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Schottland, 14. Jahrhundert: Als sein Bruder wegen Viehdiebstahls hingerichtet werden soll, entführt Eóran die Frau des Chiefs, um die Freilassung seines Bruders zu erzwingen. Doch seine Geisel und sein eigenes Herz drohen, diesen simplen Plan in Gefahr zu bringen. Als Eóran herausfindet, dass der Chief weit mehr im Schilde führt, als nur seine Frau zurückzubekommen, ist nicht nur sein Leben in Gefahr. Eine gnadenlose Jagd nimmt ihren Lauf. Highlands & Islands 2.
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Seitenzahl: 432
Brigitte Melzer
Roman
»Manchmal hasse ich ihn. Dann wünschte ich, er wäre tot.«
»So etwas darfst du nicht einmal denken, Marjorie!« Aonghas MacRae verließ den Platz vor dem Kamin und kniete neben dem Sessel seiner Schwägerin nieder. »Ich bin mir sicher, dass William –«
»Dass er was? Ein guter Ehemann ist?«, fiel sie ihm ins Wort. »Dass er mich liebt?«
Aonghas wusste, dass sein Bruder sie nicht liebte. Für William war sie nicht mehr als die Mutter seiner Söhne und die Frau, die das Land ihres verstorbenen Vaters in die Ehe eingebracht hatte.
Seit Marjorie vor sechs Jahren nach Dun Cunnartach gekommen war, um den Chief zu heiraten, hatte Aonghas keine andere mehr angesehen. Doch das Lächeln, mit dem sie ihn vom ersten Tag an bezaubert hatte, wirkte schon lange traurig und leer. Während der vergangenen Jahre war Aonghas zu ihrem Freund und Vertrauten geworden. Wie sehr er sie liebte, hatte er ihr nie gesagt, denn obwohl er ihr so nahestand, war sie für ihn unerreichbar.
Aonghas griff nach ihren Händen und umfasste sie mit seinen. »Er ist kein schlechter Mensch.« Wie oft hatte er sich diesen Satz in den vergangenen Jahren selbst gesagt? Er hatte sich eingeredet, dass William es einfach nicht besser wusste. Einst waren die MacRaes ein mächtiger, wohlhabender Clan gewesen, doch vom früheren Wohlstand war längst nichts mehr geblieben. Dennoch hatte Aonghas all die Jahre loyal zu seinem Bruder gestanden und – wenn auch zähneknirschend – seine Entscheidungen respektiert. Oft hatten sie hinter verschlossenen Türen gestritten, wenn William einmal mehr ein Vermögen für den Unterhalt seiner Krieger ausgab statt sich um das Wohlergehen des Clans zu kümmern. William hatte nie etwas auf Aonghas’ Meinung gegeben. Statt Bündnisse zu schließen, hatte er sich in kleinlichen Fehden verloren. Jedes Mal, wenn er aufs Neue in den Kampf zog, blieb Aonghas in der Burg zurück und versuchte die Not der Menschen zu mildern, die immer mehr unter der wachsenden Armut zu leiden hatten. Tag um Tag sah er Menschen sterben. Frauen, Kinder, Alte – vom Hunger dahingerafft.
Wie lange kann ich das noch mitansehen? William hatte sich noch nie auf Diplomatie verstanden. Seine Politik war das Schwert. Den Preis dafür hatte sein Clan zu bezahlen. Er ist mein Bruder! Ich schulde ihm meine Loyalität!
»Warum kannst du nicht an seiner Stelle sein?«
Ihre Worte ließen ihn aufsehen. »Marjorie, was redest du da?«
»Du wärst ein wundervoller Gemahl und ich … Bei Gott, Aonghas, denkst du etwa, ich hätte nie bemerkt, wie du mich anschaust?«
Abrupt gab er ihre Hände frei und erhob sich. Er zog seinen Plaid zurecht, ging zum Fenster und blickte hinaus. »Ich wollte nicht, dass du das bemerkst. Ich könnte nie …« Als er sich erneut zu ihr umwandte, stand sie plötzlich vor ihm.
Ihre Augen fingen seinen Blick und hielten ihn fest. »Lass uns fortgehen. Nur du und ich.«
Aonghas’ Herz setzte für einen überraschten Schlag aus, als er in ihren Augen ein Spiegelbild seiner eigenen Gefühle fand. »Was ist mit James und Robert?«
»Es sind seine Söhne. Ihr Anblick erinnert mich jeden Tag daran, dass es ihn gibt.«
Nach all den Jahren gab es plötzlich Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Wenn sie die Kinder hierließen, würde William womöglich nicht einmal nach ihnen suchen. Sie konnten fortgehen an die Ostküste oder noch weiter in den Norden. Er könnte den Rest seines Lebens an Marjories Seite verbringen und mit ihr eine eigene Familie gründen. Doch kaum schien das Glück, das er sich all die Jahre gewünscht hatte, zum Greifen nahe, legte sich bereits ein Schatten darüber. Was sollte aus den Menschen hier werden, wenn er fort war? Wer würde ihnen helfen?
Wann immer William nicht da war, hatte Aonghas mit anderen Clans verhandelt, um Vorräte zu bekommen. Er hatte Saatgut und Vieh aus seiner eigenen Tasche bezahlt, damit sie den nächsten Winter überstehen würden. Selbst als ihm das Geld ausgegangen war, hatte er nicht aufgehört zu helfen, und sei es nur, dass er überall mit angepackt hatte, wo eine helfende Hand nötig war.
»Ich kann nicht gehen, bitte versteh das.«
»Wie lange willst du diesem Mann noch deine Loyalität schenken?« Mit jedem Wort wurde sie lauter, bis ihre Stimme vor Verzweiflung zu kippen drohte. »Er hat sie nicht verdient! Er weiß sie ja nicht einmal zu schätzen!«
Aonghas schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um ihn, sondern um den Clan. Was wird aus ihnen, wenn ich fort bin? Wer sorgt dafür, dass –«
»Ich weiß, dass in deiner Brust zwei Herzen schlagen. Du leidest mit deinem Clan und zugleich könntest du nie etwas tun, das Williams Autorität in Frage stellt.« Sie sah ihn so durchdringend an, als könne sie geradewegs in seine Seele blicken. »Wenn du nichts gegen ihn unternimmst, wirst du das Leiden dieser Menschen nie beenden können. Was glaubst du, wie lange er deine Einmischung noch zulassen wird? Erinnerst du dich, wie wütend er beim letzten Mal war?«
Das letzte Mal, als William von einem Handel erfuhr, den Aonghas geschlossen hatte, machte er ihn aus purem Zorn rückgängig. Sie hatten erbittert darüber gestritten und Aonghas hatte ihm einmal mehr begreiflich zu machen versucht, dass der frühere Wohlstand des Clans längst der Vergangenheit angehörte. William hatte sich nicht erweichen lassen. Seinem Jähzorn war es zu verdanken, dass die Menschen einen weiteren Winter hungern mussten.
Wenn ich jetzt gehe, wird sich nie etwas ändern. William würde weitermachen wie bisher, ohne überhaupt zu begreifen, welchen Schaden er damit anrichtete.
Aonghas streckte die Arme nach Marjorie aus und zog sie an sich. »In den letzten Jahren habe ich mir nichts mehr gewünscht, als dich zumindest einmal im Arm zu halten. Du weißt nicht, wie sehr ich … Ich kann diese Menschen nicht im Stich lassen.« Die Worte waren ruhig gesprochen, doch voller Entschlossenheit. »Verstehst du das?«
Zitternd lehnte sie an seiner Brust. Ihr Haar streifte ihn am Kinn, als sie schließlich nickte. »Um ehrlich zu sein, hätte es mich enttäuscht, wenn du etwas anderes gesagt hättest. Du bist kein Mann, der andere einfach ihrem Schicksal überlässt.« Sie sah auf und seufzte. »Warum können wir nicht –«
Aonghas legte ihr einen Finger auf den Mund. »Sag es nicht. Bitte.« Seine Lippen streiften über ihr Haar. »Wenn du gehen willst, werde ich dafür sorgen, dass du die Burg unbemerkt verlassen kannst.«
Marjorie hob den Kopf und sah ihn an. »Ich bleibe bei dir!«
Aonghas konnte seine Gefühle nicht länger unterdrücken. William war nicht hier. Er war am Morgen losgeritten, ohne den Grund für seinen Aufbruch zu benennen. Ein weiteres sinnloses Scharmützel, wie Aonghas vermutete. Es war bereits spät. Die meisten Bewohner Dun Cunnartachs schliefen seit Stunden. Aonghas löste seine Umarmung ein Stück weit, um Marjorie in die Augen zu sehen. Eine dunkle Locke hing ihr ins Gesicht. Er strich sie ihr aus der Stirn, dann beugte er sich zu ihr hinab und küsste sie. Ihre Lippen waren weich und süß, ganz so wie er es sich immer vorgestellt hatte. Doch so schnell er den Kuss begonnen hatte, beendete er ihn auch wieder. »Wir müssen vorsichtig sein, damit uns niemand sieht!«
»Nur damit er uns nicht sieht!« Marjorie schüttelte den Kopf. »Aber er ist nicht hier. Es ist mitten in der Nacht und wir sind in deinen privaten Gemächern. Niemand wird uns stören.« Aonghas wollte widersprechen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Denkst du wirklich, einer der Clansmen würde uns verraten? Ihre Treue und Loyalität gehören dir. Sie lieben dich!«
Er blinzelte überrascht. Nie zuvor hatte er sich darüber Gedanken gemacht, was die Menschen von ihm halten könnten. »Wirklich?«
Ein Lächeln fand den Weg auf ihre Lippen. »Glaubst du etwa, sie wüssten nicht, wer für sie einsteht und wer nicht?« Einen Augenblick lang schwieg sie, dann sagte sie plötzlich: »Warum machst du dir ihre Ergebenheit nicht zu Nutze? Sammle Clanskrieger um dich und nimm Williams Platz ein!«
Ihr Vorschlag entsetzte ihn. »Er ist mein Bruder, Marjorie!«
Ihre Aufregung wuchs. »Du hast den Clan hinter dir. Selbst wenn er dir mit seinen Soldkriegern entgegentritt, sollte es ein Leichtes sein, ihn zu besiegen. Du musst ihn ja nicht töten. Schick ihn fort! Vertreibe ihn – für immer!«
Wenn William fort war, könnte er die Ehe zwischen ihm und Marjorie annullieren lassen und sie selbst zur Frau nehmen. Die Vorstellung war verlockend. Dennoch schüttelte er den Kopf. »Es muss einen anderen Weg geben.« Es musste doch möglich sein, William zur Einsicht zu bewegen. Hinter all dem Jähzorn und der Kriegslust musste es doch einen Funken Vernunft geben.
»In einem hast du recht«, sagte er nach einer Weile und zog sie wieder enger an sich. »Niemand wird uns stören. Lass uns für ein paar Stunden an nichts anderes als an uns denken.« Er mochte Marjorie nicht zur Frau nehmen können, dennoch hatte er ihre Liebe gewonnen. Das war mehr, als er je zu hoffen gewagt hatte.
In dem Moment, als er sie erneut küssen wollte, flog die Tür auf. William stürmte in den Raum. Aonghas gab Marjorie frei und stellte sich schützend vor sie.
»Das ist es also, was ihr tut, sobald ich die Burg verlasse!« Eine zornig pulsierende Ader zog sich über Williams Schläfe, als er sich vor Aonghas aufbaute.
»Lass uns in Ruhe darüber sprechen.« Aonghas versuchte ihn zum Sessel zu schieben, fort von Marjorie, die sich erschrocken an ihn drängte.
»In Ruhe!« William riss sich los und verpasste seinem Bruder einen Faustschlag. Der Hieb traf Aonghas am Kinn und warf ihn zurück. Marjorie sprang mit einem Schrei zur Seite. Aonghas schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu verdrängen. Er rieb sich das Kinn und wandte sich seinem Bruder erneut zu.
»Das führt doch zu nichts.« Er wich einem weiteren Schlag aus und umrundete William langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen. William folgte seiner Bewegung. »Denkst du, du kannst alle Probleme mit einem Kampf lösen? Lass wenigstens einmal im Leben die Waffen ruhen und benutze deinen Mund!«
»Du willst, dass ich meinen Mund benutze? Das sollst du haben!« William spuckte ihm ins Gesicht. »Ich verfluche dich, Aonghas MacRae!«
Aonghas machte sich nicht die Mühe, sich den Speichel abzuwischen. Seine Augen waren unverändert auf William geheftet, der jetzt sein Sgian Dubh aus dem Ärmel zog.
»Glaubst du im Ernst, ich hätte nie bemerkt, wie du mein Weib ansiehst? Ich weiß schon lange, dass ihr mich hintergeht! All deine Versuche, meine Entscheidungen zu beeinflussen, hatten kein anderes Ziel, als mich bei meinen eigenen Männern unbeliebt zu machen, damit du dir nehmen kannst, was mein ist!«
Aonghas’ Augen folgten der blitzenden Klinge des Sgian Dubh, als William sie vor ihm in die Höhe hielt. Vorsichtig wich er einen Schritt zurück und sah sich kurz nach Marjorie um. Sie hatte sich zum Kamin zurückgezogen. »Wenn du nur ein einziges Mal auf mich gehört hättest, müsste dein Clan – unser Clan – nicht hungern! Es würde den Menschen gut gehen und sie würden dich nicht verachten!«
Statt zu antworten, riss William das Sgian Dubh in die Höhe und schnellte mit einem zornigen Brüllen vor. Aus dem Augenwinkel sah Aonghas, wie Marjorie vorsprang und auf William zustürzte.
»Marjorie, nicht!«
Sie ignorierte Aonghas’ Warnruf und packte William am Arm. »Hör auf! Lass ihn in Ruhe!«
William drehte sich nicht einmal zu ihr um. Er holte aus und stieß sie von sich. Marjorie flog nach hinten und geriet über dem Stoff ihrer langen Röcke ins Stolpern. Sie schlug mit dem Kopf gegen den Kamin, dann stürzte sie zu Boden und blieb reglos liegen, das Genick unnatürlich verrenkt.
Bei ihrem Anblick zerbrach etwas in Aonghas. Jeder Funken Zuneigung, den er je für seinen Bruder empfunden haben mochte, war mit einem einzigen Schlag ausgelöscht. Er holte aus und drosch William die Faust ins Gesicht. Als er zurücktaumelte, griff Aonghas nach seinem Arm und entwand ihm das Sgian Dubh. In einer einzigen Bewegung nahm er die Waffe an sich, drehte sie herum und stieß zu. Die Klinge drang tief in Williams Herz. Überraschung erfasste die Züge des Chiefs, dann brach sein Blick und er sackte zu Boden.
Einen Moment noch stand Aonghas über ihm und starrte auf ihn hinab, bar jeden Gefühls. Dann eilte er zu Marjorie und ließ sich neben ihr auf die Knie sinken. »Marjorie!« Er legte ihr eine Hand an den Hals, dorthin, wo das Leben durch ihre Adern floss, doch er spürte nichts. Ihr Herz schlug nicht mehr. Das Strahlen in ihren Augen war endgültig erloschen. Wie war das möglich? Kurz zuvor hatte er sie noch im Arm gehalten und geküsst! Für einige Augenblicke hatte er gehabt, was er sich so lange ersehnt hatte. William hatte es ihm genommen.
»Bei Gott, was ist hier passiert?«
Als Aonghas Cormacs Stimme vernahm, sah er auf. Sein bester Freund stand in der Tür und sah sich um. Hinter ihm blickte Owen in den Raum.
»Er hat sie umgebracht«, entgegnete Aonghas tonlos.
Owen schob Cormac in den Raum und zog die Tür hinter sich zu. »Mit ein wenig Glück hat außer uns niemand etwas gehört.«
Es kümmerte Aonghas nicht, ob jemand auf den Lärm aufmerksam geworden war. Nichts kümmerte ihn mehr. Er fühlte sich wie tot. Als läge nicht Marjorie leblos auf dem Steinboden, sondern er selbst. Aonghas wusste, dass seine Freunde auf ihn einredeten, doch er nahm ihre Worte nicht wahr. Alles, woran er denken konnte, war, was William ihm angetan hatte.
»Aonghas!«
Endlich hob er den Kopf.
Owen blickte auf den Leichnam des Chiefs. »Was sollen wir den Leuten erzählen?«
Noch während er die Worte sprach, fasste Aonghas einen Entschluss. William hatte ihm das Liebste in seinem Leben genommen, dafür hatte er bezahlt. Fortan würde niemand mehr unter ihm zu leiden haben. Sammle Clanskrieger um dich und nimm Williams Platz ein. Genau das würde er tun, nur dass nun keine Krieger mehr nötig waren. Als er sich erhob, tat er es in dem Bewusstsein, dass ab jetzt nichts mehr so sein würde wie bisher.
»Sagt ihnen, William hat seine Gemahlin ermordet. Daraufhin habe ich ihn getötet. Ich bin jetzt der Chief!« Ab heute war er allein für das Schicksal dieser Menschen verantwortlich. Er würde sich ihrer Loyalität und Treue würdig erweisen. Niemals wieder würde er mitansehen, wie jemand dem Clan Schaden zufügte! Da kam ihm ein anderer Gedanke. »Seine Söhne!« Wenn sie erst alt genug waren, würden sie ihr Erbe einfordern. »Ich werde nicht zulassen, dass seine Brut eines Tages in seine Fußstapfen tritt!«
Aonghas ging zu Williams Leichnam und zog den Dolch aus seinem erkaltenden Leib. Er trat auf den spärlich erleuchteten Gang und folgte ihm mit schnellen Schritten zu einer schmalen Wendeltreppe, stieg die steilen Stufen hinauf und betrat den Gang, in dem die Gemächer seines Bruders und die seiner Söhne lagen. Er stieß die Tür zu James’ Schlafzimmer auf. Ein schmaler Streifen Fackellicht kroch zuckend vor ihm in den Raum. Aonghas folgte dem Licht zum Bett und blieb neben dem Kopfende stehen. Sein Blick legte sich auf den unruhig schlafenden Jungen. Er ist so ahnungslos. Sein Anblick erinnerte ihn an Marjorie. Der Junge hatte ihre Augen. Aonghas hob das Sgian Dubh. Ein verirrter Lichtschimmer fing sich in der Klinge und ließ sie für einen Moment aufblitzen. Erst jetzt bemerkte Aonghas, dass seine Hand zitterte. Mussten wirklich ein Fünfjähriger und sein kleiner Bruder für die Sünden des Vaters bezahlen? Eines Tages wird dieser Junge sein Erbe beanspruchen! Wenn er nur im Geringsten nach seinem Vater kam, würde er alles zerstören, was Aonghas bis dahin aufgebaut hatte. Das konnte er nicht zulassen! Ich könnte die beiden unter meine Fittiche nehmen. Wenn er sich um die Jungen kümmerte, sie ausbildete und erzog, bestand die Hoffnung, dass sie einmal zu vernünftigen Anführern werden würden. Hoffnung. Aonghas schnaubte leise. War es nicht auch Hoffnung gewesen, die ihn jahrelang Williams Tyrannei erdulden ließ? Nein, entschied er, Hoffnung war nicht genug.
Wie gelähmt stand er da und starrte auf den schlafenden Jungen. Er wusste, was getan werden musste, und doch fand er nicht die Kraft, zuzustoßen. Er hob den Blick zur Decke. Dunkle Schatten türmten sich hinter dem schwankenden Fackelschein, der vom Gang in den Raum fiel. Zuckende Fratzen, die seine Mutlosigkeit zu verlachen schienen.
»Aonghas?« Owens Flüstern riss ihn aus seiner Starre. Er wandte den Kopf. Das blonde Haar seines Freundes hob sich hell vor den Schatten ab.
Aonghas ließ das Sgian Dubh sinken. »Ich kann es nicht«, sagte er leise. »Dennoch muss es getan werden.« Er sah Owen an. »Bring die beiden aus der Burg, dann beende es.« Ohne eine weitere Erklärung machte Aonghas kehrt und verließ das Gemach. Zurück auf dem Gang gab er sich selbst ein Versprechen: »Ich schwöre bei Gott, dass dieser Clan niemals wieder Hunger leiden wird!«
Schweißgebadet fuhr Eòran MacDougal aus dem Schlaf.
Blinzelnd sah er sich um. Langsam schälten sich die Umrisse des Nachtlagers aus der Dunkelheit. Nicht weit entfernt schliefen zwei seiner Männer neben einer Feuerstelle. Da er ohnehin keine Ruhe mehr finden würde, stand er auf. Niemand regte sich, nur die Pferde, die ein Stück abseits des Lagers angebunden waren, schnaubten leise. Eòran zog seinen Plaid zurecht, hob sein Claymore auf und schlich aus dem Lager. Kleine Äste knackten unter seinen Sohlen, als er sich einen Weg zwischen Farnen und Heidekraut hindurch bahnte, fort von der kleinen Mulde, in der sie für die Nacht Schutz gesucht hatten.
Eine kühle Frühlingsbrise erhob sich vom westlichen Ufer des Loch Arkaig und ließ Eòran frösteln. Vielleicht war es auch das Echo des Traumes, das ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Es waren immer dieselben Bilder, die ihn seit seiner frühesten Kindheit verfolgten. Manchmal blieben die Nachtmahre über Monate, sogar Jahre fern, nur um dann plötzlich und unvermittelt zurückzukehren und ihn aufs Neue Nacht um Nacht heimzusuchen. In diesem Traum ist er ein kleiner Junge. Er blickt durch eine halb offene Tür in einen Raum. Alles geht rasend schnell. Zwei Männer streiten erbittert um eine Frau. Sie schlagen sich, dann zieht der eine ein Messer. Die Frau versucht, die beiden zu trennen. Ein Stoß. Dann liegt sie auf dem Boden, ihr gebrochener Blick auf Eòran gerichtet, als könne sie ihn erst jetzt wirklich sehen. Der Traum-Eòran wendet entsetzt die Augen ab, sieht wieder zu den Männern. Er kann ihre Gesichter nicht erkennen (er glaubte, dass ihm das früher gelungen war), dennoch erscheinen sie ihm auf seltsame Art vertraut. Alles verschwimmt, ist auf merkwürdige Weise unscharf. Einzig die erhobene Messerklinge, in der sich ein verirrter Lichtstrahl fängt, hebt sich plötzlich deutlich ab. Der Krieger in ihm will eingreifen, doch in diesem Traum ist er kein Krieger, nicht einmal ein Mann. Nur ein hilfloses Kind. Hin- und hergerissen von der Vertrautheit, die er für beide Männer zu empfinden glaubt, weiß er nicht, was er tun soll: Den einen warnen oder den anderen zustoßen lassen? Für wen soll er sich entscheiden? Dann ist es zu spät. Der Bulligere der beiden sackt zu Boden und rührt sich nicht mehr. Der Junge dreht sich um und flüchtet in einen dunklen Gang, der ihn wie der Rachen eines Ungeheuers verschlingt.
Eòran hatte viel Zeit darauf verwandt, über den Traum nachzudenken. Doch obwohl ihm vieles vertraut schien, hatte keines der Bilder Ähnlichkeit mit Menschen oder Orten, die er kannte.
Er umrundete einen Ginsterstrauch und kletterte auf einen großen Felsen. Oben angekommen hielt er inne und betrachtete das Gewässer, das jetzt unter ihm lag. Im silbernen Schein des Halbmondes wirkte die Oberfläche des Loch Arkaig beinahe schwarz. Geheimnisvoll wie das Land selbst. Eòran legte das Claymore ab und ließ sich auf dem Felsen nieder. Sein Blick wanderte über die Highlands, deren sanft geschwungene Silhouetten sich ringsherum aus der Nacht erhoben. Wo bist du, Kyle? Eòran nahm einen flachen Stein und warf ihn in den See. Seine Augen folgten den Ringen, die der Stein auf der Wasseroberfläche hinterließ. Kreisförmige Wellen, die sich wie Schatten ausbreiteten, ehe sie wieder vergingen.
Ein gedämpftes Knirschen in seinem Rücken weckte seine Aufmerksamkeit. Sofort war er auf den Beinen. Das Schwert in der Hand blickte er in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Vertraute Umrisse schälten sich aus der Dunkelheit. Finn. Sobald Eòran seinen Freund erkannte, ließ er das Claymore sinken und setzte sich wieder.
Mit wenigen Schritten erstieg Finn den Felsen und ließ sich neben ihm nieder. Es erstaunte Eòran immer wieder, mit welcher Geschicklichkeit sein Freund jedes Hindernis überwand. Trotz seiner muskulösen Statur konnte Finn klettern wie ein Eichhörnchen und ausdauernder laufen als die meisten Männer, die nur halb so breit waren. Finn musterte ihn. Im Mondschein glitzerten seine blauen Augen wie Eis.
»Kannst du nicht schlafen?«
Eòran zuckte die Schultern. Er wollte nicht über den Traum sprechen. Es zu tun, würde bedeuten, die Nachtmahre am Leben zu halten.
»Wir werden ihn finden, Eòran.«
Während seiner Ausbildung hatte Eòran gelernt, einen kühlen Kopf zu bewahren und auf seine Fähigkeiten zu vertrauen. Nicht umsonst hatte er es mit seinen dreiundzwanzig Jahren bereits zum Zweiten Hauptmann der Burgwache von Dunstaffnage, dem Sitz von Chief John MacDougal, gebracht. Er war es gewohnt, mit schwierigen Situationen umzugehen. Das jedoch war anders. Es war etwas Persönliches. Kyle war nicht einfach nur sein Bruder. Er war der einzige Blutsverwandte, den er hatte. Denn obwohl sie Duncan und Iona Vater und Mutter nannten, waren sie nicht ihre leiblichen Eltern. Clachan Mòr, das Dorf in dem er und Kyle aufgewachsen waren, war nicht von jeher ihre Heimat gewesen. Das hatten sie jedoch erst erfahren, als Eòran bereits zwölf war. Bis zu jenem Herbstmorgen, an dem Duncan Kyle und ihn mit zum Angeln nahm, hatten sie in dem Glauben gelebt, die Bauersleute seien ihre Familie.
Sie hatten am grünen Ufer des Tàmh gesessen, die Angeln in den Boden gesteckt, und darauf gewartet, dass die Fische bissen. Da hatte Duncan plötzlich gefragt, ob sie sich an einen anderen Ort als Clachan Mòr erinnerten. Verwirrt über die Frage hatten beide Jungen den Kopf geschüttelt.
»Ihr wart nicht immer bei Iona und mir. Dennoch seid ihr wie mein eigen Fleisch und Blut. Daran wird sich auch nie etwas ändern. Aber ihr habt ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.« Nach diesen ersten, schweren Worten hatte Duncan so lange geschwiegen, dass Eòran schon glaubte, er würde nicht mehr sagen. Als er schließlich doch fortfuhr, richtete er seinen Blick auf die Jungen. »Ich war auf dem Heimweg von MacLeod, dem ich ein paar Rinder verkauft hatte, als ich euch fand. In der Nacht zuvor hatte es ein schweres Gewitter gegeben, das mich zu einem Umweg zwang. Ein Beutel Münzen steckte in meinem Ärmel, und als ich plötzlich ein Geräusch zwischen den Büschen vernahm, war mein erster Gedanke, dass dort ein paar Räuber lauerten, die von meinem kostbaren Gepäck wussten. Zu Fuß und müde wie ich war, wäre ich nicht im Stande gewesen, zu entkommen. Also zog ich mein Sgian Dubh.« Duncan war ein Riese, der sich mit einem Messer zweifelsohne mühelos verteidigen konnte. »Ich stand also da und wartete. Immer wieder hörte ich Rascheln, doch nichts geschah. Schließlich war ich überzeugt, dass sich dort nur ein Tier verkrochen hatte. Vielleicht ein Fuchs oder ein Marder. Das Messer noch immer in der Hand wandte ich mich zum Gehen, als ich einen Laut vernahm, der wie das Wimmern eines Kindes klang. Nun beschloss ich doch, nachzusehen. Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg durchs Gebüsch. Bei dem Anblick, der sich mir nach wenigen Metern bot, wäre mir beinahe das Herz stehen geblieben. Ich fand euch, eng aneinandergedrängt, völlig entkräftet und verängstigt.« Er sah Kyle an. »Du musst damals etwa drei Jahre alt gewesen sein.« Dann wanderte sein Blick zu Eòran. »Du vielleicht fünf. Du warst verletzt und voller Blut. Da war eine Wunde an deinem Hals. Ein Schnitt, als hätte jemand versucht, dich zu töten.« Noch immer ruhten Duncans Augen auf Eòran. »Kannst du dich an etwas erinnern?«
Eòran hatte nur den Kopf geschüttelt. Seine frühesten Erinnerungen stammten aus einer Zeit, in der er und Kyle bereits in Clachan Mòr gelebt hatten. Er konnte sich nicht einmal an die Namen erinnern, die er und sein Bruder vor jener Zeit gehabt hatten. Kyle und Eòran. So hatte Duncan die beiden getauft, als sie ihm keine anderen Namen nennen konnten. Eòran hob eine Hand und strich über die dünne Narbe, die sich über die rechte Hälfte seiner Kehle und dann sichelförmig hinab zu seiner Brust zog. Für ihn war es das erste Mal gewesen, dass er all diese Dinge hörte. Bis dahin war ihm nicht einmal bewusst gewesen, dass er nicht bereits sein ganzes Leben in Clachan Mòr verbracht hatte.
Seit jenem Tag, an dem er erfahren hatte, dass es noch etwas anderes gab, eine unbekannte Vergangenheit, fand Eòran keine Ruhe mehr. Obwohl es ihm an nichts mangelte, war das Gefühl, dass etwas fehlte, stets präsent. Von Rastlosigkeit getrieben, hatte er sich gewünscht, andere Orte kennenzulernen, in der Hoffnung, dort zu finden, was ihn umtrieb. Duncan hatte ihn nur ungern ziehen lassen, schließlich jedoch gab er Eòrans Drängen nach und schickte ihn, als er vierzehn war, zunächst einmal nach Dunstaffnage. Dort sollte er sich für einige Zeit als Dienstbote oder Stallbursche verdingen.
In der Burg des Chiefs hatte man tatsächlich für einen Burschen Verwendung, der einfache Arbeiten verrichten konnte. Von Anfang an jedoch war Eòran von den Clanskriegern fasziniert, die dort lebten. Die Männer mit ihren stählernen Klingen und der grimmigen Entschlossenheit beeindruckten ihn. Das war es, was er ebenfalls wollte: In der Lage sein, sich und die seinen zu verteidigen.
Der Gedanke war absurd, denn Clachan Mòr war ein friedlicher Ort mit friedlichen Menschen. Eòran konnte sich nicht einmal erinnern, dort je einen Krieger gesehen zu haben. Dennoch ließ ihn der Gedanke nicht mehr los.
Kaum hatte er diesen Wunsch geäußert, hatte er sich auch schon in der Ausbildung zu einem Mitglied der Burgwache wiedergefunden. Dort war er Finn begegnet und hatte sich mit ihm angefreundet. Deshalb war Finn auch jetzt an seiner Seite. Sie hatten Dunstaffnage gemeinsam verlassen, um ein paar freie Tage in Clachan Mòr, bei Eòrans Familie, zu verbringen. Eòran war seit letztem Sommer nicht mehr zu Hause gewesen, doch statt mit der erwarteten Wiedersehensfreude hatte man sie mit der Nachricht empfangen, dass Kyle fort war – und mit ihm zwei andere junge Männer. Der Winter war hart gewesen und Eòrans Familie war nicht die einzige, die Hunger litt.
»Er hat gehört, wie ich zu Moran sagte, dass ich mir wünschte, wir hätten ein paar Kühe«, hatte Duncan besorgt erklärt. »Damit kämen wir ohne Sorgen über die Runden.« Dann hatte er Eòran angesehen. »Ich fürchte, sie sind im Begriff, etwas Dummes zu tun.«
Duncan sorgte sich, dass Kyle und die anderen sich auf das nördlich gelegene Land der MacDonalds of Keppoch wagten. Der benachbarte Clan hatte in letzter Zeit häufig Schwierigkeiten mit Viehdieben gehabt, sodass sie über die Maßen aufmerksam waren. Wenn Kyle und seine Freunde tatsächlich darauf aus waren, Vieh zu stehlen, liefen sie dort große Gefahr, erwischt und gehängt zu werden.
Nachdem Eòran gehört hatte, was geschehen war, hatte er keine Zeit verschwendet und war sofort zusammen mit Finn aufgebrochen. Auf dem Weg waren sie Murray, Niall und Tormond, drei weiteren Kriegern des Chiefs, begegnet. Da Eòran als Hauptmann die Befehlsgewalt über die Männer innehatte, wies er sie an, Finn und ihm bei der Suche zu helfen.
Sie waren nun schon einige Tage unterwegs. Zunächst hatte alles daraufhin gedeutet, dass Kyle und seine Begleiter es tatsächlich auf das Vieh der MacDonalds of Keppoch abgesehen hatten. Ihre Spur jedoch führte immer weiter nach Norden, über das Land der MacDonalds hinaus auf das Gebiet der MacRaes. Tormond und Niall waren am Mittag vorausgeritten, um Kyles Fährte zu folgen, ehe sie erkaltete. Bisher waren sie nicht zurückgekehrt.
»Das alles gefällt mir nicht.« Eòran schüttelte den Kopf. »Was will er so weit im Norden?«
Finn rieb sich über die rotbraunen Bartstoppeln. »Du hast deinen Vater gehört. Die MacDonalds sind auf der Hut. Vermutlich weiß dein Bruder das auch. Deshalb meidet er ihr Land, um anderswo zuzuschlagen.«
Dass Kyle vorsichtig war, ließ sein Vorhaben in Eòrans Augen nicht weniger unvernünftig erscheinen. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Eòran spürte Finns forsch enden Blick auf sich ruhen. Als er aufsah, meinte Finn: »Im Augenblick kannst du nichts tun. Leg dich wieder hin.«
Eòran wollte ihm sagen, dass er ohnehin nicht schlafen könnte, als ein Geräusch die nächtliche Stille durchbrach. Augenblicklich war er auf den Beinen. Büsche und Felsen verwehrten ihm die Sicht auf die Senke. Er nahm sein Schwert, sprang von den Felsen und kehrte mit schnellen Schritten zum Lager zurück. Finn folgte ihm. Als sie dort ankamen, war Murray bereits auf den Beinen. Das Schwert griffbereit stand er da und sah den Pferden entgegen.
Bereits von Weitem hoben sich die Silhouetten der Reiter deutlich vor dem Nachthimmel ab. Unverkennbar Tormonds breite Gestalt, eine Pferdelänge hinter ihm Niall, hochgewachsen und hager. Sie hatten das Lager noch nicht ganz erreicht, da rief Finn schon: »Habt ihr sie gefunden?«
Tormond zügelte sein Pferd und sprang aus dem Sattel. Einen Atemzug später stand auch Niall neben ihm. Erst jetzt, da sie nahe genug waren, sah Eòran, wie abgehetzt sie wirkten. Schweiß glänzte auf Tormonds wettergegerbtem Gesicht, sein graues Haar klebte in feuchten Strähnen am Kopf. Niall erging es kaum besser. Seine Züge, die ohnehin immer ein wenig ausgezehrt wirkten, erweckten nun den Anschein, als stünde er am Rande völliger Erschöpfung. Beide waren so außer Atem, dass sie nicht gleich antworten konnten.
»Habt ihr ihn gefunden?«, wiederholte Eòran Finns Frage ungeduldig.
Tormond nickte. »Zwei.« Seine sonst so freundliche Miene verfinsterte sich. »Das wird dir nicht gefallen.«
»Sind sie tot?« Tonlos verließen die Worte Eòrans Mund.
»Erhängt«, bestätigte Niall Eòrans schlimmste Befürchtungen. Hastig fügte er hinzu: »Aber Kyle lebt. Er ist zu Fuß geflohen. Wir fanden auch Spuren von Reitern. Sie waren ihm dicht auf den Fersen.«
»Ist er entkommen?«
Niall schüttelte den Kopf. Eòran fluchte.
»Zumindest ist er noch am Leben«, überlegte Finn laut. »Das ist gut.«
»Gut?« Eòran kniff die Augen zusammen. »Sobald sie einen Baum finden, der hoch genug ist, werden sie ihn aufknüpfen. Das nennst du gut?«
»Wir sind der Spur weiter nach Nordwesten gefolgt, bis wir auf ein Gehöft stießen«, berichtete Niall weiter. »Die Familie dort sprach von einem Trupp MacRaes, der dort die Nacht verbracht hat. Sie hatten einen Gefangenen bei sich – einen Viehdieb. Sie bringen ihn nach Dun Cunnartach.«
Eòran sah auf. Dun Cunnartach war der Stammsitz von Chief Aonghas MacRae. »Warum sollten sie einen Dieb in ihre Burg bringen, statt ihn zu sofort zu hängen?«
»Wenn ich die Bauern richtig verstanden habe, muss es Kyle und den anderen gelungen sein, das gestohlene Vieh zu verstecken, ehe sie erwischt wurden. Solange Kyle ihnen nicht verrät, wo die Rinder sind, werden sie ihn wohl nicht aufhängen.«
»Dann hoffe ich, dass er noch eine Weile den Mund halten kann.« Eòran dachte einen Moment nach, ehe er sich erneut an Tormond und Niall wandte: »Können wir sie einholen, bevor sie die Burg erreichen?«
Die beiden wechselten kurz einen Blick, dann schüttelten sie gleichzeitig den Kopf. »Ihr Vorsprung ist zu groß.«
Eòran machte kehrt. Mit großen Schritten ging er zu seinem Schlafplatz, griff nach seinem Bündel und begann seine Sachen hineinzustopfen. Ein Schatten fiel auf ihn und hüllte ihn ein. Finn.
»Eòran, was hast du vor? Willst du jetzt eine Dummheit begehen?«
Bis vor wenigen Augenblicken hatte Eòran nicht mehr gewusst, als dass er den MacRaes folgen würde. Jetzt jedoch war ihm klar, was er tun musste. Er erhob sich und sah Finn an. »Ich werde zu Aonghas MacRae gehen und um Kyles Leben bitten.«
Es war nicht leicht, Finn und den anderen begreiflich zu machen, dass er sich nicht von seinem Vorhaben würde abbringen lassen. Dennoch begleiteten die Männer Eòran bis tief ins Glen Affric hinein. Finn hatte versucht ihn zu überzeugen, nicht allein zu gehen. Eòran glaubte jedoch, dass seine Aussichten, mit MacRae zu sprechen, besser standen, wenn er allein kam. Mehrere Männer könnte der Chief womöglich als Bedrohung auffassen und sie gar nicht erst vorlassen.
Als sie schließlich ein Waldstück unweit von Dun Cunnartach erreichten, beugten sie sich Eòrans Befehl und ließen ihn allein weiterziehen. Eòran folgte einem schattigen Pfad zwischen Kiefern und Tannen hindurch, bis sich die Baumreihen allmählich lichteten und sich eine sanft geschwungene Ebene vor ihm eröffnete. Sobald der Wald hinter ihm lag, trat er sein Pferd in die Flanken und trieb es der Burg entgegen, die sich vor ihm erhob.
Dunkel und kalt empfingen ihn die Mauern Dun Cunnartachs. Der Stammsitz der MacRaes war ein gedrungenes Bollwerk aus dunkelgrauem Stein, das sich über einer rostroten Heidelandschaft erhob, als gehörte es nicht hierher. Eine hohe Mauer, von der aus das umliegende Land gut einsehbar war, schützte die Burg vor Eindringlingen. Einen Moment verharrte Eòran und blinzelte gegen die Morgensonne an, die sich über der Burg hinter bleigrauen Wolken hervorschob. Dann lenkte er sein Pferd die schmale Holzbrücke entlang, die über einen tiefen Graben hinweg zum Burgtor führte. Am Tor stellte sich ihm ein bärtiger Krieger im Plaid in den Weg. Den Stoßspeer zur Seite gereckt, versperrte er Eòran den Zugang und zwang ihn sein Pferd zu zügeln. Eòran blickte auf den Zweig der Hochlandtanne, der an der Kappe des Mannes steckte. Das Erkennungszeichen der MacRaes.
Der Krieger starrte ihm aus fahlgrauen Augen entgegen. »Wer seid Ihr?«
»Ich bin Eòran MacDougal.« Ein wenig erstaunt betrachtete der Mann das Glockenheidekraut, das Eòran an der Spange befestigt hatte, die seinen Plaid über der Schulter zusammenhielt. Als könne er nicht glauben, dass sich ein MacDougal in diesen Teil der Highlands verirrte. »Ich muss den Chief sprechen.«
Der Krieger zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Wollt Ihr ihn bitten, neben dem anderen MacDougal hängen zu dürfen?«
Eòrans Finger krampften sich um den Zügel. Er wollte gerade etwas Bissiges erwidern, da trat ein weiterer Clanskrieger aus dem Schatten. Sein Plaid flatterte lose um seine hagere Gestalt. »Geh und sag dem Chief, dass er Besuch hat, Hamish«, befahl er.
Hamish wollte etwas erwidern, doch ein Blick seines Kameraden ließ ihn verstummen. Mit einem grimmigen Nicken machte er kehrt und ging über den Burghof davon.
Eòran saß ab und führte sein Pferd zur Seite. Der andere Clanskrieger folgte ihm, den Stoßspeer lässig in der Hand. Im Schatten der Mauer blieb Eòran stehen und wartete. Deutlich war er sich der wachsamen Blicke des Kriegers bewusst, die auf ihm ruhten. Mit einem Mal beschlich ihn ein seltsames Gefühl, ähnlich einer Vorahnung oder dem Schatten einer Erinnerung. Es hatte nichts mit seinem Gegenüber zu tun. Eòran begleitete Chief John häufig, wenn dieser Dunstaffnage verließ, um andere Clans zu besuchen. Deshalb war er es gewohnt, dem Argwohn anderer ausgesetzt zu sein. Es war etwas an diesem Ort – etwas, was er nicht zu fassen vermochte –, das ihm mit das Gefühl gab, als griffe eine Faust nach seinen Eingeweiden.
Auf der Suche nach der Quelle seines Unbehagens streiften seine Augen die Mauern entlang und wanderten in den Hof. Vor dem Haupthaus war ein Bursche dabei, Pferde vor eine Kutsche zu spannen. Verwundert blickte Eòran auf die geschlossene Karosse. Ein elegantes Gefährt wie dieses hatte er in den Highlands noch nie gesehen. Angesichts der holprigen, schlecht ausgebauten Straßen und Wege war das auch nicht weiter verwunderlich.
Während Eòrans Aufmerksamkeit noch auf der Kutsche ruhte, kehrte Hamish zurück. Er wechselte ein paar leise Worte mit seinem Kameraden, dann wandte er sich Eòran zu. »Legt Eure Waffen ab!«
Eòran griff nach der Schnalle, die seinen Schwertgurt auf dem Rücken hielt, und löste sie. Unter den wachsamen Blicken der MacRaes legte er das Claymore ab, zog sein Sgian Dubh aus dem Ärmel und befestigte Schwertgehenk und Dolch an seinem Sattel. Er überzeugte sich noch einmal, dass alles festsaß, dann wandte er sich wieder Hamish zu. »Gehen wir.«
Mit weit ausgreifenden Schritten ging Hamish voran, ohne auch nur einen Blick über die Schulter zu werfen. Eòran überquerte hinter seinem Führer den Hof, erklomm die Stufen zum Haupthaus und schickte sich an, das düstere Gemäuer zu betreten.
Als er durch den Eingang trat, stieß er mit einer jungen Frau zusammen, die gerade im Begriff war, das Haus zu verlassen. Sie prallte gegen seine Schulter und taumelte zurück. Geistesgegenwärtig griff Eòran nach ihr und schlang einen Arm um ihre Taille, ehe sie stürzen konnte.
»Verzeiht«, beeilte er sich zu sagen. »Ich wollte nicht …« Ein Blick in ihre Augen ließ ihn verstummen. Sie waren vom erstaunlichsten Grün, das er je gesehen hatte. Unergründlich und zugleich voller Wärme nahmen sie ihn auf Anhieb gefangen. »Habt Ihr Euch verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ihr habt Schlimmeres verhindert. Wenn keine heftige Windbö zur Tür hereinfährt, laufe ich wohl nicht länger Gefahr, zu stürzen.« Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die Hand auf seinen Arm legte, mit dem er sie noch immer hielt. »Ich denke, Ihr könnt mich jetzt loslassen.«
»Nach mir könnte noch jemand hereinkommen«, erwiderte Eòran lächelnd. Sein Blick schweifte über ihre weichen Züge und die roten Locken, die sie zu einem Zopf zusammengefasst hatte, zurück zu ihren Augen. »Was, wenn derjenige weniger schnell reagiert und Ihr zu Fall kommt, weil ich Euch übereilt meine Hilfe entzogen habe?«
Ihr Lächeln verwandelte sich in ein herzliches Lachen. »Bisher ist es mir noch jeden Tag gelungen, das Haus zu verlassen ohne dabei Schaden zu nehmen. Vermutlich schaffe ich das auch in Zukunft.«
Noch immer hielten ihn ihre Augen gefangen. Wenn er sie losließe, wäre sie in wenigen Herzschlägen durch die Tür entschwunden. Dabei kannte er nicht einmal ihren Namen. Dennoch schickte es sich nicht, sie länger festzuhalten. Ein wenig zögernd zog er seine Hand zurück und trat einen Schritt zur Seite, um den Weg freizugeben. Gleichzeitig machte sie einen Schritt in dieselbe Richtung, um ihm auszuweichen, sodass sie einander erneut gegenüberstanden.
»Wir sollten uns vielleicht absprechen«, lachte sie. »Ich nach links und Ihr auf die entgegengesetzte Seite?«
»Vorher würde ich Euch gerne noch etwas fragen.« Als sie nickte, fuhr er fort: »Werde ich Euch wiedersehen?«
»Seid Ihr immer derart unverblümt?«
»Würdet Ihr mir denn glauben, wenn ich sage, dass dem nicht so ist?« Während der vergangenen Jahre hatte er nur selten die Nähe einer Frau gesucht. Dass ihn nun ausgerechnet eine vollkommen Fremde derart faszinierte, erstaunte ihn.
Sie setzte zu einer Erwiderung an, als Hamishs Stimme ihr das Wort abschnitt. »Kommt endlich, MacDougal!«
Gerne hätte Eòran noch länger verweilt, doch Hamish ließ ihm keine Zeit. Der Clanskrieger verschwand bereits durch einen Durchgang aus seinem Blick.
»Verzeiht, ich muss gehen.« Er verneigte sich rasch. »Ich hoffe dennoch, wir sehen uns bald wieder.«
Laut hallten seine Schritte von den Wänden wider, als er Hamish durch die Halle zu einem Treppenhaus folgte. Als er sich, ehe er es betrat, noch einmal umwandte, war die junge Frau verschwunden.
Hamish führte ihn eine schmale Wendeltreppe hinauf in einen weiteren Gang. An dessen Ende blieb er vor einer Tür mit eisernen Beschlägen stehen. »Wartet dort drinnen.« Er stieß einen der beiden Türflügel auf, um Eòran einzulassen, dann drehte er sich um und ging davon.
Eòran hielt auf der Schwelle inne und blickte in die Große Halle. Ein karger Steinraum, zugig und so düster, dass er das Deckengebälk im Halbdunkel kaum ausmachen konnte. Durch die schmalen Fensteröffnungen auf der gegenüberliegenden Seite zwängte sich nur wenig Licht herein, gerade genug, um ihn erkennen zu lassen, dass er allein war. Hufeisenförmig angeordnete Tische aus schartigem Eichenholz nahmen den meisten Platz ein, die Längsseiten von klobigen Bänken flankiert. Lediglich an der Stirnseite, an der vermutlich der Chief mit seiner Gemahlin und den Ehrengästen zu sitzen pflegte, gab es hohe Lehnstühle. Hinter dem Sessel des Chiefs hingen zwei gekreuzte Schwerter an der Wand. Prachtvolle Stücke mit reich verzierten Griffen. Kohlebecken standen an den schmucklosen Wänden, doch die Glut darin war ebenso erloschen wie das Licht der Fackeln, die in regelmäßigen Abständen in Wandhalterungen angebracht waren. Die kalte Öffnung eines Kamins gähnte in der Wand gegenüber dem Platz des Chiefs.
Eòran hatte sich in Burgen noch nie wohlgefühlt. Als man ihn vergangenen Sommer zum Zweiten Hauptmann befördert hatte, wäre es sein Recht gewesen, ein Quartier innerhalb des Haupthauses von Dunstaffnage zu beziehen. Er hatte es jedoch vorgezogen, auch weiterhin in den Truppenunterkünften zu bleiben. Mochte er schon die Mauern von Dunstaffnage nicht, so war seine Abneigung hier ungleich größer. So stark, dass er sich beinahe körperlich von diesem Gemäuer abgestoßen fühlte. Ein Gefühl, das nicht einmal der Gedanke an die Begegnung mit der jungen Frau mildern konnte.
Schließlich trat er dennoch über die Schwelle in den Raum. Eòrans Schritte knirschten vernehmlich auf dem kahlen Steinboden, als er die Tische umrundete. Seine Unruhe trieb ihn zu einer der Fensteröffnungen. Unter ihm erstreckte sich ein kleiner Garten. Ein schmales Quadrat saftig grünen Rasens, auf beiden Seiten begrenzt von blühenden Rosenbeeten. Zwei junge Frauen saßen im Gras. Die eine – eine atemberaubende Schönheit mit hochgesteckten, goldenen Locken – hatte damenhaft ihre Röcke um sich herumdrapiert. Sie hielt eine einzelne Rose in der Hand, drehte sie langsam zwischen den Fingern und zupfte vorsichtig an den Blättern ohne sie auszureißen. Ihre Haut war hell, beinahe durchschimmernd, was sie umso zerbrechlicher wirken ließ. Trotz ihrer Schönheit war es die andere, die Eòrans Augenmerk auf sich zog.
Er hatte kaum zu hoffen gewagt, sie so bald wiederzusehen. Sie hatte die Beine angezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Lächelnd blickte sie in den Himmel. Waren es zuvor ihre Augen gewesen, die ihn angezogen hatten, so war es jetzt die Zufriedenheit in ihren Zügen. Eine Zufriedenheit, nach der er selbst seit Langem erfolglos suchte. Daran hatte sich auch in Dunstaffnage nichts geändert. Er hatte eine Familie, Freunde und einen angesehen Posten – alles, was ein Mann sich nur wünschen konnte –, und doch war da das Gefühl in ihm, nicht vollständig zu sein. Nur eine Kleinigkeit, aber dennoch ein wesentlicher Punkt, der ihn ausmachte: seine Herkunft.
Seit Duncan ihm und Kyle offenbart hatte, unter welchen Umständen sie nach Clachan Mòr gekommen waren, fragte sich Eòran, was damals geschehen war. Wie kam es, dass zwei Kinder allein in den Highlands umherirrten? Wer waren seine Eltern? Woher kam er?
Immer wieder hatte er sich einzureden versucht, dass es nicht wichtig sei. Duncan und Iona waren seine Familie – und natürlich Kyle. Dennoch ließ ihn die Ungewissheit nicht zur Ruhe kommen. Es gab nichts, was ihm einen Hinweis auf seine Vergangenheit gegeben hätte. Keine Erinnerungen, nur die Narbe an seinem Hals. Diese Frau anzusehen, die so sehr mit sich und der Welt im Einklang zu sein schien, erweckte eine tiefe Sehnsucht in ihm.
»Gefällt Euch, was Ihr in meinem Garten seht?«
Eòran wandte sich um. Er war so sehr in Gedanken gewesen, dass er den Mann nicht bemerkt hatte, der hinter ihm eingetreten war. Trotz des Halbdunkels, das jetzt, da er den Blick vom sonnigen Garten erneut in die Halle richtete, umso ausgeprägter zu sein schien, war Aonghas MacRae deutlich zu erkennen. Der Chief war ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann, der die vierzig Sommer bereits überschritten hatte. Etwas an ihm erschien Eòran seltsam vertraut. Als sei er ihm schon einmal begegnet. Vermutlich bei einem der Clanstreffen, zu denen er Chief John regelmäßig begleitete.
»Ich bin nicht gekommen, um die Aussicht zu genießen«, erwiderte er, »sondern um mit Euch zu sprechen.«
Der Chief kam näher. Erst jetzt sah Eòran die feinen silbernen Fäden, die sein Haar durchzogen. Winzige Fältchen umgaben seine dunklen Augen wie feine Linien, doch sein Blick war wachsam. Er ging an Eòran vorbei und setzte sich auf seinen Stuhl am Kopfende der Tafel. »Ich nehme an, es geht um den Gefangenen.«
Eòran trat in die Mitte der Halle. Lediglich der massive Tisch trennte ihn jetzt noch vom Oberhaupt der MacRaes. Der Chief betrachtete Eòran eingehend. »Wie sagtet Ihr, ist Euer Name?«
»Eòran MacDougal, Herr.«
Der Blick des Chiefs ruhte auf Eòrans Augen. »Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Möglicherweise auf einem Clanstreffen, zu dem ich meinen Chief begleitet habe«, entgegnete Eòran. »Herr, einer Eurer Gefangenen ist mein Bruder. Sein Name ist Kyle. Ich möchte Euch bitten, ihn gehen zu lassen.«
»Darum habt Ihr mich nun gebeten. Dann gibt es wohl nichts weiter zu besprechen.«
»Werdet Ihr –«
»Es tun?« Aonghas schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich weiß, was ihm vorgeworfen wird«, sagte Eòran. »Ich bitte Euch dennoch um Nachsicht. Ich versichere Euch, dass er es nicht noch einmal tun wird.«
»Das wird er ganz bestimmt nicht.«
»Verschont ihn! Er ist noch so jung!«
»Alt genug, um mein Eigentum zu stehlen.« Der Chief erhob sich. »Einer meiner Krieger wird Euch hinausgeleiten.« Er wandte sich ab und wollte zur Tür.
Eòran war nicht bereit, aufzugeben. »MacRae! Hört mich an!« Tatsächlich hielt MacRae inne. »Kyle ist ein junger Heißsporn. Lasst ihn nicht für seine Jugend und Unerfahrenheit bezahlen!«
»Benutzt seine Jugend nicht als Entschuldigung für seine Taten.«
»Wie wäre es dann mit Hunger oder dem Wunsch, den Menschen, die er liebt, aus ihrer Not zu helfen? Könnt Ihr Euch dem wirklich verschließen?«
»Er ist ein Verbrecher, und sobald ich weiß, wo er mein Vieh versteckt hat, wird er baumeln!«
Eòran ballte die Hände zu Fäusten. Noch immer suchte er nach Worten, die MacRae überzeugen konnten. Er schluckte seinen Stolz hinunter. »Wenn Ihr es wünscht, werde ich mich vor Euch in den Staub werfen und Euch um Kyles Leben anflehen.«
MacRae betrachtete ihn ungerührt. »Was hätte ich davon? Nennt mir nur einen vernünftigen Grund, warum ich einen Verbrecher verschonen sollte!« Er schwieg einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Ihr sagtet selbst, Euer Bruder sei ein Heißsporn. Das macht ihn unberechenbar und gefährlich. Er muss hängen! «
Eòran presste die Lippen aufeinander. »Ihr habt mein Wort, dass er nie wieder in die Nähe Eures Eigentums kommen wird!«, versuchte er es erneut. »Dafür werde ich sorgen!«
»Dafür sorge ich lieber selbst.«
Sobald er allein war, ließ Aonghas sich wieder in seinem Stuhl nieder. Nachdenklich blickte er auf die Tür, durch die der junge MacDougal die Halle einen Atemzug zuvor verlassen hatte. Etwas an diesem Mann war ihm seltsam vertraut erschienen. Etwas, was ihn die ganze Zeit über gezwungen hatte, ihn anzusehen. Ihm blieb keine Zeit, darüber zu sinnieren, denn nur einen Moment später wurde die Tür erneut geöffnet und Cormac erschien auf der Schwelle. Im spärlichen Licht wirkte sein schmächtiger Freund noch betagter als sonst. Manchmal erschreckte ihn Cormacs Anblick. Obwohl er nicht älter war als Aonghas selbst, war er doch weit vor seiner Zeit gealtert. Seine einst imposante Erscheinung war im Laufe der Jahre immer rascher dahingeschwunden. Dürr war er geworden, das ergraute Haar nur noch von wenigen dunklen Strähnen durchzogen. Doch auch wenn seine gebeugte Gestalt und die faltigen Züge die eines weit älteren Mannes sein mochten, änderte das nichts an seinem wachen Verstand. Eine Intelligenz, die auch aus seinen Augen sprach, die keineswegs von der Müdigkeit der Jahre getrübt waren. Cormac war der wichtigste Mensch in Aonghas’ Leben – bedeutender noch als Owen, den er ebenfalls zu seinen engsten Freunden zählte. Doch während Owen eher ein Mann fürs Grobe war, hatte er in Cormac einen klugen Ratgeber gefunden, der stets auf alles eine Antwort parat zu haben schien.
Cormac blieb in der Tür stehen. Sein Blick folgte dem jungen MacDougal, ehe er sich Aonghas zuwandte. »Was wollte der?«
»Er war hier, um die Freilassung seines Bruders zu erbitten.«
»Der Viehdieb?«
Aonghas nickte, nicht im Stande etwas anderes zu sagen. Noch immer versuchte er zu verstehen, was ihn am Anblick dieses Mannes derart beunruhigte. Zunächst fand er nichts Ungewöhnliches an MacDougals Auftreten. Dann jedoch traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Konnte es sein, dass …?
Nach dem Tod seines Bruders und seiner Brut hatte er alles getan, damit der Clan keinen Hunger mehr leiden musste. Er hatte das Versprechen erfüllt, das er sich damals selbst gegeben hatte. Denn obwohl das Land der MacRaes nicht zu den fruchtbarsten Gebieten in den Highlands zählte, hatte er sicherstellen können, dass es seinen Leuten an nichts mangelte. Er hatte Bündnisse geschlossen, indem er Williams hervorragend ausgebildete und ausgerüstete Krieger zum Schutz der anderen Clans einsetzte. Im Gegenzug schworen ihm jene, die seine Hilfe in Anspruch nahmen, Gefolgschaft und zahlten ihm Abgaben in Form von Vorräten und Vieh. Um die Zukunft des Clans dauerhaft zu sichern, war er sogar bereit gewesen, sich auf eine Ehe einzulassen. Letzten Sommer hatte er Sheona, eine von Iomaér MacKenzies Töchtern, zum Weib genommen. Eine Verbindung, die ihn schon bald für immer ans Ziel seiner Wünsche bringen würde, denn endlich war sie guter Hoffnung. In einem halben Jahr würde sie seinen Erben zur Welt bringen. Sheona war ein gutes, pflichtbewusstes Weib. Doch neben der Erinnerung an Marjorie verblasste selbst ihre Schönheit.
Die schreckliche Ironie, dass erst ihr Tod Williams Tyrannei ein Ende gesetzt hatte, begleitete ihn jeden Tag. Heute ging es den MacRaes besser denn je. Niemand hatte je die Umstände, die zu Williams Tod geführt hatten, in Frage gestellt oder etwas über den Verbleib seiner Söhne wissen wollen. Die Gewissheit, dass es ihnen künftig besser gehen würde, hatte ihnen genügt. Gemeinsam mit Cormac und Owen hatte Aonghas aus dem Clan das gemacht, was er heute war: eine der wohlhabendsten und einflussreichsten Sippen Schottlands. Das würde er sich von niemandem mehr zerstören lassen.
Er sah abrupt auf. »Wir müssen uns auf Schwierigkeiten einstellen.«
Cormac furchte die Stirn. »Wegen eines Viehdiebs und seines Bruders?«
»Hast du seine Augen gesehen?«
Cormac schüttelte den Kopf.
»Er hat ihre Augen.«
»Was? Aonghas …« Cormac kam näher. Erst unmittelbar vor dem Tisch blieb er stehen. Beinahe an derselben Stelle, an der zuvor Eòran MacDougal gestanden hatte. Wieder schüttelte sein Freund den Kopf. »Das ist nicht möglich. Sie sind tot. Alle beide.«
Aonghas war sich dessen inzwischen nicht mehr so sicher.
»Ruf Owen. Er wird uns sagen können, ob es möglich ist oder nicht.«
Als Eòran auf den Burghof trat, kniff er geblendet die Augen zusammen. MacRae mochte ihn fortgeschickt haben, aufgeben würde er deshalb noch lange nicht. Er ballte die Hände zu Fäusten. Ich werde einen Weg finden, dich zu befreien, Kyle. Einer der Clansmen eilte an ihm vorbei. »Ist die Kutsche für die Herrin bereit?«, rief er einem anderen zu. Von einem Impuls getrieben, den er sich selbst nicht erklären konnte, drehte sich Eòran nach dem Mann um. Als er sich einen Augenblick später wieder nach vorne wandte, wäre er um ein Haar mit einem bärtigen, blonden Hünen zusammengestoßen. Im letzten Moment machte Eòran einen raschen Schritt zur Seite.
»Entschuldige, ich –« Die moosgrünen Augen des Blonden trafen auf Eòran und weiteten sich für einen Moment vor Verblüffung. »Habe ich dich hier schon einmal gesehen?«
Ähnliche Worte, wie er sie zuvor von Aonghas MacRae zu hören bekommen hatte. »Das scheint hier eine gängige Frage zu sein, um einen Fremden zu begrüßen«, knurrte Eòran unwirsch und wollte weiter.
Der Hüne vertrat ihm den Weg. Er starrte Eòran noch immer an, als wäre er der Leibhaftige selbst. Jetzt jedoch wanderte sein Blick weiter, heftete sich für einen Moment auf die feine Narbe an Eòrans Hals, ehe er zu seinen Augen zurückkehrte. Dann zischte er plötzlich: »Verlass Dun Cunnartach und komm nie wieder hierher zurück!«
Eòran zog eine Augenbraue hoch. »Soll das eine Drohung sein?«
Der große Mann schüttelte den Kopf. »Nur ein gut gemeinter Rat. Andernfalls wird er dich töten.« Ohne eine weitere Erklärung machte er kehrt und verschwand im Haupthaus.
Kopfschüttelnd ging Eòran zur Mauer, wo sein Pferd auf ihn wartete. Alles in ihm sträubte sich dagegen, Kyle hier zurückzulassen. Bevor er gegangen war, hatte er MacRae gebeten, ihm zumindest zu gestatten Kyle zu sehen, doch der Chief hatte ihm sogar das verweigert. »Geht jetzt!«, hatte er gesagt und ihm den Weg zur Tür gewiesen. »Ihr habt nichts Unrechtes getan, Eòran MacDougal. Sorgt dafür, dass das so bleibt. Ich will nicht eines Tages bereuen müssen, dass ich Euch jetzt ziehen lasse.«
Unter Hamishs mürrischem Blick erreichte Eòran sein Pferd. Schweigend legte er seinen Schwertgürtel um und verstaute das Sgian Dubh wieder in seinem Ärmel. Dann griff er nach dem Zügel, schwang sich in den Sattel und lenkte das Tier durch das Burgtor hinaus. MacRae hatte ihn nicht zum letzten Mal gesehen!