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Die Dämonenseherin E-Book

Brigitte Melzer

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Beschreibung

Menschen mit seherischen Fähigkeiten. Ein Experiment, das außer Kontrolle gerät. Und eine Frau mit einem gefährlichen Geheimnis, die um ihr Leben und ihre Liebe kämpft. Spannend, erotisch und gefühlvoll. Edinburgh heute: Der Ex-Soldat Logan Drake jagt Monster. Monster, die von Menschen mit besonderen Fähigkeiten, den Sehern, erschaffen wurden. Schon immer haben die Menschen der Gemeinschaft der Seher misstraut. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellt: Getrieben von dem Wunsch nach Macht haben einige Seher Dämonen heraufbeschworen, die sich nicht länger kontrollieren lassen. Auf der Jagd nach diesen Dämonen trifft Logan auf Alessa, von der er sich Hinweise erhofft. Die beiden kommen sich näher, doch Alessa trägt ein Geheimnis in sich, das sie in größte Gefahr bringt. Logan ahnt nichts davon … denn wüsste er die Wahrheit, müsste er sie töten.

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Brigitte Melzer

Die Dämonenseherin

Roman

Die Edinburgh Evening News vor drei Jahren:

Grauenvolles Blutbad auf dem Leith Walk – Bandenkrieg oder Verschwörung der Seher?

Leith– Vor dem Trinity House kam es gestern zu einem blutigen Zwischenfall mit 17 Toten – darunter 5 Polizisten. Augenzeugen berichten von zerfetzten Leibern, die auf eine Explosion schließen lassen. Es wurde jedoch weder von einem Knall berichtet, noch konnten Brandspuren am Tatort nachgewiesen oder Fensterscheiben sichergestellt werden, die unter einer eventuellen Druckwelle zu Bruch gegangen wären. Die Gerichtsmedizin war zu keiner Stellungnahme bereit und verwies an den Pressesprecher der Polizei.

Das offizielle Statement der Polizei lautet: »In der Nacht vom 14. April war der Leith Walk Schauplatz eines brutalen Bandenkrieges. Bei dem Versuch, die Gewalt einzudämmen, kamen fünf verdienstvolle Kollegen zu Tode. Unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme gelten ihren Familien.«

Inoffiziellen Angaben zufolge soll es sich bei den übrigen Opfern jedoch nicht um Mitglieder einer Gang, sondern um Angehörige der Gemeinschaft der Seher gehandelt haben. Augenzeugen berichten, dass die Oberbekleidung der Seher aufgerissen war und den Blick auf ihre Rücken freigab, die aussahen, als habe jemand versucht, ihnen das Rückgrat herauszureißen. Ein ungewöhnlich grausamer Tod, der an ein Opferritual erinnert und Spekulationen darüber aufwirft, ob es innerhalb der Gemeinschaft möglicherweise nicht doch einen geschlossenen Zirkel gibt, der nicht länger das Wohl unserer menschlichen Gesellschaft im Sinn hat.

Da bisher jedoch weder eine Beteiligung der Seher offiziell bestätigt wurde, noch andere begründete Hinweise existieren, die darauf schließen lassen, dass innerhalb der Gemeinschaft gegensätzliche Strömungen am Werk sind, bleibt die weitere Entwicklung zunächst abzuwarten. Bis dahin gelten die Seher nach wie vor als akzeptierte Mitglieder unserer Gesellschaft, deren Dienste in der Verbrechensaufklärung von unschätzbarem Wert sind.

Die genauen Todesumstände der Opfer vom Leith Walk sowie der Auslöser für dieses erschreckende Massaker bleiben vorerst ungeklärt.

1

Logan Drake stand im Schutz eines Felsens und beobachtete das Cottage durch das Zielfernrohr seines HK417. Seine Männer waren in den Hängen verborgen, die das einsame Haus umgaben, kauerten hinter bemoosten Felsen, im Schutz leuchtend gelber Ginstersträucher, oder hatten sich in die langen Schatten der Kiefern zurückgezogen und warteten darauf, loszuschlagen.

»Team in Position«, ertönte Steve Jones’ Stimme über das Intercom. »Wir haben sämtliche Zugänge im Visier. Verdammt, Logan, warum können wir den Laden nicht einfach stürmen?«

»Das weißt du so gut wie ich.« Logan konnte Jones’ Unruhe verstehen, doch bei diesem Einsatz würde es keine Gefangenen geben. Er hatte nicht vor, seine Männer in ein verwinkeltes Haus zu schicken, dessen Grundriss keiner von ihnen kannte. Nicht, wenn sie ebenso gut warten konnten, bis herauskam, was sich darin verkrochen hatte.

Dass sie überhaupt hier waren, verdankten sie einem Zufall. Logan hatte beschlossen, das milde Frühlingswetter zu nutzen, und war mit einem Teil seines Teams auf dem Weg zu einem Outdoor-Training in die Highlands gewesen. Sechs der elf Männer, die ihm unterstanden, hatte er nach Glasgow abkommandiert, nachdem die dortige Polizei die Hilfe der Behörde angefordert hatte, deshalb waren sie heute nur mit einem der gepanzerten Panther Jeeps unterwegs, statt wie gewohnt in einer kleinen Kolonne.

Logan hatte auf dem Beifahrersitz gesessen und war ein paar Berichte durchgegangen. Dem Geflachse seiner Jungs, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich gegenseitig aufzuziehen, hatte er nur mit halbem Ohr zugehört.

»Nun seht euch die Scheißkarre an!«, rief Tyler Reese von hinten.

Logan sah auf. Vor ihnen fuhr ein verbeulter Toyota. Nicht ungewöhnlich genug, um seine Aufmerksamkeit lange von den Berichten abzulenken. Der Fahrer würde zur Seite fahren, um den Panther vorbeizulassen. Das taten sie alle. Der Anblick des gepanzerten Fahrzeugs, neben dem selbst ein amerikanischer Hummer klein wirkte, war einfach zu beeindruckend.

»Was macht der Idiot da?«

Einmal mehr ließen ihn Reeses Worte aufsehen. Obwohl der Abstand immer geringer wurde, machte der Fahrer des Toyotas keine Anstalten, den Weg freizugeben.

Stattdessen trat er aufs Gaspedal.

»Heilige Scheiße«, brummte Avery hinter dem Steuer. »Sag mir, dass der Typ kein Rennen fahren will!«

»Ich kann dir sagen, dass du keines fahren willst.«

Logans Warnung war deutlich. Avery nickte. »Natürlich nicht, Boss.« Was so viel heißen sollte wie: Wäre Logan nicht dabei gewesen, hätte er sich den Spaß nicht entgehen lassen.

Wie die anderen Männer auch war Rick Avery früher Mitglied der British Army gewesen. Sie alle hatten einst den Special Forces angehört, ehe die Behörde sie für ihre eigene Spezialeinheit angeworben hatte. Avery war der Einzige, der noch immer nach Army aussah. Sein weißblonder Bürstenschnitt war so akkurat gestutzt, dass es wirkte, als könne er jemandem damit den Bauch aufschlitzen, wenn er ihm nur den Schädel in den Leib rammte. Doch das hatte Avery gar nicht nötig. Er war so riesig und mit Muskeln bepackt, dass allein sein Anblick jedem potenziellen Gegner den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Trotzdem war er nicht nur ein Mann fürs Grobe, sondern kannte sich auch hervorragend mit Funktechnik und Computern aus.

Jeder im Team hatte seine Spezialisierung. Sie alle waren bestens ausgebildet und während der letzten Jahre zu einer festen Einheit verschmolzen. Die Männer teilten sich sogar ein Haus, nur Logan hatte eine eigene Wohnung. Er war für das Team verantwortlich und wusste, dass er sich blind auf seine Männer verlassen konnte, doch er verbrachte weder seine Freizeit mit ihnen, noch ließ er irgendetwas über sein Privatleben durchsickern. An dieser Regel hielt er konsequent fest – auch wenn sein Privatleben diesen Namen gar nicht verdiente. Sein Leben war die Arbeit für die Behörde, und wenn er nicht zu viel darüber nachdachte, kam ihm das nicht einmal armselig vor. Logan hätte ohnehin nicht gewusst, was er anderes mit seinem Leben anfangen sollte. Er mochte seine Männer, schätzte jeden einzelnen von ihnen, sonst hätte er sie nicht in sein Team geholt. Vermutlich kam das Team einer Familie näher als alles, was er in seinem Leben je gehabt hatte, trotzdem blieb er auf Distanz. Die Jungs respektierten ihn als ihren Anführer und das sollte auch so bleiben. Wenn er anfinge, mit ihnen nach jedem Einsatz ins Pub zu gehen, würden sie früher oder später den Respekt vor ihm verlieren und beginnen, seine Autorität infrage zu stellen.

Logan warf einen Blick auf den Toyota, der endlich zur Seite fuhr, um den Panther passieren zu lassen. »Fahr langsam vorbei.« Es war nicht mehr als ein Gefühl, das ihn zu diesem Befehl veranlasste. Er wandte den Kopf und erhaschte einen Blick auf den bleichen Fahrer, der wild gestikulierend mit seinen beiden Mitfahrern sprach.

Da sah er die Handschuhe.

Die Einzigen, die selbst im heißesten Sommer Handschuhe trugen, waren Seher. Indem sie Hautkontakt vermieden, verhinderten sie, bei jeder Berührung von Visionen überrollt zu werden. Der Fahrer des Toyotas gehörte zu ihnen – ebenfalls sein Beifahrer und die Frau auf der Rücksitzbank.

Was haben die außerhalb der Stadt zu suchen?

Die drei erweckten nicht den Eindruck, als hätten sie einen Passierschein, der es ihnen gestattete, die Stadt zu verlassen. Dafür waren sie zu nervös.

Normalerweise hätte es Logan nicht interessiert, was die Seher trieben, solange sie nicht gegen Gesetze verstießen. Diese drei jedoch verhielten sich zu auffällig.

»An der nächsten Abzweigung fahren wir von der Straße«, sagte er. »Wir lassen den Toyota passieren und hängen uns dann unauffällig dran. Halt genug Abstand, damit sie uns nicht gleich bemerken.«

Reese schob seinen kahlen Schädel zwischen den Sitzen vor und grinste. »Willst du doch ein Rennen?«

»Mich interessiert eher, warum die Seher hier draußen sind.«

»Da soll mich doch …« Reese schluckte seinen Fluch hinunter. »Wilde?«

Logan nickte. Wilde Seher waren die Einzigen, die außerhalb der Gemeinschaft der Seher lebten. Manche von ihnen wussten nicht, dass die Gemeinschaft existierte. Andere entzogen sich der Kontrolle bewusst. Sie waren es, auf die Logan und sein Team es abgesehen hatten, denn sie schreckten nicht davor zurück, ihre Fähigkeiten einzusetzen, um das Gesetz zu brechen. Jene, die sich nichts zu Schulden kommen ließen, interessierten ihn nicht. Um die sollte sich die Gemeinschaft selbst kümmern.

Sie folgten dem Toyota bis zu einem Grundstück, das sich abseits der Straße in ein enges Tal schmiegte. Nachdem der Wagen ein Gatter passiert hatte, gab Logan Anweisung, den Panther im Schatten eines Kiefernwäldchens abzustellen, und schickte Reese und Fletcher vor, um das Gelände zu erkunden. Am Himmel brauten sich dunkle Regenwolken zusammen.

»Wir sind fast am Ende des Tals«, erklang Reeses Stimme nach einigen Minuten über das Intercom, einen drahtlosen Ohrhörer, der gleichzeitig Sender und Empfänger war. »Da hinten ist ein altes Bauernhaus. Nur den Wagen sehe ich nirgendwo.«

»Geht die Straße hinter dem Haus weiter?«, wollte Logan wissen.

»Straße?«, schnaubte Fletcher. »Das Ding ist hier nicht mehr als eine Schotterpiste. Das Haus ist von drei Seiten von steilen Hängen eingeschlossen. Der einzige Weg in dieses Tal ist der, über den wir gekommen sind. Wir gehen näher ran.«

Eine Weile war es still auf dem Intercom. Logan nutzte die Zeit, seine beiden SIG-Sauer P226 zu laden – eine mit scharfer Munition, eine mit Betäubungspatronen –, ehe er sie in die Schulterholster schob. Auch seine Männer bewaffneten sich und zogen die kugelsicheren Westen über. Logan hasste das starre Gefühl der Weste, die sich wie ein Käfig um seinen Brustkorb schloss, trotzdem war er nicht verrückt genug, darauf zu verzichten. Er schob ein paar Ersatzmagazine in die Taschen seiner Camouflage-Hosen, schnürte seine Kampfstiefel fester und griff sich sein HK 417. Das Scharfschützengewehr hatte ihm bereits mehr als einmal gute Dienste geleistet. Zum Schluss schnappte er sich noch das Wärmebildgerät, dann bedeutete er seinen Männern, ihm zu folgen. Als sie ausschwärmten, um das Haus einzukreisen, meldete Reese sich wieder.

»Du hattest den richtigen Riecher, Boss. Hier stinkt etwas zum Himmel! Die laufen rum wie die Bekloppten. Aufgescheuchte Hühner sind ein Dreck dagegen.«

»Komm zur Sache!«

»Sie haben den Toyota in der Scheune versteckt«, mischte sich Fletcher ein.

Dass sie nicht gefunden werden wollten, bestärkte Logan in seiner Vermutung: Diese Typen waren nicht sauber.

»Logan?« Wieder Reese.

»Was noch?«

»Ich war gerade am Haus und hab einen Blick durchs Fenster geworfen, um –«

»Reese!«, mahnte Logan, ehe er noch weiter ausholen konnte.

»Sie sind im Wohnzimmer«, platzte Reese heraus, »und starren sich gegenseitig auf den Rücken. Verdammt, Boss, unter ihrer Haut pulsiert etwas Großes, Dunkles!«

»Zieht euch vom Haus zurück«, befahl Logan und hatte Mühe, einen Fluch zu unterdrücken. »Bezieht auf dem Hang über der Scheune Posten und haltet euch bereit. Was auch immer dieses Haus verlässt – es darf uns nicht entkommen.« Er unterdrückte den Impuls, seinen Männern das Vorgehen ins Gedächtnis zu rufen, das sie für diesen Fall ausgearbeitet hatten, doch sie kannten die Regeln. »Also gut. Vergesst die Betäubungsmunition. Jeder weiß, was er zu tun hat.«

Unter normalen Umständen hätte er längst befohlen, das Haus zu stürmen und alles festzunehmen, was sich bewegte. Doch die Umstände waren jetzt nicht mehr normal. Heute hatten sie es nicht nur mit wilden Sehern zu tun, sondern mit etwas ungleich Gefährlicherem. Etwas, von dem er gehofft hatte, es nie wieder sehen zu müssen.

Logan nahm das Magazin mit der Betäubungsmunition aus der SIG, verstaute es in seiner Hosentasche und lud scharfe Munition nach. Sobald seine Waffen bereit waren, richtete er das Wärmebildgerät auf das Haus. Es war nicht schwer, die Seher ausfindig zu machen. Die Wärme ihrer Körper zeichnete gelb-orangefarbene menschliche Silhouetten auf das Display. Sie waren noch immer im Wohnzimmer, wo Reese sie zuletzt gesehen hatte, doch liefen sie weder umher, noch saßen sie. Die drei Körper lagen ausgestreckt auf dem Boden. Über jedem erhob sich ein glühend roter Umriss. Es wirkte, als würde sich etwas über sie beugen, um nach ihnen zu sehen, aber Logan wusste es besser. Die Seher waren tot. Was dort geduckt über ihnen kauerte, waren die Dämonen, die aus ihren Leibern gekrochen waren und sich jetzt an ihrem Fleisch nährten.

»Sie sind geschlüpft«, gab Logan über das Intercom durch. »Zeit, anzuklopfen.«

»Der Türklopfer ist bereit.« Selbst über Funk war Buckinghams Grinsen nicht zu überhören. Er war der Jüngste in der Truppe und stand auf Einsätze wie diesen.

Kurz darauf durchschlug eine Brandgranate das Wohnzimmerfenster. Flammen und Rauch breiteten sich in Windeseile im Inneren aus, sodass Logan Mühe hatte, die Kreaturen auf dem Display des Wärmebildgeräts im Auge zu behalten.

»Sie bewegen sich! Einer kommt auf das Fenster zu.«

Einen Herzschlag später sprang die Kreatur, eingehüllt in einen Wirbel aus Rauch und Feuer, durch das Fenster – und wurde von einer Salve aus Fletchers Maschinengewehr niedergestreckt. Schnell richtete Logan seine Aufmerksamkeit wieder aufs Innere des Hauses.

»Einer ist auf dem Weg zur Tür«, gab er durch. »Der andere will hinten raus.«

»Den hinten übernehme ich«, meldete Avery. Auf dem Hang war Mündungsfeuer zu sehen. Das Donnern der Schüsse wurde von den Felshängen aufgefangen und in einer Salve von Echos zurückgeworfen. Dann rief Avery: »Den könnt ihr abhaken!«

Die dritte Kreatur überlegte es sich anders und machte kurz vor der Tür kehrt. Logan folgte den Bewegungen über das Display und erwartete, dass das Biest versuchen würde, irgendwo unbemerkt aus dem Haus zu kommen. Stattdessen blieb es stehen, kauerte im Schutz der Treppe und rührte sich nicht mehr. Ganz sicher würde Logan nicht zulassen, dass sich diese Kreatur bis Einbruch der Dunkelheit verschanzte und ihnen dann im Schutz der Nacht entkam – oder gar seine Männer angriff. Er hatte schon einmal gesehen, wie tödlich diese Dämonen waren. Dieses Risiko würde er nicht eingehen.

»Buckingham, der dritte braucht noch einen Anreiz, aus dem Haus zu kommen!«

Eine weitere Granate schlug ein und pulverisierte die Holztreppe, hinter der sich das Biest versteckte. Die Kreatur brach unter zornigem Gebrüll durch die geschlossene Tür ins Freie und endete, von Einschüssen durchlöchert, im Dreck.

Einen Moment war alles still.

»Haben wir alle?«, erkundigte sich Jones über das Intercom. »Sind sie hin?«

»Drei Seher – drei Dämonen.« Logan nahm sein Gewehr und trat aus der Deckung. »Entsorgen wir die Überreste.« Als er am Haus ankam, begann es zu regnen, doch selbst der stärkste Wolkenbruch konnte das Haus nicht mehr retten. Die Flammen breiteten sich in rasender Geschwindigkeit aus. Bei Einbruch der Dunkelheit würde hier nur noch eine qualmende Ruine stehen.

Reese und Fletcher erwarteten ihn bereits.

»Die Viecher sind tot«, bestätigte Reese, als Logan näher kam, dann richtete er den Blick auf das brennende Haus. »Sieht so aus, als müsste die Behörde mal wieder eine Entschädigung zahlen.«

Fletcher zuckte die Schultern. »Lieber blechen sie für ein Haus als für unsere Beerdigung.«

Buckingham kam gefolgt von Jones um die Ecke. »Die waren nicht sonderlich schwer plattzumachen«, grinste er. »Kinderspiel.«

»Es waren auch nur drei und wir waren vorbereitet.« Weitaus besser als beim letzten Mal. Damals hatten sie einem Dutzend dieser Dämonen gegenübergestanden und nicht im Geringsten gewusst, womit sie es zu tun hatten. Wesentlich klüger waren sie auch heute nicht, trotzdem machte sich Logan keine Gedanken, dass sein Team nicht mit diesen Kreaturen fertig werden könnte. Viel mehr Sorge bereitete ihm die Vorstellung, eines – oder mehrere – dieser Biester könnte ihnen entkommen. Wovor er sich wirklich fürchtete, war, dass diese Dämonen auf die ahnungslose Bevölkerung trafen und dort ein ähnliches Massaker anrichteten wie auf dem Leith Walk, wo die Polizei vollkommen ahnungslos auf die Bestien gestoßen war.

Diese hier waren frisch geschlüpft und noch nicht einmal so groß wie ein erwachsener Mensch. Trotzdem waren sie gefährlich. Logan wusste, wie schnell sie wuchsen, wenn sie erst über die Leute herfielen und ihr Fleisch fraßen.

»Übergießt sie mit Benzin und fackelt sie ab.«

Niemand stellte seinen Befehl infrage, denn keinem stand der Sinn danach, die Monster anzufassen – was sie tun müssten, um sie in das brennende Haus zu werfen. Keinem außer Avery. Während Jones zum Wagen ging, um das Benzin zu holen, kam Avery um die Ecke. Den Dämon, den er hinter dem Haus erlegt hatte, schleifte er an einem der ledrigen Flügel hinter sich her. Die gewaltigen Krallen des Monstrums gruben sich in den Erdboden und hinterließen tiefe Kratzer darin.

»Scheiße, sind die hässlich!« Mit einem letzten abschätzigen Blick auf die dämonische Fratze, in deren Rachen die Reißzähne schimmerten, warf Avery den Dämon zu den anderen beiden.

Buckingham sah sich das Vieh genauer an. »Findet ihr nicht, dass die wie Wasserspeier aussehen?«

»Nur dreimal so groß und doppelt so hässlich, oder wie?« Avery schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. »Falls du es noch nicht gehört hast: Gargoyles sind die Guten. Die sollen Dinger wie die da abwehren.«

»Sieht eher aus, als würde das an uns hängen bleiben«, knurrte Reese.

Während die Jungs sich gegenseitig aufzogen und immer wieder angewiderte Blicke auf die toten Dämonen warfen, klingelte Logans Handy. Er zog den Blackberry aus der Tasche. »Ja?«

»Kommen Sie in die Behörde, Drake«, dröhnte William Roberts’ raue Stimme aus dem Lautsprecher. »Ich habe einen Spezialauftrag für Sie.«

»Danke«, erwiderte Logan mit Blick auf die toten Dämonen, »ich hatte heute schon einen.«

»Schwingen Sie Ihren Arsch hierher!«

Er wusste, dass es keinen Sinn machte, seinem Vorgesetzten zu erklären, dass sie hier noch zu tun hatten, deshalb sagte er nur »Bin unterwegs« und beendete die Verbindung.

Avery warf ihm einen fragenden Blick zu. »Roberts?«

Logan nickte. »Ich muss nach Edinburgh zurück. Seht zu, dass von diesen Biestern nichts übrig bleibt, und dann erstattet im Büro Bericht. Sie sollen die Besitzer des Hauses ausfindig machen und entschädigen.«

»Machen wir, Boss. Aber wie willst du in die Stadt zurückkommen?«

»Mit dem Toyota.« Er löste die Verschlüsse seiner kugelsicheren Weste, streifte sie ab und warf sie Reese zu, das HK 417 und das Wärmebildgerät gab er Jones. Die Schulterholster mit den beiden SIG behielt er um.

Auf dem Weg zur Scheune machte er sich schon darauf gefasst, den Wagen kurzschließen zu müssen, und war angenehm überrascht zu sehen, dass der Schlüssel im Zündschloss steckte.

Er ließ den Motor an und lenkte den Wagen über den Feldweg zur Straße zurück. Vielleicht war es gut, dass Roberts ihn zurückbeordert hatte. Sein Vorgesetzter musste ohnehin erfahren, was hier passiert war.

Die drei Seher, die jetzt tot im brennenden Haus lagen, konnten keine Wilden gewesen sein. Die Dämonen, die aus ihren Körpern herausgebrochen waren, waren für Logan der Beweis für etwas, das er schon lange vermutet hatte: Der Gemeinschaft war nicht zu trauen.

»Verlogenes Seherpack!«

Sie hatten Logan den Bruder genommen – auch wenn dieser das vermutlich anders sah – und ihn dazu gebracht, seine Familie zu vergessen. Logan hatte Devon vergöttert. In allem, was er tat, war sein älterer Bruder sein Vorbild gewesen. Doch dann war die Gemeinschaft auf seine besonderen Fähigkeiten aufmerksam geworden. Jeder in der Familie hatte mitbekommen, dass Devon anders war. Er hatte schon immer Dinge gewusst, bevor sie eingetreten waren. Ebenso konnte er, wenn er Menschen oder Gegenstände berührte, Dinge sehen, die in der Vergangenheit geschehen waren. Das war die Gabe der Hellsichtigen. Deshalb arbeiteten sie so häufig für die Polizei – manche, um Verbrechen zu verhindern, bevor sie geschahen, andere, um eine bereits verübte Tat aufzuklären. Anfangs hatte Logan ihn für die Gabe bewundert, ein Sechsjähriger, der zu seinem vier Jahre älteren Bruder aufsah und alles dafür gegeben hätte, einmal so zu sein wie er. Dann war eine Abordnung der Gemeinschaft zu ihnen nach Hause gekommen, um Devon abzuholen. Als Seher gehörte er nicht länger zu seiner Familie. Er war nun ein Mitglied der Gemeinschaft und als solches musste er sein Zuhause verlassen.

Die Gemeinschaft der Seher existierte seit über einem Jahrhundert. Damals hatte sich eine Handvoll Menschen zusammengetan, die allesamt die Gabe der Hellsichtigkeit besaßen. Sie hatten sich Zeit ihres Lebens aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt gefühlt. Da sie verhindern wollten, dass es anderen, die über dieselben Talente verfügten, ähnlich erging, begannen sie, nach ihnen zu suchen, und holten sie so früh wie möglich in ihre Gemeinschaft. Dort waren sie unter ihresgleichen. Außerdem wurden sie ausgebildet, mit ihren Fähigkeiten entsprechend umzugehen.

Als die Hellsichtigen im Laufe der Jahre mehr wurden, erteilte die Regierung Anweisung, dass sich jeder Seher einer Gemeinschaft anzuschließen hatte und sich registrieren lassen musste.

Zu sehr war die Anzahl der Verbrechen gestiegen, die von wilden – nicht registrierten – Sehern verübt worden waren. Die Fähigkeiten dieser Leute machten es schwer, sie zu überführen.

Als Mitglieder einer Gemeinschaft unterstanden die Seher nicht nur den üblichen Gesetzen, sondern lernten auch die Regeln im Umgang mit ihren Kräften. Die wichtigste lautete: Setze deine Fähigkeiten niemals ein, um anderen zu schaden oder dich selbst zu bereichern.

Nachdem Devon damals gegangen war, hatten sich auch seine Eltern verändert. Logan hatte ihnen den Verlust des Bruders nie ersetzen können. Die meiste Zeit schienen sie nicht einmal zu bemerken, dass es ihn auch noch gab. Er hatte alles, was er zum Leben brauchte: Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Doch das, wonach er sich am meisten gesehnt hatte – Eltern, die für ihn da waren –, konnten sie ihm nicht geben.

Die Schuld dafür gab er Devon, der sich von seiner Familie abgewandt hatte, und nicht zuletzt der Gemeinschaft.

In aller Öffentlichkeit war sie unter der Führung des Rats darauf bedacht, für gute Beziehungen zwischen Menschen und Hellsichtigen zu sorgen. Als die Seher im Laufe der Jahre immer mehr wurden und sich zunehmend besser organisierten, gründete die schottische Regierung die Behörde zur Gestaltung und Überwachung der Zusammenarbeit zwischen Menschheit und Gemeinschaft der Seher. Für Logan lag die Betonung eindeutig auf Überwachung. Die Hellsichtigen lebten so sehr in ihrer eigenen Welt, dass sie sich zunehmend der Kontrolle üblicher Behörden entzogen. Obwohl sie lediglich einen winzigen Bruchteil der Gesamtbevölkerung stellten, hielt Logan sie für eine Gefahr.

Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Menschen mit derart außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht nach Höherem streben sollten. Warum sich in die normale Gesellschaft eingliedern, wenn man sich genauso gut an ihre Spitze setzen konnte?

Mittlerweile gab es in einigen größeren Städten Niederlassungen der Gemeinschaft. Manche zählten nicht mehr als eine Handvoll Mitglieder, anderen gehörten hundert oder mehr Seher an. Der Zweig in Edinburgh war der größte und älteste von allen; soweit Logan wusste, verfügte die Gemeinschaft hier über ein Netz aus beinahe eintausend Hellsichtigen. Ein Teil von ihnen, in erster Linie die alleinstehenden, wohnte in kleinen Apartments auf dem Anwesen. Für die anderen hatte die Gemeinschaft Fensmore erbauen lassen – eine von einem Wall umgebene Neubausiedlung im Westen der Stadt, wo die Familien in Wohnungen und Reihenhäusern unter ihresgleichen lebten.

Jede Niederlassung hatte ihren eigenen Rat, der für ein festgelegtes Gebiet zuständig war und die ihm unterstellten Seher unabhängig führte. Unter anderem war es Aufgabe des jeweiligen Rates, dafür zu sorgen, dass wilde Seher in ihrem Gebiet nicht zum Problem wurden.

Als vor einigen Jahren in Schottland Verbrechen zunahmen, die von wilden Sehern verübt wurden, die sich jeder Registrierung entzogen, bat der Rat die Behörde um Hilfe. Damals war die Spezialeinheit ins Leben gerufen worden. Für Logan die perfekte Möglichkeit, die Vorgänge innerhalb der Gemeinschaft im Auge zu behalten. Er quittierte seinen Dienst bei der Armee und meldete sich für die Spezialeinheit, über die man ihm schließlich die Führung übertrug. Logan hatte sein Team zusammengestellt und in Abstimmung mit William Roberts Befugnisse, Aufgaben und Vorgehen der Einheit ausgearbeitet.

Sein Team behielt die Gemeinschaft im Auge und informierte die Behörde über aktuelle Entwicklungen. Ebenso gehörten Einsätze wie der heutige zu seinen Aufgaben. Sie spürten Seher auf, die die Gesetze übertreten hatten, und nahmen sie fest. Für gewöhnlich leisteten die Verhafteten keinen Widerstand. Von Zeit zu Zeit jedoch flohen sie oder versuchten sich irgendwo zu verschanzen. Das waren die Situationen, in denen sich für Logan und sein Team die Kampfausbildung und die Ausrüstung, auf die er von Anfang an bestanden hatte, bezahlt machten.

Wie heute.

Die Kreaturen, die sie erlegt hatten, waren für Logan ein weiterer Beweis, dass der Gemeinschaft nicht über den Weg zu trauen war. Der Rat hatte das Versprechen, das er vor drei Jahren gegeben hatte, nicht eingehalten. Damals war Logan mit seinem Team zum Leith Walk gerufen worden, wo sie ein Dutzend tote Seher und fünf tote oder sterbende Polizisten vorgefunden hatten. Einer der Sterbenden hatte ihnen mit seinen letzten Atemzügen gesagt, was geschehen war – auch wenn Logan es nicht hatte glauben wollen.

Kreaturen aus der Hölle!

Die Beschreibung des Polizisten, wie diese Monster angeblich aus den Körpern der Seher gekrochen waren und ihre Wirte zerfleischt hatten, ehe sie sich auf ihn und seine Kollegen stürzten, hatte sich vollkommen irrsinnig angehört. Als sie diese Wesen schließlich stellten, war ihm klar, dass der Mann nicht übertrieben hatte. Diese Kreaturen waren das Gefährlichste und Blutrünstigste, dem Logan je begegnet war.

Wegen der ungewöhnlichen Todesursache sprachen die Medien von einem Bandenkrieg, doch hinter der Schlagzeile steckte viel mehr, als die Bevölkerung jemals erfahren würde.

Die Gemeinschaft hatte zunächst geleugnet, etwas damit zu tun zu haben. Unter wachsendem Druck hatte der Rat der Behörde gegenüber jedoch eingeräumt, dass es eine Versuchsreihe gab, die aus dem Ruder gelaufen war. Die Versuche seien aber nach den Geschehnissen sofort eingestellt worden.

Und tatsächlich war der Vorfall am Leith Walk der einzige seiner Art geblieben – bis heute.

Logan fuhr den Toyota in die Garage des St. James Center und verließ das Untergeschoss des Einkaufszentrums durch eine Seitentür, die sich nur mit einer Zutrittskarte öffnen ließ. Dahinter erstreckte sich ein Gang, der in das Rückgebäude des schottischen Staatsarchivs führte. Dort hatte die Behörde ihren Sitz.

Logan lief die knarrende Holztreppe hinauf, ließ sich von Miss Tescer, Roberts’ Vorzimmerdame, anmelden und betrat das Büro seines Vorgesetzten.

William Roberts saß hinter seinem Schreibtisch, der an einem Ende des langgezogenen Raumes stand. Trübes Zwielicht fiel durch das Fenster herein und ließ sein Haar bleigrau schimmern. Bei Logans Anblick zog er eine Grimasse. »Müssen Sie hier so martialisch auftauchen, Drake? Sie wissen doch, dass Miss Tescer jedes Mal fast der Schlag trifft, wenn sie Sie so sieht.«

Logan zuckte die Schultern. »Sie haben mich von einem Einsatz weggerufen, Will. Was erwarten Sie? Dass ich mir einen Smoking leihe, bevor ich zu Ihnen komme?«

Am anderen Ende des Raumes erklang ein leises Lachen. »Du bist sarkastisch wie eh und je.«

Die Stimme ließ Logan herumfahren. »Was willst du hier?«

»Und du bist immer noch sauer.«

Der Anblick seines Bruders war wie ein Schlag in den Magen. Der Mann vor ihm war ein Fremder, mit dem er vor fünfzehn Jahren zum letzten Mal gesprochen hatte. Dunkle Haare, dunkle Augen, gleicher Nachname. Ende der Gemeinsamkeiten. Devons dunkelbraunes Haar war kurz und korrekt frisiert, die Züge weich und gefällig. Er trug einen braunen Nadelstreifenanzug, dazu eine Weste und eine farblich passende Krawatte. Die teuren Slipper waren so sehr auf Hochglanz poliert, dass er darin vermutlich sein eigenes Spiegelbild sehen konnte. Nur die braunen Lederhandschuhe schienen nicht so recht zu seinem Outfit zu passen. Logan wusste, warum er sie trug, trotzdem ließen sie ihn wie einen Mafiakiller aussehen, der keine Fingerabdrücke hinterlassen wollte.

»Der Rat hat um unsere Hilfe gebeten.« Roberts hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und die Hände vor dem Bauch verschränkt. Sein wachsamer Blick war auf die beiden Drakes gerichtet, als versuche er herauszufinden, ob sich die Männer an die Kehle gehen würden.

Logan, der nicht vorhatte, Devon anzufassen, zog eine Augenbraue in die Höhe und musterte seinen Bruder. »Und da schicken sie dich?«

»Als Oberhaupt des Rates ist es meine Aufgabe, mich darum zu kümmern.«

»Oberhaupt?« Es fiel Logan schon schwer genug, den Unmut zurückzuhalten, den die Anwesenheit seines Bruders in ihm hervorrief. Die Überraschung, dass dieser auch noch der Anführer der Gemeinschaft sein sollte, konnte er nicht verbergen. »Sieht aus, als hättest du es weit gebracht.« Er ließ seinen Bruder stehen und trat an den Schreibtisch seines Vorgesetzten. »Ich muss Sie sprechen, Will. Allein.« Bevor Roberts auch nur an eine Zusammenarbeit mit dem Rat denken konnte, sollte er unbedingt wissen, was passiert war.

»Später, Drake.« Er deutete auf die beiden Sessel vor seinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich, meine Herren.«

»Es ist wichtig.«

Roberts beugte sich nach vorne, bis die tiefen Falten um seine Augen herum deutlich zu sehen waren. »Ich sagte später.«

Logan verfluchte sich dafür, dass er ihm nicht schon am Telefon von den Kreaturen berichtet hatte. Jetzt war es zu spät. Roberts würde jede weitere Bitte um ein Vieraugengespräch ablehnen, sodass ihm keine andere Wahl blieb, als mit seinem Bericht zu warten, bis Devon fort war.

Logan ließ sich in einen der Sessel fallen und wartete auf Roberts’ Erklärung, worum es ging. Er lehnte sich zurück und versuchte, den öligen Geruch des Bohnerwachses zu ignorieren, der so schwer in der Luft hing, dass er fast greifbar schien.

»Wir haben Hinweise gefunden, dass die Experimente nicht eingestellt wurden.« Devon setzte sich in den Sessel neben Logan, stellte eine braune Ledermappe neben sich auf den Boden und deutete vage aus dem Fenster. »Dort draußen sind weitere dieser Kreaturen. Du sollst sie aufspüren und dem Rat übergeben.«

Die Offenheit seines Bruders überraschte Logan, gleichzeitig schrillten alle Alarmglocken in seinem Schädel. Kein Seher würde so offen mit der Behörde sprechen, wenn er damit nicht etwas bezwecken wollte. »Euch entkommen eure Versuchskaninchen – die es, nebenbei bemerkt, gar nicht mehr geben dürfte – und wir sollen jetzt die Drecksarbeit für euch erledigen?« Knurrend fügte er hinzu: »Ich kann dir die Asche der drei schicken, die wir vorhin erledigt haben.«

Zum ersten Mal wich die Gelassenheit aus Devons Zügen. »Du hast welche gefunden?«

»Welche? Wie viele von diesen Kerlen sind da draußen? Wie viele stehen kurz davor, ein weiteres Massaker anzurichten?« Er sprang auf. »Egal, wie viele es sind: Ich werde sie finden – alle. Und die Leichensäcke adressiere ich an dich!«

»Wir brauchen sie lebend.«

»Du machst Witze! Ich werde ganz sicher nicht –«

»Doch, das werden Sie, Drake«, mischte sich Roberts ein. Wieder musterte er Logan, dann fügte er hinzu: »Das ist ein Befehl.«

Logan griff in die Hosentasche. Seine Hand schloss sich um die Marke, die ihn als Mitarbeiter der Behörde auswies, bereit, sie herauszuziehen und auf den Tisch zu werfen. Er würde sich nicht zwingen lassen, die Gefahr zu ignorieren, die von diesen Leuten ausging. Lieber quittierte er den Dienst.

Roberts schüttelte langsam den Kopf. »Denken Sie nicht einmal daran!«

Einen Moment lang war Logan versucht, trotzdem seine Marke auf den Tisch zu werfen, aber wenn er sie abgab, würde er jede legale Möglichkeit verlieren, die Machenschaften der Gemeinschaft im Auge zu behalten. Er schluckte einen Fluch hinunter und setzte sich wieder, bevor Roberts ihn dazu auffordern konnte.

»Ich weiß, dass du uns nicht über den Weg traust«, sagte Devon schließlich. »Deshalb biete ich dir eine offene Zusammenarbeit an. Keine Geheimnisse und keine Lügen.«

»Du sprichst von Ehrlichkeit? Wie wäre es dann, wenn du auspackst, was du über diese Versuche weißt? Versuche, von denen deinesgleichen behauptet, dass sie längst nicht mehr stattfinden würden!«

Logan lehnte sich zurück und wartete auf die üblichen Ausflüchte, in denen die Rede davon war, dass es sich um eine Angelegenheit der Gemeinschaft handelte, die Außenstehende nichts anginge.

»Das Projekt wurde vor einem Jahrzehnt ins Leben gerufen«, sagte Devon stattdessen. »Der damalige Rat unterstützte die Versuche. Ziel war es, einen Weg zu finden, die Fähigkeiten unserer Seher zu verbessern und auszuweiten.«

»Schöner Plan.« Logan konnte sich vorstellen, was den Rat dazu getrieben hatte, diese Versuche abzunicken. Bessere Fähigkeiten bedeuteten mehr Macht – und mit der Macht würde auch der Einfluss der Seher auf die Gesellschaft wachsen.

»Ein Team aus Forschern«, fuhr Devon ungerührt fort, »hat sich dem Projekt gewidmet. Seinen Namen – Projekt Samenkorn – bekam es erst, nachdem klar wurde, in welche Richtung es gehen sollte. Soweit wir es heute wissen, haben sie damals einen Weg gefunden, besondere Kräfte zu kombinieren und in einer Art Samenkorn zu binden, das den Sehern unter die Haut gepflanzt wurde.«

»Was gründlich in die Hosen gegangen ist.« Von Kräften konnte doch keine Rede sein. Logan hatte diese Kreaturen gesehen. Er wusste, dass sie mehr waren als bloße Energie.

»Mr Drake«, wandte sich Roberts an den Obersten Seher, »auch wenn wir diese Kreaturen als Dämonen bezeichnen, sind sie doch sicher nichts, das mit viel Firlefanz heraufbeschworen wurde. Womit haben wir es also zu tun?«

»So ganz genau ist uns das leider immer noch nicht klar. Viele der Unterlagen sind damals verbrannt und der Versuchsleiter steht uns nicht mehr zur Verfügung. Niemand weiß –«

»Blödsinn! Wenn es weitere Versuche gab, muss wohl auch jemand wissen, wie man an diese Viecher kommt. Die werden sie kaum auf dem Wochenmarkt kaufen.«

»Spar dir deinen Sarkasmus.« Devon stand auf. Für eine Weile wanderte er hinter Logan auf und ab. Der Parkett knarrte unter jedem seiner Schritte, bis er endlich am anderen Ende des Raumes stehen blieb, an derselben Stelle, an der er gestanden hatte, als Logan hereingekommen war. »Soweit ich es rekonstruieren konnte, haben sie im Reagenzglas die Gene verschiedener Tiere gemischt und damit eine Chimäre gezüchtet, deren Essenz in das Samenkorn gesetzt wurde. Der Samen geht eine Verbindung mit dem Körper seines Wirtes ein und soll auf diese Weise die Fähigkeiten verstärken.«

Der Gedanke, dass es möglich sein sollte, so lange mit ein paar Genen zu spielen, bis man einen Cocktail gewann, der derart gefährliche Züchtungen hervorbrachte, war abartig und erschreckend. Es war Logan vollkommen egal, ob diese Leute nun mit Genen gespielt oder ein Portal in eine andere Dimension geöffnet hatten, für ihn gab es nur eine Bezeichnung für die Kreaturen, die sie erschaffen hatten: Dämonen.

Die Experimente, die einzig und allein darauf abzielten, die Seher noch mächtiger zu machen, waren für Logan nur ein weiterer Beweis dafür, dass sich die Seher nicht mit ihrer Position zufriedengeben wollten.

»Anfangs sah alles gut aus«, fuhr Devon fort. »Die Fähigkeiten der Seher wuchsen tatsächlich. Allerdings hatte niemand geahnt, dass sich die Kreatur daran nährte. Jedes Mal, wenn der Seher seine Fähigkeiten einsetzte, wurde der Dämon in ihm größer und mächtiger. Die Saatkörner wuchsen und dehnten sich immer weiter über den Rücken aus. Bis der Punkt kam, an dem die Kreatur nicht länger nur eine Essenz war. Sie hatte sich verstofflicht und war stark genug geworden, um ihrem Gefängnis zu entkommen.«

Logan hatte das Bild der zerfetzten Seher noch immer vor Augen. Die Biester hatten ihren Träger getötet und sich gegen jeden gewandt, der sich ihnen in den Weg stellte. Sie hätten ohne Probleme entkommen können, stattdessen hatten sie ihren Hunger an den Polizisten gestillt, die zum Leith Walk gerufen worden waren, wodurch sie rasant an Größe zugelegt hatten.

»Nach dem Zwischenfall am Leith Walk verbot der damalige Rat alle weiteren Versuche, die mit dem Projekt in Zusammenhang standen.« Langsam kam Devon wieder näher. Er blieb hinter seinem Stuhl stehen, die Hände auf die Rückenlehne gestützt. »Das Labor wurde geschlossen. Sämtliche Dämonen waren – dank dir und deinem Team – vernichtet. Als ich vor drei Monaten als Oberster in den Rat berufen wurde, fand ich jedoch Hinweise darauf, dass die Experimente in kleinerem Rahmen weitergegangen waren. Ich begann nachzuforschen und stieß schließlich auf beunruhigende Aufzeichnungen.« Er schwieg einen Moment, schien mit sich zu ringen, wie viel er verraten konnte. Zum ersten Mal fragte sich Logan, wie schwer es ihm fallen mochte, offen einzugestehen, dass die Gemeinschaft sich nicht an die Vereinbarung gehalten und die Versuche fortgeführt hatte. Dass er dennoch hier war und die Behörde um Hilfe bat, musste er ihm immerhin anrechnen. Es sei denn, er versucht damit, von einer noch größeren Sauerei abzulenken.

Devon fuhr sich mit der Hand über die Augen, dann richtete er seinen Blick auf Logan. »Niemand – nicht einmal der Rat – schien eingeweiht gewesen zu sein, dass die Versuche fortgesetzt wurden. Der Vorfall auf dem Leith Walk war aus Nachlässigkeit geschehen. Keiner der Beteiligten war damals auch nur ansatzweise auf den Gedanken gekommen, dass mit den Dämonen etwas schiefgehen könnte. Die Seher, die an diesem ersten Versuch teilgenommen hatten, gingen ihren üblichen Tätigkeiten nach, arbeiteten für Polizei, Krankenhäuser und Versicherungen. In regelmäßigen Abständen fanden sie sich im Labor ein, um sich Tests und Untersuchungen zu unterziehen. Das war alles. Keine Quarantäne, keine Sicherheitsvorkehrungen. An jenem Abend hatte eine der Versuchspersonen die anderen zum Leith Walk gerufen. Soweit ich es rekonstruieren konnte, wollte er außerhalb des Labors mit ihnen sprechen um herauszufinden, ob es auch bei ihnen Veränderungen gab. Bedauerlicherweise zu spät.« Devon seufzte. »Beim zweiten Mal ging das Forschungsteam vorsichtiger vor. Sie achteten darauf, dass niemand bemerkte, was sie trieben. Auffällig war nur, dass es damals eine größere Anzahl an Vermisstenanzeigen gab. Seher, die von einem Tag auf den anderen spurlos verschwanden. Ich weiß nicht im Detail, wie die Versuche abliefen. Alles, was ich herausfinden konnte, war, dass sie die Versuchspersonen im Labor isolierten und sie von ihrem gewohnten Leben fernhielten. Vor zwei Jahren wandte sich Doktor Burke, die Leiterin des Forschungsteams, an den damaligen Rat. Die zweite Generation der ›Superseher‹, wie sie sie nannten, war entkommen.«

»Was?« Roberts fuhr in seinem Sessel hoch wie eine Sprungfeder. Kerzengerade saß er da und durchbohrte Devon mit einem Blick, der sagen sollte: Sagen Sie, dass das nicht wahr ist!

»Vor zwei Jahren?«, schnappte Logan, der schon bei dem Wort ›Superseher‹ am liebsten gekotzt hätte. »Du willst mir allen Ernstes erklären, dass diese tickenden Zeitbomben seit zwei Jahren da draußen herumlaufen? Wie viele sind es?«

»Insgesamt waren es fünfzehn. Der Rat hat ein paar Männer auf sie angesetzt, aber es ist ihnen nicht gelungen, mehr als zwei aufzuspüren und einzufangen.«

Bevor Roberts noch etwas sagen konnte, kam ihm Logan zuvor. »Zwei von fünfzehn – Erfolg sieht anders aus. Dann die drei von heute, bleiben noch zehn.« Er sah seinen Bruder an. »Was passiert mit denen, die ihr einfangt? Experimentiert ihr weiter?«

»Glaubst du wirklich, ich würde dich um Hilfe bitten, wenn wir das wollten? Ich habe nicht vor, dich oder die Behörde zu täuschen.« Devon schüttelte den Kopf. »Das sind unsere Leute, die für diese Versuche missbraucht wurden! Ich will ihnen helfen. Die, die wir gefasst haben, wurden in Tiefschlaf versetzt. Eine Art künstliches Koma, das verhindern soll, dass sie auf ihre Kräfte zugreifen und den Dämon damit nähren können. In diesem Zustand werden sie bleiben, bis wir einen Weg gefunden haben, diese dämonische Saat zu entfernen.«

»Was ist mit den Chips?« Die Gemeinschaft implantierte den ihr angehörenden Sehern weiterentwickelte RFID-Chips unter die Haut, durch die es möglich war, ihren Standort zu bestimmen. Um die Stadt herum gab es ein dichtes Netz aus Lesegeräten, die an Bäumen, Laternen, Strommasten und Häusern angebracht waren und Alarm auslösten, sobald einer der Seher die Stadt verließ. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass sie sich nicht ohne Erlaubnis von der Gemeinschaft entfernten. Warum nutzten sie den Chip nicht, um diese Dämonenseher innerhalb der Stadt aufzuspüren? Alles, was dazu nötig war, waren ein paar mobile Lesegeräte, mit denen sie die Stadt durchkämmten.

»Sie scheinen einen Weg gefunden zu haben, die Chips unschädlich zu machen.«

Was nicht sonderlich schwer war, wenn sie erst herausgefunden hatten, an welcher Stelle im Körper sich der Chip befand. Logan hatte nicht den Eindruck, dass sein Bruder ihn belog. Dennoch haderte er mit dem Gedanken, für die Gemeinschaft zu arbeiten. Vielleicht hatte Devon nicht vor, diese Experimente fortzusetzen, das musste jedoch nicht unbedingt für die restlichen Ratsmitglieder und die Forscher gelten. »Wer garantiert, dass deine Frankensteins nicht heimlich weiter experimentieren?«

»Ich werde es verhindern.« Devon griff nach der Ledermappe, zog eine Akte heraus und hielt sie Logan hin. »Hier drin findest du alle nötigen Informationen über die Personen, die du aufspüren sollst.«

Logan griff danach, schlug den Deckel auf und warf einen Blick auf die Papiere dahinter. Was er fand, war eine Sammlung einzelner Blätter, die alle gleich aufgebaut waren. Ein Foto des jeweiligen Sehers oben, darunter Name und Geburtsdatum und besondere Fähigkeiten oder Merkmale. Er blätterte kurz durch die Papiere, ohne sie genauer anzusehen, ein schnelles Daumenkino aus unterschiedlichen Fotos. Dann schlug er den Aktendeckel wieder zu und sah seinen Bruder an. »Adressen hast du wohl nicht?«

Devon verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln. Er zog das oberste Blatt aus der Akte und legte es auf den Tisch. »Das ist Professor Joseph Sparks. Mit ihm solltest du anfangen. Er hat das Projekt damals ins Leben gerufen. Das macht ihn wohl zur besten Hilfe, die du kriegen kannst.«

»Dann bring mich zu ihm.«

»Er hält sich nicht mehr innerhalb der Gemeinschaft auf.«

Logan runzelte die Stirn. Niemand wandte sich von der Gemeinschaft ab, und dass sich der Leiter des Projekts selbst als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt hatte und mit den anderen geflohen war, konnte er sich nicht vorstellen.

»Nach dem Massaker am Leith Walk wollte Sparks nichts mehr mit weiteren Versuchen zu tun haben«, erklärte Devon. »Er klassifizierte das Projekt als gefährlich und grausam, verbrannte seine Unterlagen und verließ die Gemeinschaft. Leider konnte ein nicht unerheblicher Teil seiner Aufzeichnungen von seiner damaligen Assistentin aus den Flammen gerettet werden.«

»Ich soll also einen Typen finden, der sich seit fast drei Jahren erfolgreich vor der Gemeinschaft versteckt, damit der mir hilft, die anderen aufzuspüren«, fasste Logan zusammen.

»So ähnlich.« Devon griff in die Innentasche seines Sakkos, zog einen zusammengefalteten Zettel heraus und hielt ihn Logan hin. »Hier ist seine Adresse.«

Diesmal konnte Logan seine Verblüffung nicht mehr verbergen. Fassungslos starrte er erst den Zettel in seiner Hand und dann seinen Bruder an. »Du weißt, wo er wohnt, und hast nicht dafür gesorgt, dass er in die Gemeinschaft zurückgeholt wird, so wie ihr es mit Abtrünnigen für gewöhnlich macht?«

»Ich bin der Einzige, der diese Adresse kennt, und ich habe nicht vor, sie jemand anderem als dir zu geben.« Er rückte seine Krawatte zurecht. »Ich stimme Sparks zu. Sein Wissen ist gefährlich. Diese Experimente dürfen nicht mehr fortgesetzt werden – und wenn es hilft, Sparks von der Gemeinschaft fernzuhalten, um das zu erreichen, dann werde ich das tun.«

2

Alessa Flynn blieb im Schatten eines Hauseingangs stehen und zog fröstelnd ihren Parka enger. Es war Anfang April und mit zwölf Grad waren die Temperaturen für Edinburgh über dem Durchschnitt. Trotzdem fror sie und war froh um die warme Jacke und die Handschuhe.

Ein wenig umständlich zog sie ihr Handy aus der Jacke, drückte eine Kurzwahltaste und wartete auf das Freizeichen. Wie oft hatte sie während der letzten drei Tage diese Nummer gewählt? Jedes Mal hatte ihr nur die Mailbox geantwortet. Dass Susannah keinen der Anrufe entgegengenommen hatte, war nicht weiter ungewöhnlich. Meistens hörte sie das Handy in ihrer Tasche nicht oder schaffte es nicht, es herauszukramen, bevor die Mailbox sich meldete. Meistens rief sie aber sofort zurück – oder zumindest noch am selben Tag. Dass sie sich bisher nicht gemeldet hatte, hinterließ ein flaues Gefühl in Alessas Magengrube.

»Bitte geh ran.« Alessa wippte auf den Zehenspitzen auf und ab und lauschte dem Freizeichen. »Mach schon!«

»Hallo«, erklang Susannahs Stimme nach dem fünften Klingeln, »ich bin gerade nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht. Ich rufe zurück.«

Alessa unterdrückte einen Fluch. »Sanna, wo steckst du? Ruf mich sofort zurück, wenn du das hörst. Ich habe ihn gefunden!« Sie beendete die Verbindung, ließ das Handy wieder in der Tasche verschwinden und richtete ihren Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. Das fünfstöckige Mietshaus warf seinen langen Schatten auf die Straße und tauchte den Asphalt in ein tristes Grau. Immerhin regnete es nicht mehr.

Es war Zufall, dass Alessa den Mann gefunden hatte. Sie war auf dem Weg zum Supermarkt gewesen, als sie ihn sah. Mit hochgeschlagenem Kragen und gesenktem Blick war er die Straße entlang gehastet, geradewegs an ihr vorbei. Obwohl sie ihn seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort. Sein schlohweißes Haar und die scharfen Gesichtszüge, die so gar nicht zu seiner fülligen Gestalt passen wollten, waren auffällig genug. Sie hatte kehrtgemacht und war ihm in sicherem Abstand gefolgt, bis er in dem Haus verschwunden war, vor dem sie jetzt stand. Eine Weile hatte Alessa das Gebäude von der gegenüberliegenden Straßenseite aus beobachtet und darauf gewartet, dass er es wieder verließ. Als er auch zwei Stunden später nicht wieder vor die Tür getreten war, kam sie zu dem Schluss, dass er hier wohnen musste.

Sie dachte daran, es noch einmal bei Susannah zu versuchen, da sie jedoch vermutete, dass dieser Anruf ebenso sinnlos sein würde wie die gefühlten hundert davor, ließ sie das Handy in der Jackentasche und richtete ihren Blick wieder auf die Eingangstür gegenüber. Sie hatte so lange auf eine Gelegenheit wie diese gewartet, doch plötzlich war sie nicht sicher, wie sie die Sache angehen sollte. Eine Weile starrte sie auf den Eingang, bis ihr klar wurde, dass sie ewig hier stehen bleiben würde, wenn sie sich nicht endlich einen Ruck gab. Abgesehen davon begann sie, immer heftiger zu frieren. Das alles musste ein Ende finden. Je früher, desto besser.

Entschlossen überquerte sie die Straße, trat vor die Haustür und blieb vor dem Klingelbrett stehen. Der Reihe nach ging sie die kleinen Messingschilder durch, bis ihr Blick an einer Klingel hängen blieb, über der statt des gravierten Namens nur ein Aufkleber hing, dessen Ecken sich bereits ablösten. J.S. stand dort. Das konnte nur er sein! Alessa drückte den Klingelknopf und wartete, zählte langsam bis zehn, um sich zu beruhigen – und um zu sehen, wie viel Zeit verging. Als nichts geschah, zählte sie weiter bis zwanzig, dann bis dreißig. Schließlich klingelte sie noch einmal. Was, wenn er nicht öffnete?

Der Türsummer erlöste sie aus ihrer Ungewissheit. Sie stemmte sich gegen die schwere Holztür und drückte sie auf. Auf dem Weg ins Haus streifte sie die Handschuhe ab und stopfte sie in die Jackentaschen. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnten, das durch die schmalen Fenster fiel. Vor ihr wand sich ein dunkles Treppenhaus nach oben. Sie ging an den Briefkästen vorbei und stieg die knarrenden Stufen in den dritten Stock hinauf. Die drei Wohnungstüren hier oben waren geschlossen. Sie folgte dem Gang bis zur letzten Tür. Darauf pappte ein ähnlicher Aufkleber wie unten am Klingelbrett. J.S. – mehr nicht. Sie streckte die Hand nach der Klingel aus und ließ sie wieder sinken. Was, wenn er nicht allein war? Was, wenn jemand bei ihm war, der ihr Schwierigkeiten machen konnte? Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Sie konnte nicht mehr so weitermachen wie bisher. Nicht, nachdem sie wusste, wer hinter dieser Tür lebte. Sein bloßer Anblick hatte genügt, den Funken der Hoffnung, der vor so langer Zeit erloschen war, erneut glimmen zu lassen. Wenn sie jetzt ging, ohne mit ihm zu sprechen, würde sie auch das letzte bisschen Zuversicht verlieren, das noch in ihr steckte.

Ihre Hand schwebte über dem Klingelknopf. Wenn es schiefging, war sie tot. Andererseits ließ sich ihr Dasein ohnehin schon lange nicht mehr als Leben bezeichnen. Was habe ich schon zu verlieren? Sie straffte die Schultern und drückte den Knopf. Der Ton der Klingel war so laut und schrill, dass Alessa zusammenzuckte. In der Wohnung waren Schritte zu hören, kamen näher und verstummten. Dann wurde die Tür ein Stück weit geöffnet.

Professor Sparks stand im Türspalt. Gekleidet in ein abgewetztes Cordsakko und eine zerknitterte dunkelbraune Hose sah er Alessa durch eine Hornbrille an, deren linker Bügel nur noch von einem Streifen Klebeband gehalten wurde.

»Miss Flynn.« Seine Miene schwankte zwischen Überraschung und Schrecken, trotzdem fragte er höflich: »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich muss mit Ihnen sprechen, Professor.«

Sparks stand immer noch wie angewurzelt da. Er sah sie so durchdringend an, dass Alessa versucht war zurückzuweichen, doch sie zwang sich, stehen zu bleiben und seinen Blick zu erwidern.

Himmel, sagen Sie etwas!

»Mein Gott«, flüsterte er dann, »Sie sind eine von ihnen!«

Nicht unbedingt das, was Alessa hören wollte. Andererseits ersparte es ihr lange Erklärungen. Der Professor löste seinen Blick von ihr und trat zur Seite, um sie hereinzulassen. Mit einem leisen Klacken rastete der Riegel ein, als er die Tür schloss. Ein kaum vernehmbarer Laut, dessen Endgültigkeit Alessa schaudern ließ.

»Sie sollten nicht hier sein.« Der Professor führte sie in ein kleines Wohnzimmer, nahm ein paar Bücher vom Sofa und deutete darauf. »Bitte.«

Obwohl ihr noch immer kalt war, schlüpfte Alessa aus ihrem Parka und legte ihn neben sich auf das Sofa. Geduldig saß sie da und beobachtete, wie Sparks die Bücher auf den kleinen Sekretär legte, der in einer Ecke des Raumes stand. Bis auf einen großen weißen Einbauschrank mit Lamellentüren und eine offene Tür, hinter der Alessa die Umrisse eines Bettes ausmachte, waren alle Wände mit Bücherregalen zugestellt.

»Möchten Sie etwas trinken?«, erkundigte sich der Professor höflich und als Alessa den Kopf schüttelte, meinte er: »Ich für meinen Teil könnte jetzt durchaus eine Tasse Tee gebrauchen. Macht es Ihnen etwas aus?«

»Nein, natürlich nicht.« Ihr Blick folgte dem Professor, als er das Wohnzimmer verließ, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte und nur noch das Ächzen der Dielen zu hören war. Alessa fürchtete schon, er würde die Gelegenheit nutzen und die Flucht ergreifen, dann jedoch begann er, vernehmbar in der Küche zu hantieren.

Soweit sie wusste, hatte ihn niemand mehr gesehen, nachdem er vor drei Jahren vom Anwesen der Gemeinschaft verschwunden war. Dass sie ihn gefunden hatte, musste ein Wink des Schicksals sein!

Sie lauschte dem Professor, hörte das Plätschern von Wasser und Schranktüren, die geöffnet und wieder geschlossen wurden. Schließlich gelang es ihr nicht länger, ihre Ungeduld im Zaum zu halten. Sie stand auf und ging in die Küche. »Professor, ich brauche Ihre Hilfe.«

Er stellte den Teekessel auf den Herd, schaltete ihn ein, und hängte einen Teebeutel in eine Tasse, ehe er Alessa ansah. Seine sonst so hellen Augen wirkten eine Spur dunkler. »Es tut mir leid, ich kann nichts für Sie tun.«

»Sie wissen doch noch gar nicht, was ich sagen wollte.«

»Ich sehe es in Ihren Augen.« Er schob seine Brille hoch und seufzte. »Für Ihr Problem gibt es keine Lösung. Wenden Sie sich an Devon Drake, das neue Oberhaupt des Rates.«

Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Trotzdem war Alessa nicht bereit aufzugeben. Jetzt nicht mehr – und den Rat würde sie garantiert nicht einweihen. Sie hatte sich schon zu lange im Gefühl der Hoffnungslosigkeit gesuhlt. Es war an der Zeit, dass sie zu kämpfen begann – für sich und die Anderen, die waren wie sie. Ganz gleich, was der Professor sagte, sie würde sich nicht einfach abwimmeln lassen. »Vielleicht gibt es im Augenblick ja wirklich keine Lösung, aber wenn Sie –« Das Schrillen der Türklingel ließ sie verstummen. Sie sah den Professor an und fand in seinen Augen denselben Schrecken, der auch ihr durch die Glieder gefahren war.

»Ist jemand bei Ihnen?«

Alessa schüttelte den Kopf.

»Dann ist es besser, wenn niemand erfährt, dass Sie hier sind.« Er deutete zum Wohnzimmer. »Da hinüber.«

Das leise Knarren der Dielen kam in Alessas Ohren einem Donnern gleich, als sie an der Eingangstür vorbei ins Wohnzimmer liefen. Es war lächerlich, denn der Besucher war noch unten, am Hauseingang, trotzdem hatte Alessa das Gefühl, als könne jeder Laut ihre Anwesenheit verraten. Sie war froh, dass der Professor sie vor seinem Besucher verstecken wollte. Andernfalls hätte sie selbst verschwinden müssen. Sie konnte es sich nicht erlauben, gesehen zu werden. Kaum hatten sie das Wohnzimmer betreten, klingelte es erneut. Der Professor riss die Schranktür auf, rückte die Kleiderbügel mit seinen Anzügen zur Seite und schob Alessa hinein.

»Rühren Sie sich nicht vom Fleck, bis ich Sie wieder heraushole.« Begleitet von einem weiteren Kreischen der Klingel schloss er die Schranktür. Dunkelheit legte sich über Alessa und drohte, sie zu ersticken. Sie wollte einen Schritt zurück machen, wurde jedoch von der Rückwand gebremst. Neben sich spürte sie auf der einen Seite den Stoff von Sakkos, Hosen und Hemden, auf der anderen die Seitenwand. Das Gefühl, gefangen zu sein, trieb ihren Herzschlag in einen rasenden Galopp. Das Blut rauschte in ihren Ohren und machte es unmöglich, die Schritte des Professors länger zu hören. Das ist nur ein Schrank, versuchte sie, sich zu beruhigen. Ein dummer, harmloser Schrank, in dem du wartest, bis der Besuch des Professors fort ist. Warum, zum Teufel, hatte er sie nicht in einem der anderen Zimmer verstecken können? Alessa schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem.

Einatmen.

Ausatmen.

Ein.

Aus.

Ihr Herzschlag beruhigte sich und als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass es nicht völlig finster war. Zwischen den Lamellen fielen schmale Lichtstreifen in den Schrank herein. Erleichtert sank sie zu Boden. Die Beine an den Körper gezogen kauerte sie in der Enge und lauschte. Ihre Angst, dass der Professor ihre Anwesenheit verraten würde, war groß. Die Vernunft sagte ihr, dass er sich kaum die Mühe machen würde, sie zu verstecken, wenn er das vorhätte, doch sie war während der letzten Jahre sosehr auf der Hut gewesen, dass es ihr schwerfiel, auf das Wohlwollen anderer zu vertrauen.

Ein Klopfen an der Wohnungstür riss sie aus ihren Gedanken.

Die Stimme des Professors erklang. »Was kann ich für Sie – oh mein Gott!«

Schritte, unregelmäßig, taumelnd, dann ein gedämpfter Knall, gefolgt von einem dumpfen Schlag.

Alessa veränderte ihre Position, drückte das Gesicht an die Lamellentür und spähte nach draußen, in Richtung des Flurs. Professor Sparks lag auf der Schwelle zum Wohnzimmer, einen roten Punkt zwischen den aufgerissenen Augen, die starr an die Decke blickten. Über ihm ragte ein Mann auf. Eine Sturmhaube verdeckte sein Gesicht, doch es war die Pistole in seiner Hand, die Alessas Herz zum Rasen brachte.

Der Maskierte richtete seine Waffe auf den Professor und drückte noch einmal ab. Ein Schalldämpfer nahm dem Schuss seine Schärfe, trotzdem zuckte Alessa zusammen. Sie wollte den Blick abwenden, doch sie wagte nicht, den Maskierten aus den Augen zu lassen. Der Unbekannte stieg über den Wissenschaftler hinweg und kam ins Wohnzimmer. In der Mitte des Raumes blieb er stehen und sah sich langsam um. Als er Alessas Jacke auf dem Sofa entdeckte, fuhr er herum und stürmte mit erhobener Waffe auf den Durchgang zum Schlafzimmer zu. Alessas Beine zuckten. Alles in ihr schrie danach aufzuspringen und davonzulaufen. Aber der Maskierte war zu nah. Sobald sie die Schranktür öffnete, würde er es hören.

Sie lauschte auf seine schnellen Schritte, die sich im Schlafzimmer hin und her bewegten, immer wieder von einem Quietschen unterbrochen. Er sah in die Schränke! Wenn er das auch hier tat und sie fand, würde er sie ebenso erschießen wie den Professor.

Nein!

So leicht wollte sie es ihm nicht machen. Sie würde sich gegen ihn zur Wehr setzen. So wie sich der Professor gewehrt hat? Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Der Professor war überrascht gewesen. Sie jedoch wusste, dass der Fremde hier war – und dass er eine Waffe hatte.

Die Schritte kamen näher.

Alessa spähte zwischen den Lamellen durch und zuckte zusammen, als sein Schatten auf die Schwelle fiel. Er kam ins Wohnzimmer zurück, ging zum Fenster und sah kurz nach draußen, ehe er sich wieder dem Raum zuwandte.

Sein Blick richtete sich auf den Schrank.

Alessa wich zurück, bis sie an die Rückwand stieß. Mit angehaltenem Atem starrte sie auf die Lamellen, die ihr nun die Sicht auf den Maskierten versperrten. Ihr Puls begann zu rasen und das Blut rauschte ihr so laut in den Ohren, dass es ihr schwerfiel, noch etwas anderes zu hören. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und zwang sich zu atmen. Die Panik wollte sich nicht verdrängen lassen.

Die Dielen ächzten unter seinen Schritten, als der Maskierte sich bewegte.

Sie hielt es nicht länger aus, nicht zu sehen, wo er war und was er tat. Vorsichtig, um nur ja kein Geräusch zu verursachen, rutschte sie wieder nach vorne und spähte hinaus.

Er stand nicht weit vom Schrank entfernt, den Blick noch immer auf die Lamellentür gerichtet. Die Hand mit der Pistole hatte er gesenkt. Lauf und Schalldämpfer warfen einen langen Schatten auf das Parkett, der ihm folgte, als er einen weiteren Schritt auf den Schrank zu machte.

Wenn er die Tür aufriss, musste sie sich wehren – bevor er schießen konnte.

Aber was, wenn er einfach die Waffe hob und durch die geschlossene Tür ballerte? Sollte sie weiter stillhalten, in der Hoffnung, dass er das nicht tun würde? Sie versuchte, sich einzureden, dass er sie vielleicht noch gar nicht bemerkt hatte.

Ein Blick auf ihren Parka genügte, um diese Hoffnung zu zerschlagen.

Sie musste ihre Kräfte einsetzen. Daran, was passieren würde, wenn sie die Kontrolle verlor, wagte sie nicht zu denken. Es durfte einfach nicht passieren. Ihre Kräfte mussten ausreichen, um den Maskierten abzuwehren und die Mauer aufrecht zu halten, die Alessas Geist abschirmte. Diese Mauer war ihr Schutzschild. Ihr verdankte sie es, dass sie überhaupt noch am Leben war.

Als der Fremde die Hand nach der Schranktür ausstreckte, bemerkte sie zum ersten Mal seine Handschuhe. War er ein Mitglied der Gemeinschaft oder trug er sie nur, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen? Wenn er der Gemeinschaft angehörte, musste sie stärkere Geschütze auffahren, um sich gegen ihn zu wehren. Das würde ihre Schutzschilde nur noch mehr gefährden.

Seine Finger schlossen sich um den Türgriff. Alessa hielt den Atem an und machte sich bereit. Durch die offene Wohnungstür waren gedämpfte Schritte zu hören. Jemand war im Treppenhaus. Der Maskierte hielt inne, sah zum Flur, dann wieder zum Schrank. Er war so nah, dass Alessa das Weiße in seinen Augen schimmern sah, doch obwohl sie ihn anstarrte, hätte sie nicht sagen können, welche Farbe seine Augen hatten.

Die Schritte im Treppenhaus kamen näher. Holz knarrte. Ganz in der Nähe. Der Maskierte nahm die Hand vom Türgriff und machte kehrt. Mit ein paar großen Sätzen war er beim Fenster und schob es hoch. Ein letzter Blick in Richtung der Tür, dann schwang er die Beine über den Fenstersims und kletterte nach draußen. Metall klapperte, erst ziemlich laut, dann immer leiser.

Alessa stieß den Atem aus und lehnte die Stirn gegen die Lamellen. Ihre aufkommende Erleichterung wurde jedoch im Keim erstickt, als die Schritte aus dem Hausflur die Wohnung erreichten und verstummten. Wer auch immer dort draußen war, mochte vielleicht nicht bewaffnet sein, doch das machte die Situation nicht besser. In einer Wohnung gefunden zu werden, in der eine Leiche lag, würde sich nicht sonderlich gut machen. Die Polizei würde Fragen stellen und ihre Daten checken. Wenn jemand dahinterkam, wer sie war …

Ich muss hier raus, bevor mich jemand findet!

Sie beugte sich ein Stück zur Seite, damit sie den Flur einsehen konnte. Einmal mehr streifte ihr Blick über den Leichnam des Professors, ehe sie den Mann entdeckte, der davor stehen geblieben war. Ein hochgewachsener Kerl in Camouflage-Hosen und Kampfstiefeln. Er trug ein olivfarbenes T-Shirt und zwei Schulterholster. Eine der beiden Pistolen hielt er in der Hand. Mit erhobener Waffe verharrte er auf der Schwelle und warf einen raschen Blick auf den Professor, ehe er sich im Wohnraum umsah. Der Lauf seiner Pistole folgte seinen Augen, als er sich einen schnellen Überblick verschaffte. Die Waffe noch immer im Anschlag ging er zum Wohnzimmerfenster und spähte nach draußen. Seine Lippen bewegten sich und Alessa glaubte, einen stummen Fluch davon ablesen zu können. Zumindest hätte ein Fluch zu seiner finsteren Miene gepasst. Mit einem letzten Blick aus dem Fenster machte er kehrt und verschwand im Schlafzimmer.

Einen Atemzug lang war Alessa versucht, die Flucht zu ergreifen, doch er kam so schnell wieder zurück, dass ihr nicht einmal die Zeit geblieben war, die Hand nach der Schranktür auszustrecken. Mit schnellen Schritten war er an ihrem Versteck vorbei, zurück im Flur und ging neben dem Professor in die Hocke. Er legte zwei Finger an den Hals des alten Mannes. Die Waffe noch immer in einer Hand, zog er mit der anderen ein Handy aus seiner Hosentasche und drückte eine Taste. Während er wartete, dass sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete, wanderte sein Blick wachsam umher.

»Ich bin in Sparks Wohnung.« Seine Stimme klang überraschend warm und angenehm und wollte so gar nicht zu seinem grimmigen Tonfall und dem finsteren Gesicht passen. »Er ist tot. Ich brauche dich mit einem Spurensicherungsteam hier. Beeil dich.« Er schob das Handy wieder in die Hosentasche. Sein Blick kehrte zum Leichnam des Professors zurück. Diesmal war sein Fluch laut und deutlich zu hören.

Alessa hätte selbst gerne geflucht, doch sie biss sich auf die Lippe und unterdrückte jeden verdächtigen Laut. Bevor die Spurensicherung kam, musste sie fort sein! Dafür musste sie an dem Kerl im Flur vorbei, doch der machte keine Anstalten, den Weg für sie zu räumen. Er hatte das Licht eingeschaltet und unterzog den Leichnam einer genaueren Untersuchung. Daran, dass der Mann ein Polizist war, zweifelte Alessa nicht. Die Frage war nur: Was hatte er in der Wohnung des Professors zu suchen?

Immerhin würde er sie nicht erschießen, wenn er sie fand. Aber das machte ihre Lage nicht besser. Sie hatte zu viel zu verbergen, als dass sie es riskieren konnte, der Polizei aufzufallen.