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Der Westen scheint im Wandel begriffen und die Verheißung des ewigen Wachstums lässt zunehmend an Leuchtkraft nach. Diese Beobachtung nimmt der renommierte Soziologe Meinhard Miegel zum Anlass, ein grundlegendes Umdenken in Politik und Wirtschaft zu fordern. Nur ein Abschied vom Mythos des ewigen Wachstums ermögliche es Deutschland und Europa, die nötigen Reformen in die Wege zu leiten. Vermehrt müsse auf Solidarität, Nachhaltigkeit und Angemessenheit geachtet werden. Schonungslos und klarsichtig richtet Miegel seinen Blick auf die westliche Misere, bietet aber gleichzeitig konstruktive Lössungsvorschläge. Ein ebenso wichtiges wie erhellendes Buch.-
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Seitenzahl: 411
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Meinhard Miegel
Gewinnt der Westen die Zukunft?
Saga
Epochenwende
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 2006, 2022 Meinhard Miegel und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728328453
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Alle reden vom Wetter und vom Wechsel der Jahreszeiten. Der Wandel des Klimas beschäftigt hingegen nur wenige. Das ist verständlich. Denn während sich die Menschen ständig an Wetter und Jahreszeiten anpassen müssen, werden sie nur selten von einem Klimawandel gefordert. Doch irgendwann kommt er und verändert ihre Lebensbedingungen von Grund auf.
Ähnliches gilt für Wirtschaft und Gesellschaft. Alle reden von Wachstumsraten und Beschäftigtenzahlen, von Strukturmaßnahmen und Parlamentswahlen, und nur gelegentlich richtet eine Minderheit ihren Blick auf die fundamentalen Verschiebungen im globalen Gefüge von Völkern, Volkswirtschaften, Handelsströmen und anderem mehr. Doch es sind diese Verschiebungen, die wie der Wandel des Klimas irgendwann alle und alles erfassen. Dann wird Altes durch Neues, Vertrautes durch Fremdes verdrängt. Eine Epoche wird durch eine andere abgelöst. Eine solche Epochenwende ist jetzt.
In der nunmehr zu Ende gehenden Epoche hatte der Westen 1 einen weiten Vorsprung vor der übrigen Welt. Jahrhundertelang war er ihr technisch-industriell überlegen. Seine Bevölkerungen waren weithin besser gebildet und ausgebildet. Der materielle Wohlstand stieg schneller als anderswo, und zugleich nahm die Zahl der Menschen rascher zu. Dadurch erlangte der Westen weltweite Vorherrschaft.
Nun aber sind immer mehr Länder dabei, diesen Vorsprung aufzuholen. Der Abstand wird von Jahr zu Jahr kleiner. Binnen weniger Jahrzehnte dürften Länder wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, aber auch Japan und selbst die USA ihre derzeit noch hochprivilegierte Stellung weitgehend eingebüßt haben.
Sie werden von allen Seiten hart bedrängt. Das zeigt nicht zuletzt ihr hoher und immer noch steigender Aufwand für militärische Rüstung, Terror- und Drogenbekämpfung oder die Verteidigung ihrer Eigentumsrechte. Besonders bedrängt werden sie jedoch durch die zunehmende Wirtschaftskraft der Aufsteiger. Deren Erwerbsbevölkerungen sind heute oft genauso qualifiziert und motiviert wie diejenigen des Westens, und darüber hinaus sind sie jung, unverbraucht und vor allem genügsam. Mit ihren Leistungen können sie sich überall sehen lassen. In gewisser Weise befinden sich die Aufsteiger jetzt da, wo sich die Völker des Westens befanden, als sie aufbrachen, die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten.
In diesem Wettbewerb auf Dauer mitzuhalten fällt dem Westen umso schwerer, als ihn der über Generationen gehaltene Vorsprung müde und mürbe gemacht hat. Die Ermüdungserscheinungen sind unübersehbar. Der gesellschaftliche Zusammenhalt zerfällt. Die Sozialverbände, an ihrer Spitze die Familie, befinden sich in Auflösung. Die abträglichen Nebenwirkungen des westlichen Lebensstils drängen immer stärker an die Oberfläche. Breite Bevölkerungsschichten suchen vor allem Ruhe und Zerstreuung. Mühen scheuen sie, zum Beispiel die Mühen, die mit dem Aufziehen von Kindern verbunden sind. Die Völker des Westens weisen nirgendwo mehr bestandserhaltende Geburtenraten auf. Vor allem aber plagen sie Zweifel an ihrer Zukunft. Oft handeln sie, als hätten sie keine.
Noch versucht die Politik, das alles zu übertünchen. Sie tut so, als könne der schwindende Vorsprung des Westens schon bald wieder ausgebaut und dann bis in alle Zukunft erhalten werden. Um ihrem Handeln mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, dopt sie Wirtschaft und Gesellschaft mit immer höheren Dosen öffentlicher Schulden und versucht so, eine Dynamik vorzugaukeln, die es schon längst nicht mehr gibt.
Verantwortungsbewusstes Handeln sieht anders aus. Die Völker des Westens müssen lernen, sich in einem veränderten globalen Gefüge einzurichten. Sie müssen hinnehmen, dass sie die Welt nicht länger dominieren, sondern von nun an mit anderen zu teilen haben. Das bedeutet Verzicht. Zu glauben, die Habenichtse würden wie bisher tatenlos zusehen, wenn sich die Völker des Westens die Teller voll häufen, ist wirklichkeitsfremd.
Das heißt nicht, dass der Westen künftig Not leiden muss. Seine Völker können durchaus ein hohes Wohlstandsniveau halten – unter der Voraussetzung, dass sie mit ihren Mitteln und Möglichkeiten haushälterischer umgehen sowie ihre Wirtschaft und Gesellschaft klüger gestalten als in den zurückliegenden Jahrzehnten der Vergeudung und des Überflusses. Doch eines müssen sie wissen: Mit ihren bisherigen Sicht- und Verhaltensweisen, mit ihren Attitüden sich selbst und der Welt gegenüber und mit ihrer Hoffnung, fast alle Probleme durch ein nie versagendes Wirtschaftswachstum zudecken zu können, werden sie nicht mehr erfolgreich sein.
Für den Westen geht ein goldenes Zeitalter zu Ende. Jetzt tritt er ein in ein eisernes, das allerdings ehrlicher, belastbarer und dauerhafter sein könnte als jenes goldene, das so golden oft gar nicht war. Und lebenswert ist auch die kommende Epoche! Allerdings verlangt sie stärker als die jetzt zu Ende gehende die Anspannung aller geistig-sittlichen Kräfte. Der überbordende materielle Wohlstand hat diese Kräfte erschlaffen lassen. Gelingt jedoch diese Anspannung, kann der Westen der Welt vorleben, wie an Zahl abnehmende und stark alternde Gesellschaften mit begrenzten Mitteln und Möglichkeiten ein hohes materielles und immaterielles Wohlstandsniveau aufrechterhalten können. Andere Völker werden dem mit großer Aufmerksamkeit folgen. Denn sie werden in wenigen Jahrzehnten dort sein, wo sich der Westen heute befindet.
Sechs Millionen Jahre dauerte es, ehe aus dem knorrigen Stamm der Menschenähnlichen, der Ur-, Früh- und Altmenschen der Zweig unserer unmittelbaren Vorfahren, der Jetztmenschen, austrieb. Vor etwa 50000 Jahren begannen sie sich durch Körperbau sowie handwerkliche und künstlerische Fertigkeiten deutlich von ihren näheren und ferneren Verwandten zu unterscheiden. In den dann folgenden 40000 Jahren änderte sich wenig an ihrem Erscheinungsbild und ihrer Lebensweise. Nur nahmen sie an Zahl zu und verbreiteten sich über den größten Teil der bewohnbaren Erde. Gegen Ende dieser Epoche vor ungefähr 10000 Jahren dürfte die Welt von etwa fünf Millionen Menschen besiedelt gewesen sein. 2
Diese Zahl signalisiert ein extrem langsames Bevölkerungswachstum. Während der ersten vier Fünftel der Menschheitsgeschichte vermehrten sich hundert Menschen binnen eines Jahrhunderts um durchschnittlich knapp drei und binnen eines Jahrtausends um etwa dreißig. Ein solches Wachstum war für die jeweils Lebenden praktisch nicht wahrnehmbar, zumal jeder Zuwachs in Räume abgeleitet wurde, die noch nicht von Jetztmenschen besiedelt waren. Zugleich waren den Menschen immer nur kurze Zeiträume bewusst. Denn sie starben jung, die meisten im Kindesalter, und längere Überlieferungen waren unbekannt.
Erst vor ungefähr 10000 Jahren hatte sich die Bevölkerung an wenigen Stellen so verdichtet, dass sie anfing, ihre Lebensweise zu ändern. Statt weiterhin zu sammeln und zu jagen, begann sie, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben und ihre handwerklichen und künstlerischen Aktivitäten zu intensivieren. Auch entstanden erste größere Siedlungen. Mit der Ausbreitung dieser Lebensweise endete die naturnahe Phase des Jetztmenschen.
Dass er dieses Ende als Glück empfand, darf bezweifelt werden. Jedenfalls schildern große Sagas diese Veränderungen als einen Sturz aus dem Paradies. Die Menschen, die bis dahin durch die Natur auskömmlich versorgt worden waren, mussten nunmehr zunehmend für sich selbst sorgen. Beladen mit dem Joch der Arbeit, das sie zuvor nicht gekannt hatten, aßen sie fortan ihr Brot »im Schweiße ihres Angesichts«. 3 Zunächst verschlechterten sich ihre Lebensbedingungen, Krankheiten breiteten sich aus, die ohnehin kurze Lebenserwartung sank. Knochenfunde aus jener Zeit sprechen eine eindeutige Sprache. 4
Dennoch beschleunigte die Sesshaftwerdung das Bevölkerungswachstum. Die Geburtenrate stieg kräftig an. Offenbar waren den Menschen die von ihnen selbst gestalteten Lebensbedingungen im Ergebnis zuträglicher als jene natürlichen, denen sie zuvor ausgesetzt gewesen waren. Im Laufe von 8000 Jahren, bis zum Beginn unserer Zeitrechnung, sollte sich die Menschheit von fünf auf schätzungsweise 300 Millionen versechzigfachen. Sie war damit aber noch immer nicht zahlreicher als heute beispielsweise die Bevölkerung Nordamerikas. Im Römischen Reich, das sich von Spanien bis in den Vorderen Orient erstreckte, dürften zur Zeit des Jesus von Nazareth etwa 50 bis 60 Millionen Menschen gelebt haben 5 – ebenso viele wie heute allein in Italien. Das war die Zeit, in der die Völker aufgerufen wurden, fruchtbar zu sein, sich zu mehren und sich die Erde untertan zu machen.
Mit der zahlenmäßigen Zunahme der Bevölkerung änderte sich allerdings nur wenig an ihrer Altersstruktur. Menschliche Populationen bestanden nach wie vor aus vielen Kindern, von denen die Mehrheit nicht das Erwachsenenalter erreichte, zahlreichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie einem recht überschaubaren Anteil an Menschen im reiferen Erwachsenenalter. Die meisten starben, ehe sie eigentlich alt geworden waren – verbraucht, verschlissen, krank. Im heutigen Sinne »alte Menschen« waren selten. Kaiser Augustus war, als er 14 n. Chr. mit 77 Jahren starb, eine rare Ausnahme.
Vom Beginn unserer Zeitrechnung bis 1650 – die Pilgerväter hatten mittlerweile Siedlungen in Amerika errichtet und die Europäer ihren Dreißigjährigen Krieg geführt – wuchs die Weltbevölkerung weiter von 300 auf 500 Millionen. Das bedeutete gegenüber den vorangegangenen 8000 Jahren eine erhebliche Verlangsamung der durchschnittlichen Bevölkerungszunahme. Seuchen, namentlich die Pest, hatten in den am dichtesten besiedelten Regionen Mittel- und Vorderasiens die Bevölkerung wiederholt stark dezimiert. Auch in Europa ging sie zeitweise zahlenmäßig zurück. Weitgehend unverändert blieb hingegen die Altersstruktur. Wie schon in der Antike dominierten weiterhin junge und sehr junge Menschen.
Doch schon 150 Jahre später, um 1800 – Männer wie Goethe, Beethoven oder Napoleon schrieben sich gerade tief in die Geschichte Europas ein, und die Amerikaner hatten soeben ihre Unabhängigkeit erklärt – hatte sich die Weltbevölkerung von rund 500 Millionen auf knapp eine Milliarde verdoppelt. Stellenweise begann es eng zu werden, oder zumindest hatten manche diesen Eindruck. Immer häufiger wurde deshalb der Ruf nach Raum für die wachsende Zahl von Menschen laut. Das galt besonders für Europa.
In Europa war das Bevölkerungswachstum seit dem 17. Jahrhundert besonders zügig vorangeschritten. Die beachtlichen Produktivitätsfortschritte jener Epoche führten unmittelbar zu steigenden Bevölkerungszahlen. Der individuelle Lebensstandard erhöhte sich hingegen nur schleppend. Wirtschaftswachstum regte Bevölkerungswachstum, dieses regte jenes an. Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum waren eng aufeinander bezogen. Die Folge: Aufgrund seiner im globalen Vergleich hohen wirtschaftlichen Dynamik stellte Europa, der zweitkleinste Kontinent, um 1800 annähernd ein Fünftel der Weltbevölkerung.
Im 19. Jahrhundert setzte sich die zahlenmäßige Zunahme der Europäer beschleunigt fort. Werden die Menschen europäischen Ursprungs mitgezählt, die zwischen 1800 und 1900 in Nord- und Südamerika, Australien, Asien und in zahlreichen anderen Ländern ihr Fortkommen suchten, dann erhöhte sich in jenem Jahrhundert die Zahl der Europäer von 200 auf etwa 530 Millionen. 6 Die Weltbevölkerung ohne Europäer stieg hingegen nur von 775 Millionen auf 1, 12 Milliarden, also um knapp fünfzig Prozent. Anders gewendet: Die starke Zunahme der Weltbevölkerung von knapp einer auf 1,65 Milliarden ging im 19. Jahrhundert fast zur Hälfte auf das Konto der Europäer. Um 1900 war rund ein Drittel der Weltbevölkerung europäisch. Von diesem Drittel lebten knapp 410 Millionen innerhalb und reichlich 120 Millionen außerhalb Europas.
Aber auch für die zahlenmäßige Zunahme der übrigen Menschheit gingen während des 19. Jahrhunderts entscheidende Impulse von Europa aus. Im Zuge der Kolonialisierung und damit Europäisierung weiter Teile der Welt verbreiteten sich europäische, insbesondere britische, spanische, französische und russische Sicht- und Verhaltensweisen und bewirkten innerhalb und außerhalb der jeweiligen Einflussbereiche Ähnliches wie zuvor in den Ursprungsländern. Die Wirtschaft wuchs, die Lebensbedingungen verbesserten sich, die individuelle Lebenserwartung stieg, die Bevölkerung nahm an Zahl zu. Die übrige Menschheit begab sich auf den Pfad, auf dem die Europäer vorangegangen waren. Die Bevölkerungsexplosion im 20. Jahrhundert war im Grunde nichts anderes als die Globalisierung der europäischen Bevölkerungsentwicklung im 19. Jahrhundert.
War die Zahl der Europäer im 19. Jahrhundert auf reichlich das Zweieinhalbfache gestiegen, so vervierfachte sich im 20. Jahrhundert die Weltbevölkerung, ohne dass die Europäer hierzu noch maßgeblich beitrugen. Von 1900 bis 2000 vermehrte sich die Menschheit um 4,4 Milliarden – von knapp 1,7 auf etwa 6,1 Milliarden. Die Riesenhaftigkeit dieser Entwicklung verdeutlicht der historische Vergleich. Am Ende des 20. Jahrhunderts lebten weltweit zwanzigmal so viele Menschen wie vor 2000 und zwölfmal so viele wie vor 350 Jahren. Allein in dem einen Jahrzehnt von 1990 bis 2000 kamen mehr Menschen hinzu, als Mitte des 18. Jahrhunderts weltweit lebten. Von den reichlich 100 Milliarden Menschen, die schätzungsweise während der zurückliegenden 50000 Jahre insgesamt gelebt haben, leben gegenwärtig mehr als sechs Prozent. Nach vielen Jahrtausenden einer kaum wahrnehmbaren Bevölkerungszunahme und einigen Jahrhunderten mäßigen Bevölkerungswachstums schoss innerhalb weniger Generationen die Wachstumskurve fast senkrecht nach oben.
Da die Europäer hierzu nur noch unterdurchschnittlich beitrugen – ihre Zahl vergrößerte sich im 20. Jahrhundert von 408 auf 730 Millionen, also bloß um achtzig Prozent –, halbierte sich ihr Anteil an der Weltbevölkerung von einem Viertel auf ein Achtel. Und selbst wenn die aus Europa stammenden Cousins und Cousinen in Übersee mit eingerechnet werden, halbierte sich der europäische Anteil an der gesamten Menschheit ebenfalls – und zwar von einem Drittel auf knapp ein Fünftel. 7
Im 19., vor allem jedoch im 20. Jahrhundert verschob sich das Bevölkerungsgefüge aber nicht nur quantitativ. Ebenso bedeutsam waren die Veränderungen seiner Altersstruktur. Während 99,5 Prozent der Menschheitsgeschichte bestanden menschliche Populationen im Wesentlichen aus zwei Generationen: den Eltern und ihren Kindern. Bis in das 18. Jahrhundert hinein spielten Großeltern, von Urgroßeltern gar nicht zu reden, zahlenmäßig eine untergeordnete Rolle. Wilhelm Busch lässt sogar noch im 19. Jahrhundert seine literarische Gestalt Knopp sterben, nachdem dessen Tochter Julchen geheiratet hat. Und zwar nicht aus Kummer, sondern weil er »... hienieden nun eigentlich nichts mehr zu tun« hat. Waren die Kinder flügge, hatten die Eltern fast während der ganzen Menschheitsgeschichte ihre Aufgabe erfüllt.
Das änderte sich spätestens im 18. Jahrhundert von Grund auf. Bis zu dieser Zeit waren immer nur Individuen gealtert. Die Menschheit selbst war jung geblieben. Nunmehr begann auch die Menschheit zu altern – anfangs recht verhalten, später deutlich rascher und dann mit einer kaum noch fassbaren Geschwindigkeit. Jetzt verließ sie ihren seit Anbeginn verfolgten Pfad langsamen zahlenmäßigen Wachstums bei großer Jugendlichkeit und schwenkte ein auf den Pfad schneller Expansion und Alterung.
Zunächst erreichten immer mehr Kinder das Erwachsenenalter. Dann wurden allmählich auch die Reihen der Großeltern dichter, was nicht nur in den Märchen der Gebrüder Grimm seinen Niederschlag fand. Im 20. Jahrhundert, vor allem in dessen zweiter Hälfte, gab es schließlich kein Halten mehr. Allein von 1950 bis 2000 stieg die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit um annähernd vierzig Prozent – von 47 auf 65 Jahre.
Dabei blieb kein Erdteil und kaum eine Region ausgespart. Nordamerikaner und Europäer, deren Lebenserwartung schon 1950 tief in das siebte Jahrzehnt hineinreichte, legten noch einmal sieben Jahre zu. In Asien stieg sie um spektakuläre 25 auf 66, in Lateinamerika um immerhin noch 18 auf 70 Jahre. Und auch die Afrikaner hatten im Jahre 2000 eine durchschnittliche Geburtslebenserwartung von 50 Jahren nach nur 38 Jahren 1950.
Aufgrund dieser Entwicklung war im Jahre 2000 die Hälfte der Bevölkerung in Europa bereits älter als 38 und in Nordamerika älter als 35 Jahre. In Asien, Lateinamerika und Afrika lagen die entsprechenden Werte bei 26, 24 beziehungsweise 18 Jahren. Das mag noch immer jung erscheinen. Aber schon im mittelfristigen Vergleich zeigt sich, dass beispielsweise die Deutschen und mit ihnen die meisten Europäer noch vor drei Generationen jünger waren als die heute so jugendlich erscheinenden Völker Asiens und Lateinamerikas. Allenfalls die Bevölkerung Afrikas kann im historischen Vergleich heute noch als jung angesehen werden.
Wie wird, wie kann, wie soll es weitergehen? Wie bei fast allen Fragen, die die Zukunft betreffen, gehen die Meinungen hierüber auseinander. In zentralen Punkten besteht jedoch bemerkenswerte Übereinstimmung. Danach wird die Menschheit vorerst an Zahl weiter zunehmen und im Durchschnitt weiter altern. Die bisherige Entwicklung hält also noch eine Weile an. Vermutlich schon in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wird sich jedoch der Trend zahlenmäßiger Bevölkerungszunahme zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte umkehren. Nachdem die Zahl der Menschen 50000 Jahre lang tendenziell immer nur gestiegen ist, wird sie – so die Meinung vieler Fachleute 8 – nach einer kurzen Phase des Stillstandes ab etwa 2070 rückläufig sein.
Regional sind solche Bevölkerungsrückgänge nichts Außergewöhnliches. So war das antike Rom, das in seiner Blütezeit ungefähr eine Million Einwohner zählte, bis zum frühen Mittelalter auf wenige tausend Menschen geschrumpft. Auf dem Kapitol, so berichten Chronisten, weideten verwilderte Ziegen. Die Päpste jener Epoche residierten in einer bescheidenen Landstadt mit großer Vergangenheit. Und was für Rom gilt, gilt auch für zahlreiche andere einst blühende Gemeinwesen. Doch wurden Bevölkerungsrückgänge in einer Region in aller Regel in anderen Regionen mehr als ausgeglichen. Die Menschheit insgesamt nahm ständig an Zahl zu.
Das wird in nicht allzu ferner Zukunft anders sein. Wenn die heutigen Kinder – gleichgültig ob in Europa, Amerika oder Asien – alt geworden sein werden, werden sie voraussichtlich einer Weltpremiere beiwohnen: dem zahlenmäßigen Rückgang der Menschheit. Der freilich beginnt auf hohem Niveau. Denn ehe er einsetzt, dürfte die Menschheit nach derzeitigem Erkenntnisstand noch einmal um annähernd drei Milliarden zunehmen. Das sind ebenso viele Menschen, wie 1960 weltweit lebten.
Allerdings wird diese Vorhersage seit einiger Zeit ständig nach unten korrigiert. Noch zu Beginn der 1990er Jahre wurde gemeinhin von einem Bevölkerungsanstieg auf bis zu 13 Milliarden bis 2050 ausgegangen. Von einem solchen Anstieg ist heute kaum noch die Rede. Als wahrscheinlich gilt vielmehr, dass die Bevölkerungswoge bei reichlich neun Milliarden brechen wird, wobei selbst diese Zahl zunehmend als zu hoch angesehen wird. Doch ob die Weltbevölkerung nun auf 8,9 oder 9,3 Milliarden anschwellen und dies bis 2050 oder erst bis 2070 geschehen wird, ist zwar nicht für die unmittelbar Betroffenen, wohl aber für die Entwicklung der Weltbevölkerung insgesamt ohne Belang.
Von erheblichem Belang ist hingegen ihre künftige Altersstruktur. Die Lebenserwartung, die ein Mensch bei seiner Geburt hat, dürfte sich weltweit bis 2050 von derzeit durchschnittlich 65 auf 75 Jahre erhöhen. Die Menschen in Europa, Nord- und Südamerika sowie Ozeanien, namentlich Australien, dürften dann im Durchschnitt rund 80 Jahre und älter werden, Asiaten das 77. und Afrikaner das 65. Lebensjahr erreichen. Damit hätten Afrikaner in weniger als zwei Generationen die gleiche Lebenserwartung wie Europäer Mitte des 20. Jahrhunderts erreicht.
Zugleich nähern sich die Durchschnittsalter der Völker einander zügig an. Die Bevölkerungen beider Amerikas, Asiens und Ozeaniens – sie dürften 2050 gut siebzig Prozent der Weltbevölkerung stellen – werden zu diesem Zeitpunkt ein Medianalter von 40 Jahren haben, das heißt, zur Hälfte jünger und zur Hälfte älter als 40 Jahre sein. Nur die Europäer werden mit 47 Jahren ein deutlich höheres und die Afrikaner mit 27 Jahren ein deutlich niedrigeres Medianalter aufweisen. Insgesamt wird die Menschheit jedoch in zwei Generationen im Durchschnitt ungefähr so alt sein wie die Ältesten heute: die mit ihren Alters-, Kranken- und Pflegeversicherungssystemen ringenden Europäer.
Während das allgemeine Altern um sich greift, wird sich das Gefüge der Weltbevölkerung quantitativ weiter verschieben. Nach derzeitigen Einschätzungen wird die Zahl der Menschen zwischen 2005 und 2050 um etwa 2,9 Milliarden steigen, von denen annähernd 2,6 Milliarden in Asien und Afrika leben werden.
Allein in Asien liegt die prognostizierte Bevölkerungszunahme bei 1,5 Milliarden. Allerdings ist Ostasien mit China, Japan, Korea und der Mongolei nur noch mäßig an dieser Zunahme beteiligt. In diesem Raum wird der Scheitelpunkt der Bevölkerungsentwicklung voraussichtlich in zwanzig Jahren überschritten sein. Um 2050 werden die Völker Ostasiens bereits an Zahl abnehmen und zugleich hohe Altenanteile bei geringen Kinderzahlen aufweisen.
Ganz anders sind die Erwartungen für Indien, Pakistan und Bangladesch sowie Afghanistan, Iran und einige weitere Länder in Südzentralasien. Zwar wird sich das Bevölkerungswachstum auch hier allmählich verlangsamen. Aber bis es endgültig zum Stillstand kommt, dürfte sich die Zahl der Menschen hier noch einmal um knapp eine Milliarde vergrößern. Das entspricht der Weltbevölkerung um 1800. Entsprechend hoch wird vorerst der Anteil der Jungen bleiben, auch wenn der Altenanteil ständig steigt. Um 2050 dürften auf den knapp vier Millionen Quadratkilometern Indiens und Pakistans mit insgesamt etwa 2,2 Milliarden weit mehr Menschen leben als auf den annähernd 60 Millionen Quadratkilometern Europas sowie des europäisierten Nord- und Südamerikas, Australiens und Neuseelands zusammengenommen.
Verglichen mit der Bevölkerungsdynamik Südzentralasiens erscheinen die Zuwächse Südostasiens mit Indonesien, Malaysia oder den Philippinen von rund 250 Millionen sowie Westasiens mit Syrien, Jordanien, Saudi-Arabien oder dem Irak von knapp 200 Millionen recht moderat. Bezogen auf die dort derzeit vorhandenen Bevölkerungen sind sie jedoch zum Teil hoch. So dürften sich die Bevölkerungen von Kambodscha, Laos, Jordanien, Kuwait, Palästina, Oman, Saudi-Arabien, Syrien oder dem Irak bis 2050 mindestens verdoppeln, während die Einwohnerzahl der Philippinen wohl auf etwa 150 Millionen ansteigt. Aber auch die Bevölkerung der Türkei wird dicht an die Marke von 100 Millionen heranwachsen.
Mehr als verdoppeln wird sich voraussichtlich auch die Bevölkerung Afrikas – von 900 Millionen auf 1,9 Milliarden, obwohl, wie in Asien, die regionalen Entwicklungen höchst unterschiedlich verlaufen werden. Das stärkste Wachstum wird mit jeweils etwa 370 Millionen für Ostafrika mit Äthiopien, Kenia oder Uganda sowie Westafrika mit Ghana, Mali oder der Elfenbeinküste erwartet. Damit wird allein der Zuwachs der ost- und westafrikanischen Bevölkerung bis 2050 weit höher sein als die Zahl der Menschen, die dann in Europa leben werden. In absoluten Zahlen schwächer, aber relativ gesehen noch immer hoch ist die Bevölkerungszunahme in Zentralafrika mit knapp 200 und in Nordafrika mit 133 Millionen. Im aidsgeplagten Südafrika dürfte die Entwicklung hingegen stagnieren oder die Zahl der Menschen sogar abnehmen.
Der übrige Zuwachs verteilt sich auf Südamerika, dessen Bevölkerung um 230 Millionen auf 780 Millionen ansteigen dürfte, Nordamerika, wo von einem Anstieg um 131 Millionen auf 457 Millionen ausgegangen wird, und Ozeanien, also vor allem Australien, wo die Bevölkerung um 14 Millionen auf 47 Millionen zunehmen dürfte. Eine solche Zunahme ist vor dem Hintergrund der zurückliegenden hundert Jahre, aber auch im internationalen Vergleich eher gering. Schon heute ist absehbar, dass die Zuwächse in den beiden Amerikas und Ozeanien die weitere globale Verschiebung des zahlenmäßigen Bevölkerungsgefüges nur mäßig beeinflussen werden. So ist der voraussichtliche Zuwachs des derzeit noch recht dünn besiedelten Südamerikas nicht größer als derjenige des schon jetzt dicht besiedelten Südostasiens, und in den Weiten der USA und Kanadas werden wohl nicht mehr Menschen hinzukommen als auf dem schmalen bewohnbaren Küstensaum zwischen Marokko und Ägypten.
Und was tut sich in Europa? Vor zweihundert Jahren nahm hier die globale Bevölkerungsexplosion ihren Ausgang. Nunmehr geht von hier auch die Umkehr dieses Trends aus. In Europa ist bereits Wirklichkeit, was für die zweite Jahrhunderthälfte im globalen Rahmen erwartet wird: Bevölkerungsstillstand, der in Bevölkerungsrückgang übergeht. Europas Bevölkerung nimmt seit Jahren kaum noch zu. Nach Berechnungen von Experten wird sie – Russland eingeschlossen – bis 2025 um etwa sechs und bis 2050 um ungefähr 60 Millionen abnehmen. Das sind mehr als acht Prozent der Gesamtbevölkerung.
Von dieser Abnahme ist besonders der Raum östlich von Oder und Neiße, oder genauer: östlich von Elbe und Werra betroffen. Hier dürfte die Bevölkerungszahl bis 2050 um etwa 56 Millionen zurückgehen. Das entspricht der derzeitigen Einwohnerzahl von Großbritannien. Von diesen 56 Millionen entfällt knapp die Hälfte auf Russland, dessen Bevölkerung von 144 auf voraussichtlich 119 Millionen abnehmen dürfte. Erhebliche Einbußen werden darüber hinaus Länder wie Rumänien, Bulgarien oder Ungarn zu verzeichnen haben. Nirgendwo östlich von Elbe und Werra wird die Bevölkerungszahl auch nur annähernd auf ihrem derzeitigen Niveau verharren.
Während der mittel- und osteuropäische Raum bis 2050 fast ein Fünftel seiner Einwohner verlieren dürfte, werden es in Südeuropa schätzungsweise sieben Prozent sein. Das sind rund elf Millionen Menschen – so viele wie heute etwa in Griechenland leben. Allein für Italien wird ein Verlust von knapp sechs Millionen vorhergesagt. Das ist ein Zehntel der Bevölkerung in nur zwei Generationen. Aber auch Spanien, Griechenland und die Balkanstaaten sind betroffen. Der einst so fruchtbare Süden ist unfruchtbar geworden. Italiener und andere mögen Kinder lieben, doch sie haben keine. Von stabilen Bevölkerungszahlen kann nirgends die Rede sein.
Verglichen mit dem Osten und Süden sind die Veränderungen in Westeuropa, zu dem auch Deutschland zu rechnen ist, gering, auch wenn es wiederum beträchtliche Unterschiede von Land zu Land und von Region zu Region gibt. Deutlich zurückgehen wird beispielsweise die Bevölkerung Deutschlands, während die Zahlen für Belgien und die Niederlande wahrscheinlich recht konstant bleiben werden. Für Frankreich wird sogar eine Bevölkerungszunahme erwartet. Sie könnte die Verluste im übrigen Westeuropa annähernd ausgleichen.
Einzig für Nordeuropa wird noch von einem bescheidenen Wachstum von insgesamt sieben Millionen ausgegangen, das sich allerdings fast ausschließlich auf Großbritannien, Schweden und Norwegen beschränkt. In diesen drei Ländern soll die Bevölkerung bis 2050 um insgesamt etwa neun Millionen zunehmen. In fast allen anderen nordeuropäischen Staaten, unter ihnen Finnland und die baltischen Staaten, sind dagegen Rückgänge wahrscheinlich.
Ursächlich für diesen Bevölkerungsrückgang in Europa sind die seit Jahren niedrigen Geburtenraten. Um den Bestand einer Bevölkerung zu sichern, müssen in entwickelten Ländern von jeweils zehn Frauen im Durchschnitt 21 Kinder geboren werden. 1950 wurden in Europa von zehn Frauen 26 Kinder geboren. 2000 waren es nur noch reichlich halb so viele, nämlich 14, oder gerade zwei Drittel der Zahl, die zur Aufrechterhaltung des Bevölkerungsbestandes erforderlich ist. Deutschland schritt auf diesem Pfad zusammen mit anderen Ländern voran. Die meisten übrigen Europäer folgten. Mittlerweile unterscheiden sich die deutsche und die durchschnittliche europäische Geburtenrate kaum noch voneinander.
Das spiegelt sich wider in der Altersstruktur. Heute ist knapp ein Viertel der Europäer jünger als zwanzig Jahre. 2050 wird es noch nicht einmal mehr ein Fünftel sein. Der Anteil derer, die sechzig Jahre und älter sind, wird von derzeit einem Fünftel auf weit über ein Drittel ansteigen, wobei sich der Anteil der über 79-Jährigen reichlich verdreifachen wird. Rund 65 Millionen der dann noch etwa 670 Millionen Europäer dürften 2050 das achtzigste Lebensjahr erreicht oder überschritten haben. Die 20- bis 59-Jährigen werden dann wohl europaweit mit 45 Prozent in der Minderheit sein. Gegenwärtig bilden sie noch eine Mehrheit von 55 Prozent.
Von den 6,3 Milliarden Menschen, die derzeit die Erde bevölkern, leben etwa 1,2 Milliarden – die meisten von ihnen in Europa und den europäisch geprägten Teilen der Welt – in mehr oder minder großem Wohlstand, nicht wenige sogar in materiellem Überfluss. Weitere 4,4 Milliarden bemühen sich mit unterschiedlichem Erfolg, zu den Wohlhabenden aufzuschließen oder sich ihnen zumindest zu nähern. Die verbleibenden 700 Millionen leiden existentielle Not. Sie verfügen noch nicht einmal über das Lebensnotwendige.
In den kommenden 45 Jahren wird sich an der Bevölkerungszahl in den derzeit wohlhabenden Ländern nur wenig ändern. Den Zugewinnen in Nordamerika und Ozeanien stehen ähnlich große Verluste vor allem in Europa und Japan gegenüber. Wie gegenwärtig dürften in diesen Ländern auch 2050 etwa 1,2 Milliarden Menschen leben.
Ganz anders ist die Entwicklung in den wirtschaftlich aufstrebenden Ländern. Ihre Bevölkerungszahl dürfte sich bis 2050 von gegenwärtig 4,4 Milliarden um schätzungsweise 1,7 Milliarden auf 6,1 Milliarden erhöhen. Die Bevölkerungen dieser Länder werden dann etwa so zahlreich sein wie die gesamte Menschheit heute und fünfmal so zahlreich wie die Bevölkerungen in den jetzt wohlhabenden Ländern.
Die Bevölkerungen der wirtschaftlich wenig oder gar nicht entwickelten Länder, namentlich Afrikas, dürften schließlich von derzeit etwa 700 Millionen auf 1,8 Milliarden anwachsen. Ob dieser Zuwachs einhergeht mit einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, ist zweifelhaft. Anhaltspunkte hierfür gibt es kaum. Wahrscheinlicher ist das Gegenteil.
Entsprechend verschiebt sich das Zahlenverhältnis von Reichen, Aufsteigern und Armen. Gegenwärtig leben von 100 Erdenbürgern 19 in einem wohlhabenden, 70 in einem wirtschaftlich aufstrebenden und elf in einem unentwickelten Land. 2050 werden voraussichtlich nur noch 13 zu den »Altreichen« zählen, also ein Drittel weniger als heute. 67, das entspricht zwei Dritteln der Menschheit, werden es auf ihrem Weg nach oben unterschiedlich weit gebracht haben, und einige werden die Ränge der Altreichen verstärken. Die Mehrheit wird jedoch hart an die Türen der Alt- wie Neureichen pochen und diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit stellen. Und 20 werden, so ist zu befürchten, noch immer existentielle Not leiden. Das ist ein fast doppelt so hoher Anteil wie heute.
In Europa werden von diesen 100 Erdenbürgern im Jahre 2050 nicht mehr, wie gegenwärtig, reichlich elf, sondern nur noch sieben zu Hause sein, und in Deutschland wird weit weniger als einer seine Heimat haben. Vor hundert Jahren waren es noch drei. Damit wird binnen 150 Jahren der Anteil der Deutschen an der Weltbevölkerung – ähnlich wie der Anteil der Europäer – auf rund ein Viertel des einstigen Wertes geschrumpft sein.
Gemessen an ihrem materiellen Wohlstand, stehen die Bevölkerungen der frühindustrialisierten Länder heute turmhoch über dem Rest der Welt. 9 So produzieren die reichlich elf Prozent der Menschheit, die gegenwärtig in Europa leben, mehr als 30 Prozent aller weltweit auf dem Markt angebotenen und nachgefragten Güter und Dienste. Noch eindrucksvoller ist die Wirtschaftskraft der Europäischen Union. Obwohl diese 2004 um zehn wirtschaftlich mehrheitlich schwache Länder erweitert worden ist, erarbeiten hier sieben Prozent der Weltbevölkerung 27 Prozent der globalen Wertschöpfung, also rund viermal so viel, wie aufgrund ihrer Bevölkerungszahl zu erwarten wäre. Allein die 1,3 Prozent der Menschheit, die in Deutschland beheimatet sind, tragen 6,2 Prozent zur Güter- und Dienstemenge der Welt bei, fast das Fünffache ihres Bevölkerungsanteils.
Werden auch die von Europa geprägten Gesellschaften Nord- und Südamerikas, Australiens und Neuseelands in die Betrachtung einbezogen, produziert das eine Viertel der Menschheit, das diese Regionen besiedelt, mehr als siebzig Prozent des Weltsozialprodukts. Und von dem Rest bestreitet allein Japan die Hälfte. Wird ausschließlich auf die drei Weltschwergewichte, die USA, die Alt-EU der 15 und Japan abgestellt, erwirtschaftet sogar nur ein Achtel der Menschheit reichlich siebzig Prozent aller Güter und Dienste. Den übrigen sieben Achteln der Weltbevölkerung verbleiben – recht ungleich verteilt – nicht einmal dreißig Prozent. Damit steht den Bevölkerungen der USA, der Alt-EU und Japans pro Kopf ungefähr das Siebzehnfache dessen an Gütern und Diensten zur Verfügung, was der Durchschnitt der übrigen Menschheit hat.
Diese Zahlen zeigen, dass sich die globale Wirtschaftskraft noch immer auf den europäisch geprägten Kernbereich zusammen mit Japan und einigen kleineren Volkswirtschaften konzentriert. Alle anderen folgen in weitem Abstand. China, in dem mehr als ein Fünftel der Menschheit lebt, trägt zur globalen Wertschöpfung noch nicht einmal vier Prozent bei. Ein Chinese erwirtschaftet im statistischen Durchschnitt nur fünf Prozent von dem, was ein EU-Bürger erwirtschaftet, ein Inder sogar nur 2,5 Prozent. Anders gewendet: Zwanzig Chinesen oder vierzig Inder produzieren die gleiche Güter- und Dienstemenge wie ein Deutscher, Franzose oder Brite. Dabei gehören China und Indien zu den dynamischsten und am stärksten aufstrebenden Volkswirtschaften. Der Abstand zu vielen anderen Ländern, besonders in Afrika, ist noch weit größer.
Freilich gelten diese Feststellungen nur für die über den regulären Markt erbrachten und deshalb unmittelbar erfassbaren Leistungen. Werden auch Leistungen, die außerhalb des Marktes erbracht werden, berücksichtigt, sind die Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften weniger krass. Denn gerade in wirtschaftlich schwach entwickelten Ländern wird ein Großteil der Güter und Dienste nicht auf dem regulären Markt angeboten und nachgefragt. Das schlägt sich nicht zuletzt in der Kaufkraft der Bevölkerung nieder.
Wird diese zugrunde gelegt, vermindert sich der Beitrag Europas zur globalen Wertschöpfung von 30 auf etwa 27 Prozent, derjenige der Europäischen Union von rund 27 auf knapp 22 Prozent und derjenige Deutschlands von 6,2 auf 4,5 Prozent. Der Anteil der im weitesten Sinne europäisch geprägten Volkswirtschaften sinkt von mehr als 70 auf reichlich 60 Prozent und derjenige der drei Schwergewichte von rund 70 auf knapp 50 Prozent. Umgekehrt trägt China nunmehr nicht nur knapp vier, sondern ansehnliche zwölf Prozent bei, und Indiens Anteil steigt von 1,5 auf 5,4 Prozent. Der Anteil Japans halbiert sich hingegen von 14,5 auf 7,5 Prozent.
Die Fülle der Zahlen zeigt zum einen, dass die heutige Welt geprägt ist von einem steilen Wohlstands- und Machtgefälle, das mit der großen europäischen Expansion vor über zweihundert Jahren seinen Anfang nahm. Dieser Expansion haben es (West-) Europäer, Nordamerikaner und einige andere im Wesentlichen zu verdanken, dass ihr materieller Wohlstand heute um ein Vielfaches höher ist als derjenige der überwältigenden Mehrheit der Menschheit. Dank ihrer Vorfahren verfügten die Europäer samt ihrer überseeischen Cousins und Cousinen lange Zeit über Vorsprünge an Wissen und Können, die ihnen ein angenehmes Leben ermöglichten.
Zugleich zeigen diese Zahlen aber auch, dass sich der Kreis derer, die den reichen Völkern auf den Fersen sind, rasch ausdehnt. Viele sind entschlossen und manche mittlerweile auch fähig, sich größere Stücke als bisher vom Wohlstandskuchen abzuschneiden. Bislang haben die Reichen das kaum gespürt, weil auch der Kuchen größer wurde. Doch künftig wird er voraussichtlich langsamer wachsen als der Appetit derer, die sich neu zu Tische setzen. Die Reichen fangen an, unruhig zu werden. Sie haben immer größere Mühe, den Zuschnitt ihrer Kuchenstücke zu verteidigen. Während in den aufstrebenden Ländern mit ihren jungen, expandierenden Bevölkerungen – etwa China oder Indien – die Wirtschaft nicht selten stürmisch wächst, hat sie bei den wohlhabenden, alternden und an Zahl stagnierenden Völkern namentlich Europas ein recht verhaltenes Tempo eingeschlagen.
Dass diese unterschiedliche Dynamik nicht zuletzt Folge der demographischen Verschiebungen zwischen Völkern und Kontinenten ist, wurde vom Westen lange verdrängt. Die Europäer wollten nicht sehen, welche Folgen es hat, dass sich die Entwicklung auf ihrem Kontinent gegenläufig zur übrigen Welt gestaltet. Die Osteuropäer, die am stärksten vom Bevölkerungsrückgang betroffen sind, verschlossen ihre Augen aus politischen Gründen. Vor allem die Russen hielten an der Mär von der unerschöpflichen Jugend und Kraft ihres Volkes fest. Der Westen hingegen beschwichtigte sich mit dem Gedanken, dass der Geburtenrückgang nur eine vorübergehende Erscheinung sei. Familien- und gesellschaftspolitische Maßnahmen sollten alles wieder richten. Dabei wurde übersehen, dass in der Zwischenzeit nicht mehr die Mütter geboren wurden, die eines Tages den Bevölkerungsschwund hätten aufhalten können. Den Deutschen beispielsweise geriet aus dem Blick, dass ihre Zahl auch dann um ein Drittel zurückgehen würde, wenn alsbald wieder eine bestandserhaltende Geburtenrate zu verzeichnen wäre. Denn ersetzt würde dann nur die bereits arg dezimierte Elterngeneration, nicht aber die weit zahlenstärkere Generation der Groß- und Urgroßeltern.
Inzwischen lässt sich kaum noch verdrängen, dass die umwälzenden Veränderungen der regionalen Verteilung und Altersstruktur der Weltbevölkerung Europas bisherige Stellung in der Welt nachhaltig schwächen werden. Die Europäer, die vor über zweihundert Jahren einen Mahlstrom von Menschen, Gütern und Ideen in Gang gesetzt haben, sind mittlerweile gefährlich nahe an dessen Zentrum geraten. Sie, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Welt schon aufgrund ihrer schieren Masse prägen konnten, werden in vierzig Jahren zu einer kleinen Minderheit zusammengeraspelt worden sein. Um hiervon einen Vorgeschmack zu bekommen, braucht man nicht weit zu reisen. Ein Bummel durch heimische Straßen genügt.
Im globalen Miteinander der Völker und Kontinente waren die Europäer über Generationen hinweg Spielmacher und Schiedsrichter in einem. Diese Rolle haben sie genossen. Aber sie ist ausgespielt. Die Europäer sind nur noch Mitspieler. Andere zeigen ihnen immer öfter, wo es langgeht. Dagegen begehren sie mitunter noch auf. Löhne wie in Indien, so protestieren sie lautstark, seien ihnen nicht zuzumuten. Warum eigentlich nicht? Wer oder was kann ihre hohen Einkommen sichern, sollten sie nicht dauerhaft mehr leisten – und zwar sehr viel mehr als ihre indischen Kollegen? Die ehrliche Antwort: auf Dauer niemand und nichts. Dass ihr Einkommensniveau sinkt, dafür sorgen nicht irgendwelche perfiden Unternehmer, sondern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Niedriglohnländern. Diese Lektion ist für die Europäer bitter. Aber sie werden sie mit jedem verlorenen Arbeitsplatz und mit jeder Betriebsschließung tiefer verinnerlichen.
Der bisherige Auftritt der Europäer auf der Weltbühne geht seinem Ende entgegen. Das gilt sowohl diesseits als auch – zeitlich ein wenig versetzt – jenseits des Atlantiks. Vermutlich brauchen die Europäer samt ihren überseeischen Cousins und Cousinen noch ein wenig Zeit, um das zu begreifen. Wenn sie es aber begriffen haben, werden sie erkennen, dass dies keineswegs Anlass zu Resignation oder gar Untergangsvisionen ist. Europa geht nicht unter. Denn auf seine Menschen wartet eine neue Aufgabe, die – bereitwillig angenommen und gut gelöst – faszinierender und letztlich befriedigender sein wird als das Bisherige.
Der bisherige Auftritt der Europäer bedeutete vor allem Expansion. Ähnliches hatte die Menschheit zuvor noch nie erlebt. Aber sie folgte der gewiesenen Richtung. Jetzt haben die Europäer die Kehrtwende eingeleitet. Und wieder wird die Welt ihnen mit einer zeitlichen Verzögerung von vielleicht zwei, allenfalls drei Generationen folgen, folgen müssen. Begrenzung, Konsolidierung und wo nötig auch Rückführung – das sind die neuen Vorgaben, denen sich auf Dauer niemand entziehen kann.
Schon wird hinter der sich zunächst weiter steil aufbauenden Bevölkerungsflut – ganz wie vor wenigen Generationen in Europa – weltweit Bevölkerungsabbau vorbereitet. 1950 wurden auf der gesamten Erde von jeweils zehn Frauen fünfzig Kinder geboren. Bis zum Jahr 2000 war diese Zahl auf 28 zurückgegangen, was unter Berücksichtigung der weltweit noch immer höheren Säuglingssterblichkeit recht genau dem europäischen Geburtenverhalten von 1950 entsprach. Zugleich weist vieles darauf hin, dass mit einer abermaligen zeitlichen Verzögerung von fünfzig Jahren das Geburtenverhalten der Weltbevölkerung dem derzeitigen europäischen recht ähnlich sein wird. Je nach Szenario sollen nach den Projektionen der Vereinten Nationen um 2050 von zehn Frauen in Europa zwischen 13 und 18, in Asien, den beiden Amerikas und Ozeanien zwischen 14 und 19 und in Afrika zwischen 20 und 25 Kinder geboren werden. 10 Mit diesen Kinderzahlen kann in einigen Jahrzehnten nirgendwo die jeweils erreichte Bevölkerungszahl dauerhaft gehalten werden.
Für die Europäer bedeutet das, dass die Gegenläufigkeit der eigenen Bevölkerungsentwicklung im Vergleich zur übrigen Welt voraussichtlich noch in diesem Jahrhundert enden wird. Dann wird sich die Menschheit wieder wie früher einheitlich in die gleiche, wenn auch entgegengesetzte Richtung bewegen: Auf eine lange Phase der Expansion folgt die Kontraktion, wie dem Einatmen das Ausatmen folgt. In dieser historischen Situation wird von den Europäern nichts Geringeres erwartet als eine verallgemeinerungsfähige Antwort auf die Frage: Welchen Weg können und sollen Völker einschlagen, die an Zahl abnehmen und stark altern, die ein mehr oder minder hohes Versorgungsniveau erreicht haben und deren sozialer Zusammenhalt schwach geworden ist? Bisher hatte die Menschheit keinen Grund, sich mit dieser Frage zu befassen. Die Europäer betrifft sie als Erste. Deshalb stellen sie mit ihrer Antwort Weichen weit über das 21. Jahrhundert hinaus. Wieder sind sie es, die – wenn sie ihrer neuen Rolle gerecht werden – eine globale Entwicklung einleiten. Vielleicht gehört auch das zu den Ironien der Geschichte.
Doch vorerst müssen die Europäer alles daransetzen, um nicht von den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des demographischen Wandels überrollt zu werden. Sie dürfen nicht zulassen, dass immer nur Sachzwänge und nicht langfristig angelegte Strategien ihr Handeln bestimmen. Sie müssen Weichen stellen für sich selbst und fast unvermeidlich auch für andere. Das vergrößert ihre Verantwortung. Wohl selten waren die zu lösenden Aufgaben anspruchsvoller. Mit läppischem Fingerhakeln sind sie nicht zu bewältigen.
Trendänderungen sowohl der Bevölkerungs- als auch der Wirtschaftsentwicklung beginnen zumeist schleichend. Lange können sie als vorübergehend abgetan werden. An Stammtischen und auf Cocktailpartys heißt es dann: Die Leute werden schon wieder Kinder kriegen, die Wirtschaft wird schon wieder Tritt fassen. Dann aber beschleunigen sie sich, bis sie schließlich nicht länger verdrängt werden können. Diesem Punkt nähern sich jetzt Europäer und Japaner. Amerikaner und andere werden folgen.
Das globale Wohlstandsgefälle, das so lange in Granit gemeißelt zu sein schien, wird abgetragen – und zwar nicht allmählich, sondern in großen Brocken. Die Millionen von Menschen, die von den armen in die reichen Länder drängen, wollen an deren Wohlstand teilhaben, und es wird schwer fallen, sie hieran dauerhaft zu hindern. Umgekehrt sinkt in den reichen Ländern für viele der Wohlstand, weil dessen Grundlagen verfallen. Und weltweit konkurrieren Aufsteiger mit den Arrivierten zunehmend um Rohstoffe, Märkte, Ideen und Kapital. Auch wenn die Aufholjagd noch lang ist – die Aufsteiger dieser Welt sind entschlossen, das bestehende Wohlstandsgefälle zu beseitigen.
Die Europäer haben zu dieser Entwicklung nach Kräften beigetragen – teils gewollt, mehr aber noch ungewollt. Hätten sie den großen Vorsprung, den sie seit Generationen genießen, länger aufrechterhalten wollen, hätten sie ihn wohl vor den Habenichtsen dieser Welt ein wenig abgeschirmt und nicht versucht, diese mit Almosen abzuspeisen. Wie es im privaten Leben klug und rücksichtsvoll ist, mit Reichtum nicht zu protzen und Bedürftige daran zu beteiligen, ist es auch unter Völkern ein Gebot von Klugheit und Rücksichtnahme, weit überragende Wirtschaftskraft nicht demonstrativ zur Schau zu stellen und den Schwächeren eine faire Chance zu geben.
Die Europäer haben dieses Gebot selten befolgt. Wo immer sich eine Gelegenheit bot, führten sie der Welt ihre Stärke vor. Zugleich achteten sie peinlich darauf, dass ihre Märkte den wirtschaftlich Schwächeren immer nur so weit offen standen, wie es ihnen selbst von Nutzen war. Die Interessen der anderen waren in aller Regel nachrangig. Noch weniger klug und rücksichtsvoll verhielten und verhalten sich ihre überseeischen Verwandten. Als diese nach dem Zweiten Weltkrieg das Ruder übernahmen, rasteten und ruhten sie nicht, ihre Lebensart als einzig mögliche und menschengemäße zu propagieren. Bis in den tiefsten afrikanischen Busch und die entlegenste nepalesische Hochlandhütte sangen sie das Hohelied vom American Way of Life, begleitet von Büchern, Filmen und Warenproben.
Dabei ging es keineswegs nur um Menschenwürde und Menschenrechte. Es ging auch um wirtschaftliche Interessen, um Rohstoffe und Märkte, um Coca-Cola und Blue Jeans und mitunter auch um weniger harmlose Dinge. Das europäischamerikanische Konsumniveau zu erklimmen wurde zu einer Art Daseinszweck stilisiert. Die Erfolge waren durchschlagend. Hunderte von Millionen Menschen, die zuvor ganz zufrieden waren, wollten nunmehr wie jene Traumgeschöpfe leben, die ihnen ständig auf Leinwänden und Fernsehschirmen entgegenflimmerten: stets gepflegt und nach der neuesten Mode gekleidet, in großen Häusern mit riesigen, vollgepfropften Kühlschränken, vor der Tür ein schnittiges Auto... Wer in den zurückliegenden Jahrzehnten öfter Entwicklungsländer besuchte, konnte beobachten, wie sich diese Bilder in den Hirnen der Menschen festfraßen, bis auch der Letzte begriffen hatte: Ich bin arm, die sind reich. Ich möchte sein wie die.
Das mag inspiriert und motiviert haben. Es hat aber auch Frustration und Hass ausgelöst. Was letztlich überwiegen wird, ist heute noch nicht zu sagen. Solche Dinge reifen langsam. Gewiss ist jedoch, dass der europäisch-amerikanische Auftritt auf der Weltbühne von Anbeginn höchst zwiespältige Wirkungen gezeitigt hat.
Dazu beigetragen hat seine bizarre Mischung aus manischer Rechenhaftigkeit, religiös überhöhtem Sendungsbewusstsein und umwerfender Selbstgewissheit. Die Europäer waren es, die alles nach Länge, Breite, Höhe und Gewicht vermaßen und vor allem mit einem Preisschild versahen. Alles, aber auch alles wurde taxiert. Diese totale Kommerzialisierung und Monetarisierung der belebten und unbelebten Natur, von Gütern, Diensten und nicht zuletzt Menschen hatte es so zuvor nicht gegeben. Und neu war auch die oft unschuldige Verquickung des prosaischsten Kommerzes mit den heiligsten Glaubensgütern. Einen solchen Mix zu servieren erforderte viel Selbstbewusstsein. Aber auch das hatten die Europäer. Sie waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie sich kaum vorstellen konnten, anderen nicht nur Gutes zu tun.
Heißt das, dass bei einem anderen Verhalten von Europäern und Amerikanern das steile Wohlstandsgefälle hätte aufrechterhalten werden können? Ganz sicher nicht. Eine solche Vorstellung wäre wirklichkeitsfremd und unhistorisch. Unterschiede drängen immer zum Ausgleich. Nur haben die reichen Länder die Aufholjagd so aufgepeitscht, dass sie selbst außer Atem geraten sind und nicht auszuschließen ist, dass sie eher früher als später straucheln werden.
Der Traum, eines Tages könnte zumindest der Großteil der Menschheit den gleichen materiellen Lebensstandard genießen wie die heute reichen Völker, ist vorerst ausgeträumt. Seine Verwirklichung hätte ein ungleich intelligenteres Wirtschaften vorausgesetzt, als die meisten Menschen im Westen gewohnt sind. Sie umzugewöhnen, ihre tief eingeschliffenen Verhaltensweisen zu ändern und sie zu großen, vor allem auch intellektuellen Leistungen anzuspornen ist eine Jahrhundertaufgabe, deren erfolgreiche Bewältigung keineswegs sicher ist.
Der Aufstieg der einen bedeutet deshalb auf nicht absehbare Zeit den Abstieg der anderen. Dabei werden die einen alles daransetzen, möglichst hoch aufzusteigen, und die anderen, den Abstieg gering zu halten. Wenn das gelänge, ginge es Letzteren zwar immer noch schlechter, aber allen zusammen besser als gegenwärtig. Das ist ein realistisches Ziel. Ob es erreicht werden wird, ist jedoch ebenfalls nicht sicher.
Langsam begreifen die reichen wie die armen Völker, dass der europäisch-amerikanische Lebensstil, der der Menschheit so lange als Maßstab für Erfolg und Misserfolg angetragen worden ist, in seiner konkreten Ausprägung nicht verallgemeinert werden kann. So wie er ist, kann er immer nur von Minderheiten gelebt werden. Versuchen viele ihn zu leben, verkehren sich seine Wohltaten in Plagen. Aus dem Traum wird ein Albtraum. Diese Erfahrung breitet sich aus.
Die Medien tragen tatkräftig dazu bei. In Filmen und Fernsehberichten wird die Bevölkerung mit Hitze- und Kältekatastrophen, Fluten, Dürren und Stürmen konfrontiert, wie es sie seit Menschengedenken nicht gegeben hat. Die größte deutsche Boulevardzeitung brachte vor einiger Zeit den Aufmacher »Patient Erde – Ist die Katastrophe noch zu stoppen?«, und zu sehen war eine Fotomontage, die das Brandenburger Tor in metertiefem Wasser zeigt. 11
Aber es gibt auch weniger Spekulatives: Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war das wärmste während der zurückliegenden tausend Jahre. Die Versicherer melden eine steile Zunahme wetterbedingter Schadensfälle. Seit den 1960er Jahren verachtfachte sich der Mittelwert entsprechender volkswirtschaftlicher Schäden weltweit von knapp 8 auf rund 66 Milliarden US-Dollar. 12 Auch wenn bei diesen Zahlen der seitherigen Geldentwertung und vor allem der zunehmenden Besiedlungsdichte Rechnung zu tragen ist, bleibt doch genug, was der Erklärung bedarf. Unter den möglichen Erklärungen ragt eine weit heraus: der westliche Lebensstil.
»Würden alle Erdenbürger so viel CO2 emittieren, wie die Deutschen es tun, benötigte die Menschheit fünf Erdbälle, damit die Natur diese Abgase verarbeiten könnte.« 13 Diese Aussage des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt und Energie aus dem Jahre 1996 blieb nicht unwidersprochen. Doch dass der Kohlendioxidausstoß der Industrieländer ein Problem darstellt, wird kaum noch in Frage gestellt. Die Völker, von den US-Amerikanern und wenigen anderen abgesehen, sind sich einig: Es muss etwas geschehen. 14 Folgen für den globalen CO2 -Ausstoß hatte das bislang nicht. Er nimmt weiter zu. 15 Den größten Beitrag dazu leisten die USA und Kanada. Das hier lebende eine Zwanzigstel der Menschheit erzeugt weit mehr als ein Viertel des weltweit emittierten Kohlendioxids, pro Kopf rund 19 Tonnen im Jahr. Die anderen Industrieländer folgen ihnen mit einigem Abstand. Die übrigen Völker treten bislang kaum in Erscheinung. Zum Glück für alle.
Der CO2 -Ausstoß ist Spiegelbild des Energieverbrauchs. Folglich stehen auch hier die Nordamerikaner weit an der Spitze. Pro Kopf verbrauchen sie – umgerechnet in Öleinheiten – rund acht Tonnen Energie im Jahr. Damit beanspruchen sie etwa 29 Prozent des Menschheitsverbrauchs. 16 Die Westeuropäer und Japaner verbrauchen pro Kopf knapp halb so viel, gehören damit aber noch immer zu den Großverbrauchern. Da trifft es sich gut, dass sich Chinesen (noch) mit sieben Prozent und Inder mit drei Prozent des amerikanischen Pro-Kopf-Verbrauchs begnügen. 17 Andernfalls müsste die Weltenergieerzeugung mit allen Neben- und Folgewirkungen vervielfacht werden. So soll sie bis 2030 »nur« um zwei Drittel steigen, 18 nachdem sie sich von 1950 bis heute vervierfacht hat. 19
Was für die Energieressourcen gilt, gilt auch für andere Rohstoffe. Die Welt war halbwegs im Lot, solange nur die frühindustrialisierten Länder als Nachfrager auftraten. Kaum melden jedoch auch andere Bedarf an, schon schlagen Amerikaner, Europäer und Japaner Alarm: 20 Stahl wird knapp, Schrott wird knapp, überhaupt werden alle Metalle knapp, die Produktion muss gedrosselt, Mitarbeiter müssen entlassen werden. Hier mag gezielter Zweckpessimismus im Spiel sein und einige Hysterie mitschwingen. Das eine oder andere wird sich wohl wieder einrenken. Noch bewegen sich die Preise für die meisten Rohstoffe auf historisch niedrigem Niveau. 21 Nicht zu bestreiten ist jedoch, dass der durchschnittliche Rohstoffverbrauch pro US-Bürger oder Westeuropäer multipliziert mit der Kopfzahl der Weltbevölkerung und hochgerechnet auf das Jahr 2050 zu absurden, globussprengenden Ergebnissen führt.
Dagegen kann eingewandt werden, dass der menschliche Einfallsreichtum solche Ergebnisse zu verhindern wissen werde. Vielleicht. Doch bislang mehren sich die Anzeichen, dass, nicht zuletzt bedingt durch den westlichen Lebensstil, der Umwelt mehr abverlangt wird, als ihr und der Menschheit gut tut. Weithin sinkt der Grundwasserspiegel. Trinkwasser wird an vielen Stellen der Erde knapp. Ursächlich hierfür ist oft die explodierende Bevölkerungszahl. Nicht selten spielt aber auch eine nicht umweltgemäße Bodennutzung eine entscheidende Rolle. Baumwolle für den westlichen Massenkonsum in Halbwüsten anbauen zu wollen kann nicht lange gut gehen.
Gleiches gilt für das Abholzen riesiger Regenwaldgebiete. Kurzfristigen Vorteilen stehen dauerhafte Schäden gegenüber. Werden Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen, überwiegen die Nachteile bei weitem. Die Europäer haben das erkannt. Vielerorts hegen und pflegen sie ihre Wälder, und in manchen Regionen, so auch in Deutschland, sind die bewaldeten Flächen heute größer als im Mittelalter. Aber die Wälder sind weithin krank, luftkrank, bodenkrank. In Deutschland – so die offiziellen Zahlen des zuständigen Ministeriums – ist seit vielen Jahren nur noch jeder dritte Baum gesund. 22
In den Meeren breiten sich in Küstennähe als Folge von Überdüngung tote Zonen aus. Manche sind nur einen Quadratkilometer groß, andere so groß wie Bayern. 23 Modernste Fischfangflotten, ausnahmslos im Dienste der reichen Länder, sind dabei, die leichter erreichbaren Regionen der Weltmeere leer zu fischen, wenn sie es nicht schon getan haben. Die Meere beginnen zu veröden und – zu vermüllen. Die 125 Millionen Tonnen Plastik, die jährlich weltweit produziert werden, müssen irgendwohin. Vieles davon landet, beabsichtigt oder nicht, im Meer, wo es an bestimmten Stellen inzwischen riesige Teppiche bildet. 24
Das alles sind keine Tatarenmeldungen von Umweltfreaks, sondern Grundinformationen, wie sie an europäischen Schulen vermittelt werden und in jeder Tageszeitung zu finden sind. Ihre Richtigkeit bestreitet niemand. Die Erde wird bedrängt. Sie wird bedrängt von einer weiterhin zahlenmäßig stark zunehmenden Weltbevölkerung, noch mehr aber von dem sich ausbreitenden westlichen Lebensstil. Versuchen viele so zu leben wie Europäer, Nordamerikaner und einige andere, lebt bald keiner mehr so. Das wird eine der wichtigsten Erfahrungen des 21. Jahrhunderts sein. Die reichen Länder haben allen Anlass, über ihren Wohlstand nachzudenken.
Vorerst glauben sie noch, sich samt ihrem Wohlstand hinter militärischer Hochrüstung verschanzen zu können. Zu der rund einen Billion US-Dollar, die derzeit weltweit für diesen Zweck ausgegeben wird, tragen die Länder, die gemeinhin als westliche Welt apostrophiert werden, etwa 800 Milliarden US-Dollar, also achtzig Prozent, bei. Die verbleibenden 200 Milliarden US-Dollar entfallen auf alle übrigen Länder, unter ihnen so bevölkerungsreiche wie China, Indien oder Russland. 25
Allein die USA erbringen annähernd die Hälfte des globalen Rüstungsaufwands. Mit einem Anteil von 47 Prozent geben sie zehnmal so viel aus, wie ihrem Anteil an der Weltbevölkerung entspricht. Das sind pro Kopf jährlich rund 1600 US-Dollar. Einen ähnlich hohen Aufwand betreibt nur noch Israel. Hinzu kommen die Mittel für die Terrorismusbekämpfung, die gerade in den Vereinigten Staaten hoch sind.