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Whisper E-Book

Brigitte Melzer

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Beschreibung

Whisper, die Königin der Diebe, möchte sich zur Ruhe setzen. Doch das will jemand um jeden Preis verhindern: Verfolgt von drei Unbekannten und um ihr Geld betrogen, ist Whisper gezwungen, noch einen letzten Auftrag auszuführen. Einen Auftrag, der nicht nur ihr Leben und ihr Herz in Gefahr bringt, sondern auch die Zukunft eines ganzen Landes.

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Brigitte Melzer

Whisper

Königin der Diebe

Roman

Lärm riss Whisper aus dem Schlaf. Ein Poltern, gefolgt von schweren, wütenden Schritten. Jemand packte sie bei der Schulter und schüttelte sie heftig. Jetzt war sie wirklich wach. Erschrocken riss sie die Augen auf, bereit, sich gegen einen Angriff zur Wehr zu setzen. Über ihr stand Glenna Jamesson, die Wirtin, deren Dachkammer sie bewohnte, und starrte ihr wie ein wild gewordener Rachedämon entgegen.

Kaum hatte Whisper die Augen aufgeschlagen, ging eine wütende Tirade auf sie nieder. »Eine wie dich brauchen wir hier nicht! Dies ist ein ehrenwertes Haus!«

»Was?« Blinzelnd setzte sich Whisper ein Stück auf. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung, wovon die stämmige Wirtin sprach.

»Tu nicht so unschuldig! Sie haben mir gesagt, was du hier treibst! Ich will nicht, dass deine Freier hier ein und aus gehen!« Sie stemmte die Arme in die Hüften. Alle Freundlichkeit und Güte waren aus ihrem rundlichen Gesicht gewichen, als sie sagte: »Bis heute Mittag bist du verschwunden! Dann will ich dich hier nicht mehr sehen! Nie wieder.«

Ehe Whisper fähig war, einen sinnvollen Gedanken zu fassen, machte die Wirtin kehrt und rauschte aus der Kammer. Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Whisper blieb allein zurück.

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie schlug die raue Wolldecke zurück und erhob sich von dem mit Stroh gefüllten Sack, der ihr als Matratze diente. Noch immer wusste sie nicht, was vor sich ging. Allerdings keimte ein leiser Verdacht in ihr auf. Sie haben mir gesagt, was du hier treibst, schossen ihr Glenna Jamessons Worte durch den Kopf. Whisper hatte eine vage Ahnung, wer sie sein könnten.

Sie trat an den kleinen Waschtisch heran, wo eine leere Schüssel und ein Krug mit Wasser bereitstanden. Sie leerte den Inhalt des Kruges in die Schüssel, tauchte die Hände ein und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Sobald sie mit dem kalten Wasser in Berührung kam, löste sich auch das letzte bisschen Müdigkeit in nichts auf.

Mürrisch blickte Whisper auf die Wasseroberfläche. Das Spiegelbild, das ihr entgegenstarrte, zeigte deutlich, was in ihr vorging. Die langen, schwarzen Locken waren noch vom Schlaf zerzaust, doch ihr Blick war hellwach. Eine Mischung aus Wut, Unglauben und Sorge zeigte sich in ihren blauen Augen.

Der neue Tag begann so, wie der letzte geendet hatte. Mit Schwierigkeiten. Sie war erst seit einigen Tagen in der Stadt, und bisher hatte sie sich vollkommen sicher gefühlt. Bis gestern Abend.

Fluchend schlug sie mit der flachen Hand auf den Waschtisch. In die Wasseroberfläche kam Bewegung. Ihr Spiegelbild verschwamm. Whisper wandte sich ab und griff nach ihrer Kleidung. Hastig schlüpfte sie in Hemd und Hose, beides dunkelblau. Auf einem Bein hüpfend zog sie zunächst den einen, dann den anderen Stiefel an. Weiche Wildlederstiefel, ebenso schwarz wie die Lederweste, die sie zum Schluss überzog.

Während sie die Weste zuschnürte, wanderten ihre Gedanken zurück zum gestrigen Abend.

Sie war im Tanzenden Bären gewesen, einer Schenke in der Nähe des Marktplatzes. Sie hatte vor einem Humpen Ale gesessen und die Menschen beobachtet, die sich dort getummelt hatten. Die Schenke war ganz nach ihrem Geschmack. Essen und Ale waren genießbar, und niemand stellte Fragen.

Ganz gleich, in welchem Land der Welt man sich aufhielt, in den Schenken schienen sich die Menschen stets auf dieselbe Art zu vergnügen. Fröhliche Gespräche beim Ale, unterhaltsame Geschichtenerzähler, talentierte Barden und spannende Würfelspiele gab es überall.

Menschen zu beobachten war ihr im Laufe der Jahre in Fleisch und Blut übergegangen. Eine Gewohnheit, die ihr mehr als einmal das Leben gerettet hatte und die sich nicht so einfach ablegen ließ. Nicht einmal, wenn man vorhatte, in einer fremden Stadt ein neues Leben zu beginnen – fernab von allen Erinnerungen. Cor Amánthor war diese fremde Stadt. Whisper war mit dem festen Wunsch, sich hier niederzulassen, nach Cor Amánthor gekommen. Seit ihrer Ankunft vor wenigen Tagen hatte sie viel Zeit darauf verwandt, die Stadt zu erkunden. Was sie bisher gesehen hatte, gefiel ihr. Die Stadt war sicherer und sauberer als viele Städte auf dem Festland. Whisper konnte unerkannt durch die Straßen und Gassen streifen ohne fürchten zu müssen, jemand würde mit dem Finger auf sie zeigen und brüllen: »Das ist sie! Schnappt sie euch!«

Cor Amánthor war die Hauptstadt des Inselkönigreichs Dallán. Der Palast des Königs befand sich im Norden der Stadt, doch im Augenblick war der Thron verwaist. König Otherós der Gütige war vor Kurzem gestorben und die traditionelle Trauerzeit war noch nicht vorüber, sodass noch kein neuer Herrscher bestimmt war.

In Whispers Augen war es eine seltsame Tradition, ein Reich einhundert Tage um einen Toten trauern zu lassen, ehe ein neuer König ernannt wurde. Auf dem Kontinent wäre das nicht möglich gewesen. Ein verwaister Thron hätte in Cartómien binnen weniger Wimpernschläge einen Krieg um die Nachfolge ausgelöst. Jedes noch so kleine Fürstentum hätte seinen Anspruch auf die Herrschaft angemeldet und auch mit aller Macht verteidigt. Wenn der Kontinent nicht im Krieg versinken wollte, war es nötig, den Thronerben frühzeitig festzulegen. Sichtlich machte man sich in Dallán keine Sorgen darüber, dass es zu Streitigkeiten um die Thronfolge kommen könnte.

Im Grunde genommen konnte es Whisper auch egal sein. Es interessierte sie nicht, wer das Land regierte, solange sie hier unbehelligt leben konnte. Cor Amánthor war perfekt. Eine Schiffsreise von mehr als zwei Wochen trennte sie vom Kontinent und von ihrer Vergangenheit.

Ihre Ruhe und Zufriedenheit fanden ein abruptes Ende, als drei Männer die Schenke betraten. Männer in einfachen grauen und braunen Gewändern, deren bloßes Auftreten sämtliche Alarmglocken in ihrem Kopf schrillen ließ. Die Art, wie sie ihre Umhänge trugen, verriet ihr sofort, dass sich darunter Schwerter verbargen.

Obwohl sich ihre Gewänder in Schnitt und Farbe unterschieden, erkannte Whisper auf den ersten Blick, dass die Männer zusammengehörten. Nicht einfach wie Reisegefährten. Diese Männer bildeten eine geschlossene Einheit. So, wie sie sich in der Schenke umsahen und sich dann durch den Raum bewegten, waren die drei es gewohnt, zusammenzuarbeiten. Womöglich waren sie Söldner. Oder Kopfgeldjäger. Bei diesem Gedanken wurde ihr eiskalt.

Sie suchten jemanden. Zoll um Zoll schweiften ihre Blicke durch den Schankraum, sie musterten jedes Gesicht, jeden Anwesenden.

Whisper hob ihren Krug vors Gesicht und gab vor, einen tiefen Schluck zu nehmen. Als sie den Krug schließlich abstellte, kreuzte sich ihr Blick mit dem eines der Männer. Er musterte sie aus leicht zusammengekniffenen Augen. Der Anflug eines Lächelns glitt über seine Züge.

Whisper hatte Mühe, nicht unruhig auf ihrer Bank hin und her zu rutschen, als er sich in Bewegung setzte. Behände bahnte er sich einen Weg zwischen Bänken und Tischen hindurch. Geradewegs auf sie zu. Seine Kameraden folgten ihm auf sein Zeichen hin.

Whisper hatte sich einen Tisch neben dem Feuer ausgesucht. Sie saß mit dem Rücken zur Wand und konnte den gesamten Schankraum überblicken. Ebenfalls eine alte Gewohnheit.

Mit jedem Schritt, den die Männer näher kamen, wuchs in ihr der Drang, einfach aufzuspringen und aus der Schenke zu fliehen. Es kostete sie viel Überwindung, sitzen zu bleiben und abzuwarten. Bisher hatten die Männer weder eine Waffe gezogen noch auf andere Weise gezeigt, dass sie ihr gefährlich werden konnten. Jetzt davonzulaufen würde nur unnötig die Aufmerksamkeit der übrigen Anwesenden auf sie lenken.

Nein, fliehen konnte sie immer noch, falls sich die Männer tatsächlich als Gefahr erweisen sollten. Sie würden es nicht wagen, sie in aller Öffentlichkeit zu bedrohen. Und falls doch … nun, Whisper kannte genügend Tricks, einem Verfolger zu entwischen.

Sie gab vor, den Männern keine Beachtung mehr zu schenken. Desinteressiert betrachtete sie den Humpen, der vor ihr auf dem schartigen Holztisch stand, während sie mit klopfendem Herzen darauf wartete, was als Nächstes geschehen würde. Der, der sie zuerst entdeckt hatte, erreichte ihren Tisch und blieb vor ihr stehen. Sie sah auf. Schweigend musterte sie ihn. Ein drahtiger, hochgewachsener Kerl mit tief liegenden Augen.

»Du bist Whisper.« Seine Stimme klang rau wie ein Reibeisen.

Der bittere Geschmack einer unangenehmen Vorahnung breitete sich in ihrem Mund aus. Niemand in Dallán kannte diesen Namen. Und falls doch, so brachte man ganz sicher nicht sie damit in Verbindung. Für die Menschen in Cor Amánthor war sie Alannah. In der letzten Stadt hatte sie sich Leáh genannt und davor war es Syl gewesen. Whisper hatte darauf geachtet, ihre Spuren sorgfältig zu verwischen. Sichtlich ohne Erfolg. Unwillkürlich wanderte ihr Blick nun doch zur Tür, die in unerreichbare Ferne gerückt zu sein schien, der Weg dorthin versperrt von den drei Männern.

Der Mann mit der rauen Stimme bemerkte ihren Blick. »Wir wollen dir nichts tun, Whisper.«

Und Kühe können fliegen. »Mein Name ist nicht Whistler. Ich bin Alannah, aber eigentlich geht Euch das nichts an.«

»Whisper«, korrigierte er mit dünnem Lächeln. »Nicht Whistler.« Unaufgefordert nahm er auf der Bank ihr gegenüber Platz. Seine Begleiter setzten sich neben ihn.

Whisper trank von ihrem Ale und wartete ab.

Eine Weile musterte er sie ebenfalls schweigend. Schließlich beugte er sich leicht über den Tisch nach vorne. Als er zu sprechen begann, tat er es mit leiser Stimme, sorgfältig darauf bedacht, von den Menschen an den Nebentischen nicht gehört zu werden. »Ich bin im Auftrag meines Herrn hier, um dir ein Angebot zu machen.«

»Ihr solltet Euer Anliegen in einem Freudenhaus vortragen. Ich bin nicht interessiert.«

Die Hand des Mannes schoss vor und legte sich auf ihren Arm. »Du missverstehst mich. Wir sind nicht auf der Suche nach einem Freudenmädchen«, sagte er ruhig. »Es ist ein Angebot, das du nicht leichtfertig ablehnen solltest.«

»Ach ja?« Whisper runzelte die Stirn. »Und wer ist Euer Auftraggeber?«

Er verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Das wirst du sehen, wenn du uns begleitest.«

Für einen Augenblick spielte Whisper tatsächlich mit dem Gedanken, die Männer zu begleiten. Zu wissen, dass es jemanden gab, der ihre wahre Identität kannte, bereitete ihr Unbehagen. Sie musste herausfinden, wer der geheimnisvolle Herr war und ob er ihr gefährlich werden konnte. Gleichzeitig jedoch war ihr bewusst, dass es sich bei den drei Männern dennoch um Kopfgeldjäger handeln konnte. Womöglich versuchten sie nur, sie unter einem Vorwand aus der Schenke zu locken, um bei den übrigen Anwesenden keine Aufmerksamkeit zu erregen. Das Risiko, ihnen zu folgen, war zu groß.

Mit gespielter Gleichmut streifte sie seine Hand ab, die noch immer auf ihrem Arm ruhte, und erhob sich. »Wie ich schon sagte, ich bin nicht interessiert.« Ohne sich noch einmal umzudrehen verließ sie die Schenke.

*

Gestern diese Kerle, heute das merkwürdige Benehmen der Wirtin. Whisper war davon überzeugt, dass das kein Zufall sein konnte.

Sie haben mir gesagt, was du hier treibst. Glenna Jamessons Worte waren der Beweis, dass sie recht hatte. Jemand hatte dafür gesorgt, dass die Wirtin sie hinauswarf. Und sie wollte nicht Whisper heißen, wenn die Männer aus dem Tanzenden Bären daran unbeteiligt waren. Hastig begann sie ihre Habe in ihren Rucksack zu packen.

Seit sie denken konnte, hatte sie ihren Lebensunterhalt durch Diebstähle und Betrügereien verdient. Mit den Ersparnissen hatte sie sich in Cor Amánthor niederlassen wollen. Sie hatte vorgehabt, sich ein Haus zu kaufen und eine Schenke zu eröffnen. Das einzige Hindernis, mit dem sie gerechnet hatte, war der Erhalt einer Genehmigung gewesen, die es ihr erlaubte, eine Schenke in der Stadt des Königs zu betreiben. Das würde vermutlich nicht leicht werden. Doch darum wollte sie sich erst kümmern, sobald sie geeignete Räumlichkeiten gefunden hatte. Ein paar Goldstücke in die richtigen Hände würden ihr sicher weiterhelfen.

Jetzt hatte es allerdings den Anschein, als müsse sie ihre Pläne ändern. Womöglich war diese Stadt weniger geeignet, als sie zunächst angenommen hatte. Whisper hielt mitten in der Bewegung inne. Sie war es nicht gewohnt, so schnell aufzugeben. Ein neues Leben in einer Stadt zu beginnen, in der offensichtlich einige Menschen wussten, wer sie war, erschien ihr jedoch nicht erstrebenswert. Seufzend zurrte sie die Riemen ihres Rucksacks fest. Wie oft hatte sie ihr Starrsinn bereits in Schwierigkeiten gebracht? Dieses Mal nicht, schwor sie sich. Ich werde nicht in Cor Amánthor bleiben.

Kurz darauf verließ sie ihre Unterkunft. Sie trat auf die Straße hinaus und sah sich um. Ihr Blick folgte einem Fuhrwerk, das sich vermutlich auf dem Weg zum Marktplatz befand. Die Holzräder holperten über das unregelmäßige Pflaster und wirbelten Straßenstaub auf, der sich nur langsam wieder legte. Einfache Leute zogen Karren hinter sich her, auf denen sie ihre Waren oder Einkäufe transportierten. Eine Frau führte eine Kuh die Straße entlang. Von irgendwoher drang das Geschrei spielender Kinder an ihr Ohr. Alles war in Ordnung.

Whisper schloss für einen Moment die Augen und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Langsam wich das Unbehagen, das sie noch vor Kurzem so deutlich verspürt hatte.

Schon bald würde Cor Amánthor hinter ihr liegen. Es gab nur noch eine Sache, die sie zu erledigen hatte, ehe sie die Stadt verlassen konnte. Sie musste Shan Vari aufsuchen, jenen Kaufmann, den sie mit der Verwaltung ihrer Ersparnisse betraut hatte. Sie würde sich ihr Gold auszahlen lassen und so schnell wie möglich verschwinden.

Bis diese Kerle bemerken, dass ich nicht mehr in der Stadt bin, habe ich einen guten Vorsprung. Eine falsche Fährte hier und da, und es wird ihnen niemals gelingen, meine Spur zu finden.

Voll grimmiger Entschlossenheit bahnte sie sich einen Weg durch die belebten Straßen. Immer wieder war sie gezwungen, Fuhrwerken auszuweichen oder entgegenkommenden Menschen Platz zu machen. Alles, woran sie denken konnte, war, so schnell wie möglich zum Viertel der Händler zu gelangen, wo sie Shan Vari finden würde. Sie passierte eine kreuzende Gasse und folgte dem Verlauf der Hauptstraße weiter. Eine Gestalt löste sich aus den Schatten der Gasse und trat neben sie.

»Du hattest eine Nacht Zeit, über unser Angebot nachzudenken«, sagte der Mann neben ihr.

Sie erkannte seine raue Stimme sofort wieder. Ohne ihn anzusehen wusste sie, dass es der Anführer der Männer von gestern Abend war.

Whisper verlangsamte ihren Schritt nicht. Sie sah ihm in die Augen. »Welchen Teil von Ich bin nicht interessiert habt Ihr gestern nicht verstanden?« Manchmal war Angriff die beste Verteidigung.

Sie setzte ihren Weg fort, bog jedoch an der nächsten größeren Kreuzung von der Hauptstraße ab, um einer anderen Straße zu folgen. Sie wollte vermeiden, dass dieser Kerl erkannte, wohin sie wollte. Er begleitete sie.

Es fiel ihr schwer, ihn nicht einfach anzubrüllen, er solle ihr endlich erklären, was er von ihr wolle und warum er sie verfolge. Dennoch gelang es ihr, sich zurückzuhalten. Dieser verdammte Bote sollte nicht merken, wie sehr ihr seine Anwesenheit zu schaffen machte. Zumindest schien er wirklich kein Kopfgeldjäger zu sein, sonst hätte er sie längst gefangen genommen.

Eine Weile ging er schweigend neben ihr her. Als Whisper nach einiger Zeit noch immer nichts gesagt hatte, ergriff er endlich das Wort. »Wie ich hörte, hast du Schwierigkeiten mit deiner Wirtin«, bemerkte er ruhig. »Wir könnten dir helfen, das Missverständnis bei Frau Jamesson aufzuklären.«

In diesem Moment wurde zur Gewissheit, was sie die ganze Zeit über geahnt hatte. Diese Kerle hatten ihr den Ärger eingebrockt.

Whisper blieb stehen. Sie schluckte eine wütende Bemerkung hinunter und sagte kalt: »Danke, ich komme ohne Eure Hilfe zurecht.«

»Bist du sicher?« Der Bote war ebenfalls stehen geblieben.

Sie bedachte ihn mit einem hochmütigen Blick. »Es gibt auch noch andere Schenken.«

»Gerüchte verbreiten sich in Cor Amánthor schnell.«

Whisper erwiderte nichts.

Er sah sie aus seinen dunklen, tief liegenden Augen an. Hier, im Schatten der Häuser, wirkte sein Gesicht wie ein Totenschädel. »Na, Mädchen, du kannst dich noch eine Weile sträuben. Eines solltest du jedoch wissen: Mein Herr kann ein Nein nicht akzeptieren.«

»Dann wird er es wohl lernen müssen.« Es fiel ihr nicht leicht, die gleichgültige Arroganz, die sie bisher an den Tag gelegt hatte, aufrechtzuerhalten. Die Unnachgiebigkeit dieses Mannes beunruhigte sie. Noch mehr beunruhigte sie jedoch die Frage, wer der Herr sein mochte, dem er diente. Mit einem Nicken ließ sie ihn stehen und setzte ihren Weg fort. Sie rechnete damit, dass er ihr folgen würde. Er blieb jedoch, wo er war.

Halb im Schatten verborgen blickte er ihr nach. Seine Lippen formten ein lautloses: Wir sehen uns. Dann bog Whisper in eine andere Gasse und verlor ihn aus den Augen.

Kaum war sie um die Ecke, begann sie zu rennen. Getrieben von dem plötzlichen Bedürfnis, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Boten zu bringen, hetzte sie die Gasse entlang. Immer wieder rempelte sie mit der Schulter gegen Passanten. Ohne auch nur langsamer zu werden hastete sie weiter. Ziellos rannte sie durch die Straßen. Wann immer sie um eine weitere Ecke bog oder an einer Abzweigung vorüberkam, warf sie einen Blick nach allen Seiten. Sie wollte sichergehen, dass der Bote sie nicht verfolgte.

Whisper wusste nicht, wie lange sie durch die Straßen gerannt war. Irgendwann hielt sie völlig außer Atem inne. Sie ließ ihren Rucksack zu Boden gleiten und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand. Keuchend versuchte sie wieder zu Atem zu kommen.

Im Stillen schalt sie sich eine Närrin. Einerseits hatte sie alles getan, diesem Boten zu zeigen, dass er ihr keine Angst machte, und dann rannte sie durch die Straßen, als wären alle Soldaten des Königs hinter ihr her. Whisper fluchte leise. Sie konnte nur hoffen, dass er ihre kopflose Flucht nicht gesehen hatte.

Noch immer ein wenig atemlos sah sie sich um. Die Häuser hier waren nicht mehr so groß und schön wie in jenen Teilen der Stadt, die sie bisher erkundet hatte. Windschiefe Holzhäuser lehnten sich aneinander und warfen lange Schatten auf die Straße. Bei einigen waren Fenster und Türen mit Brettern vernagelt. Andere hatten nicht einmal mehr Türen. Unrat breitete sich in den Gassen aus und türmte sich an den Wänden. Irgendwo raschelte etwas. Ratten, dachte Whisper, während ihr Blick über den Abfall wanderte.

Solange der Bote und seine Männer irgendwo in den Straßen unterwegs waren und nach ihr suchten, benötigte sie ein Versteck. Dort könnte sie warten, bis es dunkel wurde, ehe sie zu Shan Vari gehen wollte. Ein leises Lächeln huschte über ihre Züge. Womöglich war dies genau die Gegend, in der niemand sie vermuten würde. Diese Kerle kannten ihren Namen. Bestimmt wussten sie noch mehr über Whisper. Wenn sie Nachforschungen über sie angestellt hatten, so hatten sie sicher herausgefunden, dass Whisper am liebsten in guten Schenken logierte und sich gerne mit den schönen Dingen des Lebens umgab. Das war der Ruf, der ihr folgte. Ein Ruf, den sie selbst aufgebaut hatte und der nichts weiter als eine geschickte Tarnung war. Whisper hatte gelernt, in allen Lebenslagen zurechtzukommen, und sie hatte gelernt, sich in den Gegenden einer Stadt zu bewegen, in die viele andere Menschen niemals einen Fuß gesetzt hätten.

Whisper hatte in gewissen Kreisen den Ruf, eine begnadete Diebin und Betrügerin zu sein, die gerne im Überfluss lebte und mit dem protzte, was sie besaß. In all den Jahren hatte sie stets sorgfältig darauf geachtet, dass niemand an dieser Fassade kratzte. Viele ihrer Bekannten waren davon überzeugt, dass ihr Hang zum Luxus sie einmal den Kopf oder zumindest die Hand kosten würde.

Whisper hatte sie stets in dem Glauben gelassen und sogar noch darin bestärkt. Voller Stolz konnte sie behaupten, dass niemand die wahre Whisper kannte: jenen Menschen, der sich hinter all dem Pomp und Wohlstand verbarg, den sie nach außen hin zur Schau stellte. Womöglich kam ihr dieser Umstand jetzt zugute.

Whisper schulterte erneut ihren Rucksack und setzte sich wieder in Bewegung. Sie spürte die Blicke aus den Schatten der Straßen und wusste, dass es nicht der Bote war. Schnellen Schrittes folgte sie dem Weg, bis sie eine Schenke erreichte. Die verwitterte Fassade sagte ihr, dass dies der geeignete Unterschlupf war. Das Holzschild, das über der Tür leicht im Wind schwang, verriet ihr den Namen der Schenke. Zum blinden Bettler. Ein Blinder konnte nicht sehen, was um ihn herum vorging. Nein, hier würde niemand Fragen stellen.

Sie öffnete die Tür und trat in den Schankraum. Der abgestandene Geruch des Vorabends nach modrigem Stroh vermischt mit Schweiß und Alkohol hing in der Luft und stieg ihr beißend in die Nase. Trotz der sommerlichen Temperaturen brannte ein Feuer im Kamin.

Drückende Hitze lag über dem Raum und ließ die ohnehin schlechte Luft nur noch stickiger werden. Whisper zwang sich dazu, nicht angewidert das Gesicht zu verziehen. Sie mochte es zwar gewohnt sein, sich in Schenken dieser Art aufzuhalten, das bedeutete jedoch nicht, dass es ihr gefiel.

Angesichts der frühen Stunde war die Schankstube nahezu ausgestorben. Nur vereinzelt saßen ein paar Menschen, vorwiegend Männer, an den Tischen und tranken Ale. Hinter dem Tresen stand ein mürrisch wirkender Wirt. Er war damit beschäftigt, einen Humpen mit einem Tuch auszuwischen. Als sie eintrat, hielt er inne und sah auf. Sein fettiges, braunes Haar klebte ihm in feuchten Strähnen am Kopf.

Ohne zu zögern ging Whisper zu ihm. Sie hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. »Ich brauche ein Zimmer.«

Der Wirt legte langsam sein Tuch beiseite und musterte sie eingehend. Whisper hielt seinem Blick schweigend stand. Schließlich nickte der Wirt. »Das macht ein Goldstück für die Nacht. Bezahlung im Voraus.«

Whisper griff in ihre Gürteltasche. Sie kramte fünf Silberstücke hervor und warf sie vor dem Wirt auf den Tresen. »Den Rest bekommst du morgen früh.«

Der Wirt nickte. »Die Treppe rauf und dann links, am Ende des Ganges.«

Whisper wandte sich ab und ging zur Treppe. Sie folgte den breiten, ausgetretenen Holzstufen nach oben. Die Absätze ihrer Stiefel klapperten laut auf den hölzernen Dielen.

Wenige Augenblicke später stand sie in ihrer neuen Unterkunft und sah sich angewidert um. Von dem Strohsack, der an der Wand auf dem Boden lag, ging ein strenger Geruch aus. Sie fragte sich, wie lange das Stroh wohl nicht mehr gewechselt worden war, und entschied, dass sie es lieber nicht wissen wollte.

Da sie sich lebhaft vorstellen konnte, wie viel Ungeziefer darin umherkrabbelte, schob sie den Sack mit einer Stiefelspitze in die hinterste Ecke des Raumes. Mit einer energischen Bewegung stieß sie die enge Dachluke auf, um Luft in die Kammer zu lassen. Sie ließ ihren Rucksack in einer Ecke unter dem Fenster fallen, weit weg von der stinkenden Strohmatratze, und setzte sich daneben auf den Boden. Nachdem sie die Kammer gesehen hatte, war sie froh, dass sie nicht vorhatte, hier zu übernachten. Natürlich hätte sie sich auch in den Schankraum setzen und dort bis zum Einbruch der Dunkelheit warten können. Aber in einer Kammer – so dreckig sie auch sein mochte – war das Risiko, gefunden zu werden, einfach geringer. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt saß sie da und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Sie hatte gedacht, dass Absteigen dieser Art hinter ihr lagen, nachdem sie Cartómien und ihrem bisherigen Leben den Rücken gekehrt hatte. Sie hatte hier in Dallán ein neues Leben beginnen wollen, doch sichtlich hatten die Götter noch eine Rechnung mit ihr offen. Es wäre auch zu schön, wenn mein Leben zumindest für eine Weile ohne Schwierigkeiten verlaufen könnte.

Frustriert schlug sie die Absätze ihrer Stiefel aneinander. Immer und immer wieder. Ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit, zurück zu Garian. Sie dachte daran, wie es war, in seinen Armen zu liegen, sich beschützt und sicher zu fühlen. Damals glaubte sie, nichts auf der Welt könne ihr etwas anhaben. Doch wie lange hatte es angehalten? Genauso lange, wie es gedauert hat, mich an die Stadtwachen zu verraten und das Kopfgeld zu kassieren.

Whisper stieß ein wütendes Knurren aus. Garian hatte ihr ewige Liebe vorgegaukelt, um sie bei der erstbesten Gelegenheit für ein verdammtes Kopfgeld zu verraten. Ohne die Hilfe eines Wirtes säße sie jetzt im Kerker und Garian würde sein Blutgeld in vollen Zügen verprassen. Vermutlich war es auch Garian zu verdanken, dass der Bote und seine Freunde jetzt hinter ihr her waren. Niemals wieder würde sie den Fehler begehen, einem Dieb zu vertrauen. Ich hätte klüger sein müssen. Sie schüttelte die Erinnerung an Garian ab. Es war an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie es weitergehen sollte.

Whisper zerbrach sich lange über ihr weiteres Vorgehen den Kopf. So konzentriert, dass sie kaum bemerkte, wie es dunkel wurde. Rein mechanisch entzündete sie die kleine, beinahe völlig heruntergebrannte Kerze, die auf dem windschiefen Tischchen stand. Unter ihr war der Schankraum zum Leben erwacht. Lärm und ausgelassenes Gelächter drangen zu ihr nach oben. Sie achtete nicht darauf.

Sie wollte noch ein wenig warten, ehe sie sich auf den Weg zu Vari machte. Cor Amánthor jetzt zu verlassen erschien ihr wie eine feige Flucht. Gleichzeitig wusste sie, dass sie das einzig Vernünftige tat. Sie ging kein Risiko ein. Sie mochte starrsinnig sein und über einen ausgeprägten Kampfgeist verfügen, dennoch war sie nicht dumm. Sie wusste, wann es besser war, zu gehen.

Schritte erklangen auf der Treppe. Das Geräusch schwerer Stiefel hallte über den Gang. Viele Stiefel. Sie horchte auf. Krachend flog die Tür zu ihrer Kammer auf. Holzsplitter flogen durch den Raum, als der vorgelegte Riegel barst. Ein Handvoll grün uniformierter Männer strömte in die kleine Kammer und überflutete sie. Whisper sprang auf.

»Das ist die Frau!«, vernahm sie eine anklagende Stimme. »Sie hat meinen Herrn bestohlen! Nehmt sie fest!«

Der verdammte Bote! Sie musste ihn nicht sehen, um seine Stimme zu erkennen. Sichtlich hatte sein Herr in der Tat nicht vor, ein Nein einfach so hinzunehmen.

Dank jahrelanger Übung überwand sie ihren Schrecken rasch. Es kostete sie nur einen Moment, sich einen Überblick zu verschaffen. Der Weg zur Tür war ihr abgeschnitten. Der einzige Ausweg, der ihr blieb, war die Dachluke. Die Uniformierten traten auf sie zu. Ohne zu zögern überwand Whisper die zwei Schritte, die sie noch vom Fenster trennten. Ihre Hände griffen nach dem Rahmen, dann schwang sie die Beine aus dem Fenster und kletterte nach draußen. Einen Wimpernschlag später stand sie auf dem Dach. Hinter ihr wurden aufgeregte Rufe laut.

Jemand brüllte: »Lasst sie nicht entkommen!«

Whisper achtete nicht darauf. Ihr Blick glitt nach unten zur Straße. Der Schrei ihres Kameraden hatte ein paar Wachen alarmiert, die vor der Schenke zurückgeblieben waren. Sie legten den Kopf in den Nacken und blickten nach oben. Geduckt hastete sie über das schräge Dach, darauf hoffend, dass die Schindeln ihr Gewicht tragen würden.

»Dort oben ist sie!« In der Straße setzten sich die Männer in Bewegung und folgten ihrem Weg.

Hinter ihr kletterte jemand aus dem Fenster. Sie vernahm das Geräusch schwerer Stiefel auf dem Dach. Einen Augenblick später endeten die Schritte in einem lauten Knacken. Ein Fluch folgte. Jetzt nahm sie sich doch die Zeit, sich umzusehen. Die Wache, die ihr aufs Dach gefolgt war, war mit dem Fuß durch die morschen Schindeln gebrochen. Mit einem Ruck befreite der Mann sein Bein und nahm erneut die Verfolgung auf.

Whisper setzte sich wieder in Bewegung. Mit der Sicherheit einer Katze bewegte sie sich über das Dach, kletterte langsam hinauf zum Dachfirst. Sie war jetzt vorsichtiger, wollte vermeiden, dass es ihr so erging wie der Stadtwache. Das Letzte, was sie sich jetzt erlauben konnte, war Nachlässigkeit. Nur ein kleiner Fehler, und sie würden sie zu fassen bekommen.

Auf dem Dachfirst angekommen sah sie sich erneut um. Der Mann hinter ihr kam nur langsam voran. Immer wieder knackten die Schindeln bedenklich unter seinen Stiefeln. Andere Männer waren dem ersten aufs Dach gefolgt, doch auch sie waren zu langsam, um Whisper einzuholen. Was ihr mehr Sorge bereitete, waren die Männer, die sie auf der Straße erwarteten. Sie musste einen Weg vom Dach hinunter finden, der sie nicht geradewegs in die Arme der Wachen laufen ließ.

Sie drehte um und ging den Dachfirst in entgegengesetzter Richtung entlang. Unter ihr in der Straße machten die Männer ebenfalls kehrt und folgten ihr aus sicherer Entfernung. Und auf sicherem Grund.

Am Ende des Daches hielt Whisper inne. Vielleicht vier Meter unter ihr lag die Gasse, verborgen im Schatten. Die Höhe machte ihr keine Sorgen. Dass sie nicht sah, wohin sie sprang, sehr wohl. Im Augenblick hatte sie einen kleinen Vorsprung vor den Männern auf der Straße. Wenn sie sich jedoch beim Sprung den Knöchel verstauchte oder ein Bein brach, war ihre Flucht zu Ende. Das Risiko war zu groß. Whisper hob den Kopf. Als einziger Ausweg blieb das Dach des nächsten Hauses, keine zwei Meter von ihr entfernt. Zu ihrer Erleichterung war es so gebaut, dass die Dachschräge in ihrer Richtung lag.

Sie machte kehrt, balancierte ein Stück über den Dachfirst zurück und nahm Anlauf. Ich muss wahnsinnig geworden sein, dachte sie, als ihre Füße immer schneller über den schmalen First rasten. Ich werde mir nicht einfach nur ein Bein brechen, sondern gleich den Hals. Dann erreichte sie das Ende des Daches. Sie spannte die Muskeln an, stieß sich ab und sprang. Für einen schrecklich langen Augenblick sah es so aus, als würde sie ihr Ziel verfehlen und auf die Straße stürzen. Ihre Füße trafen auf Widerstand. Das Dach. Sofort warf sie sich nach vorne und streckte die Arme aus. Ihre Finger streiften die Kante des Dachfirsts und griffen zu. Ein Ruck ging durch ihre Schultern, als ihre Arme das Gewicht ihres Körpers auffingen. Eine Hand geriet ins Rutschen. Sofort packte sie härter zu. Während ihre Füße noch scharrend nach Halt suchten, zog sie sich nach oben.

Vor Anstrengung keuchend hielt sie einen Augenblick inne. Aus zusammengekniffenen Augen spähte sie nach unten in die Gasse. Sie hörte die schweren Stiefel der Wachen, die sich unaufhörlich näherten, konnte sie jedoch nicht sehen. Noch nicht. Die Männer, die ihr auf der anderen Seite auf das Dach gefolgt waren, machten sich daran, wieder durch die Dachluke in die Kammer zurückzuklettern. Keiner von ihnen brachte den Mut auf, ihr auf diesem Weg zu folgen. Sie waren zu schwer und würden unweigerlich einbrechen oder abstürzen. Whisper stemmte sich auf die Beine. Die Wachen auf der Straße hatten einen weiteren Weg zurückzulegen, da sie das Haus umrunden mussten. Sie durfte ihren Vorsprung jetzt nicht vertun. So schnell sie es wagte, folgte sie dem Verlauf des Daches, tiefer in die kleine Gasse hinein. Das Haus endete und sie wechselte auf das Dach des angrenzenden Hauses. Dank der dichten Bauweise hatte sie lediglich einen halben Meter Entfernung und ein paar Zoll Höhenunterschied zu überwinden. Geduckt hastete sie weiter.

Noch ein weiteres Haus, dann war das Ende der Häuserzeile erreicht. Whisper sah nach unten, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht in einer Sackgasse befand. Sie hatte Glück. Wenige Meter von ihr entfernt mündete die Gasse erneut in eine breitere Straße. Die Wachen waren noch ein gutes Stück hinter ihr. Auf dem Hintern rutschte sie die Dachschräge entlang nach unten. Sie klammerte sich mit den Händen an die Traufe und ließ sich hinabgleiten, bis sie ausgestreckt am Dach hing. Mit einem stummen Stoßgebet auf den Lippen, sie möge auf ebenen Untergrund treffen, ließ sie sich fallen und landete sicher in der dunklen Gasse. Nachdem sie einen raschen Blick zurückgeworfen hatte, setzte sie sich wieder in Bewegung. Die Wachen waren ihr dichter auf den Fersen, als sie angenommen hatte.

Sie rannte, so schnell sie konnte. Die Kletterpartie über das Dach hatte sie einen Großteil ihrer Kraft gekostet. Schon bald begannen ihre Lungen zu brennen. Whisper zwang sich, nicht darauf zu achten und weiterzulaufen. Die Gasse traf auf eine Abzweigung. Whisper schlug einen Haken und bog in die größere Straße ein. Sie rannte nahezu ungebremst um die Ecke und prallte mit jemandem zusammen, der soeben die Straße entlangkam. Der Aufprall presste ihr alle noch verbliebene Luft aus den Lungen. Sie wäre zu Boden gestürzt, hätte sie nicht jemand am Arm gepackt und festgehalten.

Whisper sah auf. Sie wollte sich bedanken oder entschuldigen. Womöglich auch beides. Als sie jedoch die dunkelgrüne Uniform sah, blieben ihr die Worte im Hals stecken. Sie war geradewegs in einen Mann der Stadtwache gerannt. Auf seiner Brust prangte das Wappen Cor Amánthors, der silberne Kelch. Ungläubig blinzelnd starrte sie darauf.

Ihr Gegenüber überwand seine Überraschung einen Moment schneller als sie. Die Hand, die zuvor ihren Sturz verhindert hatte, klammerte sich kraftvoll um ihren Arm. Verzweifelt versuchte sie sich loszureißen. Sie trat und schlug nach dem Mann – ohne Wirkung. Mühelos hielt er sie auf Abstand. Ihre Tritte und Schläge verpufften. Er überragte sie lediglich um einen halben Kopf, doch an Stärke war er ihr weit überlegen.

Um ihre Kräfte zu schonen, hörte sie auf gegen ihn anzukämpfen. Im Augenblick rechnete er damit, dass sie sich zur Wehr setzte. Was sie jetzt brauchte, war ein Moment der Unaufmerksamkeit, den sie zur Flucht nutzen konnte. Whisper rang noch immer keuchend um Atem. Sie war müde und verschwitzt. Allein der Gedanke, erneut zu fliehen, weckte in ihr beinahe den Wunsch nach einer geruhsamen Kerkerzelle. Während sie noch das Schicksal verfluchte, das derart grausame Spielchen mit ihr spielte, bogen zwei weitere Wachen um die Ecke.

Beim Anblick seiner Kameraden verstärkte der Mann seinen Griff und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Whisper stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. Ehe einer der Männer etwas sagen konnte, ergriff er das Wort. »Ich bringe sie in den Kerker. Ihr erstattet den anderen Bericht.«

Die beiden Wachen nickten und kehrten in die Gasse zurück, aus der sie gekommen waren. Kaum waren die Männer verschwunden, ließ er sie los und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Bart. »Beim nächsten Mal lässt du dich besser nicht erwischen.«

Whisper sah auf. Seine dunklen Augen glitzerten vor Vergnügen, und ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dieses Mal brauchte sie nicht lange, um ihre Überraschung zu überwinden. Auch wenn sie nicht verstand, warum ein Mann der Stadtwache sie einfach entkommen ließ, nutzte sie die Gelegenheit zur Flucht.

Obwohl sie niemals geglaubt hätte, dass ihre Beine sie noch tragen würden, setzte sie sich in Bewegung. Mit jedem Schritt, den sie sich von dem Uniformierten entfernte, wurde sie schneller, bis sie schließlich wieder rannte. Sie tauchte ein in das Gewirr nächtlicher Gassen, wechselte immer wieder die Richtung, lief im Kreis und schlug Haken, die sie kreuz und quer durch Cor Amánthor führten. Irgendwann hörte sie auf zu rennen. Müde fiel sie in einen gemächlichen Trab und blieb endlich stehen. Sie war erschöpft und beinahe am Ende ihrer Kräfte. Zu gerne hätte sie sich ausgeruht, doch dazu blieb keine Zeit. Nicht, solange sie nicht ihr Gold geholt und Cor Amánthor verlassen hatte.

Nachdem sie wieder ein wenig zu Atem gekommen war, ging sie weiter. Da der Bote sie in einer Gegend gefunden hatte, in der sie sich sicher glaubte, änderte sie ihre Taktik. Sie hatte sich vor ihm versteckt und es war vergeblich gewesen. Womöglich käme er gar nicht auf den Gedanken, dass sie sich jetzt nicht mehr verstecken könnte.

Obwohl es bereits dunkelte, war es noch früh am Abend. Die großen Straßen waren voller Leben. Whisper verließ die dunkle Gasse und mischte sich auf einer der Hauptstraßen unters Volk. Sie achtete darauf, sich stets in der Nähe von Menschen aufzuhalten. Wann immer sie das Dunkelgrün einer Stadtwachenuniform erspähte, machte sie einen großen Bogen. Wieder fragte sie sich, warum der Mann sie hatte entkommen lassen. Sie fand keine Antwort auf diese Frage, und genau genommen spielte es auch keine Rolle. Sie war entkommen, allein das zählte.

An einer kleinen Marktbude kaufte sie etwas Brot und ein Stück frisch gebratenes Schweinefleisch. Obwohl sie hungrig war, aß sie nur das Brot. Das Fleisch wickelte sie in ein Tuch und verstaute es in ihrem Ärmel.

Es war an der Zeit, das Gold zu holen und Cor Amánthor Lebewohl zu sagen. Ihre Hand glitt unauffällig zu ihrem Hemd. Beruhigt atmete sie aus, als ihre Finger auf das Pergament trafen, das in der Innenseite eingenäht war. Sie mochte all ihre Habe im Blinden Bettler zurückgelassen haben, doch den Schuldschein, der sie als rechtmäßige Besitzerin ihrer Ersparnisse auswies, hatte sie noch. Es war schlimm genug, dass sie ihre verloren gegangene Ausrüstung würde ersetzen müssen. Das wird nicht gerade billig werden, dachte sie düster. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Nun ja, es hätte schlimmer kommen können.

Cor Amánthor jetzt zu verlassen hatte nichts mehr mit Flucht zu tun. Es war lediglich eine Frage des gesunden Menschenverstands.

Whisper ließ die belebten Straßen hinter sich. In einer schmalen, finsteren Gasse presste sie sich gegen eine Hauswand und beobachtete die Straße. Nachdem sie sicher war, dass ihr niemand folgte, setzte sie ihren Weg fort. Bald darauf sah sie Shan Varis Haus, eine frei stehende Stadtvilla im besten Viertel Cor Amánthors. Weiße Säulen säumten eine breite, mit Marmor gepflasterte Veranda. Irgendwo dahinter lag die Eingangstür in den Schatten verborgen.

Whisper betrat die Gasse, die am Anwesen des Kaufmanns vorbeiführte. Eine hohe Mauer aus Ziegelsteinen umgab drei Seiten des Grundstücks. Sie gab vor, ein nächtlicher Spaziergänger zu sein, und umrundete das Anwesen zweimal. Erst nachdem sie sicher war, dass das Haus nicht beobachtet wurde, hielt sie in der Gasse inne. Ein letzter Blick rechts und links, dann setzte sie zum Sprung an. Ihre Finger trafen auf die Mauerkante und fanden dort Halt. Rasch zog sie sich nach oben, schwang die Beine über die Mauer und ließ sich auf der anderen Seite zu Boden fallen. Sie landete weich auf dem Rasen. Sie sah hinüber zum Haus. Hinter einem der Fenster brannte Licht. Soweit sie sich erinnern konnte, war dort Varis Arbeitszimmer.

Leise, tappende Schritte erfüllten die Nacht. Im Laufe des Tages waren dicke Wolken aufgezogen und hatten die Sonne verdunkelt. Jetzt verbargen sie den Mond hinter ihrem grauen Schleier. Die einzigen Lichtquellen waren das schwache Licht der Sterne und die Lampe hinter dem Fenster. Whisper wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und spähte in die Dunkelheit. Ihre Hand glitt zu ihrem Ärmel.

Ein Knurren wurde laut. Schwarze Augen glitzerten bedrohlich im Sternenlicht. Varis Wachhund. Whisper zog das Tuch mit dem Fleisch aus ihrem Ärmel, wickelte es rasch aus und warf es dem Hund zu. Augenblicklich war die Aufmerksamkeit des Tieres von ihr abgelenkt. »Braves Hundchen«, flüsterte sie und trat vorsichtig an dem großen Hund vorbei. Dabei bemerkte sie, wie groß er tatsächlich war. Selbst jetzt, wo er sich über das Fleisch beugte, reichte er Whisper noch bis zu den Schenkeln. Das Vieh muss direkt von den Wölfen abstammen. Sie hörte die Kiefer des Hundes krachen, als er das Fleisch Stück für Stück zerriss.

Whisper sah sich nicht noch einmal um. Im Schatten der Bäume pirschte sie sich an das Haus heran. Sie hielt sich von der Vorderseite entfernt, wo ein aufmerksamer Beobachter sie von der Straße aus hätte sehen können. Langsam umrundete sie das Haus, bis sie die Verandatür auf der rückwärtigen Seite erreichte. Im Raum dahinter war es dunkel. Geduckt trat sie an die Tür heran. Sie nahm sich einen Augenblick Zeit, in die Dunkelheit zu lauschen. Sie wollte ganz sichergehen, dass sich niemand im dunklen Raum dahinter aufhielt. Alles blieb ruhig.