Die deformierte Gesellschaft - Meinhard Miegel - E-Book + Hörbuch

Die deformierte Gesellschaft E-Book und Hörbuch

Meinhard Miegel

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Beschreibung

Der Spiegel, den Meinhard Miegel hier der deutschen Gesellschaft vorhält, ist kein schmeichelnder. Schonungslos nimmt sich Deutschlands unbequemster Soziologe hier den Mythos vom fleißigen und strebsamen Deutschen vor und entlarvt ihn als Selbslüge. Mit einem analytischen Blick auf die Bereiche Demografie, Sozialstaat, Wirtschaft und Beschäftigung benennt Miegel die größten Probleme Deutschlands, von Überalterung bis Innovationsmangel. Viele der Probleme seien schon seit langem bekannt, doch würden die meisten lieber ihre Augen davor verschließen. Diese freiwillige Ignoranz sucht Miegel hier zu durchbrechen und hat damit ein schonungsloses und alarmierendes Buch geschaffen, das seine Leser animiert, die deutsche Gesellschaft neu zu denken.-

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Sprecher:Andreas Herrler
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Meinhard Miegel

Die deformierte Gesellschaft

Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen

Saga

Die deformierte Gesellschaft

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2006, 2022 Meinhard Miegel und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728328460

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Inhalt

Vorbemerkung DIE DEMOGRAPHISCHE ZEITBOMBE WIRTSCHAFT UND BESCHÄFTIGUNG IM UMBRUCH SOZIALSTAAT VOR DEM OFFENBARUNGSEID Schlussbemerkung Bibliographie Danksagung Über Die deformierte GesellschaftAnmerkungen

Vorbemerkung

Unabhängig von parlamentarischen Mehrheiten, Kanzlern oder Regierungssitzen – die Politik läuft, je länger, je mehr, dem wirklichen Leben hinterher. Zunehmend droht sie sogar den Anschluss zu verlieren. Zumeist reagiert sie nur noch auf Entwicklungen, die sie weder gewollt noch beeinflusst hat. Regiert wird im engen Korsett von Sachzwängen. Vorausschauendes politisches Gestalten ist zur Ausnahme geworden.

Politiker suchen das mit dem Hinweis zu bemänteln, die Zukunft sei ohnehin nicht vorhersehbar. Sie verberge sich, wie einer von ihnen formulierte, hinter schweren, dunklen Vorhängen. Das ist nicht falsch. Aber auch wenn es nur wenige Gewissheiten gibt, so gibt es doch Wahrscheinlichkeiten. Politiker machen es sich deshalb zu einfach, wenn sie langfristige Ziele gar nicht erst anpeilen, sondern immer nur das Nächstliegende ansteuern.

Die Politik muss ähnlich wie die Wirtschaft lernen, innerhalb einer Bandbreite wahrscheinlicher Entwicklungen neben kurz- immer auch mittel- und langfristige Vorgaben zu definieren und zu verfolgen. Das geschieht seit geraumer Zeit nur noch höchst unzulänglich. Der Mangel an Perspektiven – Visionen sollen gar nicht erst angemahnt werden – ist die empfindlichste Schwäche des gegenwärtigen politischen Handelns. Sie ist die Ursache folgenreicher Versäumnisse und Fehlentscheidungen.

Alles was uns heute ernsthaft beschwert – der tiefgreifende Wandel der Bevölkerungsstrukturen, der Wirtschaft, des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats – hat sich in Jahren und Jahrzehnten angebahnt und war in seiner Problematik von Anfang an erkennbar. Aber viele Politiker wollten es nicht erkennen.

Vielmehr setzten sie sich an die Spitze der Verdränger. Wer auf die Veränderungen und deren Folgen hinwies, wurde der Panikmache bezichtigt. Der Bevölkerung wurde, solange es ging, eine heile Welt vorgegaukelt. Angeblich gab es keinen Handlungsbedarf.

Mittlerweile sind einige Probleme unübersehbar geworden. Sie zu verdrängen fällt schwerer. Dennoch baut die Politik weithin immer noch auf Zuwarten und Hoffen. Der biologische Niedergang der Bevölkerung soll mit mehr Kindergeld, verbesserter Vereinbarkeit von Beruf und Familie und zusätzlichen Zuwanderern aufgehalten, die Wirtschaft mit ein paar Korrekturen bei den Steuern und Sozialabgaben angekurbelt, die Arbeitslosigkeit durch hohe Wachstumsraten überwunden und der Sozialstaat mit Durchhalteparolen gerettet werden. Das alles ist wenig überzeugend.

Den Politikern ist das nicht entgangen. Aber sie sehen sich zu sachgerechtem Handeln nicht in der Lage. Zwar sei diese oder jene Maßnahme, so ihr selbstkritisches Eingeständnis, nicht ausreichend. Aber mehr sei eben nicht möglich. Es würde am Widerstand der Bürger zerschellen. Um diesen Widerstand zu vermeiden, haben sich viele Politiker in eine an ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten ausgerichtete Scheinwelt zurückgezogen. In der herrschen Massenarbeitslosigkeit, Massenarmut und soziale Ungerechtigkeit, kurz alles, was politische Aktionen erfordert, ohne dass wirklich etwas verändert werden müsste. Seit dreißig Jahren bleibt der Abstand zu den gesteckten Zielen immer gleich.

Die Bürger wähnen sich derweil in einer besseren Welt. Die überwältigende Mehrheit erfreut sich eines hohen Lebensstandards, attraktiver Arbeitsplätze, komfortabler Wohnungen, langer Urlaube und Wochenenden und eines angenehmen Ruhestands. Sie ist wohlhabend, satt und bequem. Beunruhigungen sind ihr zuwider. Doch auch diese Welt ist kaum weniger trügerisch als die Welt der Politik. Viele nehmen nicht wahr, wie dünn das Eis ist, auf dem sie sich eingerichtet haben.

Während die Politik auf offener Bühne hingebungsvoll über Nebensächlichkeiten streitet und die Bürger teils gelangweilt, teils angewidert, alles in allem aber recht behaglich von den Rängen aus zuschauen, birst das Fundament. Dieser Zustand kann nicht lange währen. Die Zeit drängt, die wirklichen Aufgaben anzugehen. Politik und Bürger müssen dabei eng zusammenwirken. Doch die Politik muss die Initiative ergreifen. Die ihr zugedachte gesellschaftliche Position ist die der Vorhut.

Faktisch hat sie sich allerdings in die Nachhutposition begeben, wo sie Schlusspunkte hinter weitgehend abgeschlossene Entwicklungen setzt. Das schafft Zäsuren. Wegweisung ist das nicht. Davon aber gehen Medien und Bevölkerung aus. Aus alter Gewohnheit vermuten sie die Politik an der Spitze des Zuges. Da sie dort jedoch nicht ist, entsteht Verwirrung. Ein Treck, der die Nachhut für die Vorhut hält, geht in die Irre. Das ist in Deutschland seit geraumer Zeit deutlich zu spüren. Die Politik, gleich welcher Färbung, lenkt die Blicke zu oft zurück und nur selten nach vorn. Dadurch wirkt Deutschland perspektiv- und orientierungslos. Das kann, das muss geändert werden. Es ist Zeit, sich über Deutschland Gedanken zu machen.

DIE DEMOGRAPHISCHE ZEITBOMBE

Deutsche Erfahrungen

Nichts ist für ein Land auf Dauer so folgenreich wie die Entwicklung seiner Bevölkerung. Für alle Bereiche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns macht es einen fundamentalen Unterschied, ob die Bevölkerung zahlenmäßig zu- oder abnimmt, diese Entwicklung schnell oder langsam erfolgt, der Jugend- oder Altenanteil groß oder klein ist, die Geburten- oder Zuwandererrate steigt oder fällt.

Was Bevölkerungsentwicklung bedeuten kann, haben die Deutschen vor gar nicht langer Zeit in dramatischer Weise erfahren. Die brutale Grenze, die ihr Land jahrzehntelang teilte, hatte zuvorderst diesen Zweck: Sie sollte Bevölkerungsverluste der DDR stoppen. Als diese 1949 gegründet wurde, hatte sie neunzehn Millionen Einwohner. Zwölf Jahre später waren es trotz eines hohen Geburtenüberschusses von fast einer Million Menschen nur noch siebzehn Millionen. Rund drei Millionen Menschen waren von Ost nach West gewandert. Durch diesen Aderlass waren Wirtschaft und Gesellschaft der DDR in ernste Schwierigkeiten geraten. Ohne diesen Bevölkerungsschwund wäre die damalige Führung kaum auf den Gedanken gekommen, mit Mauer, Grenzbefestigungen und Schießbefehl ihr Land hermetisch abzuriegeln. Der Preis hierfür war enorm. Die DDR geriet in eine wirtschaftliche, politische und nicht zuletzt geistige Isolation, an deren Folgen Deutschland noch lange zu tragen haben wird.

Trotz dieser Erfahrung behandeln die Deutschen Bevölkerungsfragen bemerkenswert distanziert und gleichgültig. Dies ist zum einen eine Spätfolge des Nationalsozialismus, dessen aberwitziges, rassistisches Ziel, die Deutschen innerhalb kurzer Zeit zu einem Hundert-Millionen-Volk anschwellen zu lassen und mit ihm halb Europa zu besiedeln, Bevölkerungswissenschaft und -politik in Verruf gebracht hat. Noch heute gehört hierzulande Mut dazu, Bevölkerungsfragen anzusprechen. Anderen Völkern fällt dies leichter. Noch wichtiger ist jedoch ein gewisses Urvertrauen, das die Deutschen in den Bestand und die Vitalität ihres Volks haben. Wozu sich Gedanken über Dinge machen, auf die Verlass ist? Kinder haben die Leute immer – das war eine der trügerischen Gewissheiten, die der greise Konrad Adenauer in seinem langen Leben erworben hatte.

Vom Bevölkerungswachstum zum Bevölkerungsschwund

Diese Gewissheit wurzelt tief. Von mäßigen Schwankungen und regionalen Ausnahmen abgesehen, entwickelten sich nämlich die Deutschen und ihre Nachbarn jahrhundertelang immer in dieselbe Richtung: Sie nahmen an Zahl zu. Einbrüche infolge von Seuchen und Kriegen wurden in aller Regel rasch wieder ausgeglichen. So vermehrten sich die Deutschen allein im 18. Jahrhundert von 15 auf 22 und die Europäer von gut 100 auf 170 Millionen. Im 19. Jahrhundert erhöhte sich die Bevölkerungszahl weiter auf 56 Millionen in Deutschland und 400 Millionen in Europa. 1 Und auch im 20. Jahrhundert schien das Wachstum ungebrochen. An seinem Ende lebten in Deutschland 82 und in Europa 730 Millionen Menschen. 2 Doch der Schein trügt. In Deutschland sind schon seit langem die Grundlagen für Bevölkerungswachstum entfallen, und seit einiger Zeit gilt das auch für Europa.

Die Jahrgänge, die mehr Kinder großzogen, als sie selber zählten, wurden in Deutschland vor über einem Jahrhundert geboren. Der Jahrgang 1892 war der letzte, der sich in der Zahl seiner Kinder ersetzte. Seitdem ist jede Kindergeneration zahlenmäßig kleiner als ihre Elterngeneration. Damit hat Deutschland schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den jahrhundertealten Pfad des Bevölkerungswachstums verlassen. Nur die Geburtsjahrgänge 1930 bis 1937 erreichten in den sechziger Jahren noch einmal eine annähernd bestandserhaltende Geburtenrate. 3

Wenn dennoch die Bevölkerungszahl zunächst weiter stieg, dann war dies nur noch eine Art Nachblüte. Die nunmehr geborene Enkelgeneration war zahlenmäßig zwar schon schwächer als ihre Elterngeneration, aber sie zählte noch mehr Köpfe als ihre Großelterngeneration. Dadurch lag die Zahl der Geburten vorübergehend über der Zahl der Sterbefälle – die Bevölkerung wuchs. Doch schon damals war absehbar, dass dieses Wachstum enden und in Schwund umschlagen musste, wenn jene zahlenmäßig starken Elternjahrgänge das Sterbealter erreicht hatten.

Zu Beginn der siebziger Jahre war es soweit. In ganz Deutschland – in der alten Bundesrepublik ebenso wie in der DDR – begann die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten zu übersteigen. Von 1970 bis 1990, dem Zeitpunkt der Wiedervereinigung, lag in Deutschland die Zahl der Sterbefälle um 1,8 Millionen über der Zahl der Geburten. Bezogen auf die deutsche Bevölkerung betrug das Geburtendefizit sogar 3,2 Millionen Menschen – 3 Millionen in West- und 0,2 Millionen in Ostdeutschland. 4

Allerdings bedürfen letztere Zahlen der Interpretation, denn sie erwecken den irrigen Eindruck, die DDR habe im Gegensatz zur alten Bundesrepublik in jenen Jahrzehnten noch eine recht ausgewogene Bevölkerungsentwicklung gehabt. Dem war jedoch nicht so. Zwar war von 1979 bis 1985 die Zahl der Geburten in Ostdeutschland noch einmal geringfügig höher als die Zahl der Sterbefälle. Das lag aber nur zu einem geringen Teil an einer erfolgreichen Familienpolitik. Bedeutsamer war, dass die DDR auch nach dem Mauerbau in beträchtlicher Zahl alte Menschen nach Westdeutschland übersiedeln ließ, was die ostdeutschen Sterbeziffern senkte und die westdeutschen erhöhte. Unter Berücksichtigung dieser Politik war das Geburtendefizit in West und Ost während der Zeit der Teilung alles in allem proportional – die deutsche Bevölkerung ging in Westdeutschland um etwa 2,6 Millionen und in Ostdeutschland um 0,6 Millionen zurück.

Diese Proportionalität endete mit der Wiedervereinigung. Von 1990 bis 2000 überstieg die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten in Westdeutschland um lediglich 0,1 Millionen, in Ostdeutschland hingegen um 0,9 Millionen. Gemessen an den Bevölkerungsanteilen West-und Ostdeutschlands war das ostdeutsche Defizit annähernd vierzigmal höher als das westdeutsche. Etwas weniger krass ist der Unterschied, wenn nur der deutsche Bevölkerungsteil betrachtet wird. Dann lag das Geburtendefizit in West und Ost bei jeweils rund einer Million, was aber für Ostdeutschland prozentual noch immer ein viermal so hohes Defizit bedeutete wie für Westdeutschland.

Die ansässige deutsche Bevölkerung hat damit in den zurückliegenden dreißig Jahren bereits reichlich fünf Millionen Menschen verloren. Wäre Westdeutschland ähnlich abgeschottet gewesen wie Ostdeutschland und würde diese Abschottung andauern, zählte Deutschland heute etwa siebzig Millionen Einwohner – ebenso viele wie zu Beginn der fünfziger Jahre. Der hohe Geburtenberg, der sich in den fünfziger und sechziger Jahren gebildet hatte, wäre durch die Sterbeüberschüsse der folgenden Jahrzehnte zumindest numerisch wieder abgebaut worden. Und hätte der mittlerweile sehr stabile Trend noch einige Zeit angehalten, hätte die Bevölkerung Deutschlands im Jahr 2010 der von 1935, im Jahr 2020 der von 1920 und im Jahr 2030 der von 1900 entsprochen. Gegen Ende des 21. Jahrhunderts hätten hierzulande noch etwa ebenso viele Menschen wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelebt: rund zwanzig Millionen.

Nun war aber Westdeutschland nicht abgeschottet, und seit der Wiedervereinigung ist auch Ostdeutschland Zuwanderern geöffnet. Deshalb zählt Deutschland heute nicht nur siebzig, sondern 82 Millionen Einwohner. Das aber heißt, dass jeder Siebente in den zurückliegenden vierzig Jahren als Gastarbeiter oder dessen Familienangehöriger, Deutschstämmiger oder Asylsuchender zugewandert oder Abkömmling eines Zuwanderers ist. Diese Zuwanderer haben den Schwund der ansässigen Bevölkerung nicht nur kompensiert, sondern überkompensiert, und viele sind inzwischen selbst Teil der ansässigen Bevölkerung geworden. Deutschland ist dadurch von Bevölkerungsmangel weit entfernt. Wie aber geht es weiter? Die Beantwortung dieser Frage hängt ab von der künftigen Entwicklung der Lebenserwartung, der Geburtenrate und der Zuwanderung.

Zunahme der Lebenserwartung

Von Zuwanderungen abgesehen beruht das Bevölkerungswachstum in Deutschland, Europa und der Welt bislang ausschließlich auf der Zunahme der Lebenserwartung. Um 1800 wurden die Menschen in Deutschland im statistischen Mittel nur 28 Jahre alt. 5 Ihre Lebenserwartung war damit nicht wesentlich höher als in der Antike oder im Mittelalter. Bis 1900 hatte sie sich um zwei Drittel auf 46 Jahre erhöht. Ursächlich hierfür war in erster Linie ein Rückgang der Kindersterblichkeit. Immer mehr Kinder erreichten das Erwachsenenalter und hatten selbst wieder Kinder. Die Folge war, dass sich trotz anhaltend sinkender Geburtenrate und erheblicher Bevölkerungsverluste durch Abwanderung die Bevölkerungszahl innerhalb von hundert Jahren annähernd verdreifachte.

Im 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung weiter auf durchschnittlich 77 Jahre, also wie im 19. Jahrhundert um zwei Drittel. Das Bevölkerungswachstum wurde hiervon jedoch nur noch mäßig beeinflusst. Denn nunmehr erhöhte sich die Lebenserwartung vor allem älterer Menschen. Der Kreis jüngerer Erwachsener wurde hingegen kaum noch größer. Hier waren bereits objektive Grenzen erreicht. Mit fallender Geburtenrate sank deshalb auch die Zahl der Geburten. Obwohl die Lebenserwartung allein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um mehr als ein Siebentel zunahm, bewirkte dies ein Bevölkerungswachstum von nur noch fünf Prozent. Dieser Trend wird anhalten. Die weitere Zunahme der Lebenserwartung wird sich immer weniger als Bevölkerungswachstum niederschlagen. Zwar spricht vieles dafür, dass um das Jahr 2050 Männer und Frauen in Deutschland im Durchschnitt 83 Jahre alt werden – sechs Jahre älter als heute. Dieser Anstieg wird die quantitative Bevölkerungsentwicklung aber kaum noch berühren.

Damit ist in Deutschland, Europa und zahlreichen außereuropäischen Ländern die bislang wichtigste Quelle des Bevölkerungswachstums – das Erwachsenwerden von mehr Kindern und Jugendlichen – versiegt. Zugleich haben sich die Grundlagen der Bevölkerungsentwicklung radikal verändert. Bisher beruhte das Bevölkerungswachstum auf überindividuellen Veränderungen: der allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen, durch die die Lebenserwartung zunahm. Die Menschen hatten mehr zu essen, und sie lebten gesünder. »Die Erziehung des Volkes zur Reinlichkeit«, wie eine populäre Schrift im 19. Jahrhundert betitelt war, hat das Bevölkerungswachstum vermutlich stärker gefördert als der Wunsch der Menschen, viele Nachkommen zu haben. Der Wachstumsmotor »allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen« ist heute jedoch in weiten Teilen der Welt zum Stillstand gekommen. In vielen Ländern werden seit Generationen fast alle Geborenen erwachsen. Durch eine weitere Verbesserung der Lebensbedingungen kann deshalb weder der Bestand der Bevölkerung gehalten noch deren Zunahme bewirkt werden. Anders als bisher steht und fällt die künftige Bevölkerungsentwicklung mit der individuellen Fruchtbarkeit. Das aber heißt: Das Verhalten der Einzelnen ist ungleich bedeutsamer als in der Vergangenheit. Wie aber verhalten sich die Einzelnen?

Geburtenrückgang

Waren bis Ende der sechziger Jahre noch etwa neunzig Prozent der Kinder geboren worden, die zur dauerhaften Erhaltung des Bevölkerungsbestandes erforderlich waren, so sank dieser Anteil mit Beginn der siebziger Jahre auf 65 Prozent. Hieran hat sich seitdem nichts geändert. Seit nunmehr dreißig Jahren ziehen drei Erwachsene der Elterngeneration nur noch zwei Kinder groß. Jede Kindergeneration ist also zahlenmäßig um ein Drittel kleiner als die Generation ihrer Eltern. 100 Angehörige der Elterngeneration haben also noch 65 Kinder, 42 Enkel und 27 Urenkel.

Von den Jahrgängen, die sich jetzt dem Ende ihrer gebärfähigen Phase nähern, den heute vierzigjährigen Frauen, haben in Deutschland ein Viertel kein und ein weiteres nur ein Kind geboren. 6 Akademikerinnen sind sogar zu mehr als vierzig Prozent kinderlos, und in den urbanen Ballungsgebieten steigt der Anteil kinderloser Vierzigjähriger weiter auf bis zu fünfzig Prozent. Nur in einigen ländlichen Gebieten sinkt er auf bis zu fünfzehn Prozent.

Bei den jüngeren Jahrgängen hat die Geburtenfreudigkeit noch weiter abgenommen. So hat von den 1965 Geborenen ein Drittel bislang kein Kind. Zwar sind für sie abschließende Aussagen noch nicht möglich, weil sie vielleicht erst spät Kinderwünsche verwirklichen. Sollte es jedoch zu solchen nachgeholten Geburten nicht kommen – und hierfür spricht viel –, stiege der Anteil der Kinderlosen in naher Zukunft auf rund ein Drittel, und ein weiteres Viertel hätte wie bisher nur ein Kind. Die hierdurch entstehenden Lücken werden von den wenigen Kinderreichen – zu ihnen rechnen die Haushalte mit mehr als zwei Kindern – auch nicht annähernd geschlossen.

Gründe für diese Geburtenabstinenz sind nach verbreiteter Auffassung die leichte Verfügbarkeit empfängnisverhütender Mittel, die schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie – konkret: zu wenige Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen –, die finanziellen Lasten, die mit Kindern einhergehen, beengte Wohnverhältnisse, ein wenig kinderfreundliches Klima und anderes mehr. Diese Gründe erscheinen auf den ersten Blick einsichtig. Dennoch sind sie nicht stichhaltig. So hat die Bevölkerung die Zahl ihrer Kinder schon immer recht wirksam gesteuert. Die bürgerlichen Mittelschichten hatten in Deutschland bereits im 19. Jahrhundert im Durchschnitt lediglich zwei Kinder. 7 Und der steilste Absturz der Geburtenrate ging nicht mit der Einführung hochwirksamer empfängnisverhütender Mittel einher, sondern er ereignete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals fiel die Geburtenrate innerhalb einer Generation von deutlich mehr als vier auf zwei Kinder.

Was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht, sind etwa in den skandinavischen sowie einigen mittel- und osteuropäischen Ländern, aber auch in Frankreich und Spanien, wo alle Anstrengungen unternommen werden, Eltern, insbesondere Frauen, neben der Kindererziehung die Ausübung eines Berufes zu ermöglichen, die Geburtenraten – wenn überhaupt – nur mäßig höher als in Ländern, in denen dies nicht der Fall ist. Umgekehrt ist in einem Land wie Irland, in dem derartige Anstrengungen keinen hohen Stellenwert haben, die Geburtenrate im internationalen Vergleich recht hoch. Bestandserhaltend ist sie allerdings nirgends.

Hinsichtlich der finanziellen Situation und der Wohnverhältnisse ist daran zu erinnern, dass sich in Westdeutschland die realen Haushaltseinkommen seit 1950 verfünffacht haben und sich die Wohnfläche pro Kopf der Bevölkerung verdoppelt hat. Die wirtschaftlich Schwächsten, die Sozialhilfeempfänger, genießen heute einen Lebensstandard, der weit über demjenigen durchschnittlicher Einkommensbezieher von vor fünfzig und selbst vierzig Jahren liegt. 8 Dennoch sank die Geburtenrate beträchtlich. Zwischen steigendem Wohlstand und Geburtenfreudigkeit besteht kein positiver Zusammenhang. Selbst wirklich Begüterte zeichnen sich nicht durch Kinderreichtum aus. Eher ist das Gegenteil zu beobachten. Aufschlussreich sind auch die letztlich gescheiterten Bemühungen mancher Länder, beispielsweise Schweden oder vor geraumer Zeit Frankreich, durch finanzielle Anreize die Kinderzahlen dauerhaft zu erhöhen. Mehr als Strohfeuer wurden durch diese Maßnahmen nicht entfacht.

Was schließlich das kinderfeindliche Klima betrifft, so weisen die besonders kinderfreundlich erscheinenden romanischen Gesellschaften, vor allem Italien und Spanien, eine noch niedrigere Geburtenrate auf als Deutschland. Der Norden Italiens und große Teile Spaniens gehören heute zu den geburtenärmsten Regionen Europas. Dort werden Kinder zwar freundlich aufgenommen, nur geboren werden sie nicht.

Das soll nicht heißen, dass nicht hin und wieder einer der genannten Gründe den Wunsch nach einem Kind unerfüllt bleiben lässt. Nüchtern betrachtet, ist die niedrige Geburtenrate jedoch darauf zurückzuführen, dass Kinder in wohlstands- und erwerbsarbeitsorientierten, kollektiv rundum abgesicherten und hochgradig individualistischen Gesellschaften oft weniger attraktiv sind als andere Lebensoptionen. Mögen Kinder für viele eine große Bereicherung sein – für die meisten hat ihre Attraktivität spürbar abgenommen.

Bis vor wenigen Generationen waren Kinder für ihre Eltern ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Sie trugen maßgeblich zur Leistungsfähigkeit der Familie bei. Darüber hinaus bildeten sie das Fundament der Alterssicherung. Sie waren trotz mancher Mängel und Schwächen Garanten sozialer Einbindung, Geborgenheit und Stabilität. In der Regel waren sie für ihre Eltern eine sich auch wirtschaftlich rentierende Investition. Sie gaben ihnen – zeitversetzt – individuell zurück, was sie empfangen hatten.

Von alledem kann heute kaum noch die Rede sein. Die Investition in Kinder rentiert sich allenfalls noch emotional. Der wirtschaftliche Aufwand, den sie erfordern, wird gegenüber den Eltern nur selten zum Ausgleich gebracht. Ihre Wirtschaftskraft ist fast völlig vergemeinschaftet. Das gilt auch für den sozialen Bereich. Eltern können sich immer weniger darauf verlassen, bei Bedarf – im Alter oder Krankheitsfall – von ihren erwachsenen Kindern vor Einsamkeit geschützt und ausreichend versorgt zu werden. Gleichzeitig locken ein riesiges Angebot an Gütern und Diensten, komfortable Wohnungen, schnelle Autos, ausgedehnte Urlaubsreisen, eine breite Palette von Bildungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten, interessante, gesellschaftlich angesehene und gut dotierte berufliche Karrieren, persönliche Unabhängigkeit, Ungebundenheit und Freiheit. Mitunter mag die Entscheidung zwischen den Optionen konfliktträchtig und schwierig sein. Die Lebenswirklichkeit zeigt jedoch, dass sie nicht mehr mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zugunsten von Kindern fällt.

Hierüber sollte es keine Illusionen geben: Die Kinderarmut individualistischer Wohlstandsgesellschaften ist nicht die Folge unbeabsichtigter Fehlentwicklungen, die sich durch zusätzliche Kindergartenplätze oder höhere steuerliche Freibeträge beheben ließen. Vielmehr ist sie Ausdruck des Wesenskerns dieser Gesellschaft. Sie eröffnet breitesten Schichten Möglichkeiten, denen gegenüber die Option, Kinder großzuziehen, häufig wenig verlockend erscheint. Das aber bedeutet, dass die Kinderarmut anhalten wird, solange diese von der großen Bevölkerungsmehrheit tief verinnerlichte Gesellschaftsform bestehen bleibt. Solange ist ein dauerhafter Wiederanstieg der Geburtenrate unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist ihr weiterer Rückgang.

Bevölkerungsentwicklung im Rückwärtsgang

Dennoch sei unterstellt, dass die seit dreißig Jahren recht stabile westdeutsche Geburtenrate unverändert bleibt, die derzeit niedrigere ostdeutsche bis 2010 das westdeutsche Niveau erreicht, die Zuwanderer noch lange ihre höhere Geburtenrate beibehalten und die Lebenserwartung des älteren Bevölkerungsteils weiter kräftig steigt. Dann würde ohne Zuwanderer die Bevölkerung in den kommenden zehn Jahren um 2,5 Millionen abnehmen, von 2011 bis 2020 um weitere 3,9 Millionen, bis 2030 nochmals um 5,2 Millionen und bis 2040 erneut um 6,2 Millionen. Insgesamt verlöre Deutschland innerhalb der nächsten vierzig Jahre knapp 18 Millionen Einwohner, mehr als derzeit die Bevölkerung der neuen Bundesländer zählt. Bei Fortdauer dieses Trends hätte sich bis 2080 die gegenwärtige Bevölkerungszahl auf vierzig Millionen halbiert. Weniger deutlich wäre der Rückgang der Bevölkerungen in den meisten anderen europäischen Ländern. Überall befänden sie sich jedoch auf Talfahrt. 9

Damit liefe der demographische Film, der jahrhundertelang fast ununterbrochen steigende Bevölkerungszahlen zeigte, rückwärts. In vierzig Jahren lebten in Deutschland noch etwa ebenso viele Menschen wie kurz vor dem Ersten Weltkrieg, und 2080 wäre Deutschlands Bevölkerung mit vierzig Millionen – auf einem wesentlich kleineren Territorium – so zahlreich wie zur Reichsgründung 1871. Auch wäre es immer noch so dicht besiedelt wie derzeit Frankreich oder Polen. Auf einem Quadratkilometer würden in Deutschland in hundert Jahren etwa so viele Menschen leben wie vor hundert Jahren und wie in den meisten Nachbarländern heute. Quantitativ betrachtet würde also beispielsweise eine Halbierung der deutschen und europäischen Bevölkerung Bedingungen schaffen, die im Blick zurück und über die Grenzen durchaus vertraut sind. Allerdings würde sich mit dem zahlenmäßigen Rückgang der Bevölkerung zugleich auch deren Altersaufbau ändern. Und für diese Änderung gibt es in der Geschichte der Menschheit keine Parallele. Sie ist beispiellos. Hier betreten diese und die nachfolgende Generation Neuland.

Beispiellose Alterung

Als die Bevölkerung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zahlenmäßig stark zuzunehmen begann, war sie nach heutigen Vorstellungen außerordentlich jung. Noch ein Jahrhundert später, um 1900, war ein Viertel der Deutschen jünger als zehn und weit über ein Drittel jünger als fünfzehn Jahre. Die Hälfte der Bevölkerung hatte noch nicht das 23. Lebensjahr erreicht. Umgekehrt waren nur knapp acht Prozent älter als sechzig und noch nicht einmal ein halbes Prozent älter als achtzig Jahre. In ganz Deutschland gab es lediglich 10 000 über 89-Jährige, von denen nur 40 älter als 100 Jahre waren. 10 Die Bevölkerungsgruppe der 20- bis 59-Jährigen bildete eine Minderheit. Zahlenmäßig war die Gesellschaft von Kindern und Jugendlichen dominiert. Mittdreißiger waren tonangebend.

Zwei Generationen später, um 1960, als jene geboren wurden, die heute mit Anfang vierzig in der Lebensmitte stehen, hatte sich das Bild bereits deutlich gewandelt. Die Grundzüge waren jedoch noch gut erkennbar. Zwar war der Anteil der unter 20-Jährigen von 44 auf 28 Prozent gesunken, hatte sich der Anteil der über 59-Jährigen auf 17 Prozent mehr als verdoppelt und derjenige der über 79-Jährigen auf knapp zwei Prozent vervierfacht; die Zahl der über 89-Jährigen betrug nun – in einer um knapp ein Viertel gewachsenen Bevölkerung – 53 000 und die der über 99-Jährigen knapp 500. Der wesentliche Unterschied zum Jahrhundertbeginn beschränkte sich aber darauf, dass sich der Bevölkerungsschwerpunkt von den Kindern und Jugendlichen zu den jungen Erwachsenen verlagert hatte. Der Altersscheitelpunkt lag jetzt statt bei 23 bei 34 Jahren. Die eine Hälfte der Bevölkerung war jünger, die andere älter. Die Bevölkerungsmehrheit befand sich im erwerbsfähigen Alter zwischen zwanzig und sechzig Jahren.

Mittlerweile hat sich das Altersgefüge so weit verschoben, dass sich die Gewichtung umzukehren beginnt. Zwar bilden die 20- bis 59-Jährigen mit einem Bevölkerungsanteil von 55 Prozent wie 1960 die Mehrheit. Aber der Anteil der unter 20-Jährigen ist weiter auf rund 21 Prozent gesunken, während der Anteil der über 59-Jährigen auf knapp 24 Prozent gestiegen ist. Damit ist in Ländern wie Deutschland der Anteil älterer Menschen erstmals in der Menschheitsgeschichte größer als derjenige der Jüngeren. Das zahlenmäßige Verhältnis liegt bei acht zu sieben. Auf hundert 20- bis 59-Jährige kommen nur noch 38 unter 20-, aber 43 über 59-Jährige. Die Zahl der über 79-Jährigen hat sich mit 3,1 Millionen seit 1960 annähernd verdreifacht, die der über 89-Jährigen mit 500 000 fast und die der über 99-Jährigen mit mehr als 5000 mehr als verzehnfacht. Die Bevölkerung insgesamt ist im gleichen Zeitraum nur um knapp ein Achtel gewachsen. Der Anteil der über 79-Jährigen liegt nunmehr bei annähernd vier Prozent. Das entspricht dem Anteil der über 65-Jährigen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Altersscheitelpunkt hat sich seit 1960 von 34 auf 40 Jahre verschoben.

Doch der eigentliche Alterungsschub steht noch bevor. In den kommenden vierzig Jahren wird sich der Altersaufbau der Bevölkerung Deutschlands und Europas dramatisch verändern. Obgleich diese Feststellung die Zukunft betrifft, enthält sie nichts Spekulatives. Die über Vierzigjährigen des Jahres 2040 leben nämlich bereits unter uns. Die dann Sechzigjährigen sind die heute Zwanzigjährigen. Die Jahrgänge, die um 1960 und früher in jene noch recht junge Bevölkerung hineingeboren wurden, bilden die Altersgruppe der über 79-Jährigen. Und selbst heute Sechzigjährige werden 2040 noch in stattlicher Zahl dabei sein. Es geht also nicht um irgendeine ferne Zukunft, in die spätere Generationen hineinwachsen werden, sondern um eine Zeitspanne, welche die derzeitige Bevölkerungsmehrheit erleben wird.

In vierzig Jahren werden in einer Bevölkerung, die ohne weitere Zuwanderung noch knapp 64 Millionen Menschen zählen dürfte, nur noch 29 Millionen oder rund 45 Prozent zwischen 20 und 59 Jahre alt sein. Damit vermindert sich der Anteil dieser Altersgruppe im Vergleich zu heute um knapp ein Fünftel. Bezogen auf die Gegenwart bedeutet dies eine Abnahme des erwerbsfähigen Bevölkerungsteils um 16 Millionen. Nur noch 15 Prozent werden jünger als 20,40 Prozent hingegen älter als 59 Jahre sein. Acht über 59-Jährigen stehen mithin nur noch drei unter 20-Jährige gegenüber. Auf einhundert 20- bis 59-Jährige kommen lediglich 33, die jünger, aber 88, die älter sind.

Fast sieben Millionen Menschen werden ihr 79. Lebensjahr überschritten haben. Mit knapp elf Prozent wird ihr Bevölkerungsanteil annähernd so groß sein wie derjenige der dann 6-bis 18-Jährigen oder derjenige der über 64-Jährigen im Jahr 1960. Dabei werden 1,4 Millionen Menschen dieser Altersgruppe, also ein Fünftel, älter als 89 und knapp 100 000 sogar älter als 99 Jahre sein. 2040 könnte also – gleichnishaft – ganz Niedersachsen ausschließlich von über 79-Jährigen, Hamburg von über 89-Jährigen und eine Stadt wie Trier oder Jena von über 99-Jährigen bevölkert werden. Von den über 19-Jährigen wird beinahe die Hälfte sechzig Jahre oder älter sein.

Eine derartige Verschiebung im Altersgefüge hat es noch nie gegeben. Von 1960 bis 2040, also innerhalb der Lebensspanne derer, die heute in ihrer Lebensmitte stehen, fällt der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung auf annähernd die Hälfte, während der Anteil Älterer und Alter auf mehr als das Doppelte steigt. Das zahlenmäßige Verhältnis von Jung zu Alt kehrt sich um. Die 20- bis 59-Jährigen werden von einer deutlichen Mehrheit zu einer ebenso deutlichen Minderheit. Der Anteil der über 79-Jährigen erhöht sich auf das Fünf-, derjenige der über 89-Jährigen auf das Fünfundzwanzig- und derjenige der über 99-Jährigen auf das Zweihundertfache. Der Altersscheitelpunkt verlagert sich von den Mittdreißigern zu den Fünfzigjährigen. Und das alles binnen eines Menschenlebens!

Folgen der Zuwanderung

Nun lässt sich einwenden, dass Deutschland in den kommenden vierzig Jahren vermutlich ebenso wenig im eigenen demographischen Saft schmoren werde wie in den zurückliegenden vierzig Jahren, soll heißen, dass auch künftig mehr Menschen zu- als abwandern und so die entstehenden Bevölkerungslücken zumindest teilweise schließen und den Alterungsprozess verlangsamen werden. Eine solche Entwicklung ist nicht zuletzt aus geographischen, topographischen und vor allem klimatischen Gründen in der Tat wahrscheinlich. Deutschland ist als Lebensraum zu attraktiv, als dass ihm ernsthaft Entvölkerung drohte. Trotzdem muss auch bei dieser Option ein wenig innegehalten werden.

Würde Deutschland künftig einen positiven Wanderungssaldo von jährlich durchschnittlich beispielsweise hunderttausend Menschen aufweisen, ginge seine Bevölkerungszahl bis 2040 nicht um gut ein Fünftel, wie dies ohne Zuwanderung der Fall wäre, aber immer noch um ein Siebentel oder knapp zwölf Millionen Einwohner zurück. Mit reichlich siebzig Millionen Einwohnern befände es sich wieder auf dem Niveau von Mitte der fünfziger Jahre. Allerdings bestünde im Gegensatz zu damals die Bevölkerung zu mehr als einem Viertel aus Menschen, die seit 1960 zugewandert sind, beziehungsweise aus deren Abkömmlingen. Stiege der positive Wanderungssaldo hingegen auf jahresdurchschnittlich zweihunderttausend Menschen, verminderte sich die Einwohnerzahl Deutschlands nur um ein knappes Zehntel oder sieben Millionen. Das entspricht dem Bevölkerungsstand von Mitte der sechziger Jahre. Dann bestünde aber annähernd ein Drittel der Bevölkerung aus Zuwanderern oder deren Abkömmlingen. Sollte gar versucht werden, bei gleichbleibender Geburtenrate die gegenwärtige Bevölkerungszahl durch Zuwanderer konstant zu halten, stammte ein Jahrhundert nach Beginn der Zuwanderung, 1960, die Hälfte der Bevölkerung aus Zuwandererfamilien. Von da an bildeten Menschen, die bereits in der dritten oder vierten Generation in Deutschland ansässig sind, die Minderheit.

Doch wie breit der Zuwandererstrom auch immer nach Deutschland künftig fließen mag – seine Wirkungen auf die Alterung der Bevölkerung sind begrenzt. Zwar ist es möglich, durch Zuwanderung den Erwerbsfähigenanteil auf über fünfzig Prozent zu halten. Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Erwerbsfähigen einerseits und noch nicht beziehungsweise nicht mehr Erwerbsfähigen andererseits wird hiervon aber nur wenig berührt. Ursächlich hierfür ist zum einen, dass auch Zuwanderer älter werden und oft noch nicht einmal ihr ganzes Erwerbsleben in Deutschland verbringen, und zum anderen, dass ihre ursprünglich mitunter höhere Geburtenrate sich schnell dem deutschen Niveau annähert. Ein Teil der Zuwanderer, insbesondere aus den Nachbarländern, weist mittlerweile eine noch niedrigere Geburtenrate auf als die Deutschen. Zuwanderung ist folglich keineswegs das Mittel, mit dem sich alle demographischen Verwerfungen glätten lassen. Das gilt um so mehr, als sich die künftige Zuwanderung tiefgreifend von der bisherigen unterscheiden wird.

Das Ende der europäischen Zuwanderung

1960, zu Beginn der verstärkten Zuwanderung, stammten rund neunzig Prozent der in Deutschland lebenden knapp siebenhunderttausend Ausländer aus Europa und Amerika. Von ihnen waren wiederum drei Viertel Bürger der heutigen Mitgliedsländer der Europäischen Union beziehungsweise der Schweiz. 11 Obwohl sich seitdem Zahl und Anteil der Ausländer stark erhöht haben, hat sich ihre Zusammensetzung bemerkenswert wenig verändert. Werden auch die Türken zu den Europäern gerechnet – immerhin streben sie in die EU –, kommen fast unverändert 85 Prozent der in Deutschland lebenden Ausländer aus Europa und Amerika. Nur fünfzehn Prozent stammen aus Asien, Afrika und anderen Teilen der Welt. 12

In der öffentlichen Diskussion wird oft unterstellt, diese Art von Migration werde sich in Zukunft fortsetzen. Breite Bevölkerungskreise und viele Politiker gehen stillschweigend davon aus, dass die Mehrzahl der Zuwanderer auch künftig Europäer oder deren Abkömmlinge sein werden. Doch das ist im Blick auf Westeuropa wenig realistisch und im Blick auf Mittel- und Osteuropa nicht wünschenswert. Mehr noch, die Westeuropäer und namentlich die Deutschen sollten alles unternehmen, dass es nicht zu europäischen Ost-West-Wanderungen kommt.

Die Fakten: In der Westhälfte Europas ist der Wanderungssaldo mittlerweile ausgeglichen. Es gibt kaum noch Wanderungsgewinner oder -verlierer. Die wirtschaftlichen Unterschiede sind nicht mehr groß genug, um Menschen zu veranlassen, ihre angestammten Sprach- und Kulturräume sowie ihre sozialen Bindungen aufzugeben. Die Zeiten, in denen süditalienische, portugiesische oder griechische Arbeitskräfte dankbar gen Norden zogen, sind längst vorbei. Ganz anders ist das Verhältnis zwischen Westeuropa auf der einen und Mittel- und Osteuropa auf der anderen Seite. Hier ist das wirtschaftliche Gefälle heute steiler, als es jemals während des 20. Jahrhunderts im Westen war. 1998 war die pro Kopf erwirtschaftete Güter- und Dienstleistungsmenge in Westeuropa im Durchschnitt etwa siebenmal so groß wie in Mittel- und vierzehnmal so groß wie in Osteuropa. 13 Selbst wenn dem Umstand Rechnung getragen wird, dass in Mittel- und Osteuropa noch mehr in Schwarz- und Eigenarbeit erwirtschaftet wird als im Westen, ist ein derartiges Gefälle enorm.

Hieran wird sich kurz-, aber auch mittelfristig nicht viel ändern. Die Wirtschaftskraft der rund 53 Prozent der Europäer, die westlich von Oder und Neiße leben, ist elfmal so groß wie diejenige der anderen 47 Prozent. Pro Kopf erwirtschaften die Westeuropäer gut elfmal so viel wie die Mittelund Osteuropäer. Ein solches Gefälle ist allemal groß genug, um über Sprach- und Kulturschranken hinweg und unter Preisgabe sozialer Bindungen Bevölkerungsströme in Gang zu setzen. Das gilt um so mehr, als mit der Aufnahme von zunächst zwölf mitteleuropäischen Staaten in die EU und der weiteren Liberalisierung des Güter- und Personenverkehrs mit Osteuropa noch bestehende Hemmnisse beseitigt oder zumindest spürbar abgebaut werden sollen.

Nicht wenige Deutsche und andere Westeuropäer erwarten hiervon eine nachhaltige Verminderung ihrer Bevölkerungsprobleme. Wurde nicht schon immer an mittel- und osteuropäischen Quellen gezapft, wenn hierzulande nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung standen: Polen in Bergwerken und der Landwirtschaft oder Balten in Chemiefabriken? Warum also nicht gerissene Fäden wieder knüpfen, zumal ohnehin schon jedes Jahr Hunderttausende von Mittel- und Osteuropäern allein in Deutschland aushelfen? Und ist es nicht auch vernünftig, wenn sich in einer erweiterten EU die Menschen dort niederlassen, wo sie die günstigsten Lebensbedingungen antreffen? Wieso sollen sie sich an der Weichsel oder Memel abmühen, wenn am Rhein oder an der Seine alles viel einfacher geht und sie dort gebraucht werden? Ziehen nicht auch die Amerikaner auf ihrem weiten Kontinent immer an die attraktivsten Plätze, ohne ersichtlich Schaden zu nehmen?

Diese Argumentation besticht. Trotzdem ist sie angreifbar. Mit den gleichen Argumenten wird die Bevölkerungsbewegung von Ost- nach Westdeutschland befürwortet. Die Folgen dieser Bewegung können schon jetzt in den neuen Bundesländern besichtigt werden. Hält diese Bewegung noch zehn Jahre an, wird es für den Osten unmöglich sein, irgendwann aus eigener Kraft zum Westen aufzuschließen.

Gefahren der Ost-West-Wanderung

Seit der Antike, vor allem aber seit der Renaissance hat sich der Westen Europas dynamischer entwickelt als der Osten. Das gilt nicht zuletzt für die Bevölkerungszahlen. Ähnlich wie in der Wirtschaft besteht auch in der Besiedlungsdichte ein erhebliches West-Ost-Gefälle. Deutschland beispielsweise ist gegenwärtig doppelt so dicht besiedelt wie Polen oder Tschechien, viermal so dicht wie Weißrussland oder die Ukraine und fünfundzwanzigmal so dicht wie Russland.

Dieses Gefälle wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auch ohne Ost-West-Wanderung steiler werden. Der Grund sind hohe Sterbeüberschüsse oder, umgekehrt, der Rückgang der Geburtenzahlen. Mit Ausnahme Polens und der Slowakei haben alle Länder Mittel- und Osteuropas seit nunmehr reichlich einem Jahrzehnt eine noch niedrigere Geburtenrate als Deutschland und die Europäische Union, und auch die Geburtenraten Polens und der Slowakei sind nicht höher als die niedrige deutsche. Mit den Geburtenraten Frankreichs oder Großbritanniens kann kein einziges mitteloder osteuropäisches Land mithalten, obwohl auch sie nicht zur Bestandserhaltung ausreichen. Unter diesen Bedingungen bedeutet eine substanzielle Ost-West-Wanderung, dass sich die Zahl der Menschen östlich von Oder und Neiße binnen zwei Generationen halbiert.

Über die künftigen mittel- und osteuropäischen Geburtenraten kann ebenso wie über die westeuropäischen nur spekuliert werden. Vermutlich werden sie sich – ähnlich wie in den neuen Bundesländern – nach einer Phase der Selbstfindung und Konsolidierung wieder ein wenig erholen. Sie dürften jedoch in absehbarer Zeit keine bestandserhaltenden Höhen erreichen. Allenfalls dürften sie sich in zehn bis fünfzehn Jahren dem derzeitigen westeuropäischen Niveau annähern. In der Zwischenzeit wächst jedoch eine stark dezimierte Elterngeneration heran, so dass die künftigen Geburtenzahlen selbst dann auf einen weiteren deutlichen Rückgang programmiert sind, wenn die Geburtenraten wieder steigen sollten.

Zum existenzgefährdenden quantitativen Bevölkerungsrückgang kämen bei einer substanziellen Ost-West-Wanderung gravierende qualitative Veränderungen der Bevölkerungsstruktur. Da in der Regel überdurchschnittlich junge, flexible und motivierte Menschen in den Westen ziehen dürften, stiege das Durchschnittsalter der Mittel- und Osteuropäer noch schneller als ohnehin, und zugleich würden die Volkswirtschaften ihrer tüchtigsten Kräfte beraubt. Vor einem solchen Hintergrund würde die Verwirklichung des politischen Postulats der Herstellung und Gewährleistung ähnlicher Lebensbedingungen in Deutschland, der Europäischen Union und möglichst ganz Europa illusorisch. In der erweiterten EU wie in Europa insgesamt würde sich riesenhaft vergrößert wiederholen, was die neuen Bundesländer seit einiger Zeit schmerzhaft erfahren: Die wirtschaftliche Entwicklung würde nicht zuletzt gebremst, weil die Unternehmerischsten abwanderten.

Die deutsche Antwort auf diese Herausforderung ist Geld und noch einmal Geld. Die Menschen in den neuen Bundesländern sollen keinen wirtschaftlichen Grund mehr haben, in den Westen überzusiedeln. Das gleiche müsste sich im europäischen Maßstab wiederholen. Die Völker des Westens, allen voran die Deutschen, müssten viel Geld in die durch Abwanderung geschwächten Regionen Mittel- und Osteuropas pumpen, um sie über Wasser zu halten. Dann aber verlöre die ganze Wanderei ihren Sinn. Was nützte es dem Westen, wenn er im Osten die Löcher stopfen müsste, die durch eine Ost-West-Wanderung gerissen wurden?

Was aber passiert, wenn er die Löcher nicht stopft? Dann wird es keine funktionierende Europäische Union und kein stabiles, offenes Europa geben. Denn ein Land, ein Kontinent ist nur dann dauerhaft stabil, wenn die regionalen, wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede nicht zu krass sind. Andernfalls können selbst Eiserne Vorhänge keine Stabilität gewährleisten. Deutsche und Europäer konnten das in ihrer jüngsten Geschichte hautnah erfahren.

Doch wann sind die Unterschiede zu krass? Auf diese Frage gibt es keine allgemeingültige Antwort. Aber es gibt gewisse Erfahrungssätze. Innerhalb eines Sprach- und Kulturkreises setzen sich Bevölkerungsteile in Bewegung, wenn das Wirtschaftsgefälle steiler als vier zu drei ist. Die noch immer nicht zum Stillstand gekommene Wanderung von den neuen in die alten Bundesländer zeigt das. Über Sprach- und Kulturkreise hinweg müssen stärkere wirtschaftliche Anreize wirksam werden. Im allgemeinen reicht aber auch hier ein Gefälle von zwei zu eins, soll heißen: Hat eine Bevölkerung doppelt so viele materielle Güter wie eine andere, machen sich Gruppen der Ärmeren auf den Weg, um am Wohlstand der Reichen teilzuhaben.

Europäer in einem Boot

Soll die Osterweiterung der EU gelingen und darüber hinaus ein offenes und zugleich stabiles Europa entstehen, darf die Binnenwanderung auf Dauer nicht stärker werden, als sie heute in Westeuropa ist. Die durch Abwanderung entstehenden Lücken lassen sich nämlich in keinem Land mehr durch internes Bevölkerungswachstum schließen. Sie klaffen auf Dauer, es sei denn, außereuropäische Zuwanderer strömen nach. Alle Europäer müssen deshalb dazu beitragen, den Wanderungssaldo für jedes Land möglichst ausgeglichen zu halten.

Dazu bedarf es einer erheblichen Abflachung des bestehenden Wirtschaftsgefälles. Was das praktisch heißt, wissen die Deutschen seit ihrer Wiedervereinigung nur allzu gut. Für die Ostdeutschen bedeutet es eine radikale Veränderung fast aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche. Für die 67 Millionen Westdeutschen einschließlich der Westberliner bedeutet es im Wesentlichen, dass sie den fünfzehn Millionen Ostdeutschen jährlich etwa 75 Milliarden Euro, das sind knapp vier Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts, für den Aufbau der neuen Bundesländer und den ostdeutschen Konsum zur Verfügung stellen. Auf diese Weise soll das Wirtschaftsgefälle, das 1990 bei drei zu eins lag, bis 2010 auf vier zu drei vermindert werden. Ob das gelingen wird, ist ungewiss. Gewiss ist hingegen, dass es nicht gelingen wird, wenn diese Anstrengungen erlahmen sollten.

Die Osterweiterung der EU wird auch den übrigen Westeuropäern Gelegenheit geben, diese Lektion zu lernen. Bisher war sie für sie mehr ein gedankliches Experiment. Das ändert sich jetzt. In wenigen Jahren werden den 377 Millionen Alt-EU-Bürgern 106 Millionen Neu-EU-Bürger gegenüberstehen. Ähnlich wie in Deutschland wird also auch hier das Zahlenverhältnis zwischen Alt- und Neubürgern bei etwa vier zu eins liegen. Anders als in Deutschland wird das Wirtschaftsgefälle aber nicht nur drei zu eins, sondern – je nach Berechnungsweise – bis zu sieben zu eins betragen, mithin mehr als doppelt so groß sein. Die zu lösende Aufgabe ist damit noch schwieriger als hierzulande, selbst wenn eine Verminderung des Wirtschaftsgefälles auf zwei zu eins voraussichtlich ausreichen wird, um die erweiterte EU zu stabilisieren. Doch damit ist es nicht getan. Auch den übrigen 271 Millionen Mittelund Osteuropäern, die bis auf weiteres nicht der EU angehören, muss zumindest eine Perspektive eröffnet werden.

Scheitert Westeuropa bei der Bewältigung dieser historisch einzigartigen Herausforderung, könnte bei Öffnung der innereuropäischen Grenzen eine Völkerwanderung einsetzen, an der niemand, weder im Osten noch im Westen, gelegen sein kann. Es ist deshalb richtig, nicht zeitgleich mit der EU-Osterweiterung den Neubürgern völlige Freizügigkeit einzuräumen. Zwar braucht der Westen nicht zu fürchten, dass zuwandernde Mittel- und Osteuropäer den Ansässigen Arbeitsplätze, Wohnungen oder Krankenhausbetten streitig machen. Dieser latente Konflikt wird durch den zügigen Bevölkerungsschwund im Westen entschärft. Die neuen Mitgliedsländer müssen jedoch zunächst eine Chance haben, sich wirtschaftlich zu festigen. Das geht nur, wenn sie mit ihrer Aufnahme in die Europäische Union nicht sogleich die dynamischsten Bevölkerungsgruppen durch Abwanderung verlieren. Sollte das geschehen, würde die Wirtschaftskraft des Westens weiter gestärkt und die des Ostens nochmals geschwächt. Das steile wirtschaftliche Gefälle würde zementiert und Europa gefährlich destabilisiert. Über kurz oder lang müssten erneut Grenzen gezogen werden. Europa stünde wieder da, wo es schon einmal stand.

Die Hoffnung, das wirtschaftliche Ungleichgewicht könne durch Waren- oder Geldsendungen der Migranten an die Zurückgebliebenen zumindest gemildert werden, ist unbegründet. Kurzfristig kann so deren Mangel ein wenig überdeckt werden, doch mittel- und langfristig ist dies kein Ersatz für den Auf- und Ausbau der eigenen Volkswirtschaften. Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg auch nicht durch Carepakete und noch nicht einmal durch die Marshallplan-Hilfe wieder aufgebaut worden. Das waren hochwillkommene Gesten, mehr aber nicht. Und auch die privaten Milliardentransfers in die Türkei und das frühere Jugoslawien haben dort wirtschaftlich nur wenig bewegt.

Ebenso wenig fundiert ist die Annahme, viele Zuwanderer würden nach einigen Jahren, reich an Wissen und Erfahrungen und ausgestattet mit einigem Startkapital, in ihre Ursprungsländer zurückkehren und dort die Wirtschaft ankurbeln. In Einzelfällen mag das geschehen. Die meisten werden jedoch kaum Anlass haben, den Rückweg anzutreten. Arbeitsplätze und Wohnungen werden ihnen reichlich zur Verfügung stehen, ihre Kinder werden auf deutsche, französische oder niederländische Schulen gehen, und im Übrigen können sie problemlos ihre alte Heimat besuchen, wenn sie Lust darauf verspüren. Warum also sollten sie sich den Mühen der Reintegration unterziehen? Auch hier sind die Erfahrungen eindeutig. Schon nach einigen Jahren wird die alte Heimat den Ausgewanderten oft fremd.

Sowohl im eigenen als auch im Interesse Mittel- und Osteuropas sollten Deutsche und Westeuropäer deshalb darauf verzichten, ihre Bevölkerungsprobleme durch mittel- und osteuropäische Zuwanderer lösen zu wollen. Von den in jüngster Zeit in Wirtschaft und Politik erwogenen Maßnahmen, Mitteleuropäern die Übersiedlung nach Deutschland und damit nach Westeuropa besonders zu erleichtern, gehen falsche Signale aus. Sie sind Ausdruck einer extrem kurzsichtigen Politik. Sollte Deutschland diesen Kurs nicht unverzüglich wieder verlassen, wird es mehr verlieren als gewinnen. Der begehrliche Blick mancher Westeuropäer, namentlich Deutscher, auf die Bevölkerungen des Ostens geht fehl.

Die Europäer insgesamt müssen akzeptieren, dass es auf ihrem Kontinent keine sprudelnde Bevölkerungsquelle mehr gibt und es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch in der Türkei das Bevölkerungswachstum zum Stillstand kommt. Sie müssen erkennen, dass Wanderungsbewegungen, seien es Binnenoder Außenwanderungen, in einer zahlenmäßig abnehmenden Bevölkerung völlig anders wirken als in einer expandierenden. Und schließlich müssen sie begreifen, dass sie demographisch alle in einem Boot sitzen und ihre Probleme nur gemeinsam lösen können.

Aspekte außereuropäischer Zuwanderung

Während die ansässigen Bevölkerungen Europas, Nordamerikas und Australiens zahlenmäßig abnehmen oder ihr noch bestehendes Wachstum in absehbarer Zeit zum Stillstand kommen und dann ebenfalls in Abnahme umschlagen wird, verzeichnen große Teile Asiens, Lateinamerikas und Afrikas hohe Zuwachsraten, wobei 95 Prozent dieser Zuwächse in Entwicklungsländern anzutreffen sind. Dabei gilt im Allgemeinen: Je niedriger der Bildungs- und wirtschaftliche Entwicklungsstand, desto höher das Bevölkerungswachstum. Daraus folgt umgekehrt, dass mit der weltweiten Verbesserung des Bildungs- und Entwicklungsstandes das Wachstum der Weltbevölkerung allmählich seinem Ende entgegenstrebt. Die Anzeichen dafür mehren sich. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sinkt überall die Geburtenrate – gerade auch in den Entwicklungsländern. Die Vereinten Nationen gehen deshalb davon aus, dass gegen Mitte dieses Jahrhunderts auch weltweit das Bevölkerungswachstum zum Stillstand kommen wird und bereits um 2100 deutlich weniger Menschen die Erde besiedeln werden als um 2050.

Die intensiven Bemühungen von internationalen Organisationen, Staaten sowie öffentlichen und privaten Einrichtungen, die Zunahme der Weltbevölkerung, die sich von 1950 bis 2050 von 2,5 Milliarden auf voraussichtlich 9,4 Milliarden annähernd vervierfachen dürfte, 14 zu beenden, zeitigen also Erfolg. Allerdings nimmt durch die gleichen Bemühungen der alte Bevölkerungsteil noch weitaus stärker zu, als aufgrund der Zunahme der Lebenserwartung insbesondere älterer Menschen zu erwarten gewesen wäre. Schon in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts dürfte die Weltbevölkerung einen ähnlichen Altersaufbau haben wie heute die Bevölkerung Deutschlands. Weltweit wird der Bevölkerungsanteil von über 59-Jährigen größer sein als der von unter 20-Jährigen. Die derzeitige Bevölkerungsentwicklung von Deutschen und Europäern wird noch in diesem Jahrhundert zum Menschheitsschicksal werden. In zwei bis drei Generationen wird die Mehrzahl der Völker vor den gleichen Problemen stehen wie derzeit und in absehbarer Zukunft die Europäer.