4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Isle of Skye, 14. Jahrhundert. Ein harmloser Besuch wird zur tödlichen Gefahr: Eigentlich hatte Catriona nur ihren Bruder besuchen wollen, doch dieser ist spurlos verschwunden. Als er in seiner Abwesenheit des Verrats bezichtigt wird, setzt Catriona alles daran, seine Unschuld zu beweisen. Dabei gerät sie mit Aidan, dem Chief der MacLeods, aneinander. Ihr Freund aus Kindertagen ist zu einem harten, kalten Mann geworden, der niemanden an sich heran lässt – am allerwenigsten Catriona. Als sie die finstere Intrige aufdeckt, die hinter dem Verschwinden ihres Bruders steckt, scheint es bereits zu spät zu sein … Highlands & Islands 3.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 463
Brigitte Melzer
Roman
Duncan betrachtete den schlafenden Mann nachdenklich. Er saß in einem Sessel neben dem Bett seines Chiefs. Die warmen Strahlen der Frühlingssonne fielen durch eines der Turmfenster, doch selbst sie vermochten es nicht, über die Schwäche des Chiefs hinwegzutäuschen. Malcolm MacLeods Wangen waren eingefallen, seine fahlen Züge vom Fieber gezeichnet und in seinem schwarzen Haar waren erste silberfarbene Strähnen erblüht. Die Krankheit hatte den einst so kräftigen Chief ausgezehrt und ließ ihn mehr wie einen verfallenden Greis wirken statt wie einen Mann, der seinen vierzigsten Sommer noch nicht erreicht hatte.
Seit beinahe zwei Wochen hielt ihn das Fieber nun schon ans Bett gefesselt. Zwei Wochen, in denen er nur wenig von dem wahrgenommen hatte, was um ihn herum geschah. Niemand wusste, was ihm fehlte. Er hatte sich einige Tage erschöpft gefühlt, ehe er eines Abends mit sengendem Fieber zusammengebrochen war. Keiner der herbeigerufenen Heiler und Kräuterkundigen hatte etwas für ihn tun können. Sie alle mussten hilflos mit ansehen, wie sich sein Zustand Tag für Tag verschlechterte. Während dieser schwierigen Zeit hatte Duncan die Aufgaben seines Chiefs übernommen und dafür gesorgt, dass der Clan nicht ohne Führung blieb. Die Nächte jedoch hatte er an der Seite seines Freundes verbracht. Obwohl er nicht sicher war, ob Malcolm ihn überhaupt wahrnahm, hatte er ihm jeden Abend Bericht erstattet und ihm die Segenswünsche seiner Clansmen übermittelt. Die letzten beiden Wochen hatten ihn erschöpft, dennoch wollte er Malcolm nicht allein lassen. Duncan war nicht nur der Ratgeber des Chiefs, er war auch für seine Sicherheit verantwortlich. Umso schlimmer traf ihn Malcolms Krankheit. Gegen einen bewaffneten Angreifer oder andere Gefahren konnte er etwas tun. Dagegen jedoch war er machtlos.
Selbst jetzt, nachdem das Fieber endlich gesunken war und die Genesung Fortschritte zu machen schien, gefiel Duncan nicht, was er sah. Das Leiden hatte Malcolm verändert. Oft schien er nicht einmal zu wissen, wo er sich befand und dass er krank war. Entgegen seiner Art neigte er mehr und mehr zu jähzornigen Ausbrüchen, die seine Umwelt – und besonders Duncan – nur schwer ertragen konnten. Auch wenn er es sich nicht eingestehen mochte, der einst so starke und kluge Malcolm MacLeod war heute nur noch ein Schatten seiner selbst. Der stolze Chief von früher war nicht länger der Mann, den Duncan ein Leben lang gekannt hatte. Womöglich würde er es nie wieder werden.
Wie sehr ich dich vermisse. Malcolm war nicht nur sein Chief und Freund, sondern auch sein Onkel. Noch vor Duncans Geburt war sein Vater auf dem Schlachtfeld gefallen. Nach dem Tod seiner Mutter – Malcolms weit älterer Schwester – im Kindbett waren Malcolm und er zusammen aufgewachsen. Obwohl sie zehn Jahre trennten, waren sie einander stets so nah wie Brüder gewesen. Duncan hatte immer zu dem Älteren aufgesehen und ihn unterstützt, wo er nur konnte.
Seufzend lehnte er sich zurück. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er die Einsamkeit. Wie oft hatte Malcolm ihn dazu gedrängt, sich ein Weib zu suchen und zu heiraten, doch Duncan hatte stets abgelehnt. Er hatte immer geglaubt, dass ihm seine Pflichten keine Zeit für eine eigene Familie ließen.
»Vielleicht habe ich mich geirrt«, murmelte er. Wenn Malcolm erst genesen war, nahm er sich vor, würde er sich nach einer Frau umsehen und mit ihr eine Familie gründen. »Dann kannst du doch noch auf meiner Hochzeit tanzen, mein Freund.«
Ein Geräusch an der Tür schreckte Duncan aus seinen Gedanken. Als er aufsah, betrat Callum, Malcolms jüngerer Sohn, das Turmzimmer. Duncan war nicht erfreut über den Besucher. Obwohl der Knabe gerade einmal sechzehn Sommer zählte, kommandierte er die Menschen auf Dunvegan herum, als wäre er selbst der Chief. Dabei würde nicht einmal nach Malcolms Tod die Führung des Clans an ihn übergehen. Malcolms Erstgeborener – Aidan – würde ihm eines Tages an die Spitze des Clans folgen. Darüber war Duncan zutiefst erleichtert, denn obwohl Aidan und Callum Zwillinge waren, erschienen sie ihm verschieden wie die Jahreszeiten. Aidan schwarzhaarig wie sein Vater, die Augen von einem so durchdringenden Blau, dass Duncan oft das Gefühl hatte, der Junge könne ihm geradewegs in die Seele blicken. Callum hatte das blonde Haar und die grauen Augen seiner Mutter. Einzig Malcolms kantige Züge fanden sich in beiden Jungen wieder, bei Aidan ein wenig ausgeprägter als bei seinem Bruder. Doch es waren nicht bloß die Äußerlichkeiten, die die beiden trennten: Aidan war zwar nur einige Augenblicke älter als Callum, doch er war ein vollkommen anderer Mensch.
Callum begrüßte Duncan mit einem knappen Nicken. »Wie geht es ihm?«, fragte er leise, als er an das Bett herantrat.
»Das Fieber ist gesunken, ansonsten ist sein Zustand unverändert.«
Callum kam noch näher und beugte sich über seinen Vater. Da schlug Malcolm die Augen auf. »Mein Sohn«, seine Stimme klang schwach, dennoch zeigte sich ein mattes Lächeln in seinen Zügen, »wie schön, dass du hier bist.«
»Als ich hörte, dass es dir nicht gut geht, bin ich sofort gekommen.«
Du schreckst vor keiner Lüge zurück! Es war bloßer Zufall, dass der Junge überhaupt von der Krankheit seines Vaters erfahren hatte. Genau wie Aidan lebte er nicht auf Dunvegan. Während Aidan bei den MacDonalds, Malcolms engsten Verbündeten auf Islay, aufwuchs, verweilte Callum auf Lewis. Dort lebte er im Haushalt von Malcolms Vetter, John, dem Chief des zweiten mächtigen Zweigs der MacLeods. Callum war lediglich nach Dunvegan gekommen, um sich von seinem Vater zu verabschieden, ehe er – zusammen mit Johns Sohn Brodhir – für einige Jahre nach Frankreich ging. Dort würden die beiden bei einem Vetter Johns leben, der sich um die Ausbildung und Erziehung der Jungen kümmern sollte. Vielleicht bringt er ihm ein wenig Vernunft bei!
Malcolm streckte die Hand nach seinem Jüngsten aus. »Komm, setz dich zu mir«, bat er, als Callum seine Hand ergriff. »Ich habe dir einiges zu sagen.«
Callum ließ sich auf der Bettkante nieder. »Vater?«
Das Sprechen erschöpfte den Chief, sodass er einige Zeit benötigte, sich zu erholen. Lange lag er nur still da, hielt Callums Hand umklammert und rang um Atem. Endlich sagte er: »Dein Bruder ist nicht gut für den Clan und das Land.« Seine Stimme klang noch immer schwach und leise, trotzdem brachten die Worte Duncans Herz beinahe zum Stillstand.
»Malcolm«, setzte er an.
Doch der Chief schüttelte den Kopf. »Ich habe es lange nicht sehen wollen. Doch jetzt … Es ist an der Zeit, dass ich es endlich ausspreche«, sagte er an Duncan gewandt, ehe sein Blick zu Callum zurückkehrte. »Dein Bruder will nur Macht«, fuhr er fort. »Die Menschen interessieren ihn nicht – nur sein eigenes Wohl. Aber du, mein Sohn, wirst ein guter Chief werden. Duncan wird dich unterstützen, so wie er es bei mir immer getan hat.« Seine Augen richteten sich auf Duncan. »Nicht wahr, mein Freund?«
Bei Gott, Malcolm! Sind deine Sinne derart umnebelt? Aidan war der Sohn, der seine Pflicht erfüllte – zum Wohl des Clans. Wie konnte Malcolm ihn für eine Gefahr halten? Nur auf Callum traf diese Einschätzung zu. Ausgerechnet ihn wollte Malcolm zu seinem Nachfolger benennen? Das kann ich nicht zulassen. Aber wie sollte er sich dem Wunsch seines Chiefs widersetzen? Malcolm war sein Freund!
»Duncan?«, riss Malcolm ihn aus seinen finsteren Gedanken. »Du wirst ihm doch zur Seite stehen?«
»Ich werde alles tun, was dem Wohle des Clans dient«, presste er hervor.
Der Chief lächelte zufrieden. »Ich wusste, dass du uns nicht im Stich lässt.« Er begann zu husten, so heftig, dass Duncan an seine Seite eilte, um ihn zu stützen. Als der Anfall vorüber war, ächzte Malcolm nach Luft. Duncan griff nach einem Becher mit Wasser und setzte ihn dem Chief an die Lippen. Nachdem dieser ein paar Schlucke getrunken hatte, sank er erschöpft in die Kissen. Eine Weile lag er mit geschlossenen Augen da, ehe er erneut nach Callums Arm griff. »Es gibt da noch etwas, was du wissen sollst«, sagte er und bedeutete seinem Sohn, näherzukommen. Callum rückte ein Stück heran. »Näher.«
Erst als Callum sein Ohr an den Mund des Chiefs brachte, begann dieser zu sprechen. Zu leise, als dass Duncan mehr als ein paar Bruchstücke verstanden hätte. Doch Duncan musste die Worte nicht hören. Er wusste auch so, was Malcolm seinem Sohn zu sagen hatte. Zu sehen, wie Callums Miene versteinerte, bestätigte ihn in seiner Annahme.
Eine Weile lauschte Callum den Worten seines Vaters, ohne dass sich seine Miene veränderte. Schließlich fragte Malcolm: »Wirst du das für mich tun?«
Callum richtete sich auf. »Natürlich, Vater«, sagte er mit aufgesetztem Lächeln. »Ich werde mich darum kümmern.«
Als er sich erhob, um zur Tür zu gehen, folgte Duncan ihm. »Du weißt, dass er nicht dich gemeint hat«, sagte er sehr leise. »Aidan ist sein Erbe.«
Callum verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Zweifelst du etwa den Verstand meines Vaters an, werter Vetter?«, erwiderte er und verließ das Turmzimmer.
Duncan blieb keine Zeit, über Callums Worte nachzudenken. Sein Chief brauchte ihn jetzt. Die lange Unterhaltung hatte Malcolm angestrengt, das war ihm deutlich anzusehen. Duncan half ihm noch einmal etwas zu trinken.
»Aidan ist ein guter Junge«, sagte Malcolm mit versonnenem Lächeln, als Duncan den Becher zur Seite stellte. »Er wird seine Sache gut machen.«
»Aidan?«, echote Duncan.
»Er war schon immer der Bessere der beiden.«
Es dauerte einen Moment, ehe Duncan begriff, dass Malcolm tatsächlich seine beiden Söhne verwechselt hatte. Dann jedoch erleichterte es ihn, zu wissen, dass Malcolm zumindest nicht an Aidans Fähigkeiten zweifelte und noch immer wusste, dass Callum derjenige war, der dem Clan Schaden zufügen würde. Malcolms Worte mochten Callums Ehrgeiz angestachelt haben, eines Tages den Clan zu führen, doch Duncan würde dafür sorgen, dass der Junge niemals Aidans Erbanspruch in Frage stellte.
Catriona MacDonald zügelte ihr Pferd und blickte über den Loch Dunvegan, einen langen Einschnitt des Atlantiks ins Land. Auf der anderen Seite des Lochs erstreckte sich flaches Land, ähnlich dem ihrer Heimat. Als sie den Blick jedoch weiterschweifen ließ, fielen ihr rasch die Unterschiede zu Islay auf. Im Süden erhoben sich glühend im Licht der Mittagssonne die Gipfel der Red Cuillins. Etwas weiter im Norden zog sich das Land in sanft geschwungenen Hügeln dahin, immer wieder durchbrochen von rostrotem Heideland. Der unebene Weg, dem sie seit einer Weile folgte, war von einem endlosen Band gelb blühender Stechginsterbüsche gesäumt, die die Luft mit ihrem lieblichen Aroma erfüllten. Von Zeit zu Zeit mischte sich der Geruch frischen Torfs darunter. Zumindest darin glichen sich Skye und Islay.
Seit sie sich vor einigen Stunden von Iain getrennt hatte, war ihr keine Menschenseele mehr begegnet. Onkel Iains Sorge war also unbegründet. Zwar handelte es sich bei Iain streng genommen nicht um ihren Onkel, doch er war ein enger Vertrauter ihrer Eltern und wurde stets als Familienmitglied behandelt. Als solches hatte er Catriona nur ungern allein zurückgelassen, zumal der Krieger namens Duncan, der sie an der Wegkreuzung empfangen und sicher nach Dunvegan geleiten sollte, sich nirgendwo blicken ließ. Catriona hatte Iain seine Sorge genommen. Immerhin war sie längst kein kleines Mädchen mehr. Sie war es gewohnt, allein unterwegs zu sein. Dass sie in Iains Begleitung von Islay nach Skye geritten war, verdankte sie vielmehr dem glücklichen Umstand, dass er im Namen ihres Vaters eine Nachricht nach Duntulm zu überbringen hatte, einer Festung der MacDonalds im Norden der Insel, wo sich auch der Sitz ihres ältesten Bruders James befand. Da die Nachricht James eilig nach Islay beorderte, wollte sie nicht, dass Iain ihretwegen den Umweg nach Dunvegan auf sich nahm. Letztlich hatte er sich überzeugen lassen, sich hier zu verabschieden. Er würde auf Duntulm warten, bis sie ihm eine Nachricht zukommen ließ, und sie dann zurück nach Hause begleiten.
Für den Augenblick jedoch war sie allein. Eine Weile wartete sie an der Weggabelung, die nach Dunvegan führte. Als auch nach einiger Zeit niemand kam, um sie abzuholen, wurde sie das Warten leid und beschloss, dem Krieger entgegenzureiten. Der Weg, an dem sie abgeholt werden sollte, war eine kleine Straße, die am Rande der Wälder zum Loch Dunvegan und letztlich zur Burg, dem Stammsitz der MacLeods, führte. So war es nicht weiter verwunderlich, dass sie bisher niemandem begegnet war. Zweifelsohne nahmen die meisten Besucher die Hauptstraße, die ein Stück weiter nördlich zur Burg führte.
Schon bald schwenkte der Weg wieder fort vom Loch Dunvegan. Schottische Pinien und Kiefern wuchsen aus dem Boden und verdrängten den Stechginster mehr und mehr. Die knorrigen Bäume reckten sich der schmalen Straße entgegen und hüllten sie in tiefe Schatten, sodass Catriona gezwungen war, ihr Pferd in eine langsamere Gangart fallen zu lassen. Es war ein lauer Frühsommertag, doch hier zwischen den Bäumen konnte man nichts mehr von der Wärme der Sonne spüren. Zwielicht streckte seine Finger nach Catriona aus und die kühle Brise, die sich zwischen den Bäumen erhob, ließ sie frösteln. Um die plötzliche Kälte zu verdrängen, stülpte sie die Kapuze über und zog ihren groben Wollumhang enger um die Schultern.
Obwohl sie niemals zuvor auf Skye gewesen war, freute sie sich darauf, nach Burg Dunvegan zu kommen, seit ihr Vater vorgeschlagen hatte, sie könne ihren Bruder Eoin und dessen Frau Daina dort besuchen. Bis heute wunderte sich Catriona manchmal noch darüber, dass es Eoin gelungen war, seine Heirat mit Daina durchzusetzen. Ihre drei anderen Brüder waren bereits vermählt gewesen – ein jeder von ihnen mit der Tochter eines einflussreichen Chiefs. Auch Daina war die Tochter eines Chiefs, doch ihr Vater – Rory MacKinnon – war das Oberhaupt eines kleinen, unbedeutenden Clans, dessen einzige Ländereien auf Sleat lagen, einem winzigen Landstrich im Süden Skyes. Eoins Absichten waren bei seinem Vater zunächst auf Unverständnis gestoßen. Da ihm jedoch seine älteren Söhne mit ihren Ehen allesamt gute Bündnisse ins Haus gebracht hatten und es ihm schon immer schwergefallen war, Eoin oder Catriona – seinen beiden Jüngsten – etwas abzuschlagen, hatte er schließlich zugestimmt und Eoin seinen Segen gegeben.
Catrionas Wunsch war es, eines Tages einen Mann zu heiraten, für den sie mehr als nur ein Teil eines Bündnisses war – jemanden, den sie lieben konnte. Wenn sie an die Ehe dachte, sah sie stets ihre Eltern vor sich – Alasdair und Sessany MacDonald –, die einander selbst nach mehr als dreißig Jahren noch immer innig liebten. Eine Liebe, die sich in jedem Blick, jeder Geste und jedem Wort auszudrücken schien. Was ihre Eltern verband, war ein Geschenk, das nur wenigen zuteilwurde.
Ein Knacken im Unterholz schreckte Catriona aus ihren Gedanken. Sie wandte den Kopf zur Seite und spähte zwischen den Bäumen hindurch, die sich wie eine dürre Armee am Wegesrand erhoben. War da eine Bewegung? Links vor ihr? Sie kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Alles war still. Dann vernahm sie ein Rascheln – diesmal von rechts. Ihr Pferd tänzelte unruhig zur Seite.
»Bei Gott, Mädel«, murmelte sie in den Schatten ihrer Kapuze und zog den Zügel straff. »Du bist in einem Wald!« Natürlich gab es hier Geräusche. Im Unterholz lebten Tiere, die dazu neigten, nicht bloß dazusitzen! Nach der langen Stille zuvor war sie wohl nur über die plötzlichen Geräusche erschrocken. Aber warum war es so lange so still? Seit sie das Waldstück erreicht hatte, war das Säuseln des Windes der einzig zu vernehmende Laut gewesen. Wo blieb der Gesang der Vögel? Warum hatte sie das Rascheln und Knacken nicht schon eher vernommen? Sie war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht darauf geachtet hatte. Das war alles. Eine Erklärung, ebenso simpel wie einleuchtend – trotzdem wollte sich das beklemmende Gefühl, dass etwas anderes als ein paar harmloser Waldtiere im Dickicht lauerte, nicht mehr vertreiben lassen. Wenn sie nicht zusah, dass sie von hier fortkam, würde etwas Schreckliches geschehen!
Was für ein Unsinn! Doch die Furcht ließ sich nicht länger verdrängen. Catriona warf einen Blick auf den unebenen Boden, der vor ihr im Halbdunkel versank. Es war gefährlich, das Pferd zu sehr anzutreiben, dennoch entschloss sie sich, ihrem Instinkt zu vertrauen, und trat das Tier in die Flanken. Im selben Augenblick erhoben sich dunkle Schatten zu beiden Seiten des Pfades. Laub raschelte, Zweige knackten und brachen, als sich vier Männer aus dem Unterholz lösten und vor ihr auf die Straße traten. Ein verirrter Sonnenstrahl fiel durch die dichten Baumkronen und fing sich in der Klinge eines drohend erhobenen Claymores. Catriona riss ihr Pferd zurück und wollte es wenden, doch auch hinter ihr versperrten vier Bewaffnete den Weg.
Verdammt, ich hätte Iain nicht fortschicken sollen!
Fluchend kämpfte sie darum, ihr scheuendes Pferd zu beruhigen, während die Männer mit erhobenen Schwertern näherkamen. Ihr Vater hatte ihr eingeschärft, niemals zu versuchen mit Strauchdieben zu verhandeln. »Solche Männer wollen dein Gold, nicht dein Leben. Gib ihnen, was sie verlangen«, hatte er gesagt, »dann wird dir mit ein wenig Glück nichts zustoßen.«
Sie vertraute auf seine Erfahrung und seine Ratschläge. Doch diese Männer verlangten nichts. Schweigend kamen sie näher, zogen den Kreis um sie herum immer enger. Ihre braunen Plaids wurden im Halbdunkel beinahe eins mit dem Wald. Lediglich ihre Gesichter und die schimmernden Klingen waren deutlich im Zwielicht auszumachen. Catriona wollte ihnen sagen, dass sie den kleinen Beutel mit Münzen, den sie bei sich trug, haben konnten. Beim Blick in die Gesichter blieben ihr die Worte jedoch im Hals stecken. Das waren nicht die Mienen von Räubern. Da war keine Gier, nur grimmige Entschlossenheit. Keiner sagte ein Wort. Niemand forderte sie auf, ihre Habe herauszugeben. Die Erkenntnis griff mit eisiger Hand nach ihr. Dies war kein Überfall! Diese Männer würden sie töten!
Als der Erste nah genug heran war, um anzugreifen, holte Catriona aus und trat nach ihm. Sie traf ihn vor der Brust. Während er unter der Wucht ihres Angriffs zurücktaumelte, packte sie ihren Zügel fester und trieb das Pferd an. Wenn die Männer den Weg nicht aus freien Stücken räumten, würde sie sich mit Gewalt Platz verschaffen!
Ihr Pferd stieg auf und einen Moment sah es so aus, als wolle der Braune ihr nicht gehorchen. Dann jedoch fanden seine Hufe auf den Boden zurück und er preschte los.
»Haltet ihn auf!«, brüllte jemand.
Ihn?
Eine Klinge zischte durch die Luft, gefährlich nah an ihrem Bein vorbei. Catriona riss ihr Pferd nach links, aus der Reichweite eines weiteren Angreifers.
»Los!«, rief sie und trat dem Tier in die Flanken. Einer der Männer vor ihr warf sich zur Seite, ehe sie ihn niederreiten konnte. Ein anderer jedoch bekam den Zügel des Braunen zu fassen, noch ehe es Catriona gelang, durchzubrechen. Mit einem heftigen Ruck kam das Tier zum Stehen. Catriona verlor den Halt. Sie versuchte noch sich an der Mähne festzuhalten, doch sie konnte nicht mehr verhindern, dass sie über den Pferdehals nach vorne abgeworfen wurde. Mit einem dumpfen Laut krachte sie auf den Boden. Der Aufprall riss ihr den Atem aus den Lungen. Glühender Schmerz explodierte in ihrem Oberkörper. Dennoch zwang sie sich sofort wieder auf die Knie. Noch während sie keuchend versuchte, sich zu orientieren, senkten sich tiefe Schatten über sie. Einen Moment glaubte sie, es wären die Silhouetten der Männer, die nun mit ihren Claymores über ihr standen, doch es waren ihre schwindenden Sinne, die zunehmend Licht und Farben aus der Welt trugen und den Pfad vor ihren Augen verschwimmen ließen. Als Catriona begriff, dass sie dabei war, das Bewusstsein zu verlieren, schüttelte sie heftig den Kopf. Schlagartig kehrte das Licht zurück. Ein Geräusch in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel. Der erneute Sturz rettete ihr das Leben. Mit einem kalten Zischen raste die Klinge eines Claymores kaum eine Handbreit über ihrem Gesicht durch die Luft. Catriona rollte sich zur Seite, dabei rutschte ihr die Kapuze vom Kopf. Ihre langen braunen Locken glitten heraus und nahmen ihr die Sicht. Hastig strich sie sie zurück.
»Das ist ein Mädchen!« Der Mann, dessen Klinge sie gerade entgangen war, hielt mitten im Schlag inne und starrte sie erschrocken an. Catriona wartete nicht, bis er seine Überraschung überwand. Sie sprang auf die Beine und rannte los, setzte über einen Strauch hinweg und flüchtete sich in den Wald. Hier, zwischen den eng stehenden Bäumen, waren zumindest die Schwerter der Männer nutzlos.
»Schnappt sie euch!«, hörte sie einen ihrer Verfolger rufen.
»Ein Mädchen?«, widersprach derjenige, der gerade noch versucht hatte, sie zu töten.
»Du kennst unseren Auftrag!«
Catriona war noch immer schwindlig. Mehr als einmal drohten ihre Beine nachzugeben, dennoch zwang sie sich weiter voran. Immer wieder musste sie sich an einem Baumstamm abstützen, um nicht zu straucheln. Nach einigen Metern hatte sie den Schwindel jedoch überwunden und war wieder Herrin ihrer Sinne. Sie beschleunigte ihren Schritt. Bäume und Sträucher flogen an ihr vorbei. Immer wieder verfingen sich ihre Locken an tief hängenden Ästen. Catriona lief einfach weiter. Die Stimmen ihrer Verfolger waren leiser geworden, doch sie waren längst nicht verklungen. Catriona lief schnell, doch die Gegend war ihr nicht vertraut. Jeder Richtungswechsel konnte sich als Fehler herausstellen, ebenso falsch konnte es sein, immer geradeaus weiterzulaufen. Was, wenn sich diese Kerle aufteilten und ihr den Weg abschnitten?
Was zum Teufel wollt ihr? Was war das für ein Auftrag, von dem der eine gesprochen hatte? Zweifelsohne ging es darum, sie zu töten. Aber warum? Wussten diese Männer, wessen Tochter sie war? Dann hätte es sie nicht erstaunen dürfen, dass ich kein Mann bin!
Wenn es ihr gelang, diese Kerle abzuschütteln und sich ein Versteck zu suchen, konnte sie ihnen womöglich entkommen. Wenn sie sie jedoch einholten, war ihr Leben verwirkt. Diese Männer waren Krieger, keine Strauchdiebe!
Es fiel Catriona schwer, zu sagen, wie weit ihre Verfolger entfernt waren. Manchmal schnitten ihre Stimmen durch den Wald, wurden von den Stämmen zurückgeworfen und hallten in vielfachen Echos wider. Dann wieder glichen sie einem vom Buschwerk gedämpften Wispern, das aus weiter Entfernung zu kommen schien. Mal glaubte sie, eine Stimme unmittelbar hinter sich zu vernehmen, das nächste Mal schien sie weit entfernt.
Sie haben sich aufgeteilt!
Catriona verlangsamte ihren Schritt ein wenig. Als sie niemanden entdecken konnte, hielt sie inne. Im Schatten einer Eiche, eng an den Stamm gedrängt, sah sie sich um. Nur wenige Schritte entfernt lichtete sich der Wald. Dahinter öffnete sich das Land zu einer weiten grünen Ebene. Wenn sie weiterlief, verlor sie den Schutz der Bäume. Änderte sie die Richtung, riskierte sie, den Männern in die Arme zu laufen. Ruhelos wanderte ihr Blick über die schattigen Baumreihen vor sich, während sie versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Von Zeit zu Zeit vernahm sie ein Knacken oder gedämpfte Stimmen. Dann machte sie eine Bewegung im Unterholz ganz in der Nähe aus. Einen Atemzug später trat einer ihrer Verfolger aus dem Dickicht. Catriona verbarg sich hinter der Eiche, dicht an den Stamm gepresst, und betete, dass er sie nicht gesehen hatte. Sie hörte, wie er sich seinen Weg auf sie zu bahnte. Bald schon war er so nah, dass sie seine Atemzüge vernahm. Wie weit war er noch entfernt? Stand er bereits auf der anderen Seite der Eiche und würde sie jeden Augenblick packen? Das Geräusch seiner Schritte, eine Mischung aus leisem Knacken und gedämpftem Rascheln, verstummte. Catriona hielt den Atem an und drängte sich enger an den Baumstamm. Ihre Augen flogen über den Waldboden, auf der Suche nach etwas, was sie als Waffe benutzen konnte, und blieben an einem dicken Ast von der Länge eines Arms hängen. Noch immer war es still. Sie musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass er stehen geblieben war und ihr auflauerte. Sie konnte es spüren. All ihre Sinne warnten sie vor der Gefahr, dennoch hielt sie einen weiteren Augenblick inne.
Dann bewegte er sich wieder. Einen Herzschlag später schoss ihr ein Paar Arme entgegen und trachtete danach, sie zu fassen. Catriona duckte sich und sprang vor. Noch im Laufen hob sie den dicken Knüppel vom Boden auf und fuhr damit herum. Ihr überraschender Angriff zwang den Krieger zurück. Zugleich brüllte er: »Sie ist hier!«
Das Echo seiner Worte war noch nicht gänzlich verklungen, da geriet Bewegung in die Schatten des Waldes. Jetzt gab es nur noch einen Weg, den sie nehmen konnte: Raus aus dem Wald!
Den Knüppel noch immer in der Hand wirbelte sie herum und rannte los, dem Waldrand entgegen. Mit einem Sprung überwand sie einen Busch, dann stolperte sie zwischen den Bäumen hervor auf eine Wiese. Ein Stück vor ihr wand sich der Weg, den sie zu Beginn ihrer Flucht hinter sich gelassen hatte, wie ein braunes Band durch das Gras. Während sie über die Wiese jagte, sah sie sich nach einem Ausweg um. Doch wie sollte sie sich verstecken, wenn ihr Verfolger, der jetzt hinter ihr den Wald verließ, sah, wohin sie lief? Während sie noch die Aussichtslosigkeit ihrer Lage verfluchte, erblickte sie ihren Braunen, der grasend in der Nähe des Weges stand. Wenn sie das Pferd erreichte, konnte es ihr gelingen, zu entkommen!
Obwohl die Verfolgungsjagd ihr einen Großteil ihres Atems genommen hatte, brachte sie es fertig, einen Pfiff auszustoßen, der laut genug war, die Aufmerksamkeit des Pferdes auf sich zu ziehen. Als der Braune sie sah, trottete er ihr gemächlich entgegen.
Catriona blieb mit dem Fuß in einem Erdloch hängen. Sie knickte um, geriet ins Straucheln und schlug der Länge nach hin. Während sie versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, sah sie sich um. Von den anderen Männern war noch nichts zu sehen. Einer jedoch war dicht hinter ihr. Nah genug, um zuzuschlagen! Als er die Waffe hob, wirbelte Catriona den Knüppel herum. Der Prügel prallte gegen seine Waffenhand. Mit einem überraschten Aufschrei riss er den Arm zurück und ließ sein Claymore fallen. Catriona ließ den Ast ein weiteres Mal durch die Luft sausen, ein hoffnungsloser Versuch, ihn auf Abstand zu halten. Fluchend und erstaunlich behände für einen Mann seiner Größe sprang der rotblonde Hüne zurück. Ehe sie erneut zuschlagen konnte, warf er sich ihr entgegen. Catriona ließ den Ast fallen und fuhr herum. Ich muss das Pferd erreichen! Sie war noch keine zwei Schritt weit gekommen, als sie gepackt und herumgerissen wurde. Halb erwartete sie erneut, eine blitzende Klinge vor sich zu sehen, doch er hatte sich nicht die Zeit genommen, sein Schwert wieder aufzuheben. Stattdessen raste ihr seine Faust entgegen. Der Schlag traf sie an der Wange und warf sie zu Boden. Sie versuchte sich wieder aufzurappeln, doch es war, als hätte ihr der Fausthieb alle Kraft geraubt. Jede Bewegung fiel ihr schwerer als die davor. Ihre Gedanken verschwammen zu belanglosen, weit entfernten Gespinsten. Catriona wollte ihn anflehen, sie zu verschonen, doch die Furcht raubte ihr die Worte. Was hatte sie diesem Mann noch entgegenzusetzen? Benommen wälzte sie sich auf den Rücken. Er sollte ihr zumindest ins Gesicht sehen, wenn er sie schon umbrachte!
Ein Schatten legte sich über sie, als der Krieger nähertrat. Sein rotblondes Haar schimmerte wie flüssiges Gold im Sonnenlicht. Einen Moment noch ruhten seine Augen auf ihr. Dann zog er ein Sgian Dubh. Der Anblick der schlanken silbernen Klinge brachte ihr die Fähigkeit zurück, sich zu artikulieren.
»Bitte«, stieß sie hervor. »Tut das –«
Ein lauter Ruf ließ sie schlagartig verstummen. Der Hüne sah auf. Einen Herzschlag später setzte ein Pferd über Catriona hinweg und zwang den Krieger zur Seite zu springen. Doch es war nicht ihr Brauner, sondern ein anderes Tier, in dessen Sattel ein fremder Krieger saß. Ein Claymore schwingend wendete er sein Tier sofort wieder und sprengte Catrionas Angreifer entgegen. Die Klinge grub sich in die Schulter des Rotblonden und schickte ihn zu Boden. Abrupt zügelte der Reiter sein Pferd vor Catriona. Ein schlanker Mann, in dessen langem braunem Haar sich erste silberne Strähnen zeigten.
»Könnt Ihr aufstehen?«
Einen Moment noch starrte sie ihn verwirrt an, dann gewann sie ihre Fassung zurück und nickte. Ein wenig umständlich kämpfte sie sich auf die Knie. Am Waldrand wurden Rufe laut.
»Rasch!«
Schwäche, Schmerz und Erleichterung über die plötzliche Hilfe rissen den Damm ihrer Selbstbeherrschung nieder. Mit einem Mal zitterte Catriona so sehr, dass es ihr nicht sofort gelang, auf die Beine zu kommen. Da beugte sich der Reiter zur Seite, packte sie beim Arm und hob sie mit einer Leichtigkeit vor sich in den Sattel, als wöge sie nichts.
»Festhalten!« Noch während ihre Verfolger am Waldrand ihre Waffen zückten, schlang ihr Retter einen Arm um Catrionas Taille, riss sein Pferd herum und trieb es dem Weg entgegen.
Sie folgten der Straße ein ganzes Stück. Eine Zeit, in der Catriona gegen das Zittern ankämpfte, das sich einfach nicht mehr vertreiben lassen wollte. Sie versuchte die Furcht zu verdrängen und zu verstehen, was geschehen war. Du kennst unseren Auftrag!, hatte einer der Männer gesagt. Das war kein Überfall gewesen. Aber was hatten sie mit ihrem Angriff bezweckt? Von welchem Auftrag war die Rede gewesen?
Immer wieder wandte sie den Kopf zur Seite und tat, als beobachte sie die Umgebung. In Wahrheit jedoch musterte sie verstohlen ihren Retter. Zuvor hatte sie hauptsächlich das Schwert in seiner Hand gesehen. Nun nahm sie sich zum ersten Mal die Zeit, seine Züge zu betrachten. Er war kein Jüngling mehr, doch er war weit jünger, als sie zunächst angenommen hatte. Die gebräunte Haut war glatt, lediglich um die grauen Augen herum hatten sich einige feine Linien eingegraben. Die dünnen Silberfäden, die sein dunkles Haar durchzogen, hatten sie einen alternden Recken sehen lassen, doch dieser Mann war noch einige Jahre von seinem vierzigsten Sommer entfernt.
Jetzt, da er sein Claymore am Sattel befestigt hatte, wirkte er nicht länger wie ein grimmiger Krieger. Sorge brannte in seinem Blick. Immer wieder sah er sich um. Erst als auch nach einiger Zeit niemand hinter ihnen auszumachen war, ließ er das Pferd in eine langsamere Gangart fallen, ehe er es schließlich zügelte und seine Aufmerksamkeit auf Catriona richtete.
»Seid Ihr verletzt?«
»Nicht ernsthaft.« Ihre Wange schmerzte dort, wo sie der Hieb getroffen hatte, ihre Hände waren klebrig vom Harz und ihr Haar voller Erde und Kiefernnadeln. Doch abgesehen davon, dass sie erschöpft war, schien ihr nichts weiter zu fehlen.
Er drehte ihr Gesicht zur Seite und betrachtete ihre Wange. »Habt Ihr Schmerzen?«
»Ein wenig«, bekannte sie. Zweifelsohne würde es schlimmer werden, wenn sie erst zur Ruhe kam. Im Augenblick jedoch war es zu ertragen. »Ohne Eure Hilfe wäre es weit schlimmer gekommen. Ich danke Euch.«
»Ich bin zu spät gekommen«, sagte er bedauernd.
»Wenn Ihr mich fragt, seid Ihr genau zur rechten Zeit da gewesen.«
Er schüttelte den Kopf. »Es war meine Aufgabe, Euch abzuholen und sicher nach Dunvegan zu geleiten«, widersprach er. »Wäre ich rechtzeitig da gewesen, hätten diese Männer niemals gewagt, Euch zu überfallen!«
»Dann seid Ihr Duncan?«
»Verzeiht, ich vergaß meine Manieren«, sagte er und verneigte sich leicht im Sattel. »Duncan MacLeod, zu Euren Diensten.«
»Ich vermute, der Kerl mit dem Sgian Dubh hätte nicht gewartet, bis Ihr Euch vorgestellt habt«, entgegnete Catriona trocken.
Ihre Worte entlockten Duncan ein Grinsen. »Nein, vermutlich nicht. Wie ich sehe, seid Ihr eine ausgesprochen praktisch denkende und verständnisvolle Frau.«
Catriona schob das Brett mit Braten und Brot von sich. Obwohl sie hungrig war, hatte sie das Mahl kaum angerührt. Sie war einfach zu müde, um zu essen.
Nach ihrer Ankunft auf Dunvegan hatte Daina sie auf dem Hof empfangen. Ihre Schwägerin war über den erblühenden Bluterguss auf Catrionas Wange und ihre mitgenommene Erscheinung entsetzt gewesen. Noch auf dem Weg zur Burg hatte Catriona Duncan gebeten, Daina nichts von dem Überfall zu erzählen, um sie nicht unnötig zu beunruhigen.
»Sie wird ohnehin davon erfahren«, hatte Duncan zu bedenken gegeben. »Ich muss dem Chief die Ereignisse berichten. Dann werde ich einen Trupp zusammenstellen und nach diesen Männern suchen. Früher oder später wird sich herumsprechen, was geschehen ist.«
Catriona musste ihm recht geben. Deshalb entschied sie sich Daina die Wahrheit zu sagen – auch wenn ihr davor graute, mit Fürsorge und Mitleid überschüttet zu werden. Zu ihrer Erleichterung blieb Duncan an ihrer Seite, als Daina sie in die Gemächer führte, die Catriona während ihres Besuchs bewohnen sollte. Obwohl sie dem Krieger heute zum ersten Mal begegnet war, fühlte sie sich in seiner Nähe wohl. Seine Anwesenheit vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit, das sie nach den zurückliegenden Ereignissen dringend benötigte. Während Daina den Bluterguss untersuchte und ihr Umschläge mit eisigem Quellwasser auf die Schwellung legte, berichtete Catriona ihm noch einmal ausführlich, was sich im Wald zugetragen hatte.
Nachdem sie mit ihrer Geschichte zum Ende gekommen war, verabschiedete Duncan sich. Allein in Dainas Obhut fürchtete Catriona, ihre Schwägerin würde nun dazu übergehen, sie mit ihrer Sorge zu überschütten. Zu ihrem Erstaunen erkundigte sich Daina zwar nach ihrem Befinden und wechselte immer wieder die kalten Umschläge, doch dabei wirkte sie ungewöhnlich abwesend. Catriona bekam keine Gelegenheit, das merkwürdige Verhalten ihrer Schwägerin zu hinterfragen. Sie war so erschöpft, dass sie bald einschlief. Ihr blieb gerade noch genug Zeit, sich nach Eoin zu erkundigen und zu erfahren, dass er im Augenblick nicht auf Dunvegan war.
Bald schon hatte Daina sie wieder geweckt. Es war Zeit für das Abendessen in der Großen Halle. Zu gerne hätte Catriona sich zurückgezogen und noch ein paar Stunden geschlafen. Sie war trotz des Schlafes müde und wünschte sich, den Schrecken zu vergessen, der ihr auch jetzt noch in den Knochen saß. Da sie jedoch nicht unhöflich sein wollte, machte sie sich frisch und zog den rostroten Rock und das Hemd an, das Daina ihr brachte. In der Hoffnung, die Ablenkung möge ihr guttun, begleitete sie ihre Schwägerin nach unten, um sich den neugierigen Blicken der Anwesenden zu stellen. Obwohl sie von niemandem auf die Ereignisse angesprochen wurde, war doch deutlich zu sehen, dass sich die Kunde bereits herumgesprochen haben musste.
Catriona unterdrückte ein Seufzen und nahm sich vor, sich bei der ersten Gelegenheit zurückzuziehen. Solange die Leute jedoch noch zu Tisch saßen, war daran nicht zu denken.
Ihr Blick schweifte durch die niedrige Halle, streifte über die grauen Mauersteine und die hufeisenförmige Tafel aus dunklem Eichenholz. Sie saß an einer der Längsseiten, zur Rechten ihrer Schwägerin. Abgesehen von Daina fanden ihre Augen nur fremde Gesichter. Die Männer in Plaids gehüllt, ein Wacholderzweig, das Clanszeichen der MacLeods von Skye, zierte die meisten Kappen. Einige der jüngeren Frauen waren in Kleider aus englischer Seide gewandet, die so teuer erschienen, dass Catriona sich in ihren schlichten Gewändern beinahe Fehl am Platz fühlte. Doch dazu bestand kein Grund. Es war nichts weiter als ein gewöhnliches Abendessen, kein feierliches Bankett, das es gerechtfertigt hätte, sich derart herauszuputzen.
Catriona sah zu ihrer Schwägerin. Daina wirkte noch immer ungewöhnlich still. Als würde sie etwas bedrücken. Die meiste Zeit hielt sie die Augen auf den Tisch gesenkt und stocherte lustlos in ihrem Essen. Sie hatten einander seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen – damals waren Daina und Eoin nach Islay gekommen, um sich auf Burg Finlaggan im Kreise von Eoins Familie zu vermählen. Nach dieser langen Zeit, die sie einander nicht mehr begegnet waren, erschien ihr Dainas Schweigen umso verwunderlicher. Auch wenn Daina sie herzlich begrüßt und sich um sie gekümmert hatte, konnte sich Catriona des Eindrucks nicht erwehren, dass etwas nicht stimmte.
Obwohl Daina mit ihren achtzehn Sommern lediglich ein Jahr älter als Catriona war, hätten die beiden kaum unterschiedlicher sein können. Catriona, die unter Brüdern aufgewachsen war, hatte gelernt für ihre Belange zu kämpfen. Ihre Eltern hatten sie stets darin bestärkt, für ihre Überzeugungen einzutreten. Ein oft anstrengendes Unterfangen, wenn jedes der Geschwister eine andere Ansicht vertrat. Daina hingegen war sehr zurückhaltend. Sie äußerte nur selten ihre Meinung und wenn sie es tat, geschah dies unter vier Augen. Vermutlich hat Eoin sich deshalb von Anfang an zu ihr hingezogen gefühlt.
»Wie geht es Sessany und Alasdair?«, erkundigte sich Daina plötzlich.
Catriona sah auf. Es erstaunte sie, dass die Frage nicht schon viel früher gekommen war. »Es geht ihnen gut. Sie lassen dich herzlich grüßen und würden sich freuen, wenn ihr uns bald auf Finlaggan besuchen würdet.«
»Das wäre schön, doch zuerst möchten wir meinen Vater auf Tokavaig besuchen. Gleich nach deiner Abreise brechen wir auf.«
»Eine Reise?«, mischte sich Catrionas Tischnachbar, ein älterer Clansmen mit struppigem grauem Haar und ebenso hellen Bartstoppeln ein. »Wie schön!«
Statt zu antworten, begann Daina wieder mit dem Tischdolch in ihrem Braten zu stochern. Catriona schenkte dem Mann ein kurzes Lächeln, ehe sie sich abwandte.
»Wann wird Eoin zurückerwartet?«, meinte sie nach einer Weile. Schon seit Wochen hatte sie sich darauf gefreut, ihren Bruder wiederzusehen. Zu hören, dass er nicht auf Dunvegan war, hatte sie enttäuscht. »Wo ist er überhaupt?«
»Callum, der Bruder des Chiefs, brach mit ihm und einigen Clansmen auf, um auf den Ländereien nach dem Rechten zu sehen«, erklärte Daina so leise, dass ihre Worte beinahe im Summen der um sie herum geführten Gespräche untergingen. »Das ist nichts Ungewöhnliches.«
Warum betonst du es dann so sehr? »Gibt es Ärger?«
Daina schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht. Aber Callum und die Clanskrieger sind heute zurückgekehrt – ohne Eoin.«
»Ist ihm etwas zugestoßen?«
»Nein«, sagte Daina hastig. »Er hat noch eine andere Aufgabe bekommen, ehe er zurückkehren kann.«
Warum war Daina dann so angespannt? Schlagartig sah Catriona das Bild des rotblonden Hünen vor sich, der sie um ein Haar umgebracht hatte. Natürlich macht sie sich Sorgen!, schalt Catriona sich für ihre Gedankenlosigkeit. Eoin ist allein unterwegs! Nachdem sie von den Gesetzlosen gehört hat, die sich dort draußen herumtreiben, fürchtet sie, dass ihm etwas zustößt. »Hab keine Angst, Daina. Er kann auf sich aufpassen.« Abgesehen davon war Eoin noch immer ein MacDonald. Er war einer der Söhne des Herrn der Inseln! Niemand würde sich ihren Vater zum Feind machen wollen!
»Du hast sicher recht.« Daina strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hoffe nur, dass er bald zurückkehrt. Er fehlt mir einfach.«
Catriona nickte abwesend. Ihr Blick wanderte zum Stuhl des Chiefs, am Kopfende der Tafel. Sein Platz war ebenso verwaist wie die beiden Stühle daneben. Aidan ist jetzt der Chief. Ihr Freund aus Kindertagen war seinem Vater Malcolm sechs Monate nach dessen Tod offiziell auf den Stuhl des Chiefs gefolgt. Aidan war nun der Herr von Dunvegan und der Chief der MacLeods von Harris und Skye. Nach all den Jahren freute sie sich darauf, auch ihn wiederzusehen.
Vor nunmehr drei Jahrzehnten war Catrionas Vater vom Rat der Chiefs zum Herrn der Inseln, dem ungekrönten König der westlichen Highlands, ernannt worden. Um die Clans enger an sich zu binden und das gegenseitige Vertrauen zu stärken, hatte er seine Söhne, kaum dass sie zehn Jahre alt waren, zu den verbündeten Chiefs geschickt, damit sie in deren Familien aufwuchsen. Eoin war damals zusammen mit ihrem Ziehbruder Sileas nach Dunvegan gegangen. Die Chiefs schickten ihrerseits ihre Sprösslinge nach Finlaggan. Aidan MacLeod war einer von ihnen gewesen. Von seinem zehnten bis zu seinem sechzehnten Sommer war er bei ihrer Familie aufgewachsen. Catriona, damals vier Jahre alt, hatte ihn vom ersten Tag an vergöttert. Zweifelsohne war er es oft leid gewesen, sich mit einer kleinen Göre abzugeben, die so viel jünger war als er, und hätte sich lieber mit den anderen Jungen herumgetrieben. Doch Catriona hatte wie eine Klette an ihm gehangen. Von allen Pflegesöhnen ihres Vaters hatte sie ihn am liebsten gemocht. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie geduldig er ihr Geschichten erzählt hatte. Die meisten waren erfunden, doch das hatte sie nie gestört. Es hatte ihr immer gefallen, ihm zuzuhören. Wenn sie aufgebracht oder traurig gewesen war, hatte seine Stimme sie beruhigt und getröstet. Er hatte sie zum Lachen gebracht und ihr zugehört, als wäre sie erwachsen. Wenn sie an Aidan dachte, erinnerte sie sich an ein Paar tief blauer Augen, ein warmherziges Lächeln und die Fähigkeit, ein kleines Mädchen zu trösten, wann immer es traurig war.
Catriona war gerade zehn geworden, als er nach Dunvegan zurückgerufen wurde. Sein Vater war schwer erkrankt und brauchte die Unterstützung seines Erben. Am Tag seiner Abreise hatte sie schrecklich geweint.
In den folgenden Jahren war Aidan des Öfteren auf Islay gewesen, um im Rat der Inseln für seinen Vater zu sprechen, der zu krank für die lange Reise war. Anfangs war er zu dieser Gelegenheit auch nach Finlaggan gekommen, um Catriona und ihrer Familie seine Aufwartung zu machen. Nach dem ersten Jahr hörten diese Besuche allerdings auf. Wann immer der Rat tagte, hoffte Catriona ihn wieder zu sehen, doch obwohl er bei keiner Versammlung fehlte, war er nie wieder zu ihr gekommen.
Die Burg ihres Vaters lag auf einer Insel inmitten des Loch Finlaggan. Nur wenige Meter entfernt ragte die Ratsinsel aus dem See – jener Ort, an dem sich die Chiefs zu ihren Zusammenkünften trafen. Früher hatte Catriona zweimal im Jahr, wenn die Chiefs zusammenkamen, am Fenster gestanden und nach Aidan Ausschau gehalten. Anfangs hatte sie sich gefreut, ihn für wenige Augenblicke – wenn auch nur aus der Ferne – wiederzusehen. Im Laufe der Jahre jedoch veränderte sich etwas an der Art, wie sie Aidan sah. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie an ihn dachte und sich ausmalte, wie es wäre, an seiner Seite zu leben. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass ihr Vater Aidan und sie eines Tages miteinander vermählen würde. Das Bündnis mit den MacLeods war für ihn von großer Bedeutung. Dann hatte sich Eoin entschlossen auf Skye zu bleiben und plötzlich war es nicht mehr nötig, die Verbindung der beiden ohnehin in Freundschaft verbundenen Clans noch zusätzlich durch eine Heirat zu festigen.
Die meisten Chiefs holten ihre Söhne nach Hause, sobald sie erwachsen waren. Einzig Eoin kehrte nicht zurück. Er und Aidan waren Freunde geworden und während der schweren Krankheit von Aidans Vater hatte Eoin das Gefühl gehabt, Aidan könne die Unterstützung eines Freundes benötigen. Sileas, der selten etwas ohne Eoin tat, war ebenfalls geblieben. Catriona hatte nichts anderes erwartet. Für Sileas war Eoin die wichtigste Bezugsperson in seinem Leben. Es war nicht so, dass er sich anderen gegenüber verschloss, doch er war schon früher stets ernst und hatte immer erwachsener gewirkt als andere Jungen seines Alters. Womöglich wird man schneller erwachsen, wenn man seine Eltern gleich nach der Geburt verliert. Catrionas Eltern hatten nie viel darüber gesprochen. Es schien einen Unfall gegeben zu haben, den Sileas – damals gerade wenige Monate alt – als Einziger überlebte. Wer seine Eltern waren und woher er kam, hatte Catriona nie erfahren. Sie wusste nur, dass ihr Vater und ihre Mutter Mitleid mit dem armen Säugling gehabt und ihn an Kindesstatt in ihrem Hause aufgenommen hatten. Für Catriona war er wie ein fünfter Bruder. Zu ihm und Eoin hatte sie die engste Bindung. Den anderen Geschwistern, die ihn als Kinder oft gehänselt hatten, war Sileas stets mit Vorsicht begegnet und wenn möglich aus dem Weg gegangen. Eoin und Catriona schienen die Einzigen zu sein, die Sileas' Ernsthaftigkeit akzeptierten und damit umgehen konnten.
Als sich die beiden damals entschlossen, auf Dunvegan zu bleiben, hatte sie das schmerzliche Gefühl gehabt, gleich zwei Brüder zu verlieren. Es war Unsinn, sie konnte die beiden besuchen, wann immer sie wollte – dennoch hatte sie das bisher nicht getan.
Ebenso wenig wie ich Aidan besucht habe.
Wann immer Aidan in den letzten Jahren zur Ratsinsel gekommen war, hatten ihre Pflichten sie davon abgehalten, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Doch da war noch immer ein warmes Gefühl in ihr, wenn sie an ihn dachte – als tanzten unzählige Schmetterlinge flügelschlagend in ihrem Innersten.
»Er wird nicht mehr kommen.«
Dainas Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Catriona wandte den Kopf und sah ihre Schwägerin verwirrt an. »Was?«
»Der Chief«, erklärte Daina mit gedämpfter Stimme. »Er nimmt seine Mahlzeiten nie hier ein. Auch wenn die«, sie deutete unauffällig in Richtung der herausgeputzten Frauen, »es nicht wahrhaben wollen.«
Das war also der Grund für all den Putz. Wenn sie jedoch in die Gesichter der Frauen blickte, entdeckte sie darin lediglich Gleichmut. Sollten sie nicht enttäuscht sein, dass er nicht hier ist? In den mürrischen Gesichtern der älteren Männer daneben fand Catriona die Antwort. Es waren nicht die Töchter, die sich für Aidan interessierten, sondern die Väter. Ein Bündnis mit den MacLeods würde ihnen Wohlstand und Einfluss bescheren.
Catriona ließ ihren Blick weiter durch die Halle wandern. Auf der gegenüberliegenden Seite der Tafel blieben ihre Augen an einem blonden Mann hängen, der sie über den Tisch hinweg musterte. Als sich ihre Blicke kreuzten, lächelte er. Dabei wirkte er so freundlich, dass Catriona nicht anders konnte, als sein Lächeln zu erwidern. Dann wanderten seine Augen weiter und richteten sich auf Daina. Als Daina es bemerkte, senkte sie rasch den Blick.
»Wer ist das?«, fragte Catriona leise.
»Niemand«, gab Daina zurück, ohne aufzusehen.
Catriona runzelte die Stirn. »Daina, was ist eigentlich los?«
»Nichts«, behauptete Daina, doch ihre Hände, die sich unter dem Tisch in den Stoff ihres Rocks gruben, straften sie Lügen.
»Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt.«
»Nein, wirklich … Es geht mir gut. Ich bin nur aufgeregt nach allem, was dir heute zugestoßen ist.« Sie sprang so heftig auf, dass sie fast ihren Stuhl umgeworfen hätte. »Entschuldige mich einen Moment. Ich bin gleich zurück.« Ehe Catriona Gelegenheit fand, etwas zu erwidern, verließ Daina mit raschen Schritten die Halle. Nachdem sie bereits die ganze Zeit über ungewöhnlich bedrückt gewirkt hatte, schien es, als hätte der Blick des Blonden die mühsam aufrecht erhaltene Fassade mit einem Schlag zum Einsturz gebracht. Obwohl es Catriona danach drängte, ihr zu folgen und nach dem Grund ihres rätselhaften Verhaltens zu fragen, blieb sie sitzen. Sie wollte ihrer Schwägerin ein wenig Zeit lassen, sich zu beruhigen. Zumindest wusste sie jetzt, dass sie sich nicht geirrt hatte: Etwas stimmte nicht.
Sollte ich mir doch Sorgen um Eoin machen?
Ihre Augen richteten sich auf den Platz des Blonden. Sein Stuhl war verlassen. Catriona sah sich in der Halle um, doch sie konnte ihn nirgendwo entdecken. War er Daina gefolgt? Catriona hielt es nicht länger aus. Sie erhob sich und verabschiedete sich mit einem Nicken von ihrem Tischnachbarn. Da sie sich zum ersten Mal auf Dunvegan befand und sich hier nicht auskannte, konnte sie nur hoffen, dass sich Daina in ihre Gemächer zurückgezogen hatte. Andernfalls würde es schwierig werden, sie in diesem Labyrinth aus Räumen, Gängen und engen Treppenhäusern zu finden.
Mit einem unangenehmen Gefühl verließ Catriona die Große Halle. Lange Schatten empfingen sie im fensterlosen Gang. Die wenigen Fackeln, die an den Wänden angebracht waren, vermochten es kaum, den Gang der Dunkelheit zu entreißen. Als würde das Mauerwerk einen Großteil des Lichts verschlingen. Catriona schloss die Tür hinter sich und brachte die Unterhaltungen, die ihr aus der Großen Halle gefolgt waren, zum Verstummen. Stille senkte sich über das Gemäuer. Ein kühler Luftzug strich über Catriona hinweg und ließ sie frösteln.
Sie wandte sich nach rechts und folgte dem Gang. Von hier aus würde sie in die Eingangshalle gelangen, an deren anderem Ende ein Treppenhaus nach oben führte. Catrionas Schritte hallten von den Wänden wider. Ehe ein Echo verklang, folgte bereits das nächste. Immer wieder sah sie den Blick des Blonden vor sich. Sein einnehmendes Lächeln, die warmen, freundlichen Augen. Er war ein gut aussehender Kerl. War das der Grund für Dainas Anspannung? Fürchtete sie, ich könne bemerken, dass zwischen ihr und ihm … Unwillkürlich schüttelte Catriona den Kopf. Daina liebte Eoin viel zu sehr. Sie würde ihn niemals hintergehen! Aber warum dann diese heftige Reaktion? Wer war dieser Mann, dass er Daina derart aus der Ruhe brachte?
Catriona war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie erst jetzt bemerkte, wie sich ein weiteres Geräusch unter den Widerhall ihrer Schritte mischte. Die Stimme eines Mannes. Obwohl er gedämpft sprach und sie seine Worte nicht verstehen konnte, entging ihr der bedrohliche Unterton nicht, der in seiner Stimme schwang. Catriona sah sich um. Noch war niemand zu sehen. Sie folgte dem Gang um einen Knick und fand sich in der Eingangshalle wieder.
Der Blonde stand neben dem Durchgang zum Treppenhaus. Er hatte Daina an die Wand gedrängt und ragte vor ihr auf. Als Daina ihm zu entgehen versuchte, packte er sie bei den Schultern und hielt sie fest. Weinend wand sie sich unter seinem Griff, doch er gab sie nicht frei.
»Er ist ein Verräter!« Die Worte verließen den Mund des Blonden, bedrohlich wie eine zischende Schlange.
»Nein«, rief Daina unter Tränen. »Das ist nicht wahr!«
»Lügt mich nicht an!« Speicheltropfen sprühten aus seinem Mund und benetzten Dainas Gesicht. »Ihr steckt doch mit ihm unter einer Decke!«
»Nein«, wimmerte Daina immer wieder, so leise, dass die Worte kaum mehr zu vernehmen waren. Sie wandte den Kopf ab und schien einer Ohnmacht nahe zu sein.
»Was geht hier vor?«, verlangte Catriona zu wissen.
Der Blonde bedachte sie mit einem flüchtigen Blick, ehe er sich erneut Daina zuwandte. »Redet!«, fuhr er sie an.
Catriona schoss vor. »Loslassen!« Mit einem Ruck streifte sie seine Hände von Dainas Armen, packte ihre Schwägerin und zog sie hinter sich. Sie spürte, wie Daina unter ihrem Griff zitterte. »Wenn Ihr nicht wollt, dass ich die Wachen alarmiere«, sagte sie an den Blonden gewandt, »verschwindet Ihr jetzt besser.«
Die Freundlichkeit, die zuvor in seinen dunklen Augen gelegen hatte, war einem bedrohlichen Ausdruck gewichen. »Du solltest dich nicht in Dinge mischen, die dich nichts angehen, Mädchen.«
»Droht Ihr mir?«
»Nur ein freundlich gemeinter Rat«, erwiderte der Blonde kalt lächelnd.
»Dann lasst mich Euch ebenfalls eine Anregung geben: Versucht nicht, jemandem Ratschläge zu erteilen, wenn Ihr nicht wisst, mit wem Ihr es zu tun habt.«
Ehe der Blonde etwas erwidern konnte, wandte sich Catriona ab und schob Daina vor sich her. Durch den niedrigen Steinbogen betraten sie das düstere Treppenhaus. Catriona führte Daina die steil gewundenen Stufen hinauf in ihre Gemächer. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, sank Daina weinend auf die Bettkante und vergrub das Gesicht in den Händen. Catriona setzte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Willst du mir jetzt erzählen, was los ist?«, fragte sie sanft.
»Es ist … so … schrecklich«, schluchzte Daina und warf sich Catriona in die Arme. Die Tränen kamen immer schneller, benetzten Catrionas Kleider und nahmen ihrer Schwägerin die Sprache. Am liebsten hätte Catriona sie geschüttelt, bis sie ihr endlich sagte, was der Blonde von ihr gewollt hatte. Doch Daina war nicht imstande, auch nur ein Wort herauszubringen. So konnte Catriona nichts weiter tun, als ihre Schwägerin festzuhalten und ihr beruhigende Worte ins Ohr zu flüstern. Es dauerte lange, bis sich Daina beruhigte. Als die Tränen endlich versiegten, war sie so erschöpft, dass sie sich kaum noch aufrechthalten konnte. Catriona half ihr sich niederzulegen und breitete die Decke über ihr aus.
»Schlaf ein wenig«, sagte sie ruhig. »Morgen sprechen wir über alles.«
Daina rollte sich unter der Decke zusammen und war sofort eingeschlafen. Catriona zog sich einen Sessel heran. Eine Weile wachte sie über Dainas unruhigen Schlaf. Er ist ein Verräter! Wer war damit gemeint? Eoin? Warum war der Blonde Daina so heftig angegangen?
Schließlich ertrug sie es nicht länger, herumzusitzen. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass Daina fest schlief, dann schlüpfte sie aus dem Gemach. Einen Moment noch stand sie unentschlossen auf dem Gang und spielte mit dem Gedanken, ihr eigenes Schlafgemach aufzusuchen. Da sie im Augenblick ohnehin keine Ruhe finden würde, ging sie stattdessen zur Treppe und folgte den Stiegen nach unten.
Sie verließ das Haupthaus und hielt auf dem Hof inne. Es war beinahe Juni und der Sommer hatte Skye fast erreicht, sodass es selbst jetzt, zu fortgeschrittener Stunde, noch immer hell war. Für einen Moment lauschte sie dem entfernten Rauschen der Brandung, die sich unterhalb der Mauern Dunvegans an den Klippen brach, und erfreute sich an der salzigen Brise, die ihr erhitztes Gesicht kühlte. Ihre Augen strichen über die massigen Burgmauern, deren rotbrauner Stein in der Abendsonne zu glühen schien, und wanderten hinauf zum Turm, in dem die Gemächer des Chiefs lagen. Ein schwacher Lichtschimmer fiel durch eines der Fenster nach draußen und kündete von seiner Anwesenheit.
Womöglich war es an der Zeit, Aidan zu begrüßen. Sicher würde er hören wollen, wie sie den Angriff heute Nachmittag erlebt hatte. Als sie näherkam, nahmen die beiden Wachen, die vor dem Turmzugang postiert waren, Haltung an und versperrten ihr mit ihren Speeren den Weg.
»Der Chief empfängt zu dieser Stunde keinen Besuch«, sagte einer der beiden, ein hagerer Krieger mit nur einem Auge.
»Womöglich macht er eine Ausnahme. Seid bitte so freundlich und sagt ihm, dass –«
»Wir sind Wachen – keine Boten«, erwiderte der Zweite schroff. Er war so massig, dass er in seinem dunkelbraunen Plaid mehr Ähnlichkeit mit einem Bären als mit einem Menschen hatte.
Für einen Moment konnte Catriona die beiden nur anstarren. Ihr Vater hätte niemals zugelassen, dass sich seine Wachen derart respektlos benahmen. Der Einäugige schien ihre aufkeimende Verärgerung zu bemerken. »Hamish hat es nicht böse gemeint, Mädel«, meinte er beschwichtigend, ohne den Weg frei zu geben. Mit einem beinahe entschuldigenden Lächeln fügte er hinzu: »Wir haben Anweisung, niemanden vorzulassen und den Chief nicht zu stören. Wenn Ihr ihn also sehen wollt, nehmt den Weg, den alle nehmen. Sprecht bei seinem Bruder oder Duncan vor. Sie kümmern sich um alles Weitere.«
Obwohl ihr eine scharfe Bemerkung auf der Zunge lag, nickte Catriona nur und machte ohne ein weiteres Wort kehrt. Mit raschen, von Enttäuschung getriebenen Schritten ging sie davon. Bei seinem Bruder vorsprechen! Pah! Ein Chief hatte für seinen Clan da zu sein! Wie konnte er das, wenn er für niemanden zu sprechen war?
Eine Weile streifte sie zwischen den Nebengebäuden hindurch. Im hinteren Teil der Burganlage kam sie an einer kleinen Steinkapelle vorbei und hielt dort für einen Moment inne, ohne das Gotteshaus zu betreten, ehe sie ihren Weg fortsetzte. Die Stille half ihre sich überschlagenden Gedanken ein wenig unter Kontrolle zu bringen. Was war das für ein eigenartiger Tag gewesen? Der Überfall. Eoins Abwesenheit. Daina, die sich irgendwelchen Anschuldigungen ausgeliefert sah, von denen Catriona noch immer nicht wusste, worum sie sich eigentlich drehten. Und Aidan hatte sie bisher nicht einmal aus der Ferne zu Gesicht bekommen.
Je weiter sie sich von der Meerseite entfernte, desto schwächer wurde der Salzgeruch. Stattdessen erfüllte das liebliche Aroma blühenden Stechginsters die Luft, dessen in Gelb gehüllte Sträucher selbst innerhalb der Burganlage an einigen Stellen aus dem Boden wuchsen.
Sie bog um eine Ecke und sah, wie ein Mann aus dem Stall trat. Auf den ersten Blick schien der hochgewachsene Clanskrieger ein Fremder zu sein. Zugleich wirkte er auf eigenartige Weise vertraut. Das dunkelblonde Haar, die weichen Gesichtszüge, die hellen Augen. All das hatte sie bereits unzählige Male an einem Jüngling gesehen.
»Sileas!«, rief sie erfreut, als sie ihn erkannte.
Als er seinen Namen hörte, wandte er sich um. Einen Moment lang betrachtete er Catriona mit gerunzelter Stirn. »Catriona?«, fragte er vorsichtig und kam langsam näher. »Was machst du denn hier?«
»Ich freue mich auch, dich zu sehen.«
»So war das nicht gemeint.« Sileas blieb vor ihr stehen. Einen Moment noch musterte er sie verwundert, dann umarmte er sie und hielt sie so fest, als wäre sie ein Felsen, der ihn vor dem Ertrinken retten konnte. »Natürlich freue ich mich, dass du hier bist«, sagte er, als er sie wieder freigab, doch das Lächeln auf seinen Lippen vermochte es nicht, seine Augen zu erreichen. Sein Blick blieb an ihrer Wange hängen. »Was ist das?«
»Ich wurde auf dem Weg hierher überfallen.«
»Dann ist es also wahr«, meinte er mehr zu sich selbst. »Es hat sich bereits herumgesprochen, dass ein paar Räuber die Gegend unsicher machen. Allerdings wusste ich nicht, dass du –«
»Es ist ja auch nicht viel passiert. Duncan kam mir rechtzeitig zu Hilfe.«
Sileas nickte abwesend.
Catriona war vier Jahre alt gewesen, als ihr Vater Sileas und Eoin nach Skye geschickt hatte. Seither hatte sie die beiden nur zu Gesicht bekommen, wenn sie auf Islay zu Besuch weilten. Sileas war schon immer ein stiller Junge gewesen, der sich nur in Eoins und ihrer Gesellschaft wirklich wohlzufühlen schien. Sie war daran gewöhnt, ihn grüblerisch und nachdenklich zu sehen, die Anspannung, die sie jetzt in seinen Zügen fand, erschreckte sie jedoch.
»Sileas, was geht hier vor?«
»Wovon sprichst du?« Obwohl er sich alle Mühe gab, ahnungslos zu klingen, gelang es ihm nicht, sie davon zu überzeugen, dass er tatsächlich nichts wusste.
»Daina wirkte den ganzen Tag über schrecklich bedrückt.« In knappen Worten schilderte Catriona Dainas Verhalten und den Zusammenstoß mit dem Blonden.