Der Barkeeper hat immer recht oder: Eine Geschichte von Nachtschwärmern und Schnapsdrosseln - Thomas Majhen - E-Book

Der Barkeeper hat immer recht oder: Eine Geschichte von Nachtschwärmern und Schnapsdrosseln E-Book

Thomas Majhen

0,0

Beschreibung

Der Barkeeper hat immer recht, wusste schon Konfuzius. Das ist zwar gelogen, ändert aber nichts an der unumstößlichen Tatsache. Denn innerhalb seines Mikrokosmos ist ein Barkeeper ein allwissender und allmächtiger Meister, der stets weiß, wo es langgeht. Er ist ein Dschinn, der durch Reiben an der Flasche beschworen wird und Wünsche erfüllt – auf Nachfrage und gegen ein gutes Trinkgeld auch mehr als drei. Das Geheimnis dieses mit allen Wassern gewaschenen Menschendompteurs und Flaschenjongleurs liegt in dem natürlichen Habitat, in dem er sich bewegt. Umgeben von leise flatternden Nachtschwärmern und schrill tönenden Schnapsdrosseln, kann er sich nur behaupten, wenn er als Herr der Flaschen auftritt und nicht als deren Knecht, kann er nur bestehen als Dirigent und nicht als zweite Geige. Durchdringen Sie den wabernden Alkoholdunst und tauchen Sie ein in einen Mikrokosmos, der von allerlei mythischen Gestalten bevölkert wird. Erfahren Sie aus erster Hand, welche Abenteuer ein Barkeeper zu bestehen hat – und wie Sie diesem besser nicht gegenübertreten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 592

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Der Barkeeper

hat immer Recht

oder:

Eine Geschichte von

Nachtschwärmern & Schnapsdrosseln

von

Thomas Majhen

2. Auflage 6/2024

Die erste Auflage erschien im September 2015

unter dem Titel

„Von Nachtschwärmern & Schnapsdrosseln – ein Essay

über den Beruf des Bartenders“

Copyright © 2024 Thomas Majhen

Brunnenstraße 42, 10115 Berlin

[email protected]

Umschlaggestaltung/Artwork: © Thomas Majhen

Alle Rechte vorbehalten

"In der Gastronomie zu arbeiten, ist wie Pornofilme drehen: Man muss Stehvermögen besitzen, sollte auch mit abstoßenden Menschen professionell umgehen können – und kommt nicht umhin, sich gelegentlich auch mal anwichsen zu lassen."

Anonym

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

I. Ein Appetitanreger vorneweg

II. Zapfen und Quatschen

1. Was gibt es zu tun?

Trete ein, bringe Geld herein

Operation: Tequila Sunrise

Der Showmixer

Sich ein Ohr abkauen lassen und gut dabei aussehen

Der Blutegel

2. Arbeitszeiten

Tagschicht

Spätschicht

Teilschicht

From dusk till dawn

Die nachtaktive Töle

3. Fähigkeiten und Fertigkeiten

Wissen

Mischen Impossible

Die Wege des Oktopusses

Jeder Barkeeper ein Dompteur

Eine Flocke unter vielen

4. Die Trinkhöhlen

Hotelbars

Hinter die Binde geguckt

Cocktailbars

Die Schokoladen-Preller

Restaurantbars

Kneipen

III. Die Regeln der Justitia

1. Hausrecht

Ausgemustert, einsam sucht …

2. Ausschank alkoholischer Getränke

Jugendschutz

3. Zechprellerei

Lauf, Forrest, lauf!

Festnahmerecht

Manuel will eine rauchen

Selbsthilfe

4. Rauchen

Der „trockene“ Raucher

5. Schmutzige Pfoten

Caipirinha con Pinga

6. Sperrzeiten

Sperrzeiten nach Ländern

7. Schwarzarbeit

8. Steuerhinterziehung

9. Betrug

Ein „klarer“ Fall

IV. Spezies Barkeeper

1. Der Introvertierte

2. Der Extrovertierte

3. Der Aushilfsbarkeeper

4. Trinkende Barkeeper

5. Betrügende Barkeeper

Vom Gläserspüler zum Barbesitzer

6. Barfrauen

7. Mythos Ladykiller

Patricks Harem

V. Spezies Gast

1. Touristen

Overdose Sunday

Das Touristenrating

2. Einheimische

Der alte Fritz

3. Homo Gastronomicus

Das afghanische Füllhorn

4. Die sieben Menschen, die Dir in einer Bar begegnen

Der Zurückhaltende

Besser nie als spät

Der Angeber

Champagner, Champagner für alle!

Der Spaßmacher

Nicht lustig, also verkneifen

Der Einsame

Ich schlafe nicht, ich höre zu!

Der Mitteilungsbedürftige

Der Gentleman

Das Liebespaar

Den Mund zu voll genommen

5. In Vino Veritas

Nein, Mann – ich will noch nicht gehen!

6. Reklamationen

Woanders ist’s billiger

7. Bakschisch

Tringeldkulturen

Zwölf Wege, das Trinkgeld aufzubessern

8. Rache ist scharf oder: Wie man unliebsamen Gästen eine Lektion erteilt

Das Arsenal des Barkeepers

9. Dos & Don’ts

VI. Die letzte Runde

VII. Anhänge & Anekdoten

Die Einladung ins Giftzimmer

Die schwarze Schönheit

Die Weinverkostung

Oh du edler Gerstensaft

Fragen über Fragen

Die Flodders in Berlin

Ein Hals ohne Boden

Betriebsblindheit

Kurz, aber intensiv

Der schwebende Tisch

Paparazzi überall

Stammgäste, die niemand kennt

Finde den Fehler

Finde den Fehler, die Auflösung

Noch zwei Bier!

Der Gandalf-Effekt

Russenmafia

Keks mit Geschmack

Kleiner Fremdenführer

Die vier Metamorphosen des Homo Gastronomicus

Deine Mutter …

Danke für den Müll

Und es kam, wie es kommen musste

Joe Fee, Models und Hipster-Klone

Zeig mir Deine Nase und ich sag Dir, was Du schmeckst

Der Merkwürdigkeiten nie genug

Martini, gerüttelt, nicht geschürt ... verschüttet, nicht berührt – oder wie jetzt?

Ausgezeichneter Jahrgang, Südleitung

Böcke, Mönche und die Erfindung der Gemütlichkeit

Das Mekka der Bartender

Vorwort zur 2. Auflage

Nachdem ich die erste Auflage dieses Buches im Jahr 2015 veröffentlichte, sah ich mich unterschiedlichen Reaktionen ausgesetzt. Neben vielen positiven wurde mir oft vorgehalten, ich würde darin über meine Gäste herziehen, passagenweise falle meine Wortwahl regelrecht beleidigend aus. Außerdem würde der Eindruck vermittelt, ich sei stark auf Trinkgelder fixiert und gehe mit dem Thema geradezu penetrant hausieren. Lassen Sie mich zunächst zu diesen Vorwürfen Stellung nehmen.

Es handelt sich bei diesem Buch in keinster Weise um eine objektive Schrift zur Beleuchtung des Berufs Barkeeper, die man bedenkenlos Arbeitssuchenden im Jobcenter vorlegen könnte. Der Text wurde von mir ganz bewusst nicht sachlich, neutral und passagenweise auch sicher nicht in einem charmanten Ton abgefasst. Manches Mal habe ich mich für eine zugespitzte Wortwahl entschieden, vielleicht bin ich dabei auch gelegentlich über das Ziel hinausgeschossen. Bedenken sollten Sie dabei, dass ich den Großteil der Anekdoten sehr kurz, nachdem sie vorgefallen waren, niedergeschrieben habe. Die gewonnen Eindrücke waren also noch sehr frisch und je nachdem, wie sehr ich mich über eine Begegnung geärgert, gewundert oder amüsiert habe, flossen meine Emotionen in den fraglichen Text ein. Natürlich hätte ich beispielsweise an einer Stelle im Buch die Zähne eines Gastes nicht als „gelb“, sondern als „bernsteinfarben“ beschreiben können, das Gesicht eines anderen nicht als „fleischig“, sondern „rundlich“. Das klänge fraglos wohlwollender, aber auch unehrlich und beschönigend – und hätte meinem inneren Schelm zudem keinen Spaß gemacht.

Was das Trinkgeld betrifft, das nach Ansicht einiger Leser von mir übertrieben oft erwähnt wird, so bin ich wohl im Laufe der Jahre zu einem typischen Mitarbeiter des Gaststättengewerbes mutiert. Denn Sie können mir glauben, dieses Thema ist in der Branche allgegenwärtig, und jeder Gast wird nicht zuletzt nach seinen Geberqualitäten bewertet – auch Sie. Ob das einem nun gefällt oder nicht, das Trinkgeld ist nach wie vor ein unverzichtbarer Bestandteile des Berufes.

Dieses Buch ist mittlerweile neun Jahre alt. Im Zuge der Bearbeitung und Neuauflage hat es nur wenig Veränderungen erfahren. Hier und da habe ich lediglich ein paar Fehler ausgemerzt oder Formulierungen geglättet, zudem haben eine Handvoll neuer Anekdoten Einzug gehalten.

Auf der anderen Seite ist seit der Erstveröffentlichung viel passiert, vor allem die Coronakrise und eine hohe Inflation haben tiefgreifende Veränderungen mit sich gebracht. Die gesamte Branche wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Hielt man sie lange Zeit für krisensicher, hat uns zwischenzeitlich ein Virus eines Besseren belehrt. Viele haben im Zuge diverser Lockdowns umgesattelt und selbst heute noch, einige Jahre danach, sind motivierte Mitarbeiter schwer zu finden. Das hat zur Veränderung der Haltung gegenüber Service-, Bar- und Küchenpersonal geführt, insgesamt ist der Ton freundlicher geworden, vor allem was die Arbeitgeberseite betrifft. Für Gäste hingegen entwickelte sich der Besuch im Restaurant oder einer Cocktailbar zunehemend zum Luxus und wird es nach meiner Einschätzung auch in Zukunft bleiben. Anhaltend hohe Kosten bei gleichzeitig sinkender Kaufkraft erzeugen eine sich selbst verstärkende Spirale, die die Branche für lange Zeit in Atem halten wird.

Doch in jeder Krise liegt auch eine Chance verborgen. Der vor allem in Küchen lange Jahre übliche rauhe Ton scheint allmählich der Vergangenheit anzugehören. Die Bezahlung wurde besser, schließlich muss jedem Gastronomen daran gelegen sein, gutes Personal nicht nur zu finden, sondern vor allem auch zu halten. Der Umgang zwischen Geschäftsführung und Mitarbeitern ist respektvoller, wenn auch dieser Respekt nicht selten aus der Not geboren ist. Denn wo es früher noch hieß „Jeder ist ersetzbar. Draußen warten schon fünf andere, um Deinen Job zu übernehmen.“, offenbart ein Blick nach draußen, dass dort niemand mehr steht und wartet. Daher bieten sich für alle, die sich mit Ernst und Leidenschaft für die Gastronomie begeistern können, gerade heute ungeahnte Möglichkeiten.

Abschließend möchte ich alle zu einem vernünftigen und höflichen Miteinander auffordern. Launische Gäste sind ein genauso großes Übel wie unaufmerksame oder arrogante Kellner oder Barkeeper. Lassen Sie Ihren Frust oder Ihre Lustlosigkeit zu Hause. Auszugehen, um etwas zu essen oder zu trinken, sollte allen Beteiligten Freude bereiten und nicht zu einer negativen Erfahrung ausarten. Und das umso mehr, da es zunehmend zu etwas Besonderem zu werden scheint.

Thomas Majhen, Berlin im Juni 2024

I. Ein Appetitanreger vorneweg

Trinke drei Jahre lang Wein, und du hast kein Geld. Trinke drei Jahre lang keinen Wein, und du hast auch kein Geld.

Sprichwort

Barkeeper, Bartender, Barmann – alle drei Bezeichnungen werden im allgemeinen Sprachgebrauch zur Beschreibung ein und desselben Berufes genutzt. Tatsächlich bestehen zwischen diesen drei Begriffen gewisse, oft nur geringfügige Unterschiede, die allerdings nur den allerwenigsten Menschen bekannt sind, und die, offen gestanden, auch niemanden zu interessieren brauchen. Denn merken müssen Sie sich nur diese eine unumstößliche Wahrheit: der Barkeeper hat immer recht.

Der Beruf des Barkeepers, um die allgemein gebräuchliche Bezeichnung des Berufes zu wählen, wird hierzulande auch im Jahre 2015 noch immer nicht sonderlich hochgeschätzt. Viele sehen ihn wahlweise als Erwerbstätigkeit an, für die man keine Ausbildung benötigt, als spaßige Einkommensquelle zur Finanzierung des Studiums, als eine Art „Idiotenjob“, für den man keinerlei besondere Fähigkeiten benötigt – oder alles drei. Besonders grotesk tritt die geringe Meinung, die viele Mitbürger von Barpersonal haben, zutage, wenn Gäste ihre Bestellung übermitteln, indem sie langsam und gedehnt die gewünschten Getränke vortragen, jeden einzelnen Buchstaben über Gebühr würdigen, das Ganze mindestens einmal wiederholen und dabei ihre Worte mit gesetzten Gesten untermalen, als wäre man ein geistig zurückgebliebener Hinterwäldler, der kaum seinen eigenen Namen richtig schreiben kann. Dass ich dabei tatsächlich in einem kleinen abgeschiedenen Dorf im ländlichen Bayern aufgewachsen bin, tut natürlich nicht das Geringste zur Sache und ist reiner Zufall.

Diese allgemeine Geringschätzung, die dem Berufsstand entgegengebracht wird, mag mir wie auch vielen meiner Berufsgenossen sauer aufstoßen, doch muss ich gestehen, dass wir zu einem nicht unerheblichen Teil selbst schuld daran sind. Denn kaum anderswo wird derart viel gepfuscht, gemurkst, geblendet und betrogen wie in unserer Branche. Dem Hype, dieser zweiten Blüte der Barkultur, wie sie um das Jahr 2010 herum in Erscheinung getreten ist, mag es zwar gelungen sein, dieses negative Image ein wenig aufzupolieren. Allerdings muss sich die Szene den Vorwurf gefallen lassen, die stiefmütterliche Behandlung der vergangenen Jahrzehnte durch Überkompensation verarbeiten zu wollen. Es war und ist noch immer so, als versuche man, der bis dahin vorherrschenden Missachtung zu begegnen, indem man nun in das extreme Gegenteil eines Daseins als Mauerblümchen verfällt, den beruflichen Stolz aufbläst wie einen Ballon, das gesamte Handwerk schon beinahe wie einen religiösen Ritus zelebriert und das Ganze mit viel Flitter und Blendwerk ausstaffiert. Die Superstars der Szene und all jene, die es werden wollen, geben sich dabei wie messianische Prediger, die mit prophetischen Worten und elitärem Habitus vorgeben, allein den Weg ins hochprozentige Elysium weisen zu können. Ich verfüge zwar über keinerlei Erfahrungen aus anderen Branchen, doch kann ich mir nur unter Anstrengung vorstellen, dass einem auch dort eine derart große Anzahl an Nichtskönnern und Aufdrehern, an Scharlatanen und Hochstaplern begegnen wie hier. Doch nun genug der Schmeicheleien.

Denn natürlich gibt es wie immer Ausnahmen. Hier und da trifft man auf souveräne Meister ihres Fachs, die vielleicht zu Recht wie geadelte Aufsteiger oder doch wenigstens wie B-Promis angesehen und von den Cocktail-Jüngern der Großstädte in Scharen hofiert werden. Daneben gibt es aber auch unzählige stille Profis, die eher durch Unscheinbarkeit auffallen, ihr umfangreiches Wissen lediglich unter der Hand preisgeben und oft nur dem geübten Auge auf Anhieb als Experten erkennbar sind. Solche „stillen Wasser“ haben es überhaupt nicht nötig, sich wie eitle Diven ins Rampenlicht zu drängen, sie begnügen sich stattdessen wie graue Philosophen mit dem Wissen um die eigenen Fähigkeiten.

Nun aber stellt sich die Frage, wie man auch als Laie die eine Sorte Barkeeper von der anderen unterscheiden kann, wie sich die Spreu vom Weizen trennen lässt, in welcher Bar man einen Drink bestellen kann, ohne eine E.-coli-Infektion zu riskieren. Um dieser grundlegenden Frage auf den Zahn zu fühlen, ist es unabdingbar, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Dabei werden wir ergründen, wodurch sich der Beruf eines Barkeepers auszeichnet, welche Anforderungen er an Physis und Psyche stellt, welche Gefahren und Vorzüge er bietet, welche Menschen und Situationen einem begegnen, kurzum: aus welchen Elementen sich die Essenz seines wahren Wesens zusammensetzt.

Es existieren mehrere Wege, an dieses Ziel zu gelangen. Schlägt man beispielsweise auf der Homepage der Bundesagentur für Arbeit unter dem Stichwort "Barmixer/in" nach, so erscheint folgender knapper Text:

Barmixer/innen und Barkeeper/innen mixen alkoholische und alkoholfreie Cocktails und schenken diese sowie andere Getränke aus. Zudem bereiten sie kleine Imbisse oder Snacks vor, die an der Bar serviert werden. Barmixer/innen und Barkeeper/innen arbeiten in der getränkegeprägten Gastronomie, wie z. B. in Hotelbars, Restaurants, Diskotheken oder Lokalen mit Barbetrieb. Barmixer/in und Barkeeper/in ist eine Weiterbildung (...). Die Lehrgänge unterschiedlicher Dauer (...) dauern je nach Art der Lehrgänge und Bildungsanbieter zwischen 5 Wochen und 6 Monaten.

Diese in charmantem Beamtendeutsch abgefasste, durchaus nicht unzweckmäßige Berufsbeschreibung unterschlägt dem ahnungslosen Interessenten einerseits, was es tatsächlich bedeutet, als Barmann oder Barfrau zu arbeiten. Mit keinem Wort ist die Rede von Nacht-, Schicht- oder Wochenendarbeit, wenn man einsam hinter dem Tresen seinen Mann steht, während die Freundin längst alleine (so wollen wir jedenfalls hoffen) zu Hause im Bett liegt oder die alten Kumpels, die man schon seit Kindertagen kennt, gemeinsam (jedoch ohne uns) freudig um die Häuser ziehen. Unerwähnt bleiben ebenfalls die oft miserable Bezahlung, die nicht selten praktizierte Schwarzarbeit sowie die allgegenwärtige Gefahr, die Kontrolle über den ständig in rauen Mengen verfügbaren Alkohol zu verlieren und irgendwann als nachtaktiver Zombie zu enden.

Auf der anderen Seite offenbart die Berufsbeschreibung der Bundesagentur für Arbeit zwischen den Zeilen aber auch eine große Schwäche dieser Branche: Kaum einer der allerorts anzutreffenden Barkeeper verfügt über eine fundierte Ausbildung, der absolute Großteil von ihnen wurde lediglich im Verlauf mehrerer Tage angelernt oder mit Hilfe eines behelfsmäßigen Crashkurses in die unausgereiften Grundzüge des Barbetriebs eingeweiht. Nahezu das gesamte Repertoire ihres Wissens und Könnens erwerben die meisten der international operierenden Barmänner und Barfrauen im Verlauf ihrer Tätigkeit hinter dem Tresen, also während des sprichwörtlichen „learning by doing“. Der berüchtigte Wurf ins kalte Wasser gilt in der Gastronomie noch immer als probates Mittel, um neues Personal auf Herz und Nieren zu prüfen – und auch als fragwürdige Methode, einen Neuling „anzulernen“ und „einzuarbeiten“.

Dabei lassen sich die ersten Tage im Gastgewerbe am besten mit der allerersten Autofahrt eines unerfahrenen Fahrschülers vergleichen, denn zu Beginn ist so gut wie jeder von der Vielfalt der Handgriffe, auch von den multiplen Dingen, die gleichzeitig erledigt oder doch wenigstens im Auge behalten werden müssen, überfordert. Sollten Sie zu jenen gehören, die schon lange vor Erreichen des 18. Lebensjahres von Vater oder Onkel Fahrunterricht auf verstaubten Landstraßen erhalten haben, mag Sie der vorangehende Vergleich wenig beeindrucken. In diesem Fall mag es hilfreich sein, sich an die Zeit zu erinnern, als Sie ihre Jungfräulichkeit verloren haben: Sie wussten nicht, was von Ihnen erwartet wurde, so viele neue und fremdartige Eindrücke strömten auf Sie ein und Sie hatten nicht den blassesten Schimmer, was Sie mit dem präsentierten Buffet anstellen sollten. Doch auch damals waren Sie noch immer deutlich im Vorteil, denn die heimlichen „Aktivitäten“ in ihrem Kinderzimmer – zwischen der Stereoanlage, den Transformers-Actionfiguren und der Pumuckl-Bettwäsche – warteten keine unmenschlichen Arbeitszeiten auf Sie und es ist ebenso unwahrscheinlich, dass es sich bei dem oder der Auserwählten Ihrer lauschigen Zweisamkeit um einen völlig fremden Menschen handelte, der Sie von oben herab und mit sonderbaren Wünschen traktierte.

Von vielen wird der Beruf des Barkeepers unterschätzt: Was kann schon schwierig daran sein, denkt sich so mancher, ein paar Getränke einzuschenken, eine Handvoll Zutaten mit etwas Eis zusammenzuschütten, das Ganze zu servieren und anschließen zu kassieren, und zum Dienstschluss einmal mit einem feuchten Lappen über den Tresen zu wischen? Das alles klingt in der Theorie sehr einfach und wenig spektakulär – und das ist es bis zu einem gewissen Grad auch, sofern man über die nötige Routine, Sachkenntnis und mentale Einstellung verfügt. Aber das gilt letztlich genauso für jeden anderen Beruf. Dennoch bietet das Gastgewerbe Herausforderungen, die einem in dieser Form wohl in keiner anderen Branche begegnen.

Einen flüchtigen Einblick in das alltägliche Geschäft eines Barkeepers möchte ich Ihnen mit diesem Buch aus erster Hand bieten. Der Inhalt ist das komprimierte Ergebnis von rund fünfzehn Jahren Erleben, Staunen, Stutzen, Schmunzeln, Ärgern, Langweilen, Lernen und Freuen – und das alles zu etwa gleichen Teilen in einem Shaker kräftig geschüttelt und ohne Eiswürfel lauwarm serviert. Für eventuelle Unverträglichkeiten oder allergische Reaktionen übernehme ich keine Haftung.

Die größte Auszeichnung für dieses Buch muss es naturgemäß sein, wenn Sie sich während des Konsums dieses literarischen Cocktails ebenfalls abwechselnd in Staunen versetzt fühlen, gelegentlich stutzen, öfter mal schmunzeln, manchmal ärgern, hoffentlich nie langweilen, manches dazu lernen, ständig etwas Neues erleben und am Ende mit einem angeheiterten Ausdruck und dümmlichen Grinsen im Gesicht die letzte Seite zuschlagen.

Thomas Majhen, Berlin den 03.09.2015

Über mich

Als schlechter und vor allem auch fauler Schüler meldete ich mich mit 17 Jahren als Zeitsoldat zur Bundeswehr. Doch aus der Karriere in Grün wurde nichts, denn Befehl und Gehorsam war nicht die Welt dieses eigensinnigen Teenagers. Nach einem zehnmonatigen Wehrdienst begann ich eine Ausbildung zum Hotelfachmann, die ich mit mittelmäßigem Ergebnis abschloss. Um Tellertragen und engen Krawatten zu entgehen, entschied ich mich danach für eine Laufbahn als Barkeeper, die mich aus der bayerischen Provinz heraus zunächst nach Augsburg und Regensburg, im Jahr 2006 schließlich nach Berlin führte.

In der Hauptstadt begann ich nach mehreren zaghaften Versuchen damit, ernsthaft zu schreiben und meine Texte zu veröffentlichen. Nach vier Jahren intensiver und aufreibender Arbeit erschien 2013 mein Erstlingswerk Die Barfibel – Getränke und Marken, das mit dem Sonderpreis der Gastronomischen Akademie Deutschlands ausgezeichnet wurde. Es folgten weitere Bücher zu gastronomischen wie auch nicht gastronomisch angehauchten Themen: der humoristische Essay Von Nachtschwärmern und Schnapsdrosseln (2015), der Ratgeber Wie man mit Trinkgeld ein Vermögen aufbaut (2018), mehrere Übersetzungen englischsprachiger Bar-Bücher und 2021 endlich mein erster Roman Die Clique der Ehrlosen, der den Auftakt zu einer Trilogie über einen alternativen Verlauf der deutschen Geschichte zur NS-Zeit bildet.

Was man außerdem über mich sagen könnte: Als Kind ausgesprochen schüchtern, habe ich meine angeborene Maulfaulheit erfolgreich ins Erwachsenenleben hinübergerettet. Ich verstehe mich als wagemutigen Seiltänzer zwischen köstlichem Müßiggang und unerwartetem Fleiß, interessiere mich für Vieles im Allgemeinen und nur wenig im Speziellen, gehöre zu den unmusikalischsten Wesen auf dem Planeten, betrachte Essen als Hobby und bin doch alles andere als ein Gourmet, verfüge über das Gedächtnis einer Eintagsfliege und die Beobachtungsgabe eines Adlers, mag Vierbeiner oft lieber als Zweibeiner und eifere manchmal der sprichwörtlichen Sturheit eines Esels nach, verwende grundsätzlich viel zu lange Sätze mit viel zu vielen Kommas, weiß nicht, warum das alles überhaupt jemanden interessiert und habe zum Schluss nur noch eine wichtige Sache zu sagen: Mein unhandlicher Nachname, der schon die kreativsten wie auch scheußlichsten Misshandlungen über sich ergehen lassen musste, wird mai-chen ausgesprochen.

II. Zapfen und Quatschen

Wer nix wird, wird Wirt

Volksweisheit

Beginnen wir zunächst einmal mit den grundlegenden Dingen und der einfachen Frage, was so ein Barkeeper den ganzen Tag über macht. Die ernüchternde Antwort darauf lautet: Er schläft vermutlich, denn sein „Tag“ beginnt meist erst dann, wenn andere sich in den Feierabend begeben, sich durch den Berufsverkehr nach Hause quälen oder mit den Kumpels auf ein Bier in ihrer Stammkneipe einkehren, wo ebenjener Barkeeper soeben seine Schicht angetreten hat. Ein Barmann ist also schon von Berufswegen kein Frühaufsteher, sein Tag ist buchstäblich die Nacht. Meist schläft er bis in die Mittagsstunden, rollt sich sodann gerädert und zerknittert – nicht selten auch übel verkatert – aus dem Bett und plant mit einem eingekniffenen Blick auf die Uhr seine weitere taktische Vorgehensweise bis zum unweigerlich nächsten Schichtbeginn im Laufe des Abends oder späten Nachmittags …

* * *

An der Arbeits- und Wirkstätte angekommen, die in nicht wenigen Fällen zugleich Theaterbühne, soziale Auffangstation und die speisende Plutoniumquelle des verstrahlten und grotesk mutierten Egos ist, wird die Schicht erst einmal mit einer großen und kräftigen Tasse Kaffee eingeläutet – wahlweise auch mit einem Glas Schnaps oder einer Nase Kokain. Ich bevorzuge Kaffee, denn jener ist bei gleicher Wirkdauer kostengünstiger, bei weitem unschädlicher und außerdem jederzeit in rauen Mengen verfügbar. Gut, fast dasselbe könnte man auch über den von Barkeepern kaum weniger geschätzten Schnaps sagen, jedenfalls im Verhältnis zum Kokain. Davon abgesehen war ich aber im Zuge einer Handvoll Selbstversuche immer vom überaus mangelhaften Wirkungsgrad des weißen Pulvers enttäuscht. Daneben bin ich keineswegs bereit geschweige denn verfüge ich über die nötige Zeit, während meiner Schicht im Viertelstundentakt auf die Toilette oder ins Lager zu hasten, um mir die betäubte und rotzlaufende Nase „nachzupudern“. Kaffee ist, und in dieser Hinsicht bin ich typisch deutsch, die tägliche Droge meiner Wahl.

Viele Barkeeper sind, und mich selbst nehme ich hiervon keineswegs aus, ohne den ersten Schuss Koffein kaum ansprechbar, sondern bewegen sich wie im Delirium mechanisch an den Barstationen vorbei hin zur Kaffeemaschine, dieser Spenderin des Erwachens, der Zapfstation des sehnlichst benötigten schwarzen Treibstoffes. Was wären wir nur ohne diese wunderbare technische Errungenschaft, dieser vielleicht wichtigsten menschlichen Erfindung seit der Entdeckung des Rads, des Schießpulvers und der Tiefkühlpizza? Bestenfalls willenlose Zombies.

Kaum, dass man nun also die erste Tasse des Drehzahlbeschleunigers intus hat, prasseln mit hoher Wahrscheinlichkeit auch schon die ersten Bestellungen des Abends auf einen ein. Ein Bier hier, eine Piña Colada da, ein entkoffeinierter Soja-Latte-Macchiato mit Fair-Trade-Karamell-Topping dort … Alles wunderbar. Die nächste entscheidende Hürde des Tages muss genommen werden, wenn schließlich eines dieser lästigen aber zwangsläufigen Individuen, die die Tresen dieser Welt bevölkern, die Dreistigkeit besitzt, einen schon jetzt, noch weit vor Erreichen eines wenigstens halbwegs „wach“ zu nennenden Zustandes anzusprechen.

„Haben Sie auch eine Toilette?“, „Gibt’s hier was zu essen?“, „Ist der Tisch dort wirklich reserviert?“, hört man da einige besonders unerschrockene Exemplare fragen, zeitraubende und überflüssige Höflichkeitsfloskeln geflissentlich übergehend.

Es sind immer wieder dieselben Fragen, die man mit routiniert emotionslosem Ton mit den ebenfalls immer gleichen Antworten abschmettert: „Die Treppe hinunter.“, „Nein, nur Getränke.“, „Ja, der ist reserviert.“. Hat man während dieses halbwachen, ferngesteuerten Zustandes nun wahlweise besonders gute oder aber ausgesprochen schlechte Laune, so lässt man sich gelegentlich auch einmal zu Variationen hinreißen wie „Nein, eine Toilette haben wir nicht. Gehen Sie einfach gegenüber in den kleinen Park.“, „Wir verkaufen ausschließlich Flüssignahrung.“ oder „Wo denken Sie hin, der Tischaufsteller mit der Aufschrift Reserviert steht da selbstverständlich nur, weil er so unglaublich schön und dekorativ aussieht.“.

So oder so ähnlich setzt es sich in der frühen Phase des Barbetriebs fort. Limetten schneiden, Caipis stampfen, Bier zapfen, Fässer wechseln, dumme Fragen beantworten, dabei stets gute Miene machen. Wenigstens zeigt sich mit Erreichen der zweiten Tasse Kaffee allmählich die wohltuende Wirkung der ersten und die Laune wird ein wenig besser, erreicht schließlich ein Niveau, das als Betriebstemperatur beziehungsweise unteres Ende menschlicher Sozialfähigkeit bezeichnet werden könnte. Die Schaumkrone des Biers gelingt nun schon deutlich schöner, fast wie aus einem der zahlreichen Werbespots, die Cocktails schmecken ausgewogener, die Kommunikation wird freundlicher. Nach rund einer Stunde Arbeit ist man an selbiger endlich nicht mehr nur körperlich angekommen, sondern auch mental dazu in der Lage, den Widrigkeiten des Berufslebens zu begegnen.

Gegen 21 Uhr hat einen die gewohnte Routine schließlich völlig vereinnahmt. Die Handgriffe sind schnell und präzise, die Rezepturen nehmen den direkten Weg vom Hippocampus zu Händen und Fingern, ohne den zeitraubenden Umweg über das in solch einem „Flow“ ohnehin nur unnötig störende Bewusstsein. Mit fortschreitender Stunde nimmt nun auch die Frequenz der Getränkebestellungen zu. Die Hände greifen in rascher Folge zu Shaker, Eisschaufel und Gläsern, von Flasche zu Flasche, gleich den Tentakeln eines irrsinnig gewordenen Oktopusses, der sich in einem Anflug von tierischer Hybris dazu entschlossen hat, den Tiefen des Meeres zu entsteigen, um Barkeeper zu werden. Das Koffein im Blut erhält nun Verstärkung durch das wesentlich effektivere Adrenalin, das einen regelrechten Rauschzustand auslöst und als einzige unwesentliche Nebenwirkung die Tentakel ein klein wenig zittern lässt. Man will mehr davon! Wie ein Derwisch fliegt man nun hinter dem Tresen hin und her und riskiert nur kurz einen hastigen Blick auf das schwarze Ziffernblatt seiner Mido: Es ist 22 Uhr.

Die Vorstellungen der umliegenden Theater sind seit einigen Minuten beendet und die Hütte ist mittlerweile zum Bersten gefüllt. Der Takt aus zahlenden und neu eintreffenden Gästen erreicht einen schon fast schwindelerregenden Level. Doch das aus zahllosen Individuen bestehende menschliche Metronom ist unbarmherzig. Stress. Noch ist es guter Stress, der den ersehnten Adrenalinpegel aufrechterhält und den Kessel unter Dampf hält, doch ist die Grenze des Angenehmen schnell überschritten. Die Bestellungen rattern jetzt wie im Stakkato aus dem Bondrucker, der stupide seine Pflicht erfüllt und rollenweise Thermopapier mit abstrakten Getränkenamen bedruckt, die das nunmehr im eigenen Saft schwimmende Bartenderhirn in Arbeitsaufträge uminterpretiert. Schweißperlen sammeln sich auf der Stirn, an denken ist nicht mehr zu denken, es gilt nur noch zu funktionieren.

Sechs Cocktails müssen noch gemixt, neun Bier noch gezapft, weiterhin zwei Cappuccini, eine Tasse Kaffee, ein Espresso (wieder so ein Stümper, der nach einem „Expresso“ verlangte!), ein Ginger Ale und zwei Weißwein zubereitet werden. Die sechs Gäste an Tisch zwölf wollen bezahlen. Natürlich getrennt. Das Eis ist alle, ebenso Wodka und Zitronensaft.

Das Wichtigste zuerst. Mit einer Präzision, die sonst nur Schweizer Uhrwerken zu eigen ist, entscheidet das Barkeeperhirn, welche der anstehenden Aufgaben die höchste Priorität genießt. Ankommende Gäste? Sicher nicht. Gäste, die uns verlassen wollen? Schon eher, denn wie schon eine alte Weisheit besagt: „Auf Wiedersehen!“ ist schöner als „Hallo!“. Aber, wie Henry Ford sagen würde, das Fließband darf niemals stillstehen. Also zunächst einmal runter ins Lager.

Auf dem Weg nach unten tritt einem ein Mann in den Weg. Ob man ihm Zigaretten mitbringen könne. Nein, Kleingeld habe er keines, man solle es einfach auf die Rechnung schreiben.

Natürlich, ganz einfach, nicht wahr? Man hat schließlich sonst nichts Besseres zu tun! Also mit einem Sprung zurück hinter den Tresen und mit einem Griff in die Kasse das benötigte kostbare Münzgeld entnommen, um es diesem vollkommen überflüssigen Apparat des Teufels in den Rachen zu werfen. Jetzt aber ab!

Bei dem Versuch, an Tisch sieben vorbei zu huschen, schlagen einem mürrische und ungeduldige Blicke entgegen. Jemand am Tisch sagt etwas in unsere Richtung, versucht uns aufzuhalten. Die Blockade aus Worten und fuchtelnden Händen wie ein Schlachtkreuzer aus dem Zweiten Weltkrieg durchbrechend und den Sprecher mutwillig ignorierend, rast man die Treppe hinab ins Lager, besorgt Eis, Wodka und Zitronensaft, drei der wichtigsten Zutaten einer jeden Bar. Und natürlich vergisst man diese verflixte Packung Zigaretten.

Als man auf dem Weg nach oben wieder an Tisch sieben vorbeikommt, hat man keine Chance mehr der geifernden und nun in ernsthaftem Aufruhr befindlichen Meute zu entkommen.

„Wir haben schon vor zwanzig Minuten bestellt! Können Sie mal nachfragen, wo denn unsere Getränke bleiben?!“, schlägt es einem mit deutlich gereiztem Unterton und misstrauisch zusammengekniffenen Augen entgegen.

Man verspricht, sich darum zu kümmern und eilt weiter. Beim Slalomlauf durch die dicht um die Theke gedrängte Menge stellt sich einem der nach Nikotin gierende Raucher in den Weg. Während er einen mustert und verzweifelt nach dem begehrten Schächtelchen fahndet, bemerkt man an einem verräterischen Klimpern in der Hosentasche, dass man etwas ohnehin Überflüssiges vergessen hat. Man erntet einen finsteren Blick, der zu sagen scheint „Was für ein schlechter Service!“, drückt dem Mann in aller Eile das Münzgeld in die Hand und weist ihm, eine Entschuldigung murmelnd, den Weg zum automatischen Tabakspender. Der Blick des Mannes verfinstert sich noch weiter, sein Gesicht nimmt dieselbe Farbe an, in der vermutlich auch seine Lungenflügel vor sich hin schimmeln.

Als kleine Selbstentschädigung erhascht man einen dankbaren Blick in den aufreizend tiefen Ausschnitt einer Brünetten an Tisch vier, bevor man hinter die Theke springt, die Eiswürfel ins Kühlfach packt, Wodka und Zitronensaft auswechselt und verfolgt, an welchen Platz sich der zur Selbsterfüllung seiner Mission gezwungene, nunmehr zurückkehrende, mit nervösen Fingern an der Folie der Zigarettenschachtel fummelnde Raucher begibt.

Ah, er sitzt an der Drei.

Man dreht sich zur Kasse um, boniert 6,- € Auslagen auf den Tisch mit der Nummer drei und überprüft, wann die nörgelnden Herrschaften an Tisch sieben denn tatsächlich ihre Bestellung aufgegeben haben.

Vor gerade einmal vier Minuten.

Quakende Nacktaffen verlieren ihr Zeitgefühl und den Bezug zur Realität, wenn sie von Durst und Ungeduld geplagt werden. Vielleicht sollte jemand eine Abhandlung darüber verfassen.

Nun noch fix die letzten Bestellungen abarbeiten, bevor es zum Kassieren an die zwölf geht – die Kasse kann warten, durstige Kehlen hingegen nicht. Eine klebrige, von Obstresten und Saftspritzern verunstaltete Mixstation zurücklassend, dreht man sich mit ebenso pappigen Fingern zur Kasse, zieht die Rechnung für Tisch zwölf und eilt zur entsprechenden Sitzgelegenheit und den dort sichtbar ungeduldig wartenden Gestalten. Denn neben dem Warten auf die georderten Getränke stellt nichts die ohnehin fragile Geduld von Gästen auf eine so harte Probe wie der Wunsch, das besuchte Etablissement wieder verlassen zu können.

Nachdem die Gäste eins bis drei ein eher dürftiges Trinkgeldverhalten an den Tag gelegt haben, schwindet die Hoffnung, dass dies bei den Nummern vier bis sechs anders sein könnte, rapide. Nicht umsonst ist man miteinander befreundet und sitzt am selben Tisch. Gleich und Gleich gesellt sich gern, wie es so schön heißt. Nach einer mageren Ausbeute von 1,20 € bleibt nur noch die unwahrscheinliche Hoffnung, dass ein wenig des gezielt in kleinen Münzen herausgegebene Wechselgeld geringschätzig auf dem Tisch zurückgelassen wird. Und tatsächlich: Zusätzliche 30 Cent finden ihren Weg in die Trinkgeldkasse.

„Ihr geizigen Kackfrösche“, schimpft man in Gedanken, „vielen Dank für nichts!“. Den Mund verlassen jedoch die grotesk klingenden und geradezu pelzig schmeckenden Worte „Vielen Dank und schönen Abend noch!“.

Noch bevor man sich richtig über die knausrigen Geier aufregen kann, reißen einen die ohne Unterlass nachrückenden Aufgaben aus den innerlich übersprudelnden Hasstiraden. Nach außen dringt davon ohnehin kaum etwas, bestenfalls ein kurzer, finsterer Blick oder ein lautloser Fluch. Der Profi behält seine Verwünschungen und Flüche für sich – und lächelt.

In diesem Takt geht es etwa zwei Stunden lang weiter, bis sich die Bar wie auf ein unsichtbares Kommando hin gegen Mitternacht schlagartig leert. Die nun folgende Ruhephase von ungewisser Dauer muss genutzt werden, um den Laden wieder auf Vordermann zu bringen, die schmutzigen Tische und die Arbeitsflächen zu säubern. Letztere gleichen einem mit den Leichen und dem Blut exotischer Früchte übersäten Schlachtfeld, wobei unklar bleibt, ob nun die in Überzahl kämpfenden Cocktailkirschen oder das Bündnis aus Ananas, Orange und Kiwi den Sieg davongetragen haben. In jedem Fall gilt es Clausewitz‘ Regeln „Vom Kriege“ zu beachten und sich nach der Schlacht auf eine neuerliche Bedrängung durch den Feind gefasst zu machen, die Cocktailstation wieder zügig in einen hygienisch einwandfreien Zustand zu versetzen und den verschossenen Warenbestand aufzumunitionieren. Die Truppe gönnt sich noch eine Zigarette, nimmt – je nach Fasson – einen gierigen Schluck diversen Gesöffs zu sich, verschwindet in die dafür vorgesehen Räumlichkeiten und lässt mit einem wohligen Grunzen längst überfälligen flüssigen Ballast ab.

Nach einer guten Viertelstunde sind Fregatte und Besatzung wieder klar zum Gefecht und erneut auf dem Weg in feindliche Gewässer. In ungeduldiger Erwartung ist man nun bereit für die nächste Breitseite und den sich unweigerlich daran anschließenden Enterversuch durch die üblichen zwielichtigen Gestalten, die sich auch heute gewohnheitsmäßig durch die Nacht bewegen ...

* * *

Hinter dem Tresen zu arbeiten gleicht einem Piratenleben auf Hoher See. Die Gewässer sind tückisch, voller scharfkantiger Riffe und gieriger Haie, es kommt immer wieder zu auszehrenden Scharmützeln, dem so mancher Kamerad zum Opfer fällt. Aber es lockt auch fette Beute, die Aussicht auf Ruhm, Rum und Jungfrauen.

Auf der einen Seite kann man niemals vorhersagen, was die bevorstehende Kaperfahrt an denkwürdigen Ereignissen mit sich bringen wird, welche zähnefletschenden Gegner sich einem entgegenwerfen werden, wie viele spanische Dukaten man wird abgreifen können, um sie in der nächstgelegenen Spelunke auf den Kopf zu hauen oder aber um damit den wachsenden Schatz auf der geheimen Insel zu mehren. Auf der anderen Seite erfährt man aber auch kaum Anerkennung und echte Wertschätzung, gilt es Launen und Respektlosigkeiten von größtenteils fremden Menschen zu ertragen, die man nicht einmal einer von Flöhen zerfressenen Straßenratte zumuten möchte. Dabei ist man stets dazu verdammt, die Contenance zu wahren und zu lächeln.

Tatsächlich steht dem Barkeeper durchaus ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten zur Revanche zur Verfügung, das, wenn Sie als Leser es erst einmal kennengelernt haben, Sie es sich in Zukunft zweifellos zweimal überlegen werden, wie Sie dem Barmann in der Kneipe Ihrer Wahl gegenübertreten wollen. Die goldene Regel lautet ganz einfach: bleiben Sie jederzeit höflich und korrekt. Aber dazu später mehr.

Neben widerborstigen Gästen lauern noch andere Tücken auf den unbedarften Barkeeper. Eine der schlimmsten hiervon: Langeweile. Kaum etwas demotiviert mehr und untergräbt Disziplin und Moral schlimmer als sinnloses Däumchen drehen während der Arbeit. Schon vierzig Minuten des Herumstehens sind vollkommen ausreichend, und mir ist die Lust bis auf das letzte Fünkchen restlos vergangen. Danach wieder in die Gänge zu kommen und Betriebstemperatur herzustellen, fällt mir jedes Mal furchtbar schwer. Es ist eine Qual. Und doch gehören sie eben dazu, die ruhigen, arbeitsarmen Phasen, die regelmäßig auf einen warten und stets aufs Neue einer Geduldsprobe unterziehen.

Auch das genaue Gegenteil hiervon, nämlich stressgeladene Stunden, während der man sich vorkommt wie eine fleischgewordene Zentrifuge, gehören zum Job. Für mich gesprochen kann ich jedoch sagen, dass mir solche Phasen weitaus lieber sind als das leidige Nichtstun. Denn fordernde Arbeit macht mehr Spaß, sie bringt mehr Trinkgeld (da mehr Umsatz) und die Zeit vergeht ungleich schneller. Ein gesundes Maß an Stress bringt den Motor erst so richtig in Schwung und fördert die Moral. Ich bin gerne ein Flaschen-schwingender Oktopus.

Nach diesem kurzen Ausflug in einen exemplarischen Abend des Barbetriebs, widmen wir uns in den folgenden Kapiteln etwas detaillierter den großen Fragen des Barkeepertums – die nichts weniger sind als die großen Fragen des Lebens selbst. Dabei geht es um Fragen, die früher oder später auftauchen werden, sollten Sie mit dem Gedanken spielen, eine zweite Karriere als flaschenwerfender Oktopus zu beginnen. Oder aber um Fragen, die Sie sich vielleicht schon des Öfteren aus reiner Neugier gestellt haben, wenn Sie eine trinkselige Stunde am Tresen Ihrer Stammkneipe verbracht haben.

1. Was gibt es zu tun?

Warum gibt es Barkeeper? Was rechtfertigt ihre berufliche Existenz? Barkeeper gibt es, seitdem das natürliche Bedürfnis des Menschen, in der Öffentlichkeit zu trinken, mit dem Kapitalismus verschmolzen wurde. Doch geht es dabei nicht nur um den Wunsch nach simpler Aufnahme von Flüssigkeit, nicht einmal hauptsächlich, sondern um das tief in uns verwurzelte Verlangen nach Geselligkeit, das Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen, der Wunsch, den stressigen Alltag zu vergessen – und darum, sich mal wieder nach allen Regeln der Kunst hemmungslos zu betrinken. Bei jedem Menschen mag die Gewichtung mehr oder weniger anders verteilt sein, doch sind alle diese Bedürfnisse wohl die Ursache dafür, dass es schon seit Jahrhunderten Berufe gibt, deren scheinbare Hauptaufgabe darin besteht, anderen Menschen Alkohol ins Glas zu gießen und vor die Nase zu stellen.

Dem Barkeeper kommt demzufolge nicht nur die Aufgabe zu, legale Drogen unters Volk zu bringen, er ist auch Dreh- und Angelpunkt eines wichtigen Bereiches des sozialen Lebens. Egal ob Szenebar, Kiezkneipe oder Nobelrestaurant, hier treffen sich die Menschen, pflegen Freundschaften, lamentieren über Nichtigkeiten und verbringen ihre Freizeit mit Gesprächen und der Benebelung der Sinne. Der Barkeeper steht im Zentrum all dieser Aktivitäten, er ist Dealer, Dirigent, Zuhörer und Redner in einer Person. Durch seinen Charakter hat er entscheidenden Einfluss darauf, wer im fraglichen Lokal regelmäßig verkehrt, wer sich so schnell nicht noch einmal blicken lässt und wer erfolgreich die zeitraubende und das Portemonnaie nicht unwesentlich belastende Metamorphose zum Stammgast durchmacht. Er gibt der Bar ihr buchstäbliches Gesicht und verleiht der Lokalität einen guten Teil ihres unverwechselbaren, aber auch fragilen und austauschbaren Charakters.

Undenkbar, dass bei aller Technisierung, Digitalisierung und Automatisierung der verschiedensten Lebensbereiche einmal der Tag kommen könnte, an dem der Mann oder die Frau hinter dem Tresen durch einen seelenlosen Schankautomaten ersetzt werden soll. Man kennt solcherart verstörende Zukunftsvisionen aus Science-Fiction-Filmen wie „Das fünfte Element“, wo ein Roboter die gewünschten Getränke unter perfekter Einhaltung der vorgegebenen Maße kredenzt und dabei stets gleichmütig und unempfindlich gegenüber jedweder Beleidigung höflich und korrekt seinen Gästen gegenübertritt. Wie unglaublich langweilig und alles andere als erstrebenswert eine solche Zukunft doch erscheinen muss.

Bei aller Perfektion lassen Maschinen einen alles entscheidenden Faktor vermissen: das Menschliche, das Imperfekte, ja das Unberechenbare. Und alle diese Science-Fiction-Filme missachten oder übergehen den unverrückbaren Umstand, dass ein Barkeeper nicht nur ein bloßer Schankautomat ist, der Getränke zubereitet und serviert. Menschen möchten sich nicht mit Maschinen unterhalten und von ihnen bedienen lassen – schließlich wissen wir spätestens seit „Star Wars“, dass selbst künstliche „Persönlichkeiten“ wie C3PO oder R2D2 nur allzu oft von ihren humanoiden Zeitgenossen mit Missachtung und Geringschätzung gestraft werden, nicht etwa weil sie dumm oder im übertragenen Sinne seelenlos wären, sondern weil sie eben nicht aus Fleisch und Blut sind.

Menschen verlangt es immerzu nach der Gesellschaft anderer Menschen. Aus diesem Grund ist der Beruf des Barkeepers wohl einer der krisensichersten überhaupt. Im Gegenteil haben schon die schwierigen Nachkriegsjahre der 1920er gezeigt, wie Menschen mit besonders schwierigen Zeiten umzugehen wissen: sie begeben sich in die nächste Bar und helfen dem ohnehin schon dünnen Geldbeutel dabei, sich umso schneller zu entleeren.

Der Beruf des Barkeepers wird sich sicherlich in naher wie in ferner Zukunft hier und da ein wenig wandeln, niemals aber durch technische Neuerungen vollends verdrängen lassen. Am Ende dieser Kapiteleinführung angekommen, möchte ich die eingangs gestellte Frage beantworten, indem ich feststelle:

Barkeeper gibt es, weil sie gleich mehrere grundlegende Bedürfnisse der Menschen befriedigen: das Bedürfnis nach Geselligkeit, das Bedürfnis nach Ablenkung und das Bedürfnis nach einem mehr oder minder ausgeprägten Rausch.

Trete ein, bringe Geld herein

Gastfreundschaft ist die Kunst, Gästen das Gefühl zu vermitteln, sie seien zu Hause, während man dabei insgeheim wünscht, sie seien es wirklich.

Sprichwort

Ein Barkeeper ist, sofern es sich nicht um eine reine Buffet- oder Ausschanktätigkeit handelt, nicht zuletzt ein Gastgeber. Man könnte auch sagen, er ist ein Gastgeber, der außerdem noch die Drinks selber mixt.

Da der Beruf des Barkeepers ohne die Menschen, die unsere Bar aufsuchen, um etwas zu trinken, obsolet wäre, kommt der Bewirtung die vielleicht größte Bedeutung zu. Leider jedoch bringt es die Stellung des Gastgebers im Allgemeinen mit sich, dass man sich seine Gäste nicht immer aussuchen kann und man hat nur bedingt Einfluss darauf, wann sie wieder gehen. Zwischenfälle angenehmer und unangenehmer Art sind also vorprogrammiert. Sie können zwar bis auf ein gewisses Maß reduziert, aufgrund des Unsicherheitsfaktors „Mensch“ aber niemals völlig ausgeschlossen werden.

Die Bewirtung als solche beginnt mit dem Eintreten des Gastes in den Gastraum und endet erst, wenn er das Lokal wieder verlassen hat. Zwischen diesen beiden überaus variablen äußersten Eckpunkten bleibt mehr oder weniger viel Zeit für allerhand zwischenmenschliche Reibungspunkte und Missverständnisse – und Gelegenheiten, die bei manchen Individuen nur mangelhaft ausgeprägten sozialen Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Das gilt für beide Seiten der Theke.

Aus Sicht der Angestellten bedeutet Bewirtung in der Gastronomie in erster Linie Gäste willkommen heißen, die man weder eingeladen hat noch besonders gut leiden kann. Im Regelfall sind dem Kellner oder Barkeeper die Leute gleichgültig und alles, was man sich für die Zeit ihrer Verweildauer erbittet, sind keine besonderen Vorkommnisse und ein anständiges Trinkgeld. Letzteres allerdings will zu Recht verdient werden, was sich mal mehr, mal weniger einfach gestaltet.

Manchmal handelt es sich bei den Eintretenden gar um ausgesprochen widerborstige Naturen, die man mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht innerlich zum Teufel wünscht. Selten ist die Willkommensfreude ernst gemeint und kommt von Herzen. Es mag zwar eine unschöne Wahrheit sein, aber sie ist letztlich nur menschlich. Betrachten wir es nüchtern und malen Sie sich folgendes Bild aus: Stellen Sie sich einen Menschen vor, der jedes Mal vor purer, unverfälschter Freude regelrecht übersprudelt, wenn er einem anderen, wohlgemerkt völlig fremden Menschen über den Weg läuft. Was würden Sie von einem solchen Individuum wohl halten? Wahrscheinlich würden Sie sich denken: Entweder ist der Typ auf irgendeinem ganz üblen Trip hängengeblieben oder er hat schlicht und ergreifend nicht mehr alle beisammen – oder er wurde im falschen Körper geboren und hält sich für einen Golden Retriever.

Im Normalfall sind Homo Gastronomicus eine Mischung aus ersterem (letzteres ist nach meiner Erfahrung eher selten anzutreffen), mehr oder weniger stark bewusstseinsverändernden Substanzen zugeneigte Lebemenschen, die ganz gehörig einen an der Waffel haben. Eine Ausnahme bilden vielleicht die Frischlinge in der Gastronomie, die gerade erst ein paar Jahre abgerissen und eben erst ihre Ausbildung absolviert haben. Bei ihnen ist der Verdruss noch am geringsten, der geistige Verschleiß und moralische Verfall gerade erst im Anfangsstadium. Hier macht sich bisweilen noch echtes Herzblut und unverfälschter Idealismus bemerkbar. Bei den Dienstälteren hilft meist nur noch der Gedanke an den bevorstehenden Feierabend, die damit verbundene Kassenabrechnung und die Auszahlung des täglichen Trinkgelds, um wenigstens ein Minimum der nötigen Motivation zusammenzukratzen.

Wenn Sie als Gast nun also eine Bar, ein Restaurant oder eine Hotellobby betreten, erwarten Sie zunächst einmal eine höfliche Begrüßung. Diese steht Ihnen unbestritten zu, denn für die von Sitte und Anstand gebotenen üblichen Floskeln sollte man sich stets die nötige Zeit nehmen. Das ist eigentlich etwas derart Selbstverständliches, dass es nicht einmal erwähnt werden müsste. Doch die Realität sieht anders aus.

Immer wieder erstaunt es mich, wenn mein Gruß nicht einmal von Gästen der etwas älteren Generation erwidert wird. Oft wird mir lediglich ein emotionslos leerer Blick entgegengeworfen, manch einer stößt sogar umgehend und ungeduldig wie ein durstiger Säugling seinen Wunsch hervor: „Bier!“, wahlweise auch die Variante „Zwei Bier!“ oder aber „Karte!“, entsinne ich mich da einige besonders dreiste Primitivlinge vernommen zu haben. Womöglich wollte mich letzterer auch zu einer Partie Skat auffordern und ich habe in meiner Einfalt den Wink nicht verstanden. Entgegen der landläufigen Annahme sind jedenfalls oftmals gerade jüngere, kaum dem Teenageralter entwachsene Gäste im Gegensatz dazu sehr oft ausgesprochen höflich. Von wegen „früher war alles besser“. Anstand und Manieren sind keine Frage des Alters.

Nehmen wir einmal an, Sie hätten wie ich schon im Kindesalter die Grundregeln guten Benehmens gelernt und Sie hätten daher nun also meine Grußformel ebenso freundlich erwidert. Ihre ganze Aufmerksamkeit würde jetzt der Suche eines gemütlichen Platzes gelten. Des in Ihren Augen besten Platzes. Des Platzes, den alle um jeden Preis wollen. Des Eisernen Thrones unter den Sitzplätzen.

Von besonderer Augenfälligkeit und geradezu unwiderstehlicher Anziehungskraft ist dabei eine ganz besondere Art von Tisch: einer, der soeben erst von den Vorgängern geräumt wurde, aber immer noch mit schmutzigen Gläsern, zerknüllten Servietten, abgepopeltem Kerzenwachs und reichlich klebrigen Getränkespritzern verunstaltet ist. Manchmal habe ich den Eindruck, je wüster ein Tisch von Essens- und Getränkeresten verunstaltet ist und vor Schmutz geradezu starrt, desto begehrter ist er. Selbst wenn Gäste ein nahezu leeres Lokal betreten und sämtliche Tische bis auf einen einzigen sauber und ordentlich eingedeckt sind, so wird doch in drei von vier Fällen zielstrebig ausgerechnet dieser eine angesteuert. Fragen Sie einen Kellner Ihrer Wahl danach und nahezu jeder wird Ihnen dieses Phänomen ohne zu zögern bestätigen, wenn nicht sogar gleich in ein kopfschüttelndes, verständnisloses Klagen verfallen.

Menschen fühlen sich von Schmutz und Chaos magisch angezogen, könnte die logische Schlussfolgerung hieraus lauten. Die Lösung des Rätsels hat sich mir noch nicht völlig erschlossen, doch vermute ich, dass es etwas mit dem primitiven Herdentrieb in uns zu tun hat, dem wir auf die eine oder andere Art und Weise alle immer wieder erliegen. Ein schmutziger Tisch ist zunächst einmal wesentlich augenfälliger als ein sauberer, er wird gewissermaßen allein durch den Unrat, mit dem er bedeckt ist, zu etwas Besonderem. Und Menschen fühlen sich von besonderen und aus der Uniformität herausstechenden Dingen angezogen wie Motten vom Licht, auch wenn diese eher einer klebrigen Fliegenfalle gleichen. Ein schmutziger Tisch bedeutet außerdem, hier haben eben erst Menschen gesessen und getrunken. Irgendetwas an ihm muss also schon unsere Vorgänger dazu bewogen haben, ausgerechnet ihn auszuwählen. Es muss ein guter Tisch sein, vielleicht ist es sogar der beste. Nichts wie ran, bevor uns jemand zuvorkommt!

Je nach Situation kann es ratsam sein, die Gäste bei ihrer Platzwahl zu leiten und ihnen nicht völlig freie Hand zu lassen. So ist es aus naheliegenden Gründen immer sinnvoll, ein Pärchen an einem Zweiertisch zu platzieren und nicht an einer Tafel für zehn Personen. Seltsam begehrt sind ebenso wie schmutzige immerzu auch große Tische, Sitzbänke und – es ist mir stets aufs Neue ein Rätsel – offensichtlich reservierte Tische. Mit gelassener Hartnäckigkeit übersehen Eintretende in regelmäßigen Abständen unübersehbare Tischaufsteller mit der Aufschrift „Reserviert“. Manch ein Frechling schnappt sich gar ein solches Schild und stellt es auf den Nachbartisch oder auf den Fußboden. Ich erinnere mich an einen Fall, da sich ein Mann mittleren Alters ein solches „Reserviert“-Schild schnappte und unter den Fuß des wackligen Tisches klemmte. Was denken sich solche Leute bloß? Nun, vermutlich nicht besonders viel.

Beim Heranpreschen an einen solcherart von seinem Aufsteller befreiten Tisch vernehme ich sodann oftmals Fragen wie: „Ist der wirklich reserviert?“ oder „Der ist doch wohl nicht wirklich reserviert, oder?“, manchmal auch: „Für wen ist der denn reserviert?“, und, eine schon etwas intelligentere Frage: „Ab wann ist der reserviert?“.

Abgesehen von der letzten Frage in dieser Kette, die durchaus nicht unklug ist, habe ich nie begriffen, welche Antwort diese Menschen auf den Unsinn erwarten, den sie von sich geben. Glauben sie, das Personal würde die Schilder nur zum Spaß oder aus Langeweile auf den Tischen verteilen? Denken diese Leute, sie könnten die Person vielleicht kennen, wenn man ihnen den Namen nannte? Selbst für den außergewöhnlichen Fall, dass sie Herrn Czeschinski, seine zwanzig Jahr jüngere Geliebte und seine drei unehelichen Kinder tatsächlich kennen – was dann? Wie können sie außerdem sicher sein, dass es sich dabei wirklich um „ihren“ Herrn Czeschinski handelt? Sind solche Dreistlinge vielleicht sogar dem abstrusen Wahnwitz verfallen, irgendein unbekannter Wohltäter habe sie unter vielen Millionen als Günstling auserwählt und ausgerechnet für sie an jenem Abend genau diesen Tisch in ausgerechnet dieser Bar reserviert?

Oft habe ich das Gefühl, diese Menschen denken nicht über ihr Tun nach, sondern handeln rein aus Impulsen heraus. Werden sie sodann auf ihr fragwürdiges Verhalten angesprochen, fällt es ihnen selbst schwer, ihr Verhalten sinnvoll zu begründen. Dieser geistige Schwebezustand ist sodann die Geburtsstunde für unsinnige Fragen oder beleidigte Kommentare. Man könnte sagen, sie sind von ihrer eigenen Dummheit überfordert. Deshalb an dieser Stelle ein kurzer Aufruf an alle Hersteller von Gastronomiebedarf: Machen Sie die Reservierungsschilder größer, ja sie können gar nicht groß genug sein! 50 x 30 cm wären gut, glaube ich, dazu mindestens fünf Kilogramm schwer.

Ein hilfreicher Trick beim Platzieren von Gästen ist es, das Lokal „von hinten“ aufzufüllen, also zunächst Tische im hinteren Bereich zu besetzen, sodass von der Straße aus betrachtet noch freie Plätze zu erkennen sind. Stellen Sie sich eine Bar vor, deren gesamte Fensterfront gerappelt voll mit Leuten ist. Viele der vorbeikommenden Passanten werden vermuten, die Bar sei überfüllt, obwohl der Raum hinter den Schaufenstersitzern nahezu leer ist. Das genaue Gegenteil hiervon ist übrigens ebenfalls ein echter Geschäftskiller. Erscheint nämlich der Gastraum leer, weil sich die wenigen vorhandenen Gäste in den hinteren Bereichen verstecken oder weil tatsächlich kein einziger Konsument anwesend ist, so wird dieser Umstand auch die anderen potentiellen Gäste vom Betreten des Lokals abhalten. Niemand setzt sich gerne in eine leere Bar oder in ein leeres Restaurant. Das suggeriert ungewollt schmutzige Toiletten, schlechte Drinks oder eben ein schlechtes Lokal.

Mein Chef hat letzteren Effekt immer wieder damit zu bekämpfen versucht, indem er das Personal an den menschenleeren Fensterplätzen allerlei Gläser aufstellen ließ beziehungsweise uns anwies, die schmutzigen Gläser gar nicht erst abzuräumen. Ob der Trick funktioniert? Schwer zu sagen, mal kommen Gäste, mal eben nicht. Man müsste den Effekt schon wissenschaftlich untersuchen und statistisch auswerten. Über den Daumen gepeilt würde ich eher dazu tendieren, den Gläsertrick als unbedeutend einzustufen. Denn eine Bar ohne Menschen, jedoch mit Tischen voller Gläser, ob nun sauber oder benutzt, erweckt den Eindruck, hier sei bis eben kräftig gefeiert worden. Dass aber alle Gäste scheinbar gleichzeitig das Lokal verlassen haben, ohne dass das Personal sich bislang die Mühe gemacht hätte die Tische abzuräumen, könnte genauso gut so interpretiert werden: Hier ist gleich Feierabend.

Einen besonders raffinierten und pfiffigen Kniff im Zusammenhang mit der Platzierung von eintretenden Nachtschwärmern hat sich einer meiner Kollegen ausgedacht. Er ist nämlich stets darum bemüht, attraktive Menschen, vorzugsweise Frauen, im Fenster- und damit Sichtbereich der Straße unterzubringen. Während diese „Lockvögel“ weitere Gäste anziehen sollen, werden durchschnittlich attraktive Besucher in die hinteren Bereiche verbannt. „Setz die hinten hin, die sind hässlich.“, lautet in solchen Fällen seine lapidare Aufforderung.

Ich habe sogar schon von Barbetreibern gehört, die diese nicht unbedingt schmeichelhafte, dafür aber erstaunlich effektive Vorgehensweise auf die Spitze treiben. Sie sollen junge, gutaussehende Frauen mit Hilfe von diversen Freigetränken dazu bewegen, in ihrer Bar ein Schausitzen zu veranstalten, um weitere Gäste hereinzulocken. Eine nicht unkluge Investition, die sich theoretisch sogar steuerlich geltend machen ließe.

Sitzen die Besucher unserer Bar nun endlich am richtigen Platz, so beginnt der eigentliche Teil der Bewirtung. Die Getränkekarten werden verteilt, um der Etikette gerecht zu werden an die Damen zuerst, und es entwickelt sich bereits das ein oder andere Beratungsgespräch. Vielen Menschen ist es lästig, dicke Getränkekarten mit zahlreichen Auswahlmöglichkeiten zu wälzen und lassen sich stattdessen lieber vom Barkeeper oder Kellner an der Hand führen. Ich kann jedes Mal nur den Kopf schütteln, wenn ich selbst als Gast in einer Bar sitze und wieder einmal eine Getränkekarte in die Hände bekomme, die mehr einem Band des Brockhaus als einer Karte gleicht. Wer bitte braucht mehrere hundert Cocktails zur Auswahl? Hier sollte man sich an die Weisheit halten „weniger ist mehr“! An diesem Punkt hat man als Barkeeper erstmals die Möglichkeit, aktiv zu verkaufen und seine Gäste beim Trinken anzuleiten. Und außerdem: nur weil etwas nicht in der Karte steht, bedeutet das nicht, dass sich der gewünschte Drink nicht zubereiten lässt. Seien Sie als Barkeeper kreativ, stöbern Sie in Ihrem verstaubten Gedächtnis, blättern Sie ein paar ebenso angestaubte Rezeptbücher durch oder nutzen Sie Google, wenn es unbedingt sein muss, Herrgott nochmal.

Empfehlungen sind immer eine schwierige, wenngleich nicht unwichtige Angelegenheit. Meist bekommt man schlicht die Frage gestellt: „Was können Sie denn empfehlen?“.

Manchmal mache ich mir den Spaß und antworte: „Wir zaubern hier die beste Apfelschorle der ganzen Stadt!“ (auf der Zunge liegt mir manches Mal „Ein anderes Lokal!“, aber davon wäre mein Chef wohl nicht allzu begeistert).

Zugegeben, die wenigsten Gäste lachen hierüber, für gewöhnlich werde ich mit humorlosen Blicken abgestraft. Aber was ich damit erreichen möchte ist weniger beifallendes Gelächter, als vielmehr die Leute zum Nachdenken anzuregen, denn ein paar konkrete Hinweise zu Ihrem Geschmack, Ihren Vorlieben und Abneigungen benötige ich schon, schließlich bin ich kein Hellseher. Und anstatt sich diese jedes Mal aus der Nase ziehen zu lassen, könnten Sie ja das nächste Mal schon von sich aus einige Anhaltspunkte liefern, um das ganze Prozedere ein wenig abzukürzen. Ist Ihnen mehr nach Bier, Wein oder möchten Sie einen Cocktail versuchen? Welche Spirituosen bevorzugen Sie? Soll es süß, sauer, sahnig sein? Welchen Cocktail trinken Sie sonst ganz gerne? Die Frage, was denn zu empfehlen sei, ist viel zu allgemein und kann außerdem zu bösen Überraschungen führen – für Sie als Gast. Und für die Spezialisten da draußen, die glauben, durch einen simplen Trick alle anderen ausstechen zu können, indem sie fragen: „Was ist denn das beste Bier/der beste Cocktail?“ – bitte, gehen Sie einfach woanders hin.

Angenommen Sie kommen zu mir in die Bar und fragen mich nach einer Empfehlung. Sie trinken im Regelfall nur Bitter Lemon und zu hohen Feiertagen auch einmal eine Kirschschorle, wollen es heute aber mit einem Cocktail so richtig krachen lassen. Gestresst und aufgrund des rollenden Geschäfts kurz angebunden antworte ich mehr scherzhaft als im Ernst: „Zombie!“. Sie denken nicht lange nach, stellen meine Seriosität nicht eine Sekunde lang in Frage und sagen ja. Auch ich mache mir nicht die Mühe, Sie über den Inhalt dieses ausgesprochen kräftigen Drinks aufzuklären, denn vergessen Sie nicht, ich bin genervt, übellaunig und habe keine Zeit. Es mag vielleicht auch gut ausgehen, aber das Risiko, dass Ihre Geschmacksnerven und vor allem auch Ihr Magen äußerst allergisch auf diese ungewohnte Rum-Bombe reagieren werden, ist ziemlich groß. Vielleicht bekommen Sie nicht einmal den ersten Schluck herunter, vielleicht kotzen Sie sich aber auch auf der Toilette die Seele aus dem Leib. In beiden Fällen können wir wohl nicht damit rechnen, Sie als Stammgast zu gewinnen.

Es ist letztlich also in beiderseitigem Interesse, Empfehlungen ernst zu nehmen und nicht leichtfertig eine solche auszusprechen. Doch seien Sie gescheit und geben Sie dem Barkeeper oder Kellner gleich ein paar Hinweise Ihren Geschmack betreffend mit auf den Weg. Gerade der Barkeeper Ihres Vertrauens mag vielleicht einen Ruf besitzen, der irgendwo zwischen frauenaufreißendem Zauberkünstler und strohdummen Kammerdiener liegt, hellsehen kann er jedoch ohne jeden Zweifel nicht.

Gast: „Geben Sie mir den besten Whisky, den Sie haben!“

Barkeeper: „Definieren Sie den besten.“

Gast: „Na, der am besten schmeckt, natürlich.“

Barkeeper nimmt den teuersten Whisky aus dem Regal und gießt ein Glas davon ein.

Gast, nachdem er sich ordentlich verschluckt, sich sein Husten wieder beruhigt hat und er wieder frei atmen kann: „Das schmeckt ja ekelhaft!“

Barkeeper: „Also mir schmeckt der am besten.“

Was nun folgt ist der Hauptteil der Bewirtung. Trotzdem werde ich diesem den kleinsten Teil dieses Kapitels widmen. Denn letztlich sitzen Sie nur da, schlürfen gelegentlich an Ihrem Drink, beobachten die anderen Gäste, spielen an Ihrem Handy herum und sehen Ihr Tun nur dann und wann durch den lästigen Versuch Ihrer Begleitung unterbrochen, ein Gespräch mit Ihnen anzuzetteln. Meine Berufsgenossen oder ich kommen erst dann wieder ins Spiel, wenn der Inhalt Ihres Glases zur Neige geht, Sie eine Runde Schnaps für zwischendurch bestellen wollen, nach einer Schale Nüsse oder sonstigem Knabberspaß verlangen, den Weg zur Toilette erfragen oder aber gerne eine exakte Wegbeschreibung zum nächsten Restaurant mit papua-neuguineischer Küche, frittierten Salzwasserkrokodilzehen auf der Karte und einem Kellner, der fließend Unserdeutsch spricht, haben möchten. Das alles ist es, was man gemeinhin und im weiteren Sinne unter Bewirtung versteht.

Wirklich interessant wird es erst wieder dann, wenn Sie zu dem Schluss gelangen, sich genügend die Sinne benebelt zu haben und endlich dazu entschließen, Ihre Zeche zu bezahlen. Das ist der Moment, der in jedem Kellner oder Barkeeper ein leichtes Kribbeln hervorruft und oftmals auch bei den Gästen ein Gefühl verursacht, das einem mäßigen Schlag in die Magengegend gleichkommt.

Die in einem solchen Moment in den Köpfen der Beteiligten kreisenden Gedanken könnten gegensätzlicher kaum sein: Der eine hat seine Dienste bereits in Vorleistung gebracht, erwartet nun die Begleichung der hierfür anstehenden Kosten plus eines angemessenen Aufschlags, mit dem der Bezahlende seine Wertschätzung gegenüber seiner Person und der Qualität seiner Arbeit zum Ausdruck bringt. Der andere hat gewissermaßen auf Pump geschlemmt und bekommt nun am Ende des Vergnügens die Quittung dafür präsentiert. Er muss also für etwas bezahlen, das er bereits in Anspruch genommen hat und nicht für etwas, dem er noch mit freudiger Erwartung entgegensieht.

Es erscheint unbedeutend, doch macht es einen gravierenden psychologischen Unterschied, ob man zuerst bezahlt und danach etwas dafür bekommt, oder ob man für eine bereits erbrachte Leistung nachträglich löhnen muss. Denn im Gegensatz zur Situation in einem Supermarkt, wo Ihnen die Ware erst dann gehört, wenn Sie sie an der Kasse durchgeschleust und bezahlt haben, haben Sie sie sich in einer Bar oder einem Restaurant bereits buchstäblich einverleibt. Sie mögen unterbewusst denken, die fragliche Ware gehöre längst Ihnen und wer könnte Sie jetzt noch auffordern, sie wieder herauszugeben. Und doch kommt nun einer dahergelaufen und möchte Ihnen etwas wegnehmen: Ihr Geld. Eine unangenehme Situation, die in nicht wenigen Menschen einen starken Widerwillen hervorruft.

Es ist ganz ähnlich wie mit dem Abbezahlen eines Kredits. Sie fahren das Auto bereits seit einiger Zeit und betrachten es längst als Ihr Eigentum, trotzdem ist jeden Monat aufs Neue eine schmerzliche Summe fällig. Je länger die Laufzeit des Kredites, desto ungerechter wird Ihnen das Einfordern des Ratenbetrages durch den Gläubiger vorkommen und umso widerwilliger werden Sie den Betrag begleichen.

Im Kleinformat trifft dieser psychologische Effekt auch auf das Bezahlen der Rechnung im Restaurant zu. Sie werden die Rechnung genau überprüfen (und Sie tun gut daran) und werden die Summe vielleicht als ungerechtfertigt hoch einstufen – dass Sie die Karte selbst studiert und alle Preise vor Ihrer eigenen Nase stehen hatten, spielt hierbei keine Rolle mehr. Sie sehen nur eine große schwarze Zahl (für Sie ist es eigentlich eine rote Zahl) und staunen nicht schlecht darüber, wie sich der Abend zusammengeläppert hat. Nicht selten kommt es an diesem Punkt immer wieder zu Diskussionen, selbst dann, wenn die Rechnung nicht zu beanstanden ist.

„Was? So viel für einen Aperol-Spritz? Im Restaurant *sowieso* bezahl ich dafür nur die Hälfte!“ (Genau, und wenn Sie sich bei Aldi die Zutaten selbst kaufen, bezahlen Sie heruntergerechnet sogar noch weniger!).

Der letzte Eindruck, den beide Parteien nun voneinander haben, ist der entscheidende und wird ausschlaggebend dafür sein, was sie in Zukunft vom jeweils anderen halten werden und ob es überhaupt ein Wiedersehen geben wird. Service und Qualität tadellos, aber für Ihren Geschmack überteuert? Sie werden sich wohl einen anderen Platz zum gelegentlichen Verweilen suchen. Ein zwar recht netter Gast, der mich aber mit einem Almosen abgespeist hat, das schon an Frechheit grenzt? Na hoffentlich kommt der nicht so schnell wieder!

Manchmal merken Gast und Gastwirt im Verlauf der Bewirtung irgendwann, dass sie einfach nicht zueinander passen. Die Zeit hierfür ist meist lange genug und Gelegenheiten bieten sich zu Hauf. Oft ist das Personal aber auch einfach nur gestresst oder der ständigen Routine überdrüssig.

Wenn Sie das nächste Mal eine Bar oder ein Restaurant betreten, denken Sie also daran, dass sich das Personal schon bei Ihrem ersten Anblick möglicherweise insgeheim wünscht, Sie hätten bereits gespeist und getrunken, bezahlt, ein ordentliches Trinkgeld hinterlassen und wären schon wieder auf dem Weg nach draußen. Sich das aber nicht anmerken zu lassen, darin besteht die Kunst des Bewirtens.

Operation: Tequila Sunrise

„Mist! Der Angostura-Bitter ist aus! Na, dann nehmen wir eben die Worcester-Sauce – ist doch eh das gleiche Zeug.“

Barkeeper mit nach eigenem Bekunden achtjähriger Berufserfahrung bei der Zubereitung eines Manhattan-Cocktails

Die primäre und zugleich offensichtlichste Aufgabe eines Barkeepers noch vor der Bewirtung besteht darin, Bestellungen anzunehmen und Getränke zuzubereiten. Das klingt nicht allzu kompliziert. Selbst einem dressierten Affen könnte man wohl mit einem gehörigen Maß Geduld eine Handvoll Cocktailrezepte beibringen. Freilich würden die Drinks unter schwankender Ausgewogenheit leiden und die Zubereitung unter fragwürdigen hygienischen Bedingungen leiden, aber es wäre unbestreitbar möglich. Denken Sie nur an die faszinierende Gorilladame Koko (1971 - 2018), die sich mittels Gebärdensprache mit einem Repertoire von über eintausend Zeichen verständlich machen konnte und zudem annähernd zweitausend englische Wörter verstand. Sie hätte sicherlich keine allzu schlechte Barkeeperin abgeben und noch dazu so manchen Kollegen mit Leichtigkeit in den Schatten gestellt.

Aus diesem Vergleich lässt sich schließen, dass es für einen Menschen keine allzu überragende Leistung darstellt, einhundert und mehr Rezepturen aus dem Stehgreif zu beherrschen. Gerne wird damit angegeben, man habe dreihundert Rezepturen oder sogar noch weit mehr im Kopf. Aber was bedeutet das schon? Bloßes Auswendiglernen stellt an sich noch keine erwähnenswerte kognitive Leistung dar. Zudem haben Barkeeper täglich mit der Zubereitung von Rezepten zu tun, die gängigsten davon prägen sich also schon aus purer Routine irgendwann wie von selbst ins Gedächtnis ein. Außerdem existieren sogenannte „Schlüssel-Rezepte“, die als Ausgangsbasis für weitere, lediglich leicht abgewandelte Rezepturen dienen. Hier ein einfaches und wohl nahezu jedem treuen Bargänger bekanntes Beispiel:

Grundrezept Caipirinha:

1 Limette (geachtelt)

3 Barlöffel Rohrzucker

5 cl Cachaça

gestoßenes Eis

Indem wir nun lediglich die Basis-Spirituose Cachaça austauschen, erhalten wir sodann folgende abgewandelte Cocktail-Bezeichnungen:

Als nächstes nehmen wir uns erneut die Grundrezeptur vor, geben jedoch Minze hinzu, ersetzen die Cachaça durch Rum und füllen das Glas zum Schluss mit Soda auf:

1 Limette (geachtelt)

Minze

3 Barlöffel Rohrzucker

5 cl Rum

2 - 3 cl Soda

gestoßenes Eis

Die so veränderte Caipirinha erhält nun, im Gegensatz zu den ersten Abwandlungen, wo lediglich die Basis-Spirituose ersetzt wurde, eine vollkommen neue Bezeichnung: Mojito. Gehen wir nun noch einen Schritt weiter, entfernen wir die für die Caipirinha typischen Limetten, nehmen Bourbon-Whiskey anstelle der Cachaça und nutzen als Zucker entweder flüssigen Läuterzucker oder Puderzucker:

Minze

3 Barlöffel Puderzucker oder 2 cl Läuterzucker

5 cl Bourbon Whiskey

2 - 3 cl Soda

gestoßenes Eis oder Würfeleis

Was wir nun erhalten, wird gemeinhin als Julep oder Mint-Julep bezeichnet. Das Spiel könnte nun von neuem beginnen, indem der Bourbon-Whiskey einmal mehr gegen andere Spirituosen ausgetauscht wird, doch sollte dieses kleine Beispiel zur Veranschaulichung von Schlüssel-Rezepturen genügen.

Schon jetzt beherrschen wir allein durch die Kenntnis einer einzigen Rezeptur insgesamt neun Cocktails. Schlüssel-Rezepturen dieser Art gibt es in mannigfacher Weise und sie erhöhen auf einen Schlag das Repertoire eines Barkeepers um ein Vielfaches. Es gibt sogar ein noch banaleres Beispiel: den Gibson – nichts anderes als ein Martini-Cocktail, bei dem die Olive durch eine Silberzwiebel ersetzt wird. Selten ist unter Barkeepern ein Genie zu finden, es handelt sich im Regelfall schlichtweg um das Ergebnis täglicher Übung.