbester Freund. Aurora ist mein allerliebstes Huhn.
Du musst sofort kommen!«, rufe ich aufgeregt in den Hörer. »Bei uns ist schon wieder voll viel los!«
Bei uns ist zum Glück oft was los. Ganz anders als bei meiner besten Freundin Bentje zu Hause. Da fällt nie jemand vom Dach und die Dächer stürzen auch nicht ein. Da passieren ganz, ganz, ganz viele Sachen nicht.
Als ich Bentjes Mama zum Beispiel mal gefragt hab, warum sie nie auf Demos geht, da hat sie mich angeguckt, als ob ich ne eklige Spinne wäre oder so, und hat gesagt: »Aber kleine Kenny! Das ist doch viel zu gefährlich!«
Dabei machen Rema und ich das ständig. Und meistens ist das voll lustig. Wir singen beim Marschieren und halten uns an den Händen und bilden mit anderen große Ketten und rufen laut in die Gegend, was wir der Welt sagen wollen. Und hinterher fühle ich mich immer richtig gut. Das ist ja wohl nicht gefährlich.
Rema findet es aber – voll das Gegenteil von Kennys Mama – SEHRgefährlich, wenn man sich NICHT für wichtige Sachen vom Sofa aufrappelt und NICHT Schilder malt (macht voll Spaß) und NICHT mit ganz vielen anderen marschieren geht. Weil nämlich, wenn man nicht aufsteht, die falschen Sachen passieren, sagt Rema. Und DAS wäre ja nun wirklichgefährlich, oder nicht?
Aber Bentjes Mama findet es wichtiger, zu Hause zu bügeln.
»Ich komme!«, schreit Bentje in den Hörer, obwohl ich überhaupt nicht schwerhörig bin. »Ich bin schon auf dem Weg.«
Und das ist sie wirklich, denn ich kann ihre bügelnde Mama hinter ihr herrufen hören: »Wo willst du denn hin, Bentje?«
Ganz aus der Ferne höre ich Bentje: »Zu Kenny!«
Und dann wieder die Stimme ihrer Mutter: »Bei Kendras Familie bleibst du aber nicht zum Abendessen, hörst du? HÖRSTDUUU?«
Dann macht es Klick in der Leitung. Das war wohl der Moment, wo Bentjes Mama gesehen hat, dass das Telefon noch an ist, und wo sie einen Moment aufgehört hat zu bügeln und das Telefon ausgestellt hat.
Ich gehe zurück in die Küche und stelle mich ans Fenster, um nach Bentje Ausschau zu halten. Dabei kann ich immer noch sehr gut mithören, was hinter mir geredet wird.
Wir hatten mal wieder Besuch von zwei Polizisten. (Nur leider sind die schon wieder weg gewesen, bevor ich Zeit hatte, Bentje Bescheid zu sagen.) Die haben jeden von uns gehört. Ach nee, verhört heißt das. Das bedeutet nicht, dass sie was falsch verstanden haben, sondern dass sie einem ein Loch in den Bauch fragen. Alles, was uns zu meiner großen Schwester Tessa einfällt, mussten wir erzählen. Da fiel mir natürlich unheimlich viel ein.
Dass Tessa sich immer voll stöckelschuhig anzieht und ihr Gesicht auch immer total hübsch anmalt, zum Beispiel. Das fanden die Polizisten aber nicht so interessant.
Und dass sie schon einen Knutschfreund hat. Javi, der in Barcelona in Spanien wohnt, nämlich. Das fanden die Polizisten schon interessanter.
Malea und Livi sagten aber sofort, dass das doch gar nicht mehr stimme, weil die beiden vor ein paar Wochen Schluss gemacht hätten. Das stimmt natürlich, ist aber echt voll schade, weil ich Javi nämlich unheimlich gern hab.
Damit die nichts falsch verstehen, hab ich den Polizisten noch schnell erklärt, dass es nicht Tessa war, die Schluss gemacht hat, sondern Javi. Und ich habe auch gesagt, dass ich das überhaupt nicht verstehe, weil die beiden sich eigentlich voll lieb haben. Und dass Tessa darüber ganz, ganz furchtbar traurig war und immer noch ist, das hab ich auch erzählt. Das fanden die Polizisten ebenfalls interessant.
Dann fiel mir auch noch ein, dass Tessa früher schon mal verschwunden ist. Im letzten Herbst nämlich. Weil sie da einfach abgehauen ist von zu Hause. Das fanden die Polizisten SEHR interessant.
»Ach, wirklich?«, fragte der Mann und schaute dabei auch Mama und Papa fragend an. »Ihre Tochter läuft also öfter mal weg?«
»NEIN!«, schrien Mama und Papa sofort und guckten böse zu mir rüber.
Zu MIR! Was kann ich denn dafür, dass Tessa damals abgehauen ist?
»Meine Tochter läuft ganz und gar nicht öfter mal weg!«, betonte Papa mit Sturmfalten auf der Stirn. »Tessa-Tiara hat vor vielen Monaten einmal eine Nacht bei einer Freundin in einer Gartenlaube übernachtet, das ist alles. Und das hat ja wohl überhaupt nichts damit zu tun, dass sie jetzt aus einem Zug verschwunden ist!«
Die Polizisten schienen das aber immer noch wichtig zu finden und nickten mir anerkennend zu.
»Vielleicht fällt dir ja noch was ein?«, ermunterte mich die Frau sogar freundlich.