Die Chaosschwestern starten durch - Dagmar H. Mueller - E-Book

Die Chaosschwestern starten durch E-Book

Dagmar H. Mueller

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Beschreibung

Kichern, Chaos, gute Laune

Das neue Jahr startet für die Chaosschwestern mit einer dicken Überraschung: Mutter Iris hat einen Preis für ihre Kitschromane gewonnen – und tritt glatt im Fernsehen auf! Das haut alle vom Hocker. Ist aber natürlich noch lange nicht alles, was die vier Mädchen erleben ... Tessa hat nämlich den kühnen Entschluss gefasst, sich neben Jungs und Beauty auch in Sachen Politik zu engagieren. Livi wirft sich vor lauter Liebesfrust Klassenschwarm Daniel an den Hals. Kenny hat nur noch Sinan im Kopf. Und Malea ist mal wieder als Profi-Spionin unterwegs – doch was sie diesmal ungewollt ausspioniert, lässt ihr fast das Blut in den Adern gefrieren ...! Von guten Vorsätzen, witzigen Katastrophen und quirligen Verrücktheiten – die Chaosschwestern starten so richtig durch!

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Seitenzahl: 270

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Band 3

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Neuausgabe 2024© 2011 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: © Dagmar H. Mueller 2011

Umschlaggestaltung und -illustration sowie Rahmen im Innenteil: Stephanie Reis

Vignetten im Innenteil: Shutterstock.com/Krestinat (Tube + Pinsel),

julia badeeva (Muschel), sinnisa (Blatt, Eisbecher)

ah · Herstellung: bo

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-06458-7V003

www.cbj-verlag.de

Mit Dank an Petra und Hasan für türkische Wörter und an Susanne Walbohm für einen wunderbaren Nachnamen!Außerdem ein großes Danke an Beate Wilmshurst und an meinen Sohn Aaron für (fast) widerstandsloses Lesen und wertvolle Rückmeldungen während der Arbeit am Manuskript! Und ein extra Dankeschön an Sinan Rasch-Odabasi dafür, dass er mir seinen besonders schönen Vornamen geliehen hat! D. H. M.

Livi Martini, 13 Jahre,

gehtaufs Ganze (denn manchmal hat man keine andere Wahl),volles Risiko (denn manchmal ist es das wert), und in sich: Ist das, was kriminell aussieht, manchmal möglicherweise okay?

»Na, ihr macht Sachen!«, sagt WALTERWALBOHMund strahlt übers ganze Gesicht.

Malea Martini, 11 Jahre,

findet Schlammiges heraus, das Ganze nicht mehr witzig, Geschichte in der Schule total doof, aber Tessa sehr hilfreich.

Denn: »Kleinigkeit!«, meint TESSA. »Lass mich mal machen!«

Kenny Martini, 7 Jahre,

bekommt schlechte Laune, gute Laune, rote Grütze, blaue Flecke, und eine Frage zur richtigen Zeit gestellt.

Da kann BONBON-BENTJE aber nur die Augen verdrehen.

Tessa Martini, 15 Jahre,

trifft jemanden auf dem Marktplatz, im letzten Moment eine Entscheidung, oft ins Schwarze und dieses Mal sogar fett ins Gelbe und manchmal die richtigen Worte zur richtigen Zeit.

»Mi amor!«, sagt JAVIund lächelt stolz.

Livi

Was ich mir vom neuen Jahr wünsche:

Dass die schreckliche Legebatterie am anderen Ende der Stadt für immer geschlossen wird!

Dass unser Dachstuhl endlich repariert wird und ich nicht ständig irgendwelche Schwestern einquartiert kriege, die dann bei mir auf dem Boden kampieren, und ich kaum noch irgendwohin treten kann (außer auf Schwestern)!

Dass Gregory und ich weiterhin beste Freundinnen bleiben, und er nicht etwa denkt, dass dieser Kuss damals …

Dass – seufz – ja, hm, also … ja, dass ich – ähm – vielleicht auch mal einen richtigen Freund …? Vielleicht sogar Daniel?

Dass Iris und Cornelius aufhören zu nerven!

Dass Rema und Walter Walbohm noch richtig lange glü…

»Hallo Liviii!«

»Ups, Kenny! Hast du mich erschreckt!«

Ich lasse den Stift fallen und fahre herum. Meine kleinste Schwester steht direkt hinter mir und guckt mir interessiert (man könnte auch sagen: unverschämt indiskret!) über die Schulter.

»Warum hörst du auf?« Kenny sieht mich aus den harmlosesten Augen der Welt an. »Was wolltest du da über Rema und Walter Walbohm schreiben?«

»Kenny, das ist MEIN Zettel!«

»Genau! Deswegen kann ich ja nicht wissen, was du schreiben wolltest.«

»Was machst du überhaupt hier? Wolltest du nicht nach dem Essen zu Bonbon-Bentje gehen?«

Bonbon-Bentje (so genannt wegen ihrer Vorliebe für bonbonfarbene Klamotten) ist Kennys herzallerliebste Freundin. Die beiden stecken zusammen vom morgendlichen Schulweg bis zum Abendbrot und oft sogar noch länger.

»Bentje musste plötzlich zum Zahnarzt«, antwortet Kenny und sieht so aus, als würde sie das persönlich beleidigen. »Die hat erst später Zeit. Vielleicht. Und du sollst sie nicht immer Bonbon-Bentje nennen!«

»Kommst du extra in mein Zimmer, um mir das zu sagen?«, frage ich.

»Nö«, meint Kenny, »was für ’n Quatsch. Wieso sollte ich denn dafür in dein Zimmer kommen?«

Eben. Ich seufze. So kommen wir nicht weiter.

»Kenny, ich würde jetzt gerne was schreiben!«

»Mhmm …« Kenny wühlt in ein paar Stapeln Papiere auf meinem Schreibtisch. »Boah, Livi, du hast immer so viele Zettel hier liegen, wo so komisches Zeug draufsteht, das man gar nicht verstehen kann!«

»Das da sind nur Artikel über Global Warming«, versuche ich zu erklären.

»Über was?« Kenny guckt mich an, als hätte ich nicht alle Hühnerfedern beisammen. Dann zieht sie eine gelangweilte Flunsch und legt die Artikel zum Glück wieder zurück.

Oh, wie ich es hasse, wenn meine Schwestern in meinem Zimmer rumstöbern!

»Du, Livi«, fährt Kenny ungerührt fort.

Ich seufze ein zweites Mal. Obwohl ich meine kleinste Schwester natürlich lieb habe wie Schokoladenkuchen, aber jetzt würde ich wirklich gerne …

»Du, Livi, wieso schreibst du überhaupt all diese Sachen auf, wie auf einem Wunschzettel? Weihnachten ist doch längst vorbei! Und wieso wünschst du dir nichts Richtiges, wie zum Beispiel einen Hund oder ein neues Fahrrad oder ein Ponyfarm-Computerspiel?«

Ich atme tief ein und versuche, bis zehn zu zählen. Zum Glück neige ich nicht zu Wutausbrüchen wie meine andere kleine Schwester Malea (oder Cornelius, mein Vater!), sondern kann, glaube ich, mit Stolz behaupten, dass ich ein ausgesprochen ausgeglichenes Temperament habe!

»Weil man das am Beginn des neuen Jahres so macht, Kenny.«

»Man schreibt komische Sachen auf?«

Ich seufze ein drittes Mal. »Man schreibt die Dinge auf, die man sich wünscht.« Ich mache eine Pause, gucke meiner Schwester streng ins Gesicht und nehme mir vor, noch heute ein Vorhängeschloss für meine Tür zu kaufen. »Damit sie in Erfüllung gehen. Und diese Dinge sind übrigens privat.«

»Was heißt privat?«, fragt Kenny.

»Dass es dich nichts angeht!«

Kenny sieht augenblicklich tief beleidigt aus. Und auch ein wenig getroffen. Uff! Sofort bereue ich, so unfreundlich gewesen zu sein. Schließlich ist Kenny doch erst sieben und hat ja nichts Böses im Sinn!

»Du bist doof, Livi!« Kenny schiebt ihre Unterlippe vor und schmollt.

Ich grinse. »Komm schon, Kennylein, lass mich doch bitte noch ein bisschen in Ruhe, ja? Ich will das hier zu Ende schreiben.«

»Und dann?«

»Dann können wir meinetwegen was zusammen machen.«

»Wollen wir endlich mal Frösche küssen gehen?« Bei dieser Vorstellung hellt sich Kennys Gesicht augenblicklich auf.

»Kenny! Es ist Januar! Da gibt es keine Frösche. Die halten alle Winterstarre.«

Kenny schiebt ihre Unterlippe vor und überlegt eine Weile. »Wir könnten doch hinten im Garten welche aufwecken. Ich wette, wenn wir tief genug in den Teich hineinlangen, finden wir jede Menge. Die könnten wir doch dann schön im Warmen trocken föhnen und dann …«

Ich lache. »Nein, nein, bitte nicht!«

Doch so schnell gibt Kenny nicht auf. »Warum denn nicht? Willst du nicht auch endlich einen richtigen Prinzen abkriegen?«

Ich werfe einen hastigen Blick auf meinen Neujahrszettel. Hat sie das mit dem Kuss und dem Freund gelesen? Hat sie vielleicht sogar das Wort Daniel gesehen? Ich gucke sie durchdringend an.

Kenny sieht aus, als wäre sie ein kleiner Engel und direkt vom Himmel gefallen. Sie klimpert lieblich mit ihren kurzen Wimpern und verzieht den Mund zu einem süß-sanften Lächeln. Die kleine Ratte!

»Es gibt keine Prinzen auf der Welt«, behaupte ich einfach – vielleicht etwas harscher als nötig.

Kenny bleibt ungerührt. »Gibt es doch! Bentje sagt …«

»KEEENNY?« Von unten dröhnt Maleas Stimme die Treppe hoch. Meine nicht mehr ganz so kleine Schwester ist alles andere als schüchtern.

»NICHTSOLAUT! REMASCHLÄÄÄFT, GLAUBEICH!«, schreit Kenny noch lauter durch die offene Tür zurück.

»ICHMUSSJETZTLOSZUMNACHMITTAGSUNTERRICHT, BISSPÄTER!«, plärrt Malea zurück. »SAGREMA, ICHBINZUMABENDBROTWIEDERDA!«

»OKAY!«, brüllt Kenny freundlich in den Flur.

Hilfe! In was für einer Familie muss ich hier nur leben?

Nicht genug, dass ich mit komplett durchgeknallten Eltern wie Iris und Cornelius geschlagen bin! Nein, ich habe auch noch drei Schwestern, von denen eine Einzige für jeden normalen Haushalt schon zu viel wäre.

Allerdings ist unser Haushalt natürlich nicht normal.

Das fängt schon mit unserer Rema – unserer REnate-oMA – an. Obwohl Rema wirklich im wunderbarsten Sinne nicht normal ist. Ich meine, sie ist nicht wie andere Omas (oder wie man denken würde, dass andere Omas sein sollten), die stricken, kochen, kuscheln und kleinen Schwestern Bilderbücher vorlesen und so was eben. Das heißt – kuscheln tut Rema schon gerne. (Und im Moment sogar nicht nur mit uns! Haha!!) Aber Stricken und Vorlesen gehören nicht unbedingt zu ihren vorrangigen Beschäftigungen.

Früher, als wir noch in der Grundschule waren, hat sie uns jeden Samstag auf eine Demo geschleppt – für den Weltfrieden, gegen Tierversuche oder was sonst so angesagt war. Danach kriegten wir ein fettes Eis, unten im Bella Roma, und gingen dann gut gelaunt nach Hause. Das war Remas Vorstellung von Etwas-mit-den-Enkeltöchtern-unternehmen. Kein Wunder, dass ich so im Umweltschutz engagiert bin! (Hm. Aber wieso ist davon so wenig bei meinen Schwestern hängen geblieben?)

Unsere Rema ist jedenfalls einfach die Beste auf der Welt! Die würde ich gegen nichts eintauschen!

Iris und Cornelius dagegen könnte ich ganz gut ’ne Zeit lang entbehren, glaube ich. Zumindest momentan. Natürlich nicht für immer. Ich mag meine Eltern im Grunde ja. (Ehrlich!) Aber manchmal wäre es vielleicht ein wenig einfacher, sie – ähm – aus der Entfernung zu mögen.

Cornelius spinnt ja immer ein bisschen, was er damit rechtfertigt, dass er Musiker ist. (Woran man schon mal sehen kann, was für merkwürdige Gedankengänge der Mann hat!) Aber Iris dreht sonst eigentlich nur am Rad, wenn sie unter Druck mit einem ihrer Abgabetermine ist. Iris ist Autorin. Kitschromanautorin.

»Das ist ein ehrenwerter Beruf«, behauptet sie immer. »Und überhaupt sind Kitschromane heutzutage die einzigen Romane, mit denen man noch Geld verdienen kann.«

Allerdings – wenn das so ein ehrenwerter Beruf ist –, warum dürfen wir dann niemandem, aber auch absolut niemandem verraten, dass Iris genau damit unsere Familie ernährt?

Wir alle, Cornelius, Rema, Kenny, Malea, Tessa und ich, sind zu allerheiligstem Stillschweigen darüber verpflichtet. Ein bisschen peinlich ist es Iris also doch! Verständlich, bei Titeln wie »Das Rauschen der Gefühle bei Wellengang« oder »Zarte Liebesjodler in Bad Inn« oder »Schwester Christine im Glück« …

Die offizielle Version lautet jedenfalls, dass Iris unser Geld mit Kochbüchern verdient. Von denen sie tatsächlich auch einen ganzen Haufen schreibt. Wie der Verlag sich allerdings dazu bewegen lässt, die dann auch immer wieder zu drucken, ist mir ein Rätsel. Vielleicht laufen sie dort unter der Rubrik »Humorvolles«. Denn essen sollte man die Gerichte von Iris nur im Notfall. Oder nur, wenn man einen besonders robusten Magen hat.

Ja ehrlich, Iris und Cornelius sind schon zu normalen Zeiten anstrengend genug. Aber momentan scheinen sie völlig durchzudrehen. Beinahe täglich – eigentlich seit Weihnachten – fliegen die Fetzen, dass man Angst kriegt, der Rest unseres Hauses könnte auch noch einstürzen (was vermutlich nicht mal sehr unwahrscheinlich ist, so alt, wie das Haus ist, und so ungeschickt, wie Cornelius ab und zu versucht, ein paar abgefallene Bretter des kaputten Daches an den unmöglichsten Stellen wieder anzunageln).

Ich hab keine Ahnung, worum es in diesen grässlichen Ehestreits geht. Ich weiß nur, dass ich bestimmt niemals heiraten werde, wenn heiraten heißt, sich gegenseitig hinter verschlossenen Türen (zum Glück wenigstens das!) anzuschreien. Was genau sie sich gegenseitig an den Kopf werfen, haben wir bis jetzt noch nicht wirklich mithören können, aber es sind eine Menge Sätze dabei, die mit »DU hast …« oder »Nein, DUUU hast …« und »Wenn ich GEWUSST hätte …« beginnen.

Da wird einem als Tochter ganz mulmig.

Ich meine, man glaubt ja immer, dass schlimme Sachen nie einem selbst passieren, aber in unserer Schule gibt es haufenweise Kinder mit geschiedenen Eltern. Und sosehr mir Iris und Cornelius auch auf die Nerven gehen, die Vorstellung, dass sie sich plötzlich scheiden lassen könnten, ist … ist …

… nicht schön.

Dieses Mal muss ich wohl ziemlich tief geseufzt haben, denn Kenny guckt mich erstaunt an. »Alles in Ordnung, Livi?«

»Klar, Kenny!« Ich versuche ein Lächeln. (Warum kann sie mich nicht endlich hier in Ruhe schreiben lassen?)

Kenny scheint meine Gedanken ganz und gar nicht zu erraten. Oder aber sie ignoriert sie in der ihr eigenen engelhaft sturen Art. »Meinst du denn, das funktioniert?«

»Was soll funktionieren?«

»Na, wenn du das aufschreibst«, sagt Kenny, »werden die Wünsche dann wahr?«

»Na ja …« Ich lächele. »Eigentlich sind das Vorsätze. Nicht so richtig Wünsche. Also …« Da fällt mir ein, dass Kenny das mit dem Freund bestimmt doch gelesen hat. In Lesen hat sie nämlich eine Eins, die kleine Kröte!

Kenny will gerade etwas erwidern, da brüllt Malea ein zweites Mal von unten.

»KENNY! DIESPÜLMASCHINE! ICHMACHESNICHT, ICHMUSSJETZTECHTLOS!«

»Hast du Küchendienst, Kenny?«

»Ach, pah«, macht Kenny und bläst ihre Backen muffelig auf.

»Sag mal«, frage ich, als Kenny schon auf halbem Weg zur Tür ist, »was wolltest du eigentlich?«

»Ach so, ja.« Kenny stoppt. »Gregory sitzt unten im Wohnzimmer und wartet auf dich.«

»Gregory ist unten?« Ich fahre im Stuhl herum. Schon über eine Stunde warte ich auf ihn. Wir wollten noch mal rüber zur Hühnerfabrik und eventuell ein paar Fotos machen, die wir bestimmt gut zur Vorbereitung unserer großen Aktion am Freitag (ENDLICH!) gebrauchen können. »Wieso sagst du mir denn nichts? Der arme Kerl! Wie lange sitzt er da schon?«

»Och, schon ’ne ganze Weile. Aber mach dir keine Sorgen, Livi!« Kenny macht eine wegwerfende Handbewegung. »Der langweilt sich nicht. Dem habe ich was zu tun gegeben.«

Ich grinse. »Echt, Kenny! Der arme Gregory! Hast du ihn etwa gezwungen, Cornelius bei irgendwelchen Sachen zu helfen oder sich mit ihm über unseren kaputten Dachstuhl zu unterhalten?«

Kenny guckt mich erstaunt an. »Nö, er unterhält sich nicht mit Papa. Er liest.«

»Ach nee.« Ich grinse noch spöttischer. »Und was gibt es da unten zu lesen außer den Grusel-Kochbüchern von Iris und Cornelius’ Musikmagazinen?«

»Dein Tagebuch«, antwortet Kenny mit beinahe stolzem Gesichtsausdruck. »Ich hab ihm alles aufgezählt, was ich ihm holen könnte, und dein Tagebuch fand er am interessantesten. Lustig, was?« Sie guckt wirklich und wahrhaftig stolz und zufrieden. »Er hat sogar gesagt, ich könne mir jetzt ruhig Zeit lassen, dir Bescheid zu geben.«

Ich japse nach Luft. Und versuche, das plötzlich auftretende Verlangen, meiner kleinsten Schwester an die Gurgel zu gehen, tapfer zu unterdrücken. Wie gesagt, ich neige nicht zu Wutausbrüchen.

Normalerweise.

»Du hast WAAAAAS?!«

Livi

Was ich im alten Jahr zurücklassen will:

Zimmertüren ohne Vorhängeschloss! (Unfassbar, dass meine kleine Schwester einfach hereinspaziert und mein Tagebuch klaut, ohne dass ich was merke!)

Wutanfälle! Obwohl ich die natürlich kaum mehr kriegen werde, sobald erst ein dickes, fettes Schloss an meiner Tür baumelt.

Das Gefühl, dass ich hässlich bin. Denn die Fotos, die in der neuen Annette erschienen sind, sehen klasse aus. Na ja, auch wenn ich da nicht wirklich wie ich aussehe. Aber eins ist ohne Zweifel wahr: dass das nämlich trotzdem ich bin, die dort auf den Modefotos in die Kamera lächelt. Und ich BIN hübsch (äh, sagen jedenfalls alle). Trotz roter Haare.

Vielleicht auch meine Schüchternheit? Ich meine, wenn es darum geht, Hühner aus miesen Legebatterien zu retten oder auf der Straße Leute davon zu überzeugen, dass wir nur alle zusammen was gegen die Umweltprobleme tun können, dann bin ich natürlich nicht schüchtern. Ist ja auch total wichtig, in solchen Fällen laut und mutig zu sein! Aber wenn es um mich persönlich geht … oder vielleicht sogar um Daniel … Ja, hm … ja, ich glaube, es wäre schön, nicht mehr schüchtern zu sein!

Ich habe einen neuen Rekord aufgestellt. Im Vom-Schreibtischstuhl-Aufspringen und Treppe-Runterstürzen und Wohnzimmertür-Aufreißen und »GREGORY! GIBDASSOFORTHER!!!«-Brüllen. Dreieinhalb Sekunden für zwei Stockwerke, einen langen Flur und eine große Schwester, die unten gerade durch die Haustür kam und mir so auch noch im Weg stand! Gregory hob seinen Kopf, guckte mich mit seinem typischen, leicht amüsierten Gesichtsausdruck an, ließ sich willig das Buch aus den Händen reißen und sagte dann ganz ruhig: »Livi, hey! Reg dich nicht auf! Ich hab die privaten Stellen taktvoll übersprungen.«

Die privaten Stellen? Ein Tagebuch ist KOMPLETT privat! Von vorne bis hinten! Das ist doch wohl klar, du Kleckerhirn!

Ein wenig störte mich auch das beinahe spöttische Grinsen, das ihm dabei um die Lippen zuckte. »Wie kannst du es wagen, mein Tagebuch zu lesen!«

Das Grinsen wurde breiter. »Kenny hat es mir praktisch aufgedrängt. Sie wollte nicht, dass ich mich langweile, sie ist wirklich sehr fürsorglich.«

»Oooouuuu …!« In einem Comic wären mir jetzt wahrscheinlich Schaumblasen aus dem Mund gequollen oder wenigstens Blitze aus den Augen gezischt.

In einem Anflug von wilder Hoffnung blätterte ich schnell in den ersten Seiten rum, um zu sehen, was genau Gregory gelesen haben könnte. Meinetwegen kann er gerne wissen, was ich über die Rolle der Vereinigten Staaten im Kampf (oder besser Nichtkampf!) gegen die Umweltprobleme der Welt denke. Oder auch, wie viele Stunden meine große Schwester Tessa täglich vor dem Spiegel verbringt, um ihre blonden Locken in Form zu zupfen (nämlich vier bis sieben), und wie dämlich sie dabei aussieht.

Nicht wissen sollte er allerdings, was ich über Daniel denke, und dass ich mir mal vorgestellt habe, wie er und ich zusammen …

Gregory guckte mir ohne eine Spur von Verlegenheit direkt in die Augen. »Zum Beispiel habe ich die Seiten, auf denen du dir vorstellst, auf eine richtige Polarexpedition zu gehen, um die Auswirkungen der Erderwärmung auf die Eisbären zu erforschen, und wie du dann mit einem weiteren Expeditionsteilnehmer von den anderen getrennt wirst und mit ihm auf einer Eisscholle davontreibst und du und er dabei …«

Na toll, er HATTE die Stelle mit Daniel gelesen!

Meine Augen schossen messerscharfe Eisstückchen, frisch von der erstbesten Polareisscholle, in Gregorys Richtung.

Gregorys Grinsen hatte allerdings in der Zwischenzeit ebenfalls an Gelassenheit verloren und sah nun fast genauso feindselig aus. »Jedenfalls wollte ich sagen, dass ich diese Seiten NICHT gelesen habe. Mach dir also bitte keine Sorgen!«

Die letzten Worte klangen nicht nur sarkastisch, sondern richtig böse.

Frechheit! Bitterböse zu sein, hatte hier ja wohl nur eine Person das Recht! Was – bitte – geht’s ihn denn an, ob ich gerne mal mit Daniel auf einer kleinen Eisinsel davontreiben würde oder nicht! Kann ja wohl jeder seine eigenen PRIVATEN Fantasien haben! Gucke ich Gregory etwa bei seinen Computerspielen über die Schulter?

Wir funkelten uns eine Weile schweigend an.

Dann tapste Kenny ins Zimmer. »Huhu!« Sie stoppte. »Na? Wieso steht ihr hier so doof rum?« Sie guckte erstaunt von Gregory zu mir und dann zurück zu Gregory.

»Mama lässt fragen, ob ihr beiden vielleicht etwas Nachtisch wollt.« Sie popelte ein bisschen in der Nase.

Kenny popelt gerne mal ein wenig. Besonders wenn sie verlegen ist. Behauptet jedenfalls Iris zu ihrer Verteidigung. Da Kenny aber wirklich alles andere als schüchtern ist und daher – zumindest meiner Meinung nach – auch nicht zu allzu großer Verlegenheit neigt, finde ich das nur schwer nachvollziehbar. Jedenfalls wenn man sich die Häufigkeit ansieht, mit der ihr kleiner Zeigefinger in einem ihrer bereits ziemlich ausgebeulten Nasenlöcher verschwindet.

»Also, wollt ihr?«, fragte Kenny.

Gregory entspannte sein Gesicht und wendete sich meiner kleinen Schwester zu.

»Was gibt’s denn heute?« Er flüsterte beinahe und ließ seine Stimme für Kenny extra geheim klingen.

Gregory weiß nicht nur die Kochkünste von Iris richtig einzuschätzen, sondern auch meine Schwestern. Jeder weiß, dass Kenny zusammen mit ihren Lieblingsfreundinnen Bonbon-Bentje und Romy einen Geheimclub hat. Was dieser Geheimclub eigentlich macht, wissen wir natürlich nicht. Schließlich ist er ja geheim! (Haha.) Aber klar, dass Kenny hocherfreut ist, wenn jemand ihren Geheimfimmel ernst nimmt.

Über Kennys Gesicht ging sofort ein Strahlen.

In genauso geheimclubleisem Ton flüsterte sie zurück: »Marzipanröllchen mit Meerrettichschaumfüllung.«

»Oh«, machte Gregory bemüht neutral und diplomatisch.

Seitdem er bei uns fast täglich isst (seine Fernsehmoderatorinnen-Mutter ist ja meistens zu beschäftigt mit Schlafen oder Auf-Partys-Gehen), ist er so einiges gewohnt. Aber manchmal haut es sogar ihn noch aus den Socken.

»Ähm …«, machte Gregory gleich danach, weil er offenbar nicht wusste – Diplomatie hin oder her –, was er sagen sollte.

»Magst du das nicht?«, fragte Kenny freundlich.

»Na ja«, antwortete Gregory.

Ich musste beinahe grinsen. Aber nur beinahe. Deshalb grinste ich natürlich nicht, sondern guckte weiter stockböse. Schließlich waren wir mit dem Thema Tagebuch noch ganz und gar nicht durch. Ich jedenfalls nicht!

Kenny guckte mich an. »Was ist eigentlich Meerrettich? Ist das auch so ’ne Meeresfrucht? Müssen wir Malea davor beschützen?«

Malea ist allergisch gegen alles, was aus dem Meer kommt.

Nun lachte Gregory. »Nein, das hat nichts mit Meeresfrüchten zu tun. Malea kann das problemlos essen. Aber ist sie nicht gerade weg zum Nachmittagsunterricht?«

»Mhmm«, nickte Kenny, aber ein Hoffnungsstrahl huschte über ihr Gesicht. »Dann kann ich ihr also meinen eigenen Nachtisch später schenken?«

»Hast du denn schon probiert?«

»Ja, hab ich«, antwortete Kenny und schenkte Gregory ein verschmitztes Grinsen.

(Wieso eigentlich haben meine große und meine kleinste Schwester es so drauf, Jungs um den Finger zu wickeln? Bei Kenny wirkt es allerdings nicht nur bei Jungs, sondern auch bei mir …)

Jetzt musste ich doch lächeln.

Keine von uns bringt es übers Herz, Iris endlich die Wahrheit über ihre Kochkreationen zu sagen. Sie liebt das Kochen so sehr! Und wir lieben Iris. Also probieren wir, damit zu leben. Mit beiden. Mit ihr und mit den ungenießbaren Mahlzeiten.

Gregory natürlich, der ja mit nichts anderem als Dosenfraß aufgewachsen ist, weil seine Mutter wegen ihrer Fernsehkarriere sowieso kaum jemals zu Hause war, der ist immer noch froh über jede gekochte Mahlzeit, die ihm jemand vorsetzt. Anscheinend ist aber bei der Kombination von Marzipan und Meerrettich sogar seine Geschmacksgrenze erreicht.

»Möchtest du Malea vielleicht auch meinen Nachtisch schenken?«, schlug er Kenny vor.

»Hihihi«, giggelte Kenny verschwörerisch als Antwort.

Zum Glück konnte Iris, die direkt in diesem Moment ins Zimmer kam, nicht mehr hören, worüber sie kicherte. »Oh, hallo Gregory, du bist auch hier! Wie schön!«

Das war’s dann. Nicht mal Gregory fand jetzt noch einen Ausweg, um halbwegs höflich aus der Marzipanmeerrettichröllchen-Nummer rauszukommen.

»Schmeckt’s dir?«, fragte Iris wenig später glücklich, als wir alle schweigend um den Küchentisch versammelt waren.

Fast alle. Tessa hatte sich damit entschuldigt, schon in der Schule gegessen zu haben und nun gleich drüben Javier und dessen Freund Ramón abholen zu müssen, die bei unserem Nachbarn Walter Walbohm für ein paar Wochen wohnen. Die clevere Nudel! Wahrscheinlich gibt es bei Walter was leichter Verdauliches. Ich weiß allerdings, was sie danach machen werden, denn heute ist endlich der erste Nachmittag, an dem Tessa ihre verlorene Wette mit mir ableisten muss. Hahaha! Zettel zu verteilen und mit Leuten über ein vernünftiges Thema zu reden, wird ihr guttun. Schade, dass ich damals nicht mehr Nachmittage verlangt habe.

»Oh ja, echt lecker!«, behauptete Gregory und lächelte Iris tapfer an.

Der Dummkopf! Denn das gab mir natürlich eine wunderbare Gelegenheit, mich an ihm wegen des Tagebuchs zu rächen.

»Super, dann kannst du gerne auch noch den Rest von meiner Portion haben«, sagte ich freundlich und schob ihm mein Schälchen rüber. »Ich bin noch total voll vom Mittagessen.«

Und das war ich wirklich. Dafür hatten bereits zwei Bissen vollkommen genügt. (Rotkohl-Saure-Gurken-Eintopf mit Blaubeeren. Und ehrlich: Sauer macht NICHT lustig!)

Gregory ist meine allerbeste Freundin. Aber das heißt natürlich nicht, dass ich ihm davon erzähle, was ich über Daniel denke. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er das auch nicht gerne hören würde. Beste Freundin hin oder her.

Gregory schoss mir einen Blick wie Sturmgewitter über der Nordsee rüber. Ich lächelte zuckersüß zurück (wie das sonst nur meine Hinternwackel-Schwester Tessa und Zuckerpüppchen Kenny beherrschen).

Iris merkte nichts. Stattdessen schaute sie strahlend in die Runde. »Prima! Wenn alle satt sind, würde ich gern noch etwas sagen. Ich habe nämlich eine Überraschung, Kinder!« Iris guckte noch strahlender. »Eine richtig dicke Überraschung!«

Mir krampfte sich der Magen warnend zusammen. Ganz offenbar handelte es sich um etwas, das Iris für großartig hielt. Was unter den allermeisten Umständen nicht unbedingt das ist, was auch der Rest der Familie für großartig hält. Was konnte das sein? Eine neue wundervoll exotische Nahrungsmittelkombination? (Würg!)

Oder war ihr möglicherweise eine feste Anstellung in der Küche des kleinen Zoos bei uns in der Stadt angeboten worden? Vielleicht reagieren Wölfe und Hängebauchschweine ja dankbarer auf Iris’ Kochkünste …? Ich jedenfalls wäre mehr als dankbar für JEDE feste Stelle, die ihr angeboten wird.

Bei dieser Vorstellung keimte etwas wie Hoffnung in mir auf, und ich sah sie erwartungsvoll an. Wenn zumindest einer von unseren Eltern mal für ein paar Stunden aus dem Haus käme und uns nicht rund um die Uhr auf der Pelle hockte, hätten wir vielleicht doch noch eine klitzekleine Chance, eine halbwegs normale Familie zu werden.

Doch Iris sagte nichts, sondern sah sich stattdessen suchend in der Küche um, so als ob sich vielleicht noch jemand unter dem Küchentisch versteckt haben könnte. Was natürlich – mal ehrlich – bei uns tatsächlich nichts Ungewöhnliches wäre.

»Wo ist denn Rema?«, fragte sie.

(Oh, da muss ich aber Rema verteidigen, sie sitzt wirklich nur ganz selten unter Tischen.)

Gregory guckte für alle Fälle hilfreich suchend vom Fußboden zur Decke hoch und dann an allen Schränken entlang. (Nicht dass unsere wohlig weiche und sehr runde Rema in einen unserer schmalen Küchenschränke gepasst hätte …)

Ich lächelte bloß schwach und äußerte die Vermutung, dass Rema ebenfalls bei Walter Walbohm drüben sein könnte.

Über Iris’ strahlende Miene huschte ein kleiner Schatten. »Ja, zieht denn jetzt hier einer nach dem anderen bei Walter ein?«

Unser supernetter Nachbar Walter Walbohm hat sich wieder bereit erklärt, Tessas spanischen Freund Javier und dessen Kumpel Ramón bei sich aufzunehmen. Ganz einfach weil es bei uns im Haus – so groß es auch ist – immer noch nicht genügend Schlafplätze gibt. Der Teil des Dachstuhls, der vor zwei Monaten eingekracht ist – oder besser, den Iris und Cornelius haben einkrachen lassen –, ist ja noch nicht wieder heil.

Das ist auch genau der Grund, warum Javier und Ramón wieder da sind. Nämlich um mit Walter zusammen endlich unser oberstes Stockwerk zu reparieren und wieder bewohnbar zu machen.

An der besorgniserregenden Tatsache, dass Cornelius davon überzeugt ist, dass er bei dem Bau ebenfalls tatkräftig anpacken wird, arbeiten wir noch. Will sagen: Wir bemühen uns alle gemeinsam darum, Cornelius genau davon abzuhalten. Vom Anpacken nämlich. Schließlich wollen wir ein sicheres Haus haben und nicht ein Dach, das bei der ersten Hüpfseil-Attacke von Kenny und Bonbon-Bentje ein weiteres Mal einstürzt. Auch wenn Cornelius das nicht gerne hört, handwerkliche Tätigkeiten gehören nicht gerade zu seinen Stärken.

»Ich fände es schön, wenn alle da wären«, meinte Iris eine Spur enttäuscht. »Es ist nämlich eine wirklich große Überraschung.« Nun breitete sich doch wieder ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Sie fing an, die Nachtisch-Schüsseln zusammenzustellen. (Gregory hatte beide Portionen wacker verdrückt und sah erstaunlicherweise nur ganz wenig grün im Gesicht aus.)

Iris seufzte, lächelte aber immer noch. »Na gut, dann werde ich mich eben bis zum Abendessen gedulden müssen! Dann sind ja auch Tessa und Malea wieder da.« Sie guckte mich und Gregory an. »Sagt ihr bitte Rema Bescheid, dass sie kommt? Sie kann Walter gerne mitbringen. Und Javier und Ramón natürlich auch.«

»Okay.« Ich nickte brav. Machte mir aber nun doch wieder große Sorgen. Denn Überraschungen, die mit Iris oder Cornelius zu tun haben, nehmen gelegentlich keine allzu gute Wendung …

Oh Mann, wenn ich jetzt so drüber nachdenke, wird mir klar, dass ich genau an dieser Stelle die fiese Sache mit dem Tagebuch völlig vergessen haben muss!

Jedenfalls standen Gregory und ich kurz darauf auf, um endlich zur Hühnerfabrik rüberzumarschieren. Ich schulterte meine brandneue, superteure, von meinem eigenen, selbst verdienten Geld gekaufte Kamera und dachte nur noch an die armen, zu Hunderten in riesigen Hallen eingequetschten, unglücklichen Hühner.

Bis mir jetzt eben auf dem Weg mitten durch die Stadt der gemeine Tagebuchklau wieder einfällt! Augenblicklich gucke ich Gregory finster an.

»Hoho! Was ist denn los?« Gregory guckt verdattert zurück. »Hast du gerade Blähungen bekommen? So schlimm waren die Marzipanröllchen doch gar nicht!«

Blähungen, pah!

»Hast du vor, noch öfter mein Tagebuch zu lesen?«, frage ich ziemlich giftig zurück.

»Livi! Also echt!« Gregory atmet tief aus und sieht mich vorwurfsvoll an. Dann besinnt er sich eines Besseren. »Es tut mir leid, okay? Ich dachte nicht, dass das so ein Riesending ist!«

»Wie bitte? Du dachtest nicht, dass …«

Doch genau in diesem Moment bleibt mir das Wort im Halse stecken. Denn genau in diesem Moment verliert ein Stückchen vor uns auf der Hauptstraße jemand die Kontrolle über sein Fahrzeug. Das viel zu schnell fahrende Auto fängt ganz merkwürdig zu schleudern an. Quietscht wie blöde. Rammt erst den einen Kantstein, dann den anderen. Und rast plötzlich auf uns zu.

Eine Sekunde später fühle ich einen heftigen Stoß. Keinen Schmerz.

Der Stoß hebt mich in die Luft.

Immer noch kein Schmerz.

Aber ich höre einen dumpfen Schrei neben mir. War das Gregory?

Ich registriere, dass ich fliege, und dann …

… wird alles dunkel.

Malea

Na super, das neue Jahr fängt echt gut an! Aber:

erste James-Bond-Regel: immer cool bleiben!

Zweite James-Bond-Regel: immer höflich bleiben!

Dritte James-Bond-Regel: nichts anmerken lassen!

Absolut gar nichts. Nie. Egal was.

Wer hat sich das mit dem platschdoofen Nachmittagsunterricht bloß ausgedacht! Und jetzt ist auch noch die Heizung ausgefallen und wir bibbern um die Wette. Sogar Frau Heinzig da vorne. Obwohl die trotz der Kälte immer noch redet wie die Samstagabend-Lottofee. Möchte wissen, was es da zu lächeln gibt, wenn man von so was Langweiligem wie Karl dem Großen und Pippin dem Kurzen faselt und ab und zu unverständliche Zahlen an die Tafel kritzelt.

Gibt es vielleicht auch Otto den Dickbauch und einen Hannibal den Hungerhaken? Hahaha!

Ach nee, Hannibal war ja so ’n anderer Typ, der irgendwas mit Elefantenreiten in den allerschönsten Skigebieten gemacht hat. Weiß nicht mehr genau, wieso. Aber – ehrlich! – Elefanten im Schnee! Die trampeln doch die ganzen Pisten kaputt! Daran sieht man mal, was Geschichtsunterricht für ein Unsinn ist. So was ist ja wohl nicht wirklich passiert!

Ich gucke nach draußen und sehe, dass tatsächlich wieder, wie heute Morgen schon, ein paar Flöckchen fallen. Und immer mehr und mehr und mehr … Klasse! Da können Kenny und ich heute Abend vielleicht noch einen Schneemann im Garten bauen.

»Malea?«

Warum lernen wir eigentlich nichts Vernünftiges? Etwas, das man zur Abwechslung WIRKLICH gebrauchen könnte?

Wie man Leute beschattet, zum Beispiel (obwohl ich das schon ziemlich gut kann). Oder wie man sich wehrt, wenn einen zwölf muskelbepackte Gorillas mit Maschinengewehren angreifen, und wie man dann alle zwölf auf einmal ohne eigene Kratzer schachmatt setzt. James Bond kann das! Aber über James Bond hat die lächelnde Frau Heinzig noch nie geredet!

»MALEA?«

»Äh, ja?«

»Alles in Ordnung?« Die herzige Frau Heinzig lächelt immer noch.

Wahrscheinlich hat sie sich das Lächeln ins Gesicht operieren lassen und kriegt es nun nicht mehr weg. Arme Frau! Manche Erwachsene machen ja echt total beknackte Sachen, die man als klar denkende Elfjährige nicht für möglich halten würde.

»… möchte ich, dass du dich deswegen bitte nach vorne an die Tafel begibst!«

»Äh, was?«

»Sag mal, hörst du mir eigentlich zu, Malea?«

»NATÜRLICH!« Ich richte mich kerzengerade auf und schaue Frau Heinzig treu und brav in die Augen. Zweite James-Bond-Regel: immer höflich bleiben!

»Na prima«, meint die lächelnde Lottofee, »dann kann ja nichts schiefgehen.« Sie winkt mich nach vorne.

Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich da vorne soll. Ich werfe Brenda, Lasse, Miriam und sogar Sophie einen auffordernden Blick zu. Schließlich kommt auch James Bond nicht ganz ohne Freunde aus. Nur gemeinsam kann man die Welt retten. Und jetzt könnten Brenda, Lasse, Miri oder Sophie zur Abwechslung doch mal mich retten!

Brenda hat ihre Augen weit aufgerissen und sieht beinahe so verzweifelt aus, wie ich mich fühle. Ganz offenbar hat sie auch keinen Schimmer von Geschichte.

Dritte James-Bond-Regel: nichts anmerken lassen!

Ich gehe also unbeeindruckt tapfer weiter nach vorne.

Lasse rafft überhaupt nicht, was passiert, weil er unter dem Pult mit seinem Handy spielt.

Sophie quatscht mit Carla und scheint ansonsten nicht im Mindesten daran interessiert zu sein, ob ich hier gleich hilflos vor der Klasse stehe wie ein Schaf im Supermarkt. Blöde Kuh!

Nur Miri bewegt ihre Lippen, als wollte sie mir etwas zuflüstern. Bloß was? Lauter, Mensch! Denkt die, dass ich Lippen lesen kann, oder was?

Die dumme Frau Heinzig kann das. Auf jeden Fall besser als ich. »Miriam, ich glaube dir, dass du uns die vier unterschiedlichen Formen der mittelalterlichen Ehe erklären kannst. Aber ich würde es gerne von Malea hören, wenn du nichts dagegen hast.«

Die arme Miri wird knallrot und kneift ihre Lippen nun fest zusammen.