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Deutschland 1938: Adolf Hitler strebt dem Höhepunkt seiner Macht entgegen. Im Volk ist er so beliebt wie nie zuvor, politisch gelingt ihm, woran alle seine Vorgänger seit den Weimarer Jahren kläglich gescheitert sind. Der selbsternannte Führer ist Held, Genie und Erlöser in einer Person. Wenige ahnen, dass sich am Horizont etwas Unheilvolles zusammenbraut. Eine Handvoll Offiziere der Wehrmacht begreift, dass das Reich einem neuen europäischen Krieg entgegensteuert. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen sie, die bevorstehende Katastrophe zu verhindern und das Vaterland vor dem Untergang zu bewahren. Notfalls auch, indem sie den Diktator gewaltsam beseitigen. Unterdessen ahnen wie die meisten Menschen die Schüler Christoph, Jan, Peter und Michel von alldem nichts. Sie beschäftigt anderes, denn zwar nimmt die NS-Ideologie zunehmend Einfluss auf ihren Alltag, doch das Abschlussjahr steht unmittelbar bevor. Und auch das Erwachsenwerden wartet mit ganz eigenen Tücken auf.
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Seitenzahl: 887
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Nachwort
Literaturverzeichnis
Die Clique
der Ehrlosen
Ein
Historischer Roman
von
Thomas Majhen
Copyright © 2023 Thomas Majhen
Brunnenstraße 42, 10115 Berlin
2. Auflage: 05/2023
Datum der Erstveröffentlichung: 03/2021
Umschlaggestaltung/Artwork: © Thomas Majhen
unter Verwendung des Fotos
Bundesarchiv, Bild 102-15282A / Georg Pahl /
CC-BY-SA 3.0, bearbeitet und verändert
durch den Verfasser
Lektorat/Korrektorat: Tom Klein
Druck und Bindung: Amazon.com, Inc.
Alle Rechte vorbehalten
»Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unvernünftiger, verbrecherisch-dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab praktisch der deutschen Wehrmachtsführung auszurotten.«
Adolf Hitler in einer Rundfunkansprache nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944
Kapitel 1
August 1944
Es war nur schwer zu sagen, was schlimmer war: der Umstand, dass die in ein Gitter eingefasste Lampe an der Decke Tag und Nacht brannte, oder die damit verbundene Begleiterscheinung, die sich durch ein fortwährendes elektrisches Summen äußerte. Hätte das Summen zur Schlafenszeit aufgehört, wäre diese Frage leicht zu beantworten gewesen. Doch es hörte nicht auf, war untrennbar mit dem eingeschalteten Licht verbunden. Licht und Summen waren wie zwei unermüdliche Quälgeister, die Köpfe eines gemeinen siamesischen Zwillings, die sich gegenseitig in ihrer nervtötenden Bosheit zu übertrumpfen suchten.
Rücklinks auf der schmalen Pritsche liegend, die mit Scharnieren an der Wand befestigt war und tagsüber hochgeklappt wurde, starrte der Häftling die Deckenleuchte an und versuchte zu ignorieren, wie die Metallstreben durch die dünne, durchgelegene Matratze in seinen Rücken schnitten. Schon nach wenigen Minuten begannen seine müden Augen zu schmerzen, dennoch zwang er sich, weiter in das Licht zu sehen. Nach einer Weile begannen seltsame Farben vor ihm zu tanzen, gelbe Kreise schwollen zu einem Meer aus Magma an, das von roten Flammen durchdrungen wurde. Die Ströme aus Feuer und flüssigem Gestein wirbelten durcheinander, verschmolzen miteinander, trennten sich wieder und wichen schließlich einem grellen Weiß, das bald das gesamte Zentrum der Erscheinung ausfüllte.
»Die Sonne«, dachte der Gefangene, »ich blicke in die Sonne. Ach, wenn es doch nur die Sonne wäre.« Eine stumme, eine leise Sonne, die abends hinter dem Horizont verschwand und niemals auch nur das kleinste Geräusch von sich gab.
Bald schien es dem Gefangenen, als nähme auch das Summen an Intensität zu. Zunächst klang es wie eine einzelne verirrte und vergeblich nach einem Ausgang suchende Fliege, die sich mit ihm in der Zelle befand. Schon waren es zwei Fliegen, irgendwann zehn, schließlich handelte es sich um einen ganzen Schwarm, der nicht mehr nur Wände und Decke nach einem Schlupfloch ins Freie abtastete, sondern stattdessen Zuflucht in seinem Kopf zu suchen schien. Wirre Gedanken wogten durch sein Hirn wie Wein, den man allzu schwungvoll in einen Dekanter goss. Hier und da tauchte ein Name oder ein Wort auf: Gertrud, Harald, dann der Admiral, Heinz, die Dokumente … alles verquirlte zu einem scheinbar zusammenhanglosen und unauflösbaren Knoten, der seinen Verstand gefesselt hielt.
Die gleißende Sonne, der unsichtbare Fliegenschwarm, die Namen von Menschen, die er vermutlich niemals wiedersehen würde – es war zu viel für seinen erschöpften Geist. Der Gefangene spürte, wie sein Kopf immer schwerer wurde, sich mit flüssigem Blei füllte und tiefer in das Kissen sank, während sich sein Körper aufzulösen schien, bis er nicht einmal mehr das harte Metallgestell der Pritsche unter sich spürte. Endlich wurde er von einem sternenlosen schwarzen Weltall verschluckt und fiel in einen schweren Schlaf, der dem Tode näher war als dem Leben.
Tot aber war er nicht. Ob das nun gut oder schlecht war, das konnte er selbst nicht mit Sicherheit entscheiden. Als er erwachte, wusste er für einen kurzen Augenblick nicht, wo er sich befand. Auch vermochte er nicht zu sagen, ob er eine Stunde oder einen Tag geschlafen hatte; das eine wäre ebenso gut möglich gewesen wie das andere. Schwach, widerwillig fast, entzündete sich der Funke seines Bewusstseins. Gleichzeitig verdeutlichten ihm die Schmerzen in seinem Rücken, dass er noch unter den Lebenden weilte.
Erschrocken – ob durch die Schmerzen oder den Umstand, dass er lebte, war schwer zu sagen – riss er die Augen auf. Sofort war ihm, als schütte jemand einen Eimer gleißenden Lichts direkt ins Gesicht. Ein stechender Blitz drang in sein Gehirn, mit der Hand versuchte er seine Augen gegen die Glühbirne abzuschirmen und zu schützen. Er drehte sich zur Wand und versuchte dadurch, dem unbarmherzigen Gleißen zu entkommen. Angestrengt bemühte er sich, seine Gedanken zu ordnen. Seine Augen suchten die graue Zellenwand ab, schweiften über kleine Kratzer und tiefe Risse, über einen gewaltigen Krater, wo der feuchte Putz abgeblättert war und die darunterliegende Ziegelmauer freilegte.
Vom Gang hinter der Zellentür war ein kurzer Schrei zu hören, der sofort von einem dumpfen Geräusch erstickt wurde.
»Sonderegger«, dachte der Gefangene, »oder irgendein anderes sadistisches Schwein.« Von der Sorte gab es hier genug.
Oh ja, er wusste wo er war. Und er hatte Angst, das gestand er sich unumwunden ein. Trotzdem durfte er nicht zulassen, dass ihn sein Verstand im Stich ließ und ihn die Angst übermannte. Wenn er seinen Kopf jemals wieder in einen freien Himmel emporrecken wollte, wenn er seine Frau und seine Kinder jemals wiedersehen wollte, durfte er keine Schwäche zeigen, musste er gegenüber sich selbst die gleiche Härte walten lassen wie seine Peiniger. Sein Verstand, seine Unermüdlichkeit und seine Unnachgiebigkeit waren die einzigen wirklichen Waffen, über die er jemals verfügt hatte, und er konnte es sich gerade jetzt nicht leisten, dass diese Waffen stumpf wurden. Er musste ihre Schärfe erhalten, sie mussten schärfer werden als sie es jemals waren. Dann würde er auf eine Gelegenheit lauern, da sich seine Feinde eine Blöße gaben, und zuschlagen – genauso wie er es schon einmal getan hatte.
An irgendeinem Punkt jedoch musste er die falsche Richtung eingeschlagen haben, er hatte seine Deckung sinken lassen oder war schlichtweg nicht stark genug gewesen. Natürlich, letztlich war sein Verhängnis einer dummen Nachlässigkeit zu verdanken, einem winzigen Augenblick der Unaufmerksamkeit:
Bei einem geradezu närrischen Versuch, noch bei der Verhaftung eines Freundes vor den Augen der Gestapo Unterlagen verschwinden zu lassen – ein Missverständnis eigentlich um zudem vollkommen unwichtige Dokumente, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte –, war er unter Verdacht geraten und mit einem Hausarrest belegt worden.
Monatelang hatte man ihn danach überwacht und war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt. Damals konnte ihm die Geheime Staatspolizei nichts anhaben, da sein Fall innerhalb der Jurisdiktion der Wehrmacht lag und vor dem Reichskriegsgericht verhandelt werden sollte. Doch dann, noch bevor es zur Hauptverhandlung kommen konnte und nur einen Tag nach diesem schicksalhaften 20. Juli, vor wenigen Wochen erst, war man wohl des Spieles überdrüssig geworden. Man hatte ihn aus der Wehrmacht ausgestoßen, die Ermittlungen an die Gestapo abgegeben und ihn festgenommen.
Tatsächlich aber hatte das Schicksal schon wesentlich früher seinen Lauf genommen, Jahre bevor er herausfinden musste, wie die Kellerräume dieses berüchtigten Gebäudes in der Prinz-Albrecht-Straße von innen aussahen. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wo er vom Weg abgekommen war, was er hätte tun können, ja ob er überhaupt jemals eine echte Chance gehabt hatte, sein Schicksal abzuwenden. Diese Frage ließ sich unmöglich beantworten, das wusste er, dennoch spukte sie unentwegt durch seinen Geist, quälte und folterte ihn, was fast noch schlimmer war als alles, was ihm seine Widersacher antun konnten.
Über sich vernahm der Gefangene wieder das gleichförmige Summen der Lampe. Erstaunlich, dachte er bei sich, wie doch ein einfacher, vollkommen alltäglicher Gegenstand in ein Instrument der Marter verwandelt werden konnte. Er wunderte sich, wer wohl als erster auf die im Grunde banale Idee gekommen sein mochte, ausgerechnet eine Glühbirne zu verwenden, um Menschen zu zermürben. Eine Erfindung, die dazu angedacht war, Licht in eine dunkle, bis dahin lediglich vom fahlen Kerzenschein schwach erhellte Welt zu tragen. Eine großartige technische Errungenschaft, die das Leben der Menschen grundlegend veränderte – fast immer zum Guten. Was wohl der geniale Thomas Edison zu dieser schändlichen Zweckentfremdung seiner Schöpfung gesagt hätte?
Der Gefangene zwang seine abschweifenden Gedanken in geordnete Bahnen zurück. Er lauschte, horchte nach Schritten, klirrenden Schlüsseln oder dem klickenden Geräusch eines Riegels, der sich aus dem Schloss schob, und versuchte herauszufinden, wie spät es sein mochte. Nach allem, was er wusste, konnte der Morgen noch nicht angebrochen sein, denn immerhin war es ihm noch immer gestattet, auf seiner schmutzigen und unbequemen Pritsche zu liegen. Er schüttelte den Kopf und bewirkte damit nichts anderes, als neue Schmerzen hinter seiner Stirn heraufzubeschwören. Wieder hatte er sich völlig unsinnigen und wirren Gedanken hingegeben, die ihn kein Stück weiterbrachten. Die Uhrzeit spielte keine Rolle, der Wochentag ebenso wenig. Einzig entscheidend waren die Zeiteinheiten von Monat und Jahr, die beide möglichst im Fluge vergehen sollten, ohne dass es zu seiner Verurteilung käme.
Seine Gedanken wehrten sich vehement gegen die verzweifelten Kontrollversuche und schweiften erneut ab, wandten sich einem Detail der täglichen Routine zu, das hier drinnen leicht die gesamte Gedankenwelt vereinnahmen konnte. Mit etwas Glück gäbe es bald Frühstück: zwei Scheiben hartes Brot mit Margarine, die nach absolut gar nichts schmeckte, meist ranzig war und ein pelziges Gefühl im Mund hinterließ, sowie Marmelade, dazu einen Becher lauwarmen Ersatzkaffee. Wenn er Pech hatte, würde man das Frühstück großzügig übergehen, ihn stattdessen abholen und einem weiteren Verhör unterziehen. Gab es auch nur eine einzige Sache, die er in seiner Zeit in diesem Loch gelernt hatte, dann, dass es besser war, stets mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Der Gefangene schloss die trockenen Augen und versuchte das Bild fettglänzender Marmeladenbrote aus seinem Geist zu verbannen. Resigniert musste er feststellen, dass die Brote blieben und seine Augen zudem noch stärker brannten, als wenn er sie offenließ. Er versuchte sich zu konzentrieren und bemühte sich, Hunger, Schmerz und Kummer in die tiefsten Winkel seines Ichs zu verbannen.
»Der Plan«, murmelte er leise gegen die Zellenwand, »ich muss mich unbedingt an den Plan halten.«
In Gedanken durchlebte er noch einmal seine letzte Begegnung mit Heinz und dem Admiral. Es mochte erst ein paar Tage her sein, vielleicht waren es Wochen, das war schwer zu sagen. Ebenso gut hätten es aber auch Jahre sein können. Die Zeit, dieses ohnehin trügerische Konstrukt der zivilisierten Welt, verzerrte sich an diesem Ort fernab aller Zivilisation, wurde weich wie in der Sonne schmelzender Camembert, floss zäh dahin und entzog sich demjenigen, der sie zu fassen suchte. Ginge es nicht um Leben und Tod, so hätte man fast sagen mögen, Zeit spiele hier drinnen keine Rolle. Diese letzte Begegnung nun also lag eine nicht genau bestimmbare Anzahl an Tagen oder Wochen zurück. Gefesselt war er von einem Wachmann hinaus auf den Flur gezerrt worden, wo man ihn barfuß auf dem kalten Boden einige Minuten hatte warten lassen. Als man ihn schließlich vorwärts in Richtung des kleinen schäbigen Waschraums am Ende des Ganges getrieben hatte, war ihm aufgefallen, dass sich offenbar noch zwei weitere Häftlinge zu dem seltenen Ereignis der Körperhygiene hinzugesellen sollten ...
***
Schwerfällig watschelnd schleppte sich der Gefangene den Flur entlang. Auf dem eisigen Steinboden, der wie glühende Nadeln in die blanken Sohlen stach, erzeugten seine nackten Füße ein platschendes Geräusch. Erst, als sie zu dritt den Waschraum erreichten, erkannte er, dass es sich bei seinen Waschgenossen um Heinz und den Admiral handelte. Sie beide waren kaum wiederzuerkennen.
Den harten Haftbedingungen zum Trotz hatte Heinz kaum etwas von seiner kräftigen, stämmigen Statur eingebüßt. Er war schon immer zäh und ausgesprochen hart im Nehmen gewesen, lediglich die rot unterlaufenen Augen und die fahle Gesichtsfarbe verrieten, dass man dem Hauptmann wohl eine ähnliche Behandlung zuteilwerden ließ wie ihm selbst.
Beim Anblick des Admirals hingegen erschrak er regelrecht. Der nicht sehr große Mann hatte selbst in seinen besten Jahren nie eine stolze Erscheinung dargeboten, nun jedoch wirkte er grau und eingefallen wie eine frische Mumie. Sein schneeweißes Haar war zerzaust und unordentlich und es schien, als sei sein ohnehin kleiner Körper noch einmal um die Hälfte geschrumpft.
Alle drei waren sie fast nackt. Abgesehen von Heinz – warum man hierbei eine Ausnahme gemacht hatte, wusste er nicht – waren ihnen außerdem die Hände gebunden worden. Als er sich der Blicke der beiden Männer bewusstwurde, die ihn mit einer Mischung aus Trauer, Mitleid und Entsetzen ansahen, musste er sich eingestehen, dass er selbst wohl keinen besseren Anblick bot. Einen Spiegel gab es in der Kammer nicht, worüber er in diesem Moment sogar froh war.
Der Wachmann zog sich in den Flur zurück und ließ die drei Männer allein. Über das Wunder, dass man sie hier für einige Minuten unbeaufsichtigt versammelte, konnte man nur staunen. Es war zu vermuten, dass der listenreiche Admiral dies irgendwie zu Wege gebracht haben mochte, doch sich darüber auszutauschen, blieb keine Zeit. Zögerlich, beinahe schüchtern wie junge Burschen, die sich zum ersten Mal nackt in der Gemeinschaftsdusche präsentierten, rückten sie näher aneinander und steckten die grauen Köpfe zusammen.
Für Höflichkeiten bestand keine Not und so kam der Admiral direkt auf den Punkt.
»Schon in sechs Wochen kann der Krieg vorbei sein. Im ungünstigsten Fall dauert er vielleicht noch ein dreiviertel Jahr. Unsere einzige Chance, hier lebend wieder herauszukommen, besteht also darin, Zeit zu gewinnen. Wir dürfen unser Wissen nur Scheibchenweise preisgeben und müssen immer den Anschein wahren, als wüssten wir noch vieles mehr. So wird man uns als die vermeintlichen Hüter wichtiger Geheimnisse noch auf Monate in unseren Zellen brüten lassen. Ist dann der unvermeidliche Tag des Zusammenbruchs endlich da, werden wir von den Siegermächten befreit.«
Schnell einigten sich die Männer auf die Vorgehensweise, sich bei den Befragungen nur zögerlich Informationen entlocken zu lassen, und auch nur solche, die ihnen nicht unmittelbar gefährlich werden konnten. Weiterhin kam man darin überein, dass Hauptmann Heinz, der offiziell nur für die Presseabteilung der Abwehr zuständig gewesen war, also eine vergleichsweise unbedeutende Position bekleidet hatte, als ahnungsloser Handlanger dargestellt werden sollte, den man über die genauen Pläne im Unklaren gelassen hatte. Durch diese Taktik spekulierte man auf seine baldige Entlassung, sodass er die Befreiung seiner Komplizen in die Wege leiten oder sich wenigstens um die Beseitigung des noch reichlich vorhandenen belastenden Materials kümmern konnte.
Mit langen Blicken, aber ohne weitere Worte, verabschiedeten sich die drei Männer sodann voneinander – vielleicht für immer. Nicht einmal mit auch nur einem einzigen Tropfen des eiskalten Wassers in Berührung gekommen, führte man sie nacheinander genauso schmutzig und elend, wie sie gekommen waren, wieder aus dem Waschraum in ihre Zellen ...
***
In Embryonalstellung auf der Pritsche zusammengekrümmt, stieß der Gefangene einen leisen Fluch aus. Sein Magen knurrte fürchterlich. Nichts wünschte er sich in diesem Augenblick sehnlichster herbei als diese beiden lächerlichen Marmeladenbrote und den handwarmen Becher Muckefuck. Hunger und Durst erschwerten das Denken zusätzlich und es war zu vermuten, dass hinter der systematischen Auszehrung genau diese Absicht stand. Einschlafen konnte er dadurch ebenfalls nicht mehr und so brachte er eine scheinbare Ewigkeit in einem fieberartigen Dämmerzustand zu, in dem sich wirre Gedanken eine wilde Jagd lieferten – bis er irgendwann das Klirren eines Schlüssels vor seiner Zellentür vernahm.
Schwungvoll, ja wütend wurde die Tür aufgestoßen und zwei in Schwarz gekleidete SS-Wachen stürmten herein. Mit wenigen großen Schritten war einer der beiden an der Pritsche und verpasste dem noch immer mit dem Gesicht zur Wand daliegenden Gefangenen ohne Vorwarnung einen heftigen Schlag gegen das linke Ohr. Zum augenblicklich einsetzenden stechenden Schmerz gesellte sich ein widerwärtiges schrilles Pfeifen, das sich mit Lichtgeschwindigkeit im Kopf des Häftlings ausbreitete. Noch ehe der auch nur den Versuch unternehmen konnte, sich zu erheben, wurde er bereits von groben Händen gepackt und von seinem Lager gezerrt. Ohne den Sturz abfedern zu können, knallte er rücklings auf den harten Zellenboden und prellte sich dabei das Steißbein.
»Los, steh auf, du Verräterschwein! Heute gibt’s ′ne Sonderbehandlung für dich.«, maulte eine der Wachen.
Unsanft wurde das sogenannte Verräterschwein von den beiden SS-Männern unter den Achseln gefasst und auf die Beine gezerrt. Mehr verwirrt als verängstigt, sah er die beiden an und versuchte, benommen von Schmerz, Hunger und Erschöpfung, zu sich zu kommen. Das Pfeifen in seinem Ohr und das Pochen in seinem Gesäß erschwerten diese Bemühung zusätzlich.
»Wenn du pissen musst, dann lass laufen. Sollte dir oben auch nur ein Tropfen entweichen, dann schwöre ich dir, lernst du mich kennen!«
Er musste nicht pissen. Wie könnte er auch, hatte er doch seit vielen Stunden nicht das kleinste bisschen Flüssigkeit zu sich genommen, in einem entsprechend ausgetrockneten Zustand befand sich sein Körper. Ihm wäre ohnehin gar keine Zeit zum Austreten geblieben, denn noch bevor diese Drohung richtig ausgesprochen war, wurde er halb getragen, halb geschoben auch schon hinaus auf den Flur befördert.
Auf dem Weg in den ersten Stock sah der Verräter erstmals seit Äonen, wie es ihm vorkam, das Tageslicht. Obwohl von Sehen im eigentlichen Sinne keine Rede sein konnte, denn obschon draußen ein schöner Sommertag zu sein schien, war ihm, als sei alles um ihn herum wie bei einer überbelichteten Fotografie in grelles Weiß getaucht. Das von den kahlen Wänden reflektierte Licht war sogar noch greller als die kleine summende Sonne in seiner Zelle, und so hielt er fast die ganze Zeit über den Kopf gesenkt und blinzelte seine Füße an. Dadurch hoffte er wenigstens nicht zu stolpern, was unweigerlich weitere Schläge und Misshandlungen durch seine Bewacher nach sich gezogen hätte. Nachdem das Dreiergespann einige Gänge und Korridore durchschritten hatte, erreichten sie den Verhörraum. Den kannte der Verräter bereits besser als ihm lieb war.
Drinnen war es bis auf eine einzelne, waagerecht ausgerichtete Lampe stockdunkel. Als die Wachen ihn in den Raum stießen und die Tür schlossen, wurde er von einer rauchigen, beinahe schönen Männerstimme begrüßt.
»Mein lieber Oster, schön, dass Sie es einrichten konnten!«
Einer der SS-Männer grunzte vor Häme.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz und leisten mir etwas Gesellschaft. Ich bin mir sicher, wir haben noch einiges zu besprechen.«
Der Häftling namens Oster wurde zu einem Stuhl geführt, der im Zentrum des Scheinwerferlichts stand, und unsanft darauf niedergedrückt. Sein geprelltes Steißbein protestierte sofort und jagte ihm einen Stich durch den Unterleib. Man fesselte seine Arme und Beine, sodass er sich kaum rühren konnte, während ihm die Lampe direkt ins Gesicht leuchtete.
»Schon wieder Licht.«, dachte er angeekelt. Gab es denn auf dieser Welt keine Nacht, keine richtige Dunkelheit mehr? »Edison, was hast du mir mit deiner unglückseligen Erfindung nur angetan!«
Der Gestapo-Beamte mit der rauchigen Stimme saß ihm gegenüber an einem Schreibtisch. Seitlich hinter dem Beamten befand sich die Lampe, sodass Oster ihn nicht richtig sehen konnte und gezwungen war, gegen das Licht anzublinzeln. Ein freches Glühwürmchen tanzte vor Osters zusammengekniffenen Augen, der Rauch einer Zigarette stieg ihm in die Nase. Für ein paar Züge hätte er sogar eines seiner erbärmlichen Marmeladenbrote geopfert. Doch die hatte man ihm bislang nicht nur vorenthalten, es stand auch zu bezweifeln, ob sich der Gestapo-Mann auf diesen Tausch eingelassen hätte.
»Nun, Oster …«, begann der Beamte von neuem und zögerte einen Moment. »Darf ich Hans zu Ihnen sagen? Das ist doch viel persönlicher, nicht wahr? Und als persönlich kann man unser Verhältnis wohl durchaus bezeichnen, meinen Sie nicht auch?«
Hans Oster gab darauf keine Antwort. Zu sehr war er damit beschäftigt, sich dem Licht, so gut es ihm in seinem gefesselten Zustand möglich war, zu entziehen. Gleichzeitig mühte er sich, seine Gedanken zu sammeln, um sich gegen das unmittelbar bevorstehende Verhör zu verteidigen.
Auf ein unsichtbares Zeichen des Beamten hin wurde Hans Oster von hinten am Kopf gepackt. Während sich sein Schädel anfühlte, als wäre er in einen Schraubstock eingespannt worden, machte sich ein weiteres Paar Hände in seinem Gesicht zu schaffen. Eins nach dem anderen wurden seine Augenlider hochgezogen und mit Hilfe von Klebestreifen aus Leukoplast an seinen Augenbrauen fixiert. Nun waren seine Augäpfel völlig ungeschützt dem gnadenlosen Scheinwerferlicht ausgeliefert. Er stöhnte vor Schmerz und Unbehagen.
Geduldig ließ der Beamte die Bestrahlung wirken. Der menschliche Körper war doch etwas Wunderbares, sinnierte er rauchend. Hinderte man diesen auch nur an der Ausübung der einfachsten Funktionen, konnte das großes Unwohlsein verursachen.
»Mit wenigen Worten können Sie sich selbst das hier ersparen – und auch das, was wir sonst noch für Sie auf Lager haben, sofern Sie nicht bald den Mund aufmachen. Kommen Sie schon, Hans, Sie wissen doch, was ich hören will. Sagen Sie mir, dass Sie von den Attentatsplänen auf den Führer gewusst haben. Und geben Sie mir Namen.«
Der Stimme des Beamten war nun jeder Hauch gespielter Liebenswürdigkeit abhandengekommen. Oster war, als beuge sich der andere nach vorne, um der Bedeutung seiner Worte besonderes Gewicht zu verleihen.
»Sie wissen, dass Sie so gut wie tot sind. Ein Landes- und Hochverräter, das sind Sie. Die Beweise, die gegen Sie vorliegen, sind schon jetzt mehr als erdrückend. Ihr alter Freund Dohnanyi sitzt im Konzentrationslager Sachsenhausen, müssen Sie wissen. Er hat Sie schon nach ein paar Stunden verpfiffen. Sogar Ihr ehemaliger Beschützer, der Admiral, hat Ihnen mit seinen Aussagen nicht gerade einen Gefallen getan. Wenn es darauf ankommt, denkt doch jeder nur an sich selbst – eine Vorgehensweise, die ich auch Ihnen nahelegen würde.«
Hans Oster wand sich unter Verhör und Folter gleichermaßen, kämpfte darum, seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Dass ihn Dohnanyi und der Admiral verraten haben könnten, glaubte er nicht für eine Sekunde. Durch Lügen und Täuschung wollte man ihn verunsichern und weichklopfen in der Hoffnung, dass er, angetrieben von Rachegefühlen, seine Komplizen preisgab.
Immer wieder im Verlauf der vergangenen Jahre hatten sie sich so gut wie möglich darauf vorbereitet, dass man sie irgendwann verhaften könnte. Sie hatten gewusst, sodann würde es auf einheitliche, aufeinander abgestimmte Aussagen ankommen, Widersprüche oder Lücken konnten sie den Hals kosten. Zudem hatten sie sich nichts vorgemacht: Es gab zu viel belastendes Material gegen sie, als dass sie noch glaubhaft hätten behaupten können, von nichts gewusst zu haben. Ihre Strategie hatten sie deshalb um einen zwar makabren, dafür aber überzeugenden Schachzug ergänzt. Belastet werden sollten nämlich lediglich Personen und Mitwisser, die entweder bereits tot oder auf der Flucht waren. Niemals, so versicherte Oster sich selbst erneut, würde ihn jemand anschwärzen, um seine eigene Haut zu retten.
»Ich will ja reden«, keuchte er, »machen Sie nur dieses verfluchte Licht aus.«
Mit einer knappen Kopfbewegung gab der Beamte den Wachen ein Zeichen. Ein großer Schatten legte sich daraufhin über Hans Oster. Der Schatten besaß ein Gesicht, war aber nur undeutlich zu erkennen, weshalb das gemeine Grinsen, das sich darin abzeichnete, mehr zu spüren als zu sehen war. Dann verpasste ihm der Schatten unvermittelt einen heftigen Magenschwinger.
Oster schnappte nach Luft. Am liebsten hätte er sich umgehend übergeben, brachte aber nichts weiter als ein trockenes Würgen und ersticktes Husten heraus. Zu viel mehr war sein leerer Magen nicht imstande.
»Sie haben hier rein gar nichts zu fordern.«, schalt ihn der Beamte ruhig, aber streng wie ein Oberlehrer, der einen Schüler maßregelt. »Was bilden Sie sich eigentlich ein? Sie haben mir zu geben, was ich will, und sonst nichts.«
Einige Minuten lang sah er seinem Gefangenen schweigend dabei zu, wie dieser keuchend und schnaufend darum kämpfte, sich dem gnadenlosen Licht zu widersetzen. Dann, wie um seine eigenen Worte Lügen zu strafen, klappte der Beamte nach einem Moment des Zögerns den Lampenschirm nach unten und ließ durch ein Zeichen großmütig die Klebestreifen an den Augenlidern des Häftlings entfernen. Bei dieser Gelegenheit büßte der Malträtierte einen Teil seiner Oberaugenbehaarung ein.
Mehr routiniert als genüsslich zog der Gestapo-Mann an seiner Zigarette. Auch dieses Mal unterließ er es, Oster einen Zug anzubieten. Die Lust darauf war diesem aber ohnehin vergangen, wahrscheinlich wäre er im Augenblick auch gar nicht dazu in der Lage gewesen. Schwer nach Atem ringend, krümmte er sich, soweit es der Spielraum der Fesseln erlaubte, auf seinem Stuhl.
»Sie sehen, ich lasse durchaus mit mir reden«, schmeichelte der Beamte sich selbst, »sofern Sie vernünftig sind. Begreifen Sie doch, dieses Theater, das Sie hier veranstalten, all die Ausflüchte und Beteuerungen, das ist alles gänzlich zwecklos. Kindisch möchte ich fast sagen. Sie können sich hier abmühen und irgendeiner abstrusen Hoffnung hingeben, im Grunde ist mir das ganz gleich. Bedenken Sie jedoch, dass Sie dadurch nur ihr eigenes Elend verlängern.«
Der Beamte lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Eine Hand ließ er entspannt auf dem Schreibtisch ruhen.
»So gesehen haben Sie hier die Fäden in der Hand und nicht ich. Sie allein können nämlich entscheiden, wann es vorbei ist – bis zu einem gewissen Grad natürlich.
Seien wir doch ehrlich, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir genügend Beweise und Aussagen beisammenhaben. Dann wird es ganz unerheblich sein, ob und was Sie aussagen.«
Allmählich erholte sich Oster von dem Schlag. Es war erstaunlich, wie ihn der Umstand, langsam wieder vernünftig atmen zu können, in eine fast schon optimistische Stimmung versetzte. Ihm war durchaus aufgefallen, dass sich der Gestapo-Beamte soeben widersprochen und zugegeben hatte, dass die Beweislast gegen ihn wohl doch nicht so erdrückend war, wie eingangs behauptet. Der Moment, seinen Plan zu entfalten, schien gekommen.
»Ja«, sagte er nur und machte danach eine lange Pause.
Der Beamte betrachtete ihn und überlegte, ob der Gefangene zu Atem komme wollte oder darüber nachdachte, was er sagen sollte. Nicht, dass ihn das interessiert hätte. Er versuchte lediglich zu entscheiden, wie sich wohl ein weiterer Hieb auf dessen Redseligkeit auswirken würde.
Als der Gestapo-Mann schon ungeduldig zu werden drohte, fuhr Oster fort.
»Ich gebe es also unumwunden zu: Ich war unzufrieden mit den Verhältnissen. Ich wollte, dass sich etwas ändert. Ich wollte nicht warten, bis es zu spät war. Ich wollte die Sache selbst in die Hand nehmen.«
»Indem Sie einen Plan zur Ermordung des Führers ausarbeiteten.«, ergänzte sein Gegenüber ermunternd. Der Beamte wähnte sich schon am Ziel und sah Oster interessiert an.
Der schüttelte vorsichtig den Kopf. »Es ging uns zunächst nur darum, SS und Gestapo auszuschalten und die Rechtstaatlichkeit wiederherzustellen. Wir haben geglaubt, der Führer wisse nichts von den Machenschaften der SS. Unserer Ansicht nach arbeitete Himmler daran, die Macht an sich zu reißen. Wir wollten den Führer nicht umbringen. Wir wollten ihn retten …«
Kapitel 2
Ende Januar 1938
Was Oberstleutnant Hans Oster soeben von seinem Freund und Vertrauten erfahren hatte, war überaus beunruhigend. Wenn die Information den Tatsachen entsprach, barg sie gefährlichen Zündstoff in sich, der in der Lage wäre, das Ansehen und die Stellung der Wehrmacht innerhalb des Reiches entscheidend zu schwächen. Daher wollte er keine Zeit verlieren und die Angelegenheit so schnell wie möglich mit seinem Vorgesetzten besprechen. So wie er den Admiral kannte, wusste dieser ohnehin schon längst von der Sache und konnte, so hoffte er jedenfalls, etwas Licht ins Dunkel bringen und vielleicht sogar einen Weg zur Lösung des Problems aufzeigen.
Gemeinsam mit Regierungsrat Hans Gisevius, jenem Freund, der ihn über die beunruhigenden Neuigkeiten unterrichtet hatte, schritt Oster durch die Flure des Oberkommandos des Heeres. Der verwinkelte Gebäudekomplex am Berliner Landwehrkanal hatte einst als Hauptquartier von Marine und Reichswehr des Deutschen Kaiserreiches gedient. Nach dem verlorenen Weltkrieg war die Flotte durch die Bedingungen des Versailler Vertrags allerdings derart zusammengeschrumpft, dass man die zahllosen Räume nicht mehr auszufüllen vermochte. Das Heer, das im Gegensatz zur Marine in den Jahren nach dem Krieg verborgen vor den Augen der Westmächte illegal wiederaufgebaut worden war, hatte den freigewordenen Platz gerne in Anspruch genommen. Am Tirpitzufer, wo sich der älteste Gebäudeteil des riesigen Komplexes befand, war auch die sogenannte »Abteilung Ausland/Abwehr«, der Auslandsgeheimdienst des Heeres, untergebracht. Seit 1935 war Oster Mitarbeiter dieser von Admiral Wilhelm Canaris geleiteten Einrichtung.
Zügig erreichten Oster und Gisevius das Vorzimmer zum Büro des Admirals und traten, ohne sich zuvor durch dessen Sekretärin anmelden zu lassen, nach einem hastigen, ungeduldigen Anklopfen umgehend ein.
An einem Schreibtisch saß eine kleine Gestalt tief über einen Haufen Papiere gebeugt. Obwohl der Mann erst Anfang fünfzig war, besaß er bereits schneeweißes Haar, das er gescheitelt und nach hinten zurückgekämmt trug. Das Auffälligste an ihm waren jedoch die großen Ohren mit den fingerdicken Läppchen, die breite Nase und die buschigen, ebenfalls makellos weißen Augenbrauen. Als die Gestalt die beiden Besucher bemerkte, hob sie leicht den ovalen Schädel und blickte ihnen mit seinen wasserblauen Augen fragend entgegen.
»Gisevius hat mir von den Vorwürfen gegen den Kriegsminister berichtet.«, begann Oster ohne Umschweife. »Ist es wahr?«
Admiral Wilhelm Canaris richtete sich auf und klappte den Aktenhefter, in dem er gerade gelesen hatte, zu. In seinen Augen lag Trübsal, seine Stimme klang leise und nicht sehr fest. »
Es hat ganz den Anschein.« Er sah Oster an, dann wandte er sich an dessen Begleiter. »Ich nehme an, Sie haben die Akte ebenfalls gelesen?«
Der Angesprochene nickte und schob die Brille, die durch die Kopfbewegung etwas von ihrem Halt auf dem Nasenrücken verloren hatte, mit dem Zeigefinger zurecht. Als er sprach, reckte er das gespaltene Kinn nach vorn.
»Schwarz auf weiß. Der Minister soll eine Annullierung der Ehe außerdem kategorisch abgelehnt haben.«
»Dann wird er nicht mehr zu halten sein.«, schlussfolgerte der Admiral nüchtern, lehnte sich zurück und verschränkte die dicken Finger ineinander.
Die Vorgänge, um die es ging, gestalteten sich folgendermaßen: Erst zwei Wochen zuvor hatte der verwitwete und unter Einsamkeit leidende Kriegsminister Werner von Blomberg seine deutlich jüngere Geliebte, eine Frau namens Margarethe Gruhn, geheiratet. Wie nun ans Licht gekommen war, konnte man ebenjene nicht gerade als ein Kind von Traurigkeit bezeichnen, war sie bei der Polizei doch bereits seit einiger Zeit aktenkundig – und zwar als in gewissen Kreisen äußerst gefragtes pornografisches Nacktmodell. Daneben kursierten Gerüchte, die besagten, dass die ehemalige Bardame des »Weißen Hirsches« in der Vergangenheit Dienstleistungen der besonderen Art angeboten und sich dadurch einen Nebenverdienst gesichert haben soll. Durch diese illegalen Aktivitäten war sie dann auch in den Fokus der Sittenpolizei geraten. Der liebeshungrige Blomberg, ein Stammkunde des fraglichen Lokals, war der attraktiven Blondine schnell verfallen und hatte sich schließlich, vermutlich unter dem Eindruck einer ungeplanten Schwangerschaft, zu einer Heirat nötigen lassen. Obwohl er nichts unversucht gelassen hatte, die alles andere als standesgemäße Ehe geheim zu halten, war die Wahrheit doch unweigerlich ans Licht gekommen. Der Kriegsminister und damit oberste Soldat der strengen preußischen Traditionen verpflichteten deutschen Wehrmacht hatte sich mit einer polizeibekannten Dirne verheiratet. Das war ein Skandal erster Güte.
»Wie konnte der Mann nur annehmen, damit davonzukommen?«, wollte Oster kopfschüttelnd wissen. »Die Leute reden, das ist doch wohl klar. Und was könnte sich schneller herumsprechen als die Geschichte vom ‚Weißen Hirschen und der weißen Frau‘? In den entsprechenden Lokalitäten ist das sicher noch auf Wochen hinaus das Gesprächsthema Nummer eins.«
»Vollkommen unerheblich.«, wischte der Admiral das mit einer kraftlosen Handbewegung beiseite. »Der Schaden ist bereits angerichtet, die Wehrmacht in ihrem Ansehen irreparabel geschädigt. Dagegen lässt sich nichts mehr unternehmen. Fraglich bleibt, und das bereitet mir weitaus größere Sorgen, wie Hitler mit dieser Situation umgehen wird.«
Keiner der Anwesenden verschwendete auch nur einen einzigen sorgenvollen Gedanken an das weitere Schicksal des als eitel und weich geltenden, innerhalb des Offizierskorps überaus unbeliebten Kriegsministers. Denn Werner von Blomberg hatte nach dem sogenannten »Röhm-Putsch« von Ende Juni 1934 nicht nur die Ermordung der Generale Schleicher und Bredow in aller Öffentlichkeit gerechtfertigt. Er war zudem einer der Schöpfer der vielkritisierten Eidesformel der Wehrmacht, die nicht länger auf die Reichsverfassung sowie das Reich, sondern explizit auf die Person des Führers abgestellt war. Auch als SA und SS damit begannen, zunehmend als Konkurrenz zum Berufsheer aufzutreten und die Stellung der Wehrmacht als alleinige legitime Waffenträgerin in Frage zu stellen, hatte der Minister die Provokationen stillschweigend hingenommen. Viele verachteten ihn daher längst als Hitlers zahmes Schoßhündchen, das nicht fähig oder willens war, die Interessen seines Standes mit der erforderlichen Vehemenz zu vertreten. Oster hegte keinen Zweifel daran, dass die Mehrzahl der Offiziere einen Rücktritt des Kriegsministers, der insgeheim verächtlich als »Gummilöwe« betitelt wurde, nicht als allzu großen Verlust empfinden würde. Was allerdings das ehr- und charakterlose Verhalten anging, das Blomberg jüngst an den Tag gelegt hatte, erschien ein allgemeiner Aufschrei der Empörung nur allzu gewiss.
»Vermutlich wird sich der Dicke bald Blombergs Posten einverleiben.«, sagte Oster höhnisch. Mit dem »Dicken«, ein hinter vorgehaltener Hand gängiger Spitzname, meinte er Hermann Göring. »Im Sammeln von Ämtern hat er ja bereits Erfahrung. Ich schätze, das ist nicht der einzige Grund, warum er kaum noch in seine Anzüge passt.«
»Sicher wird es im Dunstkreis Hitlers noch weitere Bewerber geben.«, wandte Gisevius ein. »Möglicherweise erleben wir bald, wie sich seine edlen Paladine um das Amt des Kriegsministers wie Hunde um einen abgenagten Knochen balgen.«
Canaris hörte sich die wenig schmeichelhaften Ausführungen der beiden ruhig an, ohne zu widersprechen oder sie zurechtzuweisen. Auch er war kein Freund der obersten Führungsriege. Er legte die Finger an den Mund und dachte einen Moment lang nach.
»Göring wäre mir von allen jedenfalls noch am liebsten.«, sagte er nach einer Weile. »Er hat seine Schwächen, keine Frage, aber ich halte ihn nicht für einen Fanatiker. Außerdem habe ich ihn als recht umgänglichen Menschen kennengelernt. Seinen Humor muss man natürlich mögen. Mit ihm als neuen Kriegsminister ließe sich vermutlich reden.«
Oster wie auch Gisevius schienen von dieser Einschätzung des Admirals nicht sonderlich überzeugt. Ihrer Meinung nach gab es weitaus geeignetere Kandidaten für diesen Posten, die zudem im Gegensatz zu Göring und manch anderem auf eine lange Soldatenkarriere zurückblicken konnten. Fast in der gesamten Führungsriege des NS-Staates fand sich kaum jemand, der ein Offizierspatent besaß und in wehrtechnischen Fragen kein ausgesprochener Laie war. Zwar hatte Göring im Weltkrieg als Flieger gedient und galt mit immerhin zweiundzwanzig Luftsiegen sogar als Ass, doch das war schon lange her. In militärischen Angelegenheiten sprach ihm längst niemand mehr die erforderlichen Kompetenzen zu.
Als wolle er einen hartnäckigen Kopfschmerz vertreiben, rieb sich der Admiral die Stirn. »Da ist leider noch etwas, das ich Ihnen mitteilen muss. Auch mit Fritsch soll irgendwas nicht stimmen.«
Oster und Gisevius wechselten erstaunte Blicke, richteten ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf den Admiral. Der Oberstleutnant fand als erster die Sprache wieder.
»Was bitte meinen Sie damit? Was hat den Fritsch mit der Sache zu tun?«
Canaris hing nun, die Arme kraftlos auf den Lehnen, schlaff in seinem Stuhl. Fast war es, als wage er nicht, seinem Untergebenen in die Augen zu sehen. Seine Stimme klang leise und schüchtern wie die eines Klosterschülers.
»Ich kenne keine Details. Mir sind lediglich Andeutungen zugetragen worden. Die allerdings nichts Gutes verheißen.«
»Was für Andeutungen?«, wollte Oster ungeduldig wissen. »Gerüchte?«
»Ich fürchte, es handelt sich um mehr als bloße Gerüchte. Wie es heißt, laufen auch gegen Fritsch derzeit Ermittlungen. Ganz gleich, welche Vorwürfe gegen ihn erhoben werden, eine polizeiliche Untersuchung könnte ihm ernsthaft schaden.«
Zuerst Blomberg, jetzt auch noch Fritsch. Die Vorgänge an der Spitze der Wehrmacht begannen allmählich bedrohliche Formen anzunehmen.
Oster, der von den Enthüllungen, die den Kriegsminister betrafen, noch immer schockiert war, begann sich ernste Sorgen zu machen. Er kannte den Oberbefehlshaber des Heeres, General Werner von Fritsch, bereits seit Jahren. Persönlich schätzte er ihn als Menschen wie auch als Soldaten sehr und war von der Integrität des Mannes restlos überzeugt. So konnte er sich denn auch mit der größten Mühe und unter Aufbietung seiner ganzen Fantasie nichts in der Welt vorstellen, das irgendwelche polizeilichen Ermittlungen gegen den General rechtfertigen könnte.
»Das ist absolut lächerlich. Sie kennen Fritsch doch genauso gut wie ich. Welche Vorwürfe auch immer gegen ihn vorgebracht werden, es muss sich um einen Irrtum handeln. Oder um Lügen und Verleumdungen.«
»Davon ist auszugehen.«, bestätigte der Admiral. »Aber bevor es uns nicht gelingt, Näheres in Erfahrung bringen, können wir nichts für ihn tun.« Sich an Gisevius wendend, fragte er: »Sie haben dahingehend nicht zufällig etwas aufgeschnappt und können uns sagen, was Fritsch vorgeworfen wird?«
Der Regierungsrat schüttelte den Kopf, wodurch er sich erneut veranlasst sah, die Brille wieder an ihren rechten Platz zu rücken.
Schon sehr früh hatte Hans Gisevius mit den Nationalsozialisten sympathisiert und sofort nach der Machtergreifung eine Zusammenarbeit mit ihnen angestrebt. Mehr noch: Er war am Aufbau der Geheimen Staatspolizei beteiligt gewesen und hatte kurzzeitig sogar selbst in deren Diensten gestanden. Dort hatte er sich allerdings nicht nur Freunde gemacht, zumal er sich bald skeptisch über den weiteren Ausbau des Polizeiapparats geäußert hatte. So war Gisevius schon nach wenigen Monaten wieder versetzt worden, später wechselte er ins preußische Landeskriminalamt. Zu dessen Leiter Arthur Nebe pflegte er seither eine enge Freundschaft, was ihm unbezahlbare Einblicke in die Vorgänge des wachsenden Polizeistaates gewährte. Heinrich Himmler persönlich soll Gisevius dann aber auf Betreiben Reinhard Heydrichs, dem Chef des Geheimen Staatspolizeiamtes, der über dessen unkooperatives Verhalten noch immer erbost war, aus der Polizei entfernt haben. Mittlerweile arbeitete er zwar für die Regierung in Potsdam, seine Kontakte zur Polizei waren aber nie ganz abgerissen. Die Frage des Admirals, ob er bereits etwas von den Vorwürfen gegen den Oberbefehlshaber des Heeres gehört habe, war also durchaus berechtigt.
»Bislang ist mir noch nichts darüber zu Ohren gekommen.«, sagte der Regierungsrat. »Aber ich bin mir sicher, dass sich das in Bälde ändern wird. Wenn ich etwas erfahre, werde ich es Sie unverzüglich wissen lassen.«
Mit seiner Einschätzung, dass die Vorwürfe gegen Fritsch in Kürze bekannt würden, sollte Gisevius Recht behalten. Allerdings war nicht er es, der als erster von den Ereignissen um den General erfuhr.
***
Einen Tag später bat General Ludwig Beck, der Chef des ebenfalls im Oberkommando des Heeres – kurz OKH – ansässigen Generalstabs des Heeres, Oberstleutnant Oster und Konteradmiral Canaris zu sich. Beck war ein Soldat alter Schule, der die traditionellen Werte der Armee verkörperte wie kaum ein anderer. Obschon er das nationalsozialistische Regime niemals offen kritisierte, war er kein Nazi. Hans Osters regimekritische Einstellung war ihm bekannt, er hätte auch nur schwerlich nichts davon wissen können, denn der Oberstleutnant machte nur selten einen Hehl aus seinen Ansichten. Für den Geschmack einiger gebärdete er sich manchmal ein wenig zu offenherzig, Beck aber hielt es für eine Ehrensache, derartige Äußerungen vertraulich zu behandeln. Weil er sich zudem darüber im Klaren war, dass Oster von seinem Vorgesetzten beschützt und gefördert wurde – wie anders war es zu erklären, dass der Oberstleutnant im Haus praktisch Narrenfreiheit besaß? –, konnte er sich leicht ausmalen, wie Canaris den Nationalsozialisten gegenüberstand. Trotzdem misstraute Beck dem undurchsichtigen, selten direkt antwortenden Admiral, der mit jeder Geste, jedem Blick und jedem Wort die Aura des Geheimdienstlers um sich wob.
Oster wie auch Canaris kannten die Vorbehalte Becks gegen den Geheimdienstchef gut. Für sie galt der General als schwer einzuschätzende Persönlichkeit, die ihre Meinung meist für sich behielt und ganz grundsätzlich nicht besonders redselig war. Außerhalb rein dienstlicher Angelegenheiten hatten sie bis dahin noch nie etwas mit ihm zu tun gehabt, weshalb sie nicht wenig überrascht waren, als sie der General zu sprechen wünschte.
Das Büro des Generalstabschefs war geräumig und nicht vergleichbar mit den eher bescheidenen Räumlichkeiten, die von den Mitarbeitern der Abwehr genutzt wurden. Dominiert wurde der Raum von einem massiven Schreibtisch aus schwerem Eichenholz, der, obwohl er mit einer Vielzahl an Papieren, Dokumenten und Büchern beladen war, aufgeräumt und ordentlich wirkte. Direkt hinter dem Schreibtisch hing ein großes Gemälde an der Wand, auf dem Helmuth von Moltke zu sehen war, nicht dem ersten, aber doch unzweifelhaft berühmtesten Generalstabschef der preußisch-deutschen Geschichte, der seinem Nachfolger mit müdem Ausdruck bei der Arbeit zusah. Entlang der Wände reihten sich große Regale, die nicht nur mit allerhand Aktenheftern überfrachtet, sondern darüber hinaus auch mit zahlreichen Büchern vollgestopft waren.
Beck selbst war schlank, von mittelgroßer Statur und besaß schmale Schultern. Obwohl er nicht mit dem kräftigen Körper eines antiken Kriegers gesegnet war, bot er dennoch durch und durch die Erscheinung eines Soldaten. Die Vornehmheit seines Gesichts – nicht die Vornehmheit eines Aristokraten, sondern die eines Philosophen – wurde von seinen dünnen, an den Mundwinkeln abwärts geschwungenen Lippen noch unterstrichen und verliehen ihrem Besitzer einen stets mürrischen Ausdruck. Es erschien fraglich, ob diese Lippen auch zu einem Lächeln fähig waren, und tatsächlich hatten weder Oster noch Canaris jemals beobachtet, dass sie sich zur Vollführung dieses Kunststücks entgegen ihrer natürlichen Wuchsrichtung bewegt hätten. Seine braunen Augen wirkten durchdringend und streng, verrieten aber auch einen regen Geist und ließen eine gewisse Gutmütigkeit erahnen. An den breiten, dunklen Rändern war zu erkennen, dass ausreichender Schlaf ein Luxus war, den sich der Generalstabschef nur selten gönnte, sich stattdessen von früh morgens bis spät abends unermüdlich in allerlei Papierkram vertiefte. Seine Haare waren militärisch kurz geschnitten und seitlich gescheitelt; überwiegend beherrschten die Farben Grau und Weiß das Feld, nur hier und da leisteten braune Inseln erbitterten Widerstand. Auch der Haaransatz befand sich bereits auf dem geordneten Rückzug, würde sich aber voraussichtlich noch auf Jahre hinaus gegen die vorrückende Stirn behaupten.
Als Oster und Canaris eintraten, blickte der General noch nicht einmal auf. Gerade machte er sich an einem Schriftstück zu schaffen, sodass für eine Minute lediglich das Kratzen der Feder über das Stück Papier zu hören war. Endlich, als der Oberstleutnant schon ungeduldig mit den Füßen scharrte, legte der General den Federhalter beiseite, nahm die Brille ab, legte die Hände auf den Schreibtisch und richtete sich an die beiden Abwehrmänner.
»Ich vermute, Sie haben bereits gerüchteweise gehört, dass gegen General Fritsch gewisse Verdachtsmomente vorgetragen werden.«, erklang seine klare, kräftige Stimme. Der Ton, in dem Beck sich an sie richtete, war nicht unbedingt unfreundlich. Dennoch konnte kein Zweifel daran bestehen, dass hier jemand sprach, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. »Ich habe Sie heute zu mir gebeten, um Sie über den Stand der Dinge, jedenfalls insofern sie mir bekannt sind, in Kenntnis zu setzen.«
Oster und Canaris wagten es nicht, den General aus den Augen zu lassen. Sie hatten nicht damit gerechnet, ausgerechnet durch Beck zu erfahren, was gegen Oberbefehlshaber Fritsch vorlag. Gebannt warteten sie auf das, was nun folgen mochte.
Beck hatte nicht vor, sie lange auf die Folter zu spannen.
»Am gestrigen Morgen ist General Fritsch in die Reichskanzlei gebeten worden. Dort hat man ihn im Beisein von Hitler, Göring und weiteren Personen einem Mann namens Otto Schmidt gegenübergestellt. Dieser Schmidt nun bezichtigte den Oberbefehlshaber des Heeres vor den Augen und Ohren der Anwesenden gewisser unsittlicher Handlungen.«
Als wäre die Angelegenheit damit bereits erledigt, nahm Beck die Hände vom Schreibtisch, legte sie in den Schoß und lehnte sich zurück. Er machte keinerlei Anstalten, das Gesagte weiter auszuführen, saß einfach nur ruhig da und studierte die Mienen der Abwehrmänner.
Hans Oster wusste nicht so recht, ob er verblüfft, entsetzt oder angewidert sein sollte. Um sich selbst darüber Klarheit zu verschaffen, oder vielleicht auch nur, um irgendetwas zu sagen, stellte er eine Frage.
»Welcher Art sollen diese unsittlichen Handlungen gewesen sein?« Nachdem Beck das Wort »unsittlich« gebraucht hatte, hätte er sich diese Frage ohne Weiteres auch selbst beantworten können, aber innere Unruhe äußerte sich bei Oster oftmals auf hörbare Weise.
Beck seufzte. Sein Mund öffnete sich ein kleines Stück und schloss sich sofort wieder. Das geschah mehrmals, als wolle der General einen üblen Geschmack loswerden.
»Muss ich das wirklich näher erläutern?«, fragte er, nicht sonderlich erfreut darüber, die Vorwürfe laut aussprechen zu müssen, etwas schroff. Eine Antwort gab er dennoch. »Fritsch wird vorgeworfen, homosexuelle Handlungen vollzogen zu haben.«
»Mit diesem Otto Schmidt?«, hakte Oster nach.
»Nein, das nicht.«, korrigierte Beck. »Schmidt will den General lediglich dabei beobachtet haben.«
»Dieser Schmidt ist also ein Augenzeuge?«, schlussfolgerte Canaris, dessen kühler, analytischer Verstand umgehend die Oberhand über das Erstaunen gewonnen hatte. »Gibt es noch weitere Zeugen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Jedenfalls war er der einzige, den man gestern dem Oberbefehlshaber gegenübergestellt hat.«
»Was ist über Schmidt bekannt?«, wollte Canaris wissen.
»Sagen Sie es mir.«, erwiderte Beck. »Wenn ich mich nicht täusche, sind brisante Informationen und Geheimnisse Ihr Fachgebiet und nicht meines. Ich habe andere Dinge zu tun, als Erkundigungen über irgendwelche Zivilisten einzuholen.«
Der Admiral schien über das Gesagte nachzudenken. Leicht vornübergebeugt stand er mit den Händen in den Taschen reglos da. Sein Gesicht ließ keine Gefühlsregung erkennen, sein Blick war in sich gekehrt, die Lippen zuckten nicht einmal. Fast erweckte er den Eindruck, als meditiere er. Nachdem er in Gedanken seine Schlussfolgerungen gezogen hatte, sagte er:
»Wenn ein angesehener General der Wehrmacht mit den Anschuldigungen einer bestenfalls als zwielichtig zu bezeichnenden Gestalt im Beisein fragwürdiger Zeugen konfrontiert wird, ohne ihn zuvor unter vier Augen anzuhören, wie es Ehre und Anstand gebieten, dann liefert schon allein das allerhand Grund zu Misstrauen. Daher liegt nach meiner Ansicht die Vermutung nahe, dass es sich bei den Vorwürfen gegen Fritsch nicht um tatsächliche Ereignisse, sondern um ein Komplott gegen seine Person handelt. Möglicherweise geht es dabei in letzter Konsequenz nicht einmal um ihn, sehr wahrscheinlich richtet sich dieser Vorstoß gegen die Wehrmacht.«
»Das ist auch mein Eindruck.«, pflichtete Beck bei. »Vielleicht versucht jemand den Trubel um Blomberg auszunutzen, um sowohl den Kriegsminister als auch den Oberbefehlshaber in einem Abwasch loszuwerden.«
»Es würde mich nicht überraschen, wenn einmal mehr der Dicke seine schmierigen Finger im Spiel hätte.«, meinte Oster.»Auch zu Himmler würde so eine Verleumdungskampagne passen. Wer weiß, am Ende haben die beiden das sogar zusammen ausgeheckt.«
»Denkbar.«, stimmte der General zu. »Von einer Schwächung der Wehrmacht würde die SS am meisten profitieren. Für ebenso gut möglich halte ich es aber, dass die Order für diese Intrige von noch weiter oben gekommen ist.«
Es war nicht schwer zu erraten, dass mit »noch weiter oben« nur Hitler gemeint sein konnte. Oster wollte mehr darüber erfahren.
»Wie kommen Sie zu dieser Annahme, wenn ich fragen darf? Ich kann mir nicht vorstellen, was ausgerechnet er davon hätte, wenn die Armee nach der Angelegenheit mit Blomberg gleich in den nächsten Skandal verwickelt wird.«
Der Blick des Generals verdüsterte sich. Seine braunen Augen schienen sich tiefer in ihre Höhlen zurückzuziehen. Es erweckte den Eindruck, als begebe sich der Generalstabschef an einen anderen Ort in weiter Ferne, als bliebe lediglich eine reglose Hülle auf dem Stuhl zurück. Sich räuspernd, kehrte er nach einer Weile in die Gegenwart zurück.
»Ich muss mich entschuldigen. Tatsächlich gibt es nichts, das diese Mutmaßung rechtfertigte. Allerdings würde ich Göring als Drahtzieher ausschließen. Groß angelegte Schmutzkampagnen sind nicht unbedingt seine Art. Als wahrscheinlichster Urheber, dem ich eine solche Inszenierung zutrauen würde, kommt meiner Einschätzung nach nur Himmler in Frage. Sie wissen so gut wie ich, wie ambitioniert der Reichsführer SS von Anfang an daran arbeitet, die Schutzstaffel zu einer bewaffneten Macht auszubauen – auch, wenn er natürlich stets das Gegenteil beteuert. Ihm dürfte wohl am meisten daran gelegen sein, das Heer nicht nur in der Öffentlichkeit bloßzustellen, sondern in letzter Konsequenz zu kastrieren. Dieses Ziel vor Augen, wäre es eine gerissene Herangehensweise, zunächst die Heeresführung zu kompromittieren, um sie sodann durch eigene, gefügigere Handlanger zu ersetzen.«
Obwohl Oster Göring als Schuldigen noch nicht gänzlich ausschließen wollte, musste er doch anerkennen, dass Becks Argumente überzeugend klangen. Auch Canaris stimmte dem zu.
Einen ganz ähnlich gearteten Fall hatte es zudem in der Vergangenheit schon einmal gegeben. Einen Fall mit blutigem Ausgang, der den wahren Charakter des NS-Staates erstmals offenbart hatte.
Damals, es war unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gewesen, war die Sturmabteilung, Hitlers Parteiarmee, in Rekordzeit zu enormer Größe herangewachsen. Die ehemalige Ordner- und Schlägertruppe hatte sich gerade bei jungen perspektivlosen Männern wachsender Beliebtheit erfreut und sich mit zuletzt viereinhalb Millionen Mitgliedern zu einem ernstzunehmenden Machtfaktor gemausert. Ihr Chef Ernst Röhm hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er die SA letztlich zu einer Art Revolutionsheer aufbauen wollte, das vorläufig neben der Reichswehr existieren, diese in letzter Konsequenz aber absorbieren und ersetzen sollte. Es war klar, dass nicht nur die Armee sich das nicht gefallen lassen konnte und Röhms Bestrebungen mit Misstrauen beobachtete. Auch Heinrich Himmler beanspruchte die Stellung, die bislang die SA innehatte, eifersüchtig für seine SS und wollte die unliebsame Konkurrenz um jeden Preis loswerden.
Als das riesige Heer der Braunhemden bis Mitte 1934 den vorläufigen Höhepunkt seiner Macht erreichte, wollte man schließlich nicht länger warten und die wachsende Bedrohung ausschalten, bevor es zu spät wäre. Beginnend am 30.06.1934 wurden bis zum 02.07. reichsweit wenigstens einhundert Personen ermordet und über eintausend verhaftet. Bei nicht allen davon bestand auch tatsächlich eine Verbindung zur SA. Man wollte die sich darbietende Gelegenheit nutzen, um gleichzeitig auch andere politische Gegner loszuwerden. Neben vielen Kommunisten, Christ- und Sozialdemokraten sowie Gewerkschaftsführern fielen außerdem die Reichswehrgenerale Schleicher und Bredow den Säuberungen zum Opfer. Über den verbrecherischen Charakter geflissentlich hinwegsehend, verlieh man der Aktion durch die offizielle Bezeichnung als »Röhm-Putsch« einen selbstverteidigenden, rechtfertigenden Anstrich. Die Reichswehr beteiligte sich zwar nicht direkt an den Erschießungen und Verhaftungen, lieferte aber Waffen und Munition, stellte Lkws und andere Fahrzeuge bereit, schützte wichtige Einrichtungen und kümmerte sich um die Entwaffnung von SA-Einheiten.
Durch ihre zwar nicht aktive, aber doch unterstützende Beteiligung, mochte sich die Armee der Illusion hingegeben haben, sich dadurch eines unliebsamen Nebenbuhlers entledigt zu haben. In Wahrheit aber hatte man lediglich der SS den Weg bereitet und sich damit nur einen neuen, noch rücksichtsloseren und gefährlicheren Gegner geschaffen.
Wie die jüngsten Ereignisse nahezulegen schienen, beabsichtigte Himmler nun das in die Tat umzusetzen, wozu Röhm seinerzeit nicht mehr gekommen war: die Enthauptung der Wehrmacht. Hans Oster konnte die am Horizont heraufziehende Bedrohung schon fast körperlich spüren. Falls es stimmte und Himmler seine Ziele in naher Zukunft erreichen, die Wehrmacht durch seine SS ersetzen sollte, würde das Reich unweigerlich einem Abgrund zusteuern, den er sich noch nicht einmal auszumalen wagte. Umso bedeutungsvoller war es, die Bestrebungen des Reichsführers schon im Ansatz mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Und augenblicklich mussten diese Mittel darin bestehen, den Oberbefehlshaber Werner von Fritsch von allen Vorwürfen zu entlasten.
Zu keiner Zeit hatte Hans Oster mit den Nationalsozialisten sympathisiert. Nicht einmal, als sich durch die allgemeine Aufrüstung und die Wiedereinführung der Wehrpflicht in der Armee ungeahnte Karrierechancen aufgetan hatten. Viele, vermutlich sogar die meisten gerade auch der höheren Offiziere, hatten das erneute militärische Erstarken Deutschlands freudig begrüßt. Wie hätte es auch anders sein können, lag es doch in der Natur der Sache, dass sich Soldaten von einer Politik angesprochen fühlten, die ihrem Berufsstand mehr Bedeutung, Ansehen und Macht versprach. Hans Oster jedoch empfand das rüpelhafte Auftreten und die primitive Polemik der Nationalsozialisten von Anfang an als abstoßend. Hierzu gesellte sich die Gängelung und Ausgrenzung der Juden sowie anderer Minderheiten, was er als würdelos, grausam und dazu völlig überflüssig ansah. Dies verbunden mit dem entbrannten Kampf gegen die Kirchen hatte ein Übriges getan, und so hatte er sich in den vergangen fünf Jahren vom Skeptiker zu einem entschiedenen Gegner des Regimes entwickelt.
Bei aller Gefahr lag in der Situation, wie sie sich derzeit darbot, aber vielleicht auch eine ungeahnte Chance. Ohne jeden Zweifel würde sich der Machtkampf zwischen Wehrmacht und SS schon sehr bald zuspitzen, Oster musste lediglich dafür Sorge tragen, dass die Armee als Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervorging. Zwar besaß er weder den Rang eines Generals noch bekleidete er eine herausgehobene Stellung, über großen Einfluss verfügte er außerdem auch nicht. Aber vielleicht gelang es ihm, die Wahrheit hinter der Intrige gegen Fritsch aufzudecken. Danach konnte er sich die allgemeine Empörung, die Himmler und seiner SS unzweifelhaft entgegenschlagen würde, zunutze machen, um nach Verbündeten Ausschau zu halten. Nach Verbündeten, die mächtiger waren als er. Für den Moment galt es herauszufinden, welche Position innerhalb dieser Gleichung der Generalstabschef Ludwig Beck einnahm.
»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie uns von den Vorgängen berichtet haben. Das alles ist höchst beunruhigend.«, sagte er, sah den General fest an und achtete sorgsam darauf, nicht die kleinste Gefühlsregung zu übersehen. »Verfolgen Sie eine bestimmte Intention, indem Sie ausgerechnet dem Admiral und mir davon erzählen?«
General Beck, der immer noch an seinem Schreibtisch saß, hatte nicht vor, sich in die Karten schauen zu lassen. Ungerührt, beinahe unfreundlich gab er zur Antwort:
»Ich war lediglich der Meinung, dass Sie beide davon erfahren sollten. Was Sie nun mit diesen Informationen anfangen wollen, bleibt Ihnen überlassen.« Damit setzte er seine Brille auf, nahm den Federhalter zur Hand und widmete seine Aufmerksamkeit wieder den vor ihm liegenden Papieren.
»Was für ein komischer Kauz.«, dachte Hans Oster und versuchte aus dem Generalstabschef schlau zu werden. Da der sie offenbar entlassen hatte, wandten sich Oberstleutnant Oster und Admiral Canaris ab und verließen das Büro.
***
Für Oster war die Angelegenheit damit aber noch längst nicht erledigt, im Gegenteil begann sein Verstand nun fieberhaft zu arbeiten. Auch wenn er ein Geheimnis daraus zu machen schien und sich mehr oder minder abweisend gebärdete, musste Beck doch fraglos seine Gründe dafür haben, weshalb er den Admiral und ihn ins Vertrauen gezogen hatte. Nach Hans Osters Vermutung konnte sich der General durchaus denken, wenn er nicht sogar fest damit rechnete, dass die Abwehrmänner in Anbetracht der Umstände nun die Initiative ergreifen und zu General Fritschs Rettung schreiten würden. Ob dies tatsächlich der Absicht Becks entsprach oder nicht, Oster war fest entschlossen genau das zu tun. Der erste Schritt in dieser Richtung konnte nur darin bestehen, den Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen.
Noch am selben Abend suchte er daher General Werner von Fritsch in dessen Berliner Wohnung auf. Dort fand Oster einen niedergeschlagenen, zutiefst gekränkten Mann vor, der kaum in der Lage schien, zu sprechen. Dass der Oberbefehlshaber des deutschen Heeres derart bloßgestellt und auf so schändliche und niederträchtige Art behandelt wurde, das konnte in der Welt, in der Fritsch bis dahin gelebt zu haben glaubte, eigentlich überhaupt nicht vorkommen. Bevor er auch nur ansatzweise dazu fähig war, das erlebte aus eigener Sicht zu schildern, musste Oster ihn erst einmal durch gutes Zureden beruhigen. Auch danach ergab sich nur langsam und bruchstückhaft ein Bild der Ereignisse.
Einen gemeinen Strauchdieb habe man ihm vorgesetzt, einen Taugenichts, der in seinem Leben noch nie etwas Vernünftiges zuwege gebracht habe und seinen Unterhalt als Strichjunge und Erpresser bestritt, erzählte Fritsch. Hitler habe ihn mit mühsam im Zaum gehaltener Wut förmlich überfahren, und selbst als er sein Ehrenwort gab, diesem Otto Schmidt noch nie im Leben begegnet zu sein, habe der Führer dies mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite gewischt. Man stelle sich vor: das Ehrenwort eines hochrangigen deutschen Generals in den Dreck getreten durch die Anschuldigungen eines Strichjungen! Göring sei daraufhin vor die Tür gestürzt und habe wie ein altes Waschweib lauthals verkündet, die Gerüchte seien allesamt wahr. Sodann habe Fritsch die Untersuchung der Angelegenheit vor einem Kriegsgericht verlangt, was Hitler jedoch abgelehnt habe. Stattdessen habe er dem General befohlen, sich unmittelbar in das Hauptquartier der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße zu begeben und sich dort einer Befragung zu unterziehen. Dem sei Fritsch gehorsam nachgekommen, schließlich habe er nichts zu verbergen und wolle diese Farce so schnell wie möglich aufklären. Die Befragung indes verlief anders als er gehofft habe, und zum gegebenen Zeitpunkt sei er noch nicht in der Verfassung, über die Details dieses schmählichen Verhörs – jawohl, wie einen gemeinen Verbrecher habe man ihn verhört! – zu sprechen. Weiterhin habe er auf Drängen Hitlers eingewilligt, bis zur Klärung der Angelegenheit von seinem Amt zurückzutreten und darüber hinaus in der Sache Stillschweigen zu bewahren.
Oster ließ vorsichtig durchklingen, dass er das Nachgeben des Generals für einen Fehler hielt. Dieser hätte nicht nur auf der Verhandlung vor einem Kriegsgericht beharren müssen, er hätte sich außerdem einer Befragung durch die Gestapo verweigern und seinen Rücktritt ablehnen sollen. Indem er den Forderungen des Diktators nachgekommen sei, habe er seine Karten ohne Not aus der Hand gegeben und befinde sich nun in einer geschwächten Position.
Fritsch wollte davon nichts hören. Es sei nun einmal der Führer gewesen, der solches von ihm verlangt habe, zudem habe man ihn vollkommen überrumpelt. In dieser Situation habe er keine andere Möglichkeit gesehen, als so zu handeln.
Obwohl er mit dessen Nachgiebigkeit unzufrieden war, verfiel der Oberstleutnant bald auf einen anderen Gedanken, wie sich Amt und Würde des Generals wiederherstellen ließen. Es sei noch nichts verloren, meinte er, Fritsch bleibe immer noch die Möglichkeit, sein Ansehen und Prestige innerhalb der Armee geltend zu machen. Er solle die Generalität versammeln und ihr ungeschönt von den Vorkommnissen berichten. Die Unterstützung des Offizierskorps sei Fritsch sodann gewiss, war doch immerhin für jedermann offensichtlich, welches Unrecht hier begangen wurde und wie würdelos man den General obendrein behandelt habe. Mehr noch: Sollte Hitler weiterhin auf der Entlassung des Oberbefehlshabers beharren, solle Fritsch die Generäle zu einem geschlossenen Aufstand gegen die Willkür des Diktators führen.
Mit dieser letzten Aufforderung allerdings war der Abwehroffizier entschieden zu weit gegangen.
Fritsch zeigte sich empört und verbat sich daraufhin nicht nur jedwede Aufforderung zum Ungehorsam, er untersagte Oster außerdem, auf welche Weise auch immer zu seinen Gunsten tätig zu werden. Der Oberstleutnant wisse offenbar nicht, so scheine es jedenfalls Fritsch, auf welch gefährliches Terrain er sich da begebe. Die Folgen einer Mobilisierung der Generalität seien unvorhersehbar, ein solches Vorgehen würde mit einiger Wahrscheinlichkeit nur zu einer Spaltung des Offizierskorps führen. Damit riskiere er im äußersten Fall sogar den Ausbruch eines Bürgerkrieges! All das auch noch aus persönlichen Gründen? Nein, so etwas sei unentschuldbar und komme keinesfalls in Frage. Danach wollte der kaltgestellte Noch-Oberbefehlshaber nichts weiter davon hören.
Oster, der zu hoch gepokert und sein Blatt überreizt hatte, blieb nichts anderes übrig, als Fritsch genauso elend zurückzulassen wie er ihn vorgefunden hatte. Zwar hatte er Verständnis für die Einwände des Generals, hielt dessen Zurückhaltung und übertriebenes Ehrgefühl aber für kontraproduktiv, seine Angst vor einem möglichen Bürgerkrieg für übertrieben. Gefangen in seiner Kränkung war der Mann offenbar unfähig zu begreifen, dass es um weit mehr ging als nur seine Person.
Aber es war zwecklos, wie Oster einsehen musste. Er kannte den General gut genug, um sich darüber im Klaren zu sein, wie sinnlos es zumindest im Augenblick wäre, weiter in diesen zu dringen. Genaugenommen gab es außerdem nichts, das ihn an Fritschs Aufforderung, keinerlei Versuche zu dessen Entlastung zu unternehmen, binden konnte. Weder hatte er sein Ehrenwort gegeben noch konnte der General ihm dies befehlen. Für Oster war es daher ein Leichtes, die ihm mündlich auferlegten Restriktionen zu ignorieren und sein weiteres Vorgehen zu planen.
***
Die folgenden Tage verwandte der Oberstleutnant darauf, sich mit Admiral Canaris und Hans Gisevius zu beraten. Zu dieser Runde gesellte sich noch Carl Goerdeler hinzu, der ehemalige Bürgermeister von Leipzig, zu dem Oster seit einiger Zeit lose Beziehungen unterhielt und von dem er wusste, dass er ganz ähnliche Auffassungen vertrat wie er selbst. Bezüglich Fritsch waren Canaris, Gisevius und Goerdeler der gleichen Ansicht wie Oster: Es handelte sich um einen Angriff der SS auf die gesamte Wehrmacht, der unbedingt noch im Keim erstickt werden musste. Um das zu gewährleisten, kam man darin überein, alles daran zu setzen, nicht nur Fritsch als Oberbefehlshaber des Heeres zu rehabilitieren und in Amt und Würde zu halten. Es schien weiterhin unumgänglich, den ranghöchsten Offizieren des Heeres unmissverständlich vor Augen zu führen, welche Bedrohung von gewissen Kreisen innerhalb der nationalsozialistischen Partei ausging – nicht nur für die Armee, sondern für das gesamte Reich.
Dieser letzte Punkt brachte allerdings gewisse Probleme mit sich. Denn selbst wenn man sich innerhalb des Offizierskorps ausschließlich auf die Generalsränge konzentrieren wollte, wäre die Zahl der Einzelgespräche, die zu führen wären, noch immer viel zu groß. Auf diese Weise erschien es unmöglich, die Aufgabe zeitnah und noch bevor Schlimmeres geschehen konnte zu einem Abschluss zu bringen. Es galt daher, eine Vorauswahl zu treffen und zunächst nur eine Handvoll an Generälen ins Vertrauen zu ziehen. Solche, die lediglich administrative Aufgaben versahen, wurden als erste aussortiert. In Frage kamen sodann nicht nur Generäle, die die höchsten Positionen bekleideten, sondern vor allem jene, die auch tatsächlich Truppen befehligten. Über die mit Abstand größten Truppenverbände gebot dabei vor allem eine Sorte Befehlshaber: die Kommandeure der sogenannten Wehrkreise.
Das gesamte Reichsgebiet war in dreizehn dieser Wehrkreise eingeteilt. Im Mobilmachungsfall, also sobald der Ausbruch eines Krieges unmittelbar bevorstand, würde aus jedem Wehrkreis ein entsprechendes Armeekorps – ein großer Heeresverband bestehend aus mehreren zehntausend Mann – gebildet. Da man unmöglich alle dreizehn Wehrkreiskommandeure aufsuchen konnte und auch gar nicht damit zu rechnen war, dass man bei jedem einzelnen davon auf offene Ohren stoßen würde, beschloss man, sich auf einige wenige zu beschränken. Manch einer war bekannt dafür, ein überzeugter Nationalsozialist zu sein, bei anderen versprach man sich aus verschiedenen Gründen keine Aussicht auf Erfolg. Dennoch, sollte es gelingen, auch nur vier oder fünf dieser Befehlshaber zu einer entschiedenen Stellungnahme gegen die schändliche Behandlung von Oberbefehlshaber Fritsch zu bewegen, so hoffte man damit eine Welle loszutreten. Im günstigsten Fall würde die Generalität sodann geschlossen vor Hitler treten, die Wiedereinsetzung von Fritsch verlangen und die Ermittlung der Drahtzieher hinter dieser Intrige fordern.