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Meinhard Miegel

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Beschreibung

Größenwahn und Selbstüberschätzung sind Teil der menschlichen Natur. Doch erst heute werden sie als Erfolgsfaktoren kultiviert. Die Folgen sind krankhaft wuchernde Wirtschaftsaktivitäten, entfesselte Finanzmärkte, dysfunktionale Bildungs- und Infrastrukturen, aus dem Ruder laufende Großprojekte, unkontrollierbare Datenmengen und globales Allmachtstreben. Meinhard Miegel, einer der profiliertesten Vordenker Deutschlands, sieht in dieser allgegenwärtigen Hybris die wesentliche Ursache für die tiefgreifende Krise von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die exzessive Entwicklung unserer Lebenswelt, die Miegel eindringlich schildert, überfordert alle: Einzelne und Gruppen, Unternehmen, Schulen und Universitäten, Parteien, Regierungen und internationale Organisationen. Ihre Kosten sind enorm, keine Volkswirtschaft kann sie stemmen. Die Lösung des Problems ist erprobt und zuverlässig: Es ist die Kunst der Beschränkung – die Rückkehr zu einem menschlichen Maß, das unsere individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen schont und in ein neues Gleichgewicht bringt. Worin diese Kunst besteht, macht Miegel an vielfältigen Beispielen eindrucksvoll deutlich.

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Über das Buch

Die exzessive Entwicklung unserer Lebenswelt, die der Bonner Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel eindringlich schildert, überfordert alle: Einzelne und Gruppen, Unternehmen, Schulen und Universitäten, Parteien, Regierungen und internationale Organisationen. Ob entfesselte Finanzmärkte, aus dem Ruder laufende Großprojekte, dysfunktionale Bildungs- und Infrastrukturen, drogenverseuchter Sport oder der tägliche Verkehrskollaps - die Kosten dieser Maßlosigkeit sind enorm, keine Volkswirtschaft kann sie auf Dauer stemmen. Und es sind nicht nur materielle Kosten, sondern zunehmend solche der Lebensqualität und der menschlichen Existenz.

Habsucht, Gier und Maßlosigkeit hat es immer gegeben. Aber sie galten als Laster. Heute gelten sie als Tugend. In dieser Hybris liegt der Kern der Krise von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Lösung des Problems ist erprobt und zuverlässig: Es ist die Kunst der Beschränkung – die Rückkehr zu einem menschlichen Maß, das unseren individuellen, gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen entspricht und sie in ein neues Gleichgewicht bringt. Worin diese Kunst besteht, macht Miegel an vielfältigen Beispielen eindrucksvoll deutlich.

Über den Autor

Meinhard Miegel, geboren 1939 in Wien. 1977 bis 2008 Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn (IWG). Seit 2007 Vorstandsvorsitzender des »Denkwerk Zukunft. Stiftung kulturelle Erneuerung« in Bonn. Beiratsmitglied zahlreicher wissenschaftlicher Einrichtungen, ständiger Berater von Politik und Wirtschaft. Autor der Bestseller »Die deformierte Gesellschaft « (2002), »Epochenwende« (2005) und »Exit« (2010).

Meinhard Miegel

Hybris

Die überforderte Gesellschaft

Propyläen

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ISBN 978-3-8437-0767-1

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

Lektorat: Jan Martin Ogiermann

Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

eBook:LVD GmbH, Berlin

Denen, die sich in der Kunst der Beschränkung üben

Prolog

»Der Mensch ist das Modell der Welt.«

Leonardo da Vinci1

Die große Krise

»Die große Krise«, die die Menschen in den frühindustrialisier­ten Ländern und anderen Teilen der Welt seit langem plagt, will nicht weichen. Gibt es eben noch Hoffnungsschimmer, flammt sie wenig später schon wieder auf. Das nährt die Sorge, eine ganze Generation könne um ihre Lebensperspektiven gebracht werden2 und der in Jahrzehnten erworbene Wohlstand wieder zerrinnen. Für Entwarnungen sehen die meisten keinen Anlass, 3 und manche fürchten sogar, das Schlimmste komme erst noch.

Deutschland ist bei alledem bislang recht gut gefahren. Zwar ist es keine Insel der Seligen. Doch im Vergleich zu anderen Ländern ist seine Wirtschaft derzeit robust und seine Beschäftigungslage gut. Seine Steuerquellen sprudeln, und seine Sozial­systeme sind solide. Die Bevölkerung weiß das zu schätzen und ist mit sich und der Lage zufrieden.4 Sie weiß aber auch: Dieser Zustand ist zerbrechlich und kann abrupt enden. Deutschland kann sich von europäischen und globalen Entwicklungen nicht dauerhaft abkoppeln. Es sitzt mit allen anderen in einem Boot, und dieses Boot schwankt bedenklich.

Das lenkt den Blick zurück auf die Krise. Die Krise – was ist das eigentlich? Ihre Symptome sind wohlbekannt: Banken, die sich hoffnungslos verspekuliert haben; kollabierende Unternehmen und Märkte; verbreitete Arbeitslosigkeit; immense öffentliche Schulden und Staaten, die sich nur dank der Hilfe Dritter mühsam über Wasser halten.

Und wohlbekannt sind auch die Stationen auf dem Weg in diese Krise: ein beispielloses Finanzdebakel in den USA, das rasch auf andere Länder übergriff; Unternehmen, die dadurch vom Geldfluss abgeschnitten wurden; Massenent­lassungen; über­forderte Sozialsysteme; Staaten, welche die daraus erwach­sende Last nicht zu tragen vermochten; solidarische Hilfs-, Not- und Rettungsprogramme. Und was kommt dann? Dar­über lässt sich nur spekulieren.

So viel zu Symptomen und bisherigem Verlauf der Krise. Was aber sind ihre Ursachen? Wie konnte es dazu kommen, dass eine Welt, die bis dahin leidlich gut ge­ordnet schien, binnen Tagen und Wochen an »den Rand ­eines Abgrunds«5 geriet? Was konnte derartige Beben auslösen?

Über Fragen wie diese wird seit Jahren gestritten. Die einen beharren darauf, dass es sich keineswegs um ein Systemversagen oder auch nur um einen systemimmanenten Fehler handele. Vielmehr sei die Krise die Folge einer unglücklichen Verkettung von Fehleinschätzungen, Missver­ständnissen, Leichtfertigkeiten und unvorhersehbaren Ereignissen. Das Entscheidende sei jedoch: Alles ist reparabel, das System ist intakt.

Andere bezweifeln das. Zwar ist auch für sie der Kapi­talismus weiterhin vital. Aber das, was da geschehen ist und weiterhin geschieht, sei doch weit mehr als nur ein Unfall. Das sei system­immanent. Der Kapitalismus produziere solche Krisen zwangsläufig, und manche meinen, diese würden nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung heftiger und häufiger.

Eine dritte Gruppe hält auch diese Erklärung noch für unzureichend. Für sie ist der Kapitalismus in seine Endphase eingetreten und die aktuelle Krise eine Manifestation seines Niedergangs. In nicht sehr ferner Zukunft komme die finale Krise, von der er sich nicht mehr erholen werde.

Überforderung

So unterschiedlich diese Sichtweisen sind, haben sie doch eine wesentliche Gemeinsamkeit: Für sie ist diese Krise primär ökonomisch. Das ist sie zweifellos auch. Ihre Wurzeln liegen jedoch tiefer. Diese Krise ist nichts Geringeres als eine Krise der westlichen Kultur, die mit Begriffen wie »Kapitalismus« oder »kapitalistisch« keineswegs hinreichend erfasst ist. Der Kapitalismus ist vielmehr nur eine Erscheinungsform dieser viel umfassenderen Kultur.

Die Essenz dieser Kultur ist der allem Anschein nach fehlgeschlagene Versuch, eine ursprünglich im Jenseitigen angesiedelte Idee, nämlich die Gottesidee völliger Unbegrenztheit, diesseitig zu wenden. Alles sollte immerfort wachsen, schneller, weiter, höher werden. Begrenzungen jedweder Art wurden verworfen, Maß und Mitte oder menschliche Proportionen wurden zu Synonymen für Spießertum und Mittelmäßigkeit, für Langeweile. Die Grenzüberschreitung, das Überbieten von allem bis­lang Dagewesenen, der ultimative Kick entwickelten sich zu Idealen.

Ein jahrhundertelang gültiges Wertesystem wurde grundlegend uminterpretiert, oder genauer: in sein Gegen­teil verkehrt. Waren Habsucht, Gier und Maßlosigkeit zuvor Laster, so wurden sie jetzt zu wohlstandsfördernden Tugenden erhoben. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwammen und sollten verschwimmen, weil materieller Erfolg als der neue und alleinige Maßstab galt. Wer materiell erfolgreich war, genügte den gesellschaftlich-moralischen Anforderungen.

Wird die gegenwärtige Krise in diesem Licht gesehen, haben sich alle, die an ihr mitgewirkt haben, im Großen und Ganzen normenkonform verhalten. Zwar sanktio­nieren westliche Gesellschaften Betrug, Untreue und Urkundenfälschung. Aber sie honorieren sie, wenn sie erfolgsgekrönt sind. Nicht der ­Kapitalismus beschwört zwangsläufig Krisen herauf, sondern seine Perversion. Krisen entwickeln sich aus der Unmäßigkeit, der Hybris, die die westliche Kultur seit langem prägt.

Alles in ihr ist auf Exzess ausgelegt: Bauten, Mobilität, Sport, Arbeit, Vergnügen, Technik, Kommunikation, Schulden, staat­liche und selbstredend wirtschaftliche ­Aktivitäten. Nach dem Wofür und Wohin wird kaum noch gefragt. Die Haupt­sache ist, dass es vorangeht beziehungsweise dem Fortschrittswahn genügt wird. Das Ziel interessiert nicht. Und die meisten ziehen mit: manche aus Neigung und innerer Überzeugung, andere notgedrungen und widerstrebend, viele aus Gewohnheit. Sie haben nichts anderes kennengelernt – in Schulen und Universitäten, Unternehmen und Banken, Gewerkschaften und Parteien, Behörden und Parlamenten gilt immer nur das eine: Strebe nach mehr, strebe nach Entgrenzung.

Menschen, die das verinnerlicht haben, müssen mobil und flexibel sein, Bindungen vermeiden, konsequent ihren eigenen Vorteil suchen, an der Oberfläche verharren, sich frei von hinderlichen Verpflichtungen halten. Sie müssen jede sich bietende Gelegenheit nutzen, auch wenn dies ­anderen zum Schaden gereicht. Unwerturteile oder gar gesellschaftliche Ächtung haben sie dabei nicht zu befürchten. Im Gegenteil. Denn sie entsprechen ja dem Menschenbild, das die westliche Kultur im Laufe von Generationen geformt hat.

Allerdings gibt es auch viele, die diesem Bild nicht entsprechen wollen oder können. Es widerstrebt ihrer Natur und ­ihren kulturellen Traditionen, die weiter zurückreichen als die modernen westlichen Gesellschaften. Und nicht wenige fühlen sich von deren Vorgaben überfordert: Kinder von den An­forderungen in Kindergärten und Schulen, Eltern mit der Erziehung dieser Kinder und der Zusammenführung von Beruf und Familie, Arbeitnehmer, Unternehmer und Manager von Groß- und Weltkonzernen, Politiker auf allen Ebenen, Sportler, Künst­ler, Wissenschaftler, Verbandsvertreter und nicht zuletzt die Verantwortlichen in den Kirchen. Was die moderne Gesellschaft von ihnen erwartet und nicht selten auch nachdrücklich fordert, übersteigt ihre Kräfte und entspricht auch nicht dem, was sie wollen.

Umso wertvoller ist die derzeitige Krise – vorausgesetzt, sie wird als Chance zur kulturellen Erneuerung verstanden und nicht zugeschüttet: physisch mit Bergen buntbedruckten Papiers und strohfeuergleichen Konjunktur- und Beschäftigungsprogrammen, psychisch mit substanzlosen Durchhalte- und Beschwichtigungsparolen. Das gilt es zu erkennen: Diese Krise betrifft nicht nur Staats- und Wirtschaftsformen oder Systeme, sondern eine Kultur, die in ihrem ständigen Streben nach Entgrenzung dem Menschen weder Halt noch Orientierung zu geben vermag. Wenn das einmal begriffen worden ist, kann eine neue menschen- und lebensfreundlichere Kultur heranreifen, eine Kultur, die nicht auf Hybris, sondern auf Lebens­formen gründet, die dem Menschen gemäß sind. »Die große Krise« könnte sich so eines hoffentlich nicht fernen Tages als glückliche Wendung erweisen – als ein grund­legender Paradigmenwechsel.

Türme von Babylon

»Auf! Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht: Wir wollen uns einen Namen machen, damit wir nicht in alle Winde zerstreut werden.«

Genesis 11,4

Bauten

Flughäfen, Kongresshallen, Bahnhöfe

Wäre es nicht zum Weinen, es wäre zum Lachen.

Da wollen die Deutschen nach Krieg, Zerstörung und Jahrzehnten der Spaltung ihre frühere Hauptstadt neu erstehen lassen und sind bereit, dafür beträchtliche Lasten zu schultern. Die Ergebnisse können sich sehen lassen. Binnen kurzem werden repräsentative Parlamentsbauten, Ministerien, Landesvertretungen und zahlreiche andere öffentliche Gebäude aus dem Boden gestampft, und auch der private Büro- und Wohnungsbau boomt. Das Glanzstück soll jedoch ein neuer Flughafen sein, der alles Bisherige in den Schatten stellt. Groß soll er sein und technisch vollkommen, beeindruckend und ästhetisch ansprechend. Dabei ist allen bewusst, dass sich solche Wünsche nicht mit kleiner Münze verwirklichen lassen. Aber sie sind ja bereit zu zahlen. Immerhin 1,7 Milliarden Euro. Das ist kein Pappenstiel.

So wird geplant und verworfen und weitergeplant und wieder verworfen, und jedes Mal entsteht in den Köpfen der Beteiligten noch Größeres, Prächtigeres und technisch Vollkommeneres. Derweil vergehen die Jahre, und die Kosten steigen und steigen. Sind es 20041,7 Milliarden Euro, so sind es 2008 bereits 2,4 Milliarden und 20124,3 Milliarden. Und inzwischen wird sogar mit fünf Milliarden gerechnet.6 Die Schlussrechnung ist das allerdings noch nicht. Auf sie warten alle mit Spannung: Architekten und Planer, Bauleiter und Politiker und nicht zuletzt die Steuerzahler.

Doch bis sie kommt, wird noch einige Zeit vergehen. Zunächst ist nämlich eine Fülle schwerwiegender Planungs- und Baumängel zu beseitigen, und so mancher hätte das ganze Unterfangen am liebsten abgeblasen. Dafür ist es jedoch zu spät. Der Flughafen muss und wird vollendet werden, und sei es als Mahnmal überforderter Bauleute, vor allem aber überforderter Bauherren, oder richtiger deren drei: der Bundesrepublik Deutschland sowie den Ländern Berlin und Brandenburg. Alle haben ihr Können und ihre Fähigkeiten beträchtlich überschätzt. Hybris allerorten.

Auch in Bonn. Um nach dem Wegzug von Bundestag und Bundesregierung den Verlust von Funktion und Glanz einer Hauptstadt zu mindern, erhält diese Stadt nicht nur großzügige Ausgleichszahlungen. Zugleich werden gezielt wichtige Einrichtungen der Vereinten Nationen angesiedelt. Bonn ist damit nicht nur »Bundesstadt«, sondern auch »Stadt der Vereinten Nationen«.

Das bringt ein wenig vom früheren Glanz zurück. Es verpflichtet aber auch. So zum Bau einer Kongresshalle, die den illustren Gästen aus aller Welt angemessen ist. Schon ihr Name soll dies zum Ausdruck bringen: World Conference Center Bonn, WCCB. Dass so ein WCCB seinen Preis hat, versteht sich von selbst. Aber schließlich geht es um die Vereinten Nationen.

Zu Beginn läuft alles bemerkenswert glatt. Entwürfe werden präsentiert und ein Sieger gekürt. Es kann los­gehen. Dem Verhängnis steht nichts mehr im Weg. Es erscheint in Gestalt eines kleinen koreanischen Ganoven, der von seiner Liebe zu Beethoven schwadroniert und ­Visitenkarten verteilt, auf denen der in Korea nicht gerade seltene Name Hyundai zu lesen ist. Beethoven und Hyundai – die Verantwortlichen sind entzückt und bezeichnen das Auftauchen des Koreaners als Glücksfall für die Stadt. Er soll, obgleich – wie sich später herausstellt – weitgehend mittellos, als Investor fungieren.

Das Ganze ist eine Art Köpenickiade oder eine Neuauflage jener Geschichte von Gottfried Kellers Kleidern, die Leute machen. Geblendet von Namen, Auftreten und Versprechungen, lassen die Bonner den »Investor« samt seinen Helfern gewähren, bis diese sich die Taschen gefüllt und das stolze Projekt in Grund und Boden gewirtschaftet haben. Dafür sitzen jetzt einige im Gefängnis und die Bonner auf einem riesigen Schuldenberg. Das WCCB ist, was die Pro-Kopf-Belastung angeht, der bundesweit bisher teuerste Bauskandal.7

Diese Last müssen die Bürger tragen, weil Entscheider, Kontrolleure und Politiker ihre Fähigkeiten maßlos überschätzt haben und wie ihre Pendants in Berlin glaubten, Aufgaben meistern zu können, denen sie nicht gewachsen waren. Selbstüberschätzung, Verblendung und ein Schuss Schlendrian reichen aus, um immense Schäden zu verursachen.

Und so geht es weiter. Die Hamburger haben ihre Elbphilharmonie, die sie bis zum Jahre 2010 zum Preis von 186 Millionen Euro vollenden wollten und die nunmehr – mit Glück – vielleicht 2016 für 789 Millionen Euro fertiggestellt sein wird.8 Allein das Architektenhonorar ist mittlerweile höher als der Betrag, den die Hamburger Bürgerschaft ursprünglich für das Gesamtprojekt bewilligt hatte.9

Oder die U-Bahn der Kölner. Abgesehen davon, dass im Zuge der Baumaßnahmen unersetzliche Kulturgüter für immer verlorengingen, beziffern Experten die nicht eingeplanten baulichen Kollateralschäden schon jetzt auf viele Hundert Millionen Euro.10

Oder die Rheinland-Pfälzer und ihr Projekt »Nürburgring 2009«. Zwar scheint das Ganze baulich in Ordnung zu sein. Doch ist das Konzept so verfehlt, dass es ebenfalls zu einem Millionengrab geworden ist.11

Oder Stuttgart 21. Wann dieser Bahnhof seinen Betrieb aufnehmen wird, steht in den Sternen. Dass er jedoch wie all die anderen Projekte seinen Kostenrahmen sprengen wird, ist gewiss.12

Keine Region und kaum eine größere Stadt, in denen sich nicht bauliche Manifestationen menschlicher Unzulänglichkeit, gepaart mit Überheblichkeit, fänden. Das ist in Deutschland nicht anders als in seinen Nachbarländern, in Europa nicht anders als in Asien oder Amerika. Überall entsteht Monumentales, dessen Bau- und Folgekosten niemand wirklich beherrscht.13 In der Erwartung, im Falle des Scheiterns werde sich schon jemand finden, der die Brocken aufsammelt, wird immer weiter drauflosgeplant, -gebaut und -gewirtschaftet. Das Wichtigste ist, die babylonischen Turmbauten gehen weiter.

Unternehmen

Gebaut werden diese Türme allerdings nicht nur aus Stein und Mörtel, und ihre Bauherren kommen auch keineswegs vorwiegend aus dem öffentlichen Bereich. Auch die Wirtschaft sucht mit den Spitzen ihrer Bauten bis in den Himmel vorzustoßen. Die Bauten der Wirtschaft – das sind zumeist Unternehmen, deren Wachstum so lange vorangetrieben wird, bis sie wegen ihrer Größe und Komplexität zerbrechen. Und am leichtesten zerbrechen sie, wenn sie nicht mehr aus sich selbst heraus zu wachsen vermögen, sondern nur noch durch Zukäufe und Fusionen.

Von Letzteren scheitert nach Expertenmeinung mindestens die Hälfte,14 wobei die Vernichtung von Werten wiederum enorm ist. Dabei geht es nicht nur um Geld. Es geht ebenso um Wissen und Können, Kundenbeziehungen und vor allem Menschen. Aber auch die Vernichtung oft jahrzehntelang hart erarbeiteten Kapitals lässt den Atem stocken. Beim Zerbersten von AOL-Time Warner betrug die Kapitalvernichtung mehr als 300 Milliarden US-Dollar,15 bei Daimler-Chrysler schätzungs­weise fünfzig Milliarden,16 bei MCI-WorldCom rund 42 Milliarden,17 bei HP-Compaq 25 Milliarden18 und so weiter und so weiter. Die Liste ist lang und wird jeden Tag länger.

Warum aber stürzen sich Vorstände, Aufsichtsräte und ge­legentlich einzelne Unternehmer in derartige Abenteuer? Oberflächlich betrachtet erscheinen ihre Gründe zumeist vernünftig: Ergänzung der Produktpalette, Erschließung neuer Vertriebswege, Bündelung von Kräften, Synergien. Dicht unter dieser Oberfläche toben jedoch die Emotionen: die Nummer eins zu sein, den Wettbewerber auszuschalten, die eigene gesellschaftliche Stellung zu ­heben, das Einkommen noch höherzuschrauben, kurz: Es geht um Archaisches, beinahe schon Animalisches, ausgetragen mit den Mitteln der Moderne. Die Primitivität und Banalität derartiger Aktivitäten sind oft erstaunlich. So war für die Süddeutsche Zeitung die Ehe, die Daimler und Chrysler 1998 wähnten, »im Himmel geschlossen« zu haben, eine »Hochzeit des Grauens«.19

Mobilität

Schrittgeschwindigkeit

Eklatante Fehlplanungen, Selbstüberschätzung und Größenwahn sind dermaßen alltäglich, dass allenfalls unmittelbar Betroffene hieran ernsthaft Anstoß nehmen. Die anderen gehen über dergleichen, je nach Veranlagung, schulterzuckend oder schmunzelnd hinweg. Immerhin: Sie registrieren es noch. Normal ist es für sie nicht.

Anders verhält es sich mit den ungleich größeren Anomalien, die das individuelle und kollektive Leben so vollständig durchdrungen haben, dass sie – wenn überhaupt – nur noch von wenigen als solche erkannt werden. Die meisten nehmen sie überhaupt nicht mehr wahr, und wenn doch, dann halten sie diese Anomalien für normal. Mehr noch: Sie halten sie für Fortschritt. So lebt eben der moderne Mensch. Und er lebt insbesondere dann so, wenn er es zu etwas gebracht hat. Dann ist er beispielsweise mobil.

Mobil waren die Menschen zwar schon immer. Nur so vermochten sie es, innerhalb einiger Tausend Jahre einen Großteil der Erde zu besiedeln und ihre Spuren zu hinterlassen. Aber ihre Mobilität bemaß sich nach ihrer Schrittgeschwindigkeit. Während des längsten Teils ihrer Geschichte bewegten sich Menschen gehend, wobei ihr Gehen ständig durch den Zwang zur Nahrungssuche unterbrochen wurde. Dabei waren sie peinlich darauf bedacht, dass sie mit ihrem Gehen nicht mehr Kalorien verbrauchten, als ihnen die Nahrungssuche einbrachte.20 Deshalb gingen sie zumeist langsam.

Umso beeindruckender sind die Entfernungen, die sie dennoch zurücklegten.21 Schon in der Steinzeit erkundeten sie einzeln oder in kleinen Gruppen riesige Landstriche. Heerzüge aus den unterschiedlichsten Ländern und Reichen stapften endlos durch die Gegend, und nicht erst die mittelalter­lichen Herrscher und Kaufleute, sondern schon ihre antiken Vorgänger unternahmen Reisen, die selbst aus heutiger Sicht Bewunderung abverlangen.22 Nicht zuletzt durch die sich allmählich ausbreitende Nutzung von Reit- und Lasttieren sowie von Schiffen geriet die Geschichte der Menschheit zugleich zu einer Geschichte zunehmender Mobilität und Beschleunigung.

Allerdings erfasste diese Entwicklung zunächst nur kleine Minderheiten. Die meisten bewegten sich während ihrer kurzen Lebensspanne wie in den Jahrtausenden zuvor in eng umgrenzten Räumen. Das hat sie geprägt und prägt sie im Grunde bis heute. Um ihren Lebensraum wirklich erfassen zu können, benötigen Menschen Zeit. Erst dann entfaltet sich dieses Wechselspiel zwischen Objekt und Subjekt, welches den Menschen rational und emotional zum Schwingen bringt. Übersteigt der Mensch jene Schrittgeschwindigkeit, auf die ihn seine bisherige Entwicklung geeicht hat, werden seine Wahrnehmungen bruchstückhafter, zusammenhangloser und zufälliger. Und je schneller er sich bewegt, umso unverständlicher wird ihm die ihn umgebende Wirklichkeit.

Bis in historisch jüngste Zeit waren solche Betrachtungen ohne jede Relevanz. Noch ein Napoleon bewegte sich nur wenig anders als römische oder mittelalterliche Kaiser, und einem Mozart, der mit dem raschesten Transport­mittel seiner Zeit die rund 300 Kilometer zwischen Wien und Prag zu überwinden trachtete, blieb genug Muße, um nicht nur Betrachtungen über Land, Leute und Zeitläufe anzustellen, sondern auch noch eines der herrlichsten Werke der Musikliteratur zu ersinnen.23

Auf der Flucht

Größte Entfernungen in kürzester Zeit zurücklegen zu können ist menschheitsgeschichtlich so neu, dass überhaupt noch nicht abzusehen ist, was das für den Menschen bedeutet. Zwar haben sich Befürchtungen, die manche Ärzte zu Beginn der Eisenbahnära hegten, als unbegründet erwiesen.24 Nicht nur die Physis, auch die Psyche des Menschen verkraftet Beschleunigung offenbar problemlos. Doch darum geht es nicht. Worum es geht, ist dies: Was bedeutet es für den Menschen, wenn er immer wieder innerhalb kürzester Zeit seine räumlichen, zeitlichen und gegebenenfalls sogar sprachlichen, kulturellen und selbst emotionalen Bezugssysteme von Grund auf umkrempelt? Allem Anschein nach nicht besonders viel, auch wenn ihn gelegentliche Jetlags daran erinnern, dass er doch vielleicht so etwas wie einen Ankergrund in Raum und Zeit hat.

Vielleicht hat er sich aber auch von diesem Ankergrund losgerissen und driftet jetzt ziel- und zwecklos umher. Vielleicht hat seine ins Unermessliche gesteigerte Mobilität zu einem allmählichen Kontrollverlust jenes natür­lichen Bewegungsdrangs geführt, der den Menschen einst befähigte, sich die Erde Schritt für Schritt zu erschließen und dadurch seine Lebensbedingungen zu verbessern. Fest steht jedenfalls, dass ein Großteil menschlicher Mobilität inzwischen zum Selbstzweck geworden ist. Mobilität um der Mobilität willen.

Große Teile der Menschheit befinden sich heute in einem Bewegungsrausch, in einem Zustand der Raserei. Die Maßstäbe des schreitenden Menschen, der seine Rhythmen von der Arbeit über die Musik bis hin zu Spiel und Tanz vom Schlag seines Herzens bestimmen lässt, haben keine Gültigkeit mehr. Der rasende Mensch folgt den Rhythmen von Maschinen, die ihm den Takt vorgeben und seine Mobilität bestimmen. Der Mensch wird so zum Objekt der Bewegungskapazitäten von Gerätschaften.

Und je mehr er zum Objekt wird, desto weniger bewegt er sich selbst. Lifte schleppen ihn auf steile Bergeshöhen, und mit Hightech unter den Füßen saust er wieder zu Tal. Automobile – schon der Name ist bezeichnend – befördern ihn jährlich viele Tausend Kilometer. In Hochgeschwindigkeitszügen rast er von Stadt zu Stadt, von Region zu Region. Stundenlang sitzt er im Flugzeug, um an fernen Gestaden »ein wenig Sonne zu tanken«. Und wenn alle Mobilitätspotentiale ausgeschöpft sind, steigt er für fünfzig Millionen Euro in die Stratosphäre auf und lässt sich von dort schneller als der Schall auf die Erde zurückplumpsen.25

Mobilität ist zu einer Obsession der Massen geworden. Städte und Landschaften, Seen, Flüsse und Meere und nicht zuletzt der Luftraum werden von ihr in besinnungsraubender Geschwindigkeit durchpflügt, wobei es oft gar nicht darauf ­ankommt, ein Ziel zu erreichen oder den eigenen Horizont zu weiten. Es geht nur um die Bewegung als solche, wie sie schon das Baby in der Wiege, das Kleinkind auf dem Schaukelpferd und der Jugendliche auf dem Rummelplatz auskosten.

Um der Bewegung willen lebt der moderne Mensch wie auf der Flucht. Kaum hat er seinen Koffer abgestellt, erhebt sich die Frage, wo es als Nächstes hingehen soll. Dem pausenlosen Ortswechsel dienen derzeit weltweit 1,1 Milliarden Kraftfahrzeuge, davon rund 350 Millionen den Europäern.26 Allein die Deutschen verfügen über 43 Millionen Pkws, das ist ein Pkw für knapp zwei Personen.27 Und wer fährt, will auch fliegen. Anfang der neunziger Jahre gingen in der Europäischen Union jährlich etwa 350 Millionen Passagiere an Bord eines Flugzeugs. Zwei Jahrzehnte später waren es schätzungsweise viermal so viele.28 Hinzu kommen Hunderte Millionen Zug- und Schiffsreisende.

Mobilität ist Trumpf. Gefördert von mannigfaltigen Neigungen und Interessen, gehört der Verkehrsbereich in allen seinen Erscheinungsformen zu den am stärksten ­wuchernden menschlichen Aktivitäten. Eine Autobahn, eine Schienenverbindung, ein Flughafen sind noch nicht zu Ende gebaut, da wird schon der Ruf nach Kapazitäts­erweiterungen laut. Gleichgültig, wie viele Start- und Landebahnen oder Straßen- und Schienenkilometer geschaffen werden – es ist nie genug. Ständig droht ein Verkehrskollaps, und oft genug bleibt es nicht bei einer bloßen Drohung.

2011 bildeten sich auf deutschen Autobahnen 189000 Staus mit einer Gesamtlänge von 450000 Kilometern.29 Das ist weit mehr als die Entfernung von der Erde zum Mond. Hinzu kommen ungezählte kraft- und zeitraubende Staus in Städten und auf Landstraßen. In solchen Staus verbrachten deutsche Autofahrer 2010 durchschnittlich sechzig Stunden. Das entspricht anderthalb Arbeitswochen.30 Staus gibt es aber auch auf Bahnhöfen und Schienenwegen, auf Flughäfen und in Luftkorridoren. Nicht selten sind die Verkehrsverhältnisse in Deutschland chaotisch, auch wenn Experten meinen, sie seien noch nicht so chaotisch wie in anderen Teilen der Welt. Doch werde nicht bald Abhilfe geschaffen, drohe auch Deutschland der Infarkt.31

Offensichtlich übersteigt das Mobilitätsbedürfnis moderner Gesellschaften ihre Fähigkeit, in der jeweils verfügbaren Zeit ausreichend leistungsfähige sowie ge­meinwohl- und umweltverträgliche Verkehrssysteme und -mittel bereitzustellen. Alles Wissen, Können und Geld reichen nicht aus, um die manifesten Probleme schrumpfen zu lassen. Die Lücke zwischen Mobilitätswunsch und -wirklichkeit wird eher größer. Der Befund ist ebenso eindeutig wie banal: Die Verkehrssysteme dichtbesiedelter Räume sind chronisch überfordert.

Das aus den Fugen geratene Mobilitätsbedürfnis moderner Gesellschaften lässt deren Verkehr in der Tat kollabieren – immer häufiger und immer anhaltender. Just in dem Moment, als die Medien berichten, dass sich in Europa die Zahl der Fluggäste bis 2030 verdoppeln werde,32 erklärt ein Pilot seinen seit Stunden ausharrenden Passagieren, er könne nicht starten, weil »der europäische Luftraum hoffnungslos überfüllt« sei. Und wer an einem klaren Tag den Blick nach oben richtet, sieht, was der Flugkapitän meint. Denn was da zu sehen ist, erinnert lebhaft an einen Schnittmusterbogen aus Großmutters Zeiten. Auch hier strebt ein babylonischer Turm gen Himmel. Und je höher er strebt, desto länger werden seine Schatten.

Bewegungsrausch

Für ihre Mobilität erbringen Menschen im Bewegungsrausch Opfer, die sie in nüchternem Zustand vermutlich nie erbringen würden. Eines dieser Opfer ist der weit­gehende Verzicht auf menschengemäße und menschenwürdige Siedlungsformen, wie sie vor Beginn der Mobilitätsorgie die Regel waren. Alles, was heutige Städte in entwickelten Ländern für sich verbuchen können, ist mehr Licht und Luft in den Wohnquartieren und eine außerordentliche Verbesserung hygienischer Verhältnisse. Das ist nicht wenig. Zugleich sind sie jedoch von Lebensräumen für Menschen zu Verkehrsräumen für Fahrzeuge mutiert.

Jahrzehntelang war die städtebauliche Vorgabe nicht die menschen-, sondern die autogerechte Stadt. Das prägt große wie kleine Städte und selbst Dörfer bis heute. Zuerst ist den Anforderungen des Verkehrs zu genügen. Das Leben, Arbeiten, Spielen oder Müßiggehen von Kindern, Erwachsenen und alten Menschen ist diesen Anforderungen gegenüber nachrangig. Das dokumentiert jede beliebige Straßenszene in jeder beliebigen Stadt. Auf den unvoreingenommenen Betrachter wirken Menschen hier eher störend. Mit ihrem Wunsch, ab und an die Straße zu queren, hemmen sie sichtlich den Verkehrsfluss, und wer sich dabei nicht an strenge Regeln hält, wird schnell zum Gejagten.

Straßen und Plätze, auf denen einst Menschen flanierten, dienen jetzt als Abstellplätze für den ruhenden Verkehr. Fußgänger zwängen sich durch geparkte Autos, Kinderwagen und Rollstühle müssen nicht selten auf die Fahrbahn ausweichen. Zu zweit oder gar zu dritt Arm in Arm einen Fußweg ent­langzuschlendern ist oft nicht mehr möglich. Der mobile Mensch bewegt sich im Gänse­marsch, eingezwängt zwischen Häuserwänden, Autos und Straßenbahnen. Stehen bleiben, ein Schwätz­chen mit dem Nachbarn halten – für das und manches andere ist häufig kein Platz mehr. Den benötigen Verkehrs­mittel. Dem ­Petitum eines Ludwig Erhard aus dem Jahre 1960, wonach »in der Städteplanung der natürlichen Bewegung des Menschen als Fußgänger ein gleicher Raum gegönnt werden sollte wie dem technischen Verkehr«33, wurde und wird noch nicht einmal ansatzweise Rechnung getragen.

Doch »der technische Verkehr« benötigt nicht nur Platz, er macht auch Lärm. Lärm machten zwar auch die mittelalter­lichen Handwerksbetriebe. Aber zur Mittagszeit sowie nachts und an Sonn- und Feiertagen herrschte weithin Stille. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Leitbild ist die Stadt, die keine Stille kennt, die nie zur Ruhe kommt, »die niemals schläft«.34 Leitbild ist damit die steinerne Manifestation ernsthafter physischer und psychischer Defekte. Denn eine Stadt, die niemals schläft, erträgt nur, wer durch lange Gewöhnung gegenüber Außenreizen völlig abgestumpft ist.

Für die anderen ist es ein großes Privileg, einigermaßen ruhig leben und wohnen zu können. Doch wie fast alle Privilegien hat auch dieses seinen Preis. Ruhig zu wohnen ist teuer. Mit dem lapidaren Hinweis, eine bestimmte Wohngegend sei »verkehrsberuhigt« und in der Nähe gebe es sogar einen Spielplatz, lassen sich unschwer Miet- und Kaufpreisaufschläge von fünfzig Prozent und mehr begründen.

Aber auch Geld kauft nicht alles. In den meisten Großstädten Deutschlands, Europas und der übrigen Welt ist auch mit viel Geld ruhiges Wohnen kaum noch möglich. Die Städte sind engmaschigst zerschnitten, zerstückelt und zerhackt von Durchgangsstraße und Autobahnen, Schienenwegen und Flugschneisen. Von irgendeiner Seite lärmt es immer.

So gut es geht, versuchen die Betroffenen sich vor diesem Lärm – so als sei er von Außerirdischen verursacht – durch Lärmschutzwälle, spezielle Wand- und Dachiso­lierungen und zentimeterdicke Scheiben ein wenig abzuschirmen. Mitunter sind sie damit erfolgreich. Doch was immer sie tun: Es bleibt die deprimierende Einsicht, dass die Erfordernisse des Verkehrs den Bedürfnissen der Menschen vorgehen.

Deshalb bilden die Bewohner von Ballungsgebieten bei jeder sich bietenden Gelegenheit lange Trecks, um wenigstens für Stunden oder Tage dem Lärm, Dreck und Smog ihrer Städte zu entkommen. Für den Moment bietet dies ein wenig Linderung. Ihre Probleme löst es nicht. Denn alles, was sie hinter sich lassen wollen, schleppen sie unvermeidlich weiter mit sich. Lärm und Dreck begleiten sie in ihre Naherholungsgebiete, an Meeresstrände und auf Bergeshöhen. Solange die Menschen mobil sind, können sie den Nebenwirkungen ihrer Mobilität nicht entkommen.

Das weite, unberührte Land, von dem sich manche noch immer erhoffen, tief durchatmen, Stille genießen und nachts die Sterne sehen zu können – dieses Land gibt es in den dichter besiedelten Teilen der Welt nicht mehr. Auch das Land ist in kleinste Teile zerschnitten, zerstückelt und zerhackt und von einer Lärmglocke überwölbt. Pflanzen, Tiere und Menschen müssen sich einpassen. Hier und da werden für sie Stege, Brücken und Tunnels errichtet, damit sie ansonsten unüberwindliche Verkehrsschneisen passieren können. Aber was immer da geschieht, so gut gemeint es auch ist, es unterstreicht nur die Absurdität der entstandenen Situation.

Dann eben auf in die Arktis oder Antarktis, nach Nepal oder Bhutan, auf die Seychellen oder die Malediven! Vielleicht findet sich ja dort noch jene »Natur«, die man hierzulande vergebens sucht. Gewiss. Aber nur so lange, bis der erste Ankömmling seinen Fuß auf den unberührten Boden setzt. Das ist der Segen und Fluch des mobilen Menschen: In Windeseile kommt er überall hin, doch wo er hinkommt, wird es sogleich unwirtlich. Also jagt er weiter der »Natur« und »natürlich-herzlichen Menschen« hinterher, die ihm als Kontrastprogramm zu seiner eigenen geschundenen und verhunzten Umwelt wieder und wieder in Aussicht gestellt werden.

Gäbe sich der mobile Mensch Rechenschaft über die Wirkungen seiner Mobilität, er würde erschrecken. Und da er dies nicht will, betrachtet er seinen Bewegungsrausch als normal und jede Steigerung als einen weiteren Schritt auf dem langen Fortschrittsmarsch. Schmerzen ihm dabei die Füße, leidet er stumm. Mehr als jeder Zweite fühlt sich in Deutschland von Straßen-, jeder Dritte von Schienen- und fast jeder Vierte von Flugverkehrslärm gestört oder belästigt.35 Aber das ist nun einmal der Preis der Mobilität.

Lebens-Raum

Dabei merken die meisten gar nicht, dass nicht nur ihre Städte und Dörfer und das weite Land, sondern mittlerweile auch sie selbst zu Opfern dieser Mobilität geworden sind. Irregeleitet von der Fülle an Transportmitteln, durch die sie immer größere Distanzen in immer kürzerer Zeit überwinden können, haben sie das Empfinden für einen eigenen Lebens-Raum – im eigentlichen Sinne dieses Wortes – weitgehend eingebüßt. Ohne langes Zögern akzeptieren sie Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, die rational kaum erklärbar sind. Aber was sind schon zehn oder 15 Kilometer, wenn die Verkehrsverbindung gut ist? Nun, es sind einige Lebensjahre, die im Laufe eines Erwerbslebens dem Verkehr geopfert werden! Oder was bedeutet es, jahrein, jahraus mehrere Tage in der Woche unterwegs zu sein? Der mobile Mensch packt das und seine Familie mit ihm! Oder wie steht es um die vielen Fernbeziehungen? Das erfordert der Job, und im Übrigen sehen wir uns ja alle 14 Tage! Auf diese Weise vereinzeln die Menschen in einer mobilen Gesellschaft, bis früher oder später lebendige und belastbare Beziehungen durch ein paar E-Mails oder Telefonate abgelöst sind. Kinder, Enkel, Eltern, Groß­eltern? Die gibt es wohl. Aber gesehen haben wir die schon lange nicht mehr. Was die denken und fühlen? Keine Ahnung. Die wohnen doch so weit weg.

Hat dieser Lebensstil die Menschen glücklicher, geborgener oder auch nur materiell wohlhabender gemacht? Einer kritischen Bewertung dürften die exzessiv raumgreifenden Lebens- und Erwerbsgewohnheiten vielfach nicht standhalten. Weder ist die in der Ferne aufgenommene Arbeit noch der dort erkorene Partner so einzigartig, dass sie den Aufwand lohnten. Ein wenig teilen hochmobile Gesellschaften das Schicksal von Migranten. Durch räumliche Bewegung meinen sie, ihr Los verbessern zu können. Manchmal gelingt das. Oft stellt sich aber auch heraus, dass – am langersehnten Ziel angekommen – das Gras dort auch nicht grüner ist36 und, wie in einem Märchen von Christian Fürchtegott Gellert gleichnishaft dargestellt, die Hunde nicht so groß wie Kälber sind.37

Der Verlust von Bindungen, nicht zuletzt durch übergroße Mobilität, wiegt schwer. Mobilität galt lange und gilt mitunter noch heute als Voraussetzung für wirtschaftlichen und ge­sellschaftlichen Erfolg und damit als Quelle von Lebensglück. Der hochmobile, flexible und möglichst bindungslose Mensch schien ein Ideal zu sein. Doch dieses Ideal beginnt zu ver­blassen, da die Menschen, die es verkörpern, auf Dauer nicht so leben können. Ihre Widerstandskräfte sind zu gering, um schwierige Zeiten zu meistern. Noch ist Mobilität vielen ein hohes Gut. Immer mehr erleben und erleiden jedoch auch ihre Schattenseiten. Verdoppelung von Flugaktivitäten in den nächsten zwanzig Jahren? Diese Rechnung könnte ohne die Menschen gemacht worden sein.

Schulen

Beschulung

Dass alles Wissen, Können und Geld nicht ausreichen, um manifeste Probleme auch nur schrumpfen zu lassen, gilt jedoch nicht nur für den Verkehrsbereich. Es gilt auch für den Bereich institutionalisierter Ausbildung sowie institutionalisierter Entfaltung menschlicher Fähig- und Fertigkeiten. Auch hier übersteigen kollektive und nicht selten individuelle Erwartungen die tatsächlich gezeitigten Ergebnisse, und auch hier wird trotz größter Anstrengungen die Kluft zwischen Gewünschtem und Gewolltem einerseits und dem jeweils Erreichten andererseits immer breiter.

Zwar finden sich immer Männer und Frauen, deren Wissen und Können groß genug ist, auch schwierige Aufgaben sou­verän zu meistern. Aber ihre Zahl ist überschaubar. Deshalb wurde schon in der Antike mit einem talentierten Sklaven, der vielleicht sogar lesen und schreiben konnte, sorgsam umgegangen, und herausragende Begabungen wurden nicht selten mit Gold aufgewogen. Tüchtige Bauleute, Maler oder Steinmetze wurden über die Jahrhunderte hinweg nicht nur hochgeschätzt, sondern zumeist auch hoch bezahlt, und jeder Fürst, der einen von ihnen in seinen Diensten hatte, pries sich glücklich.

Im Grunde hat sich hieran bis heute nichts geändert. Überragend Qualifizierte sind weiterhin rar und entsprechend gesucht. Grundlegend geändert hat sich hingegen das Los der großen Mehrheit – der durchschnittlich und erst recht der unterdurchschnittlich Begabten und Motivierten. Was diese in der vorindustriellen Epoche wissen und können mussten, um den damaligen Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft zu genügen, war überschaubar. Selbst schlichte Gemüter konnten in der Regel recht gut mithalten und sich und anderen nützlich sein. Weder wurden von ihnen Lese-, Schreib- und Rechenkünste erwartet noch Kenntnisse in irgendwelchen Wissenschaften. Was sie beherrschen mussten: eine Wiese zu ­mähen, ein Pferd anzuspannen oder eine Kuh zu melken, war rasch abgeschaut und eingeübt. Und wen es zu Höherem trieb, der war zumeist auch entsprechend begabt und motiviert.

Das endete mit der planmäßigen Beschulung breitester Bevölkerungsschichten, oder genauer mit der Beschulung von allen und jedem. Zwar ist die allgemeine und mit der Zeit immer mehr Unterrichtsjahre verlangende Schulpflicht der wohl bedeutendste Schritt in die Moderne. Ohne sie wäre die Wohlstandsexplosion der zurückliegenden 250 Jahre nicht möglich gewesen und der heutige Wissens- und Könnensstand in den entwickelten Ländern mit Sicherheit nicht erreicht worden. Aber so segensreich die Schulpflicht auch war und ist: Sie ist auch die Ursache des Ungenügens und selbst des Scheiterns beträchtlicher Teile der Bevölkerung. Denn je besser die Menschen qualifiziert wurden, desto größer wurden auch die an sie gestellten Anforderungen, bis schließlich aus denen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen vorangetrieben hatten, selbst Getriebene geworden waren.

Dilettanten

Die Schulen spiegeln dieses Dilemma wider. Vieles von dem, was sie leisten, fällt hinter das zurück, was betriebliche Aus­bilder oder Hochschullehrer stellvertretend für große Teile der Gesellschaft erwarten. »Nicht ausbildungsfähig«38, »nicht hochschulreif«39, lauten die Verdikte, die keineswegs nur Randgruppen treffen.

Auch wenn in solchen Äußerungen eine Menge Zeitgeist und Vorurteile mitschwingen und sie deshalb nicht alle auf die Goldwaage gelegt werden sollten – völlig grundlos sind sie nicht. Fast jeder dreizehnte Hauptschüler in Deutschland beendet seine Schulzeit ohne Abschluss,40 rund 155000 Schüler erreichen jedes Jahr nicht das Klassenziel, sprich: bleiben sitzen.41 Und die Zahl junger Menschen, die sich vom Schulbetrieb nicht mehr angesprochen oder sogar überfordert fühlen, nimmt zu.42 Für die Gesellschaft ist dies ein ernstzunehmendes Alarmzeichen. Offenbar wachsen die Anforderungen an Individuen und Kollektive. Kann die Gesellschaft jedoch sicher sein, dass deren Fähigkeiten in mindestens der gleichen Geschwindigkeit mitwachsen?

Bereits mäßig anspruchsvolle Tätigkeiten mit bescheidener Wertschöpfung und geringem gesellschaftlichen Ansehen erfordern heute mitunter Qualifikationen, die für nicht wenige unerreichbar sind. Und sind die Tätigkeiten anspruchsvoller, vergrößert sich die Diskrepanz exponentiell. Welcher Arzt, Anwalt oder Steuerberater, welcher Installateur, Elektroniker oder Softwareentwickler kann von sich noch ehrlichen Herzens sagen, er sei firm in seinem Metier. Bei Licht besehen ­dilettieren die meisten, die einen mehr, die anderen weniger. Viele können nicht und können nicht können, was sie zu können vorgeben. Die gesellschaftlichen Erwartungen sind zu hoch.

Das aber wird nur ungern thematisiert. Vielmehr heißt es, dies sei ein Institutionenversagen. Versagt habe das Elternhaus, die Kita und selbstredend die Schule oder Universität. Sie alle hätten nach gängiger Lesart nicht geleistet, was sie hätten leisten müssen, um die Erwartungen von Wirtschaft, Gesellschaft und auch Einzelnen zu erfüllen.

Lücken

Nun steht außer Frage, dass nichts so gut ist, als dass es nicht noch besser werden könnte: Elternhäuser, Kindergärten und gewiss auch Schulen. Dennoch sollte dabei nicht aus dem Blick geraten, dass spätestens seit den Tagen eines Pestalozzi43 die Gesellschaften aller entwickelten Länder intensivst über die Formierung ihrer Kinder und Jugendlichen und deren Her­anführung an das Wissen und Können ihrer Zeit nachgedacht und im Allgemeinen weder Mittel noch Mühen gescheut haben, die Ergebnisse ihres Nachdenkens zu verwirklichen. Gewollt haben sie – schon aus Eigeninteresse – immer nur das Beste. Allein, wie beim Verkehrswegebau, es war und ist nie genug. Gemessen an dem, was Menschen zu wissen und zu können in der Lage wären, wenn sie sich ein größeres Stück des menschlichen Wissens- und Könnensschatzes erschlössen, wissen und können sie – unabhängig von Zeit, Land und Region – bemerkenswert wenig.

Scharen von Politikern und Experten war und ist dies Anlass, unablässig am Bildungssystem herumzuexperimentieren, oder in ihrer Sprache: es zu reformieren. Inzwischen dürfte es keine Form und kein Format mehr geben, die nicht irgendwo von irgendwem ausprobiert worden wären, und die Erfahrung zeigt, dass es durchaus einen Unterschied machen kann, ob eine Bildungseinrichtung so oder anders gestaltet ist.44 In der einen lebt und lernt es sich besser und leichter als in einer anderen.

Nur das eigentliche Ziel verfehlen alle. Keine Gesellschaft kann für sich in Anspruch nehmen, durch ihre Bildungseinrichtungen die intellektuellen, musischen, emotionalen und sozialen Potentiale der Menschen so weit zu aktivieren, dass keine klaffende Lücke zwischen Erwartung und Wirklichkeit bleibt. Gewiss sind Gesellschaften bei diesem Bemühen unterschiedlich erfolgreich. Aber wirklich erfolgreich ist keine.

Wie sollten sie auch? Schon bei der Beantwortung der Frage, was Bildung denn eigentlich sei, gehen die Meinungen auseinander. Wie aber sollen dann Bildungsziele definiert werden? Und wie soll Konsens über Bildung und Bildungsziele hergestellt werden, wenn das ihnen zugrunde liegende Menschenbild umstritten ist? Das aber wiederum steht und fällt mit der Beantwortung der Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens. Gibt es einen solchen Sinn überhaupt, und falls ja, soll er vorrangig in der Produktion und dem Konsum materieller Güter bestehen? Ist der Mensch dazu da, einkaufen zu gehen und sich gegebenenfalls zu reproduzieren, oder ist menschliche Existenz facettenreicher?

Es sind philosophische, wenn nicht gar religiöse Fragen wie diese, die das geistige Fundament jedes Kindergartens und jeder Schule bilden. Solange sie nicht ausdiskutiert sind – und sie sind nicht ausdiskutiert! –, werden alle Bildungsanstrengungen im Ergebnis unzulänglich und widersprüchlich bleiben. Kinder und Jugendliche sind heute nicht selten Spielball von Ideologien. Zwar heißt das nicht, dass sie bei diesem Spiel nicht auch etwas lernen. Aber ob und wozu das Gelernte taugt, erfahren sie erst später und mitunter nie.

Was soll ihnen die Schule vermitteln? Die Fähigkeit, zu leben, zu lachen und zufrieden zu sein, oder die Fähigkeit, sich trotz beinharten Wettbewerbs fair, solidarisch und sozial zu verhalten? Die Fähigkeit, Dinge zu sichten, auszuwählen und sich anzueignen? Oder vielleicht doch besser Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften und darüber hinaus gesunde Ernährung, geschickter Umgang mit Geld, Einblicke in das Wirtschaftsleben, Grundzüge der Warenkunde und so weiter?

Schon diese Fragen zeigen, dass die Bildungseinrichtungen mit den Schulen an der Spitze heillos überfrachtet und damit auch überfordert sind. Zu Recht heißt es deshalb allenthalten: Vermindert den Lernstoff! Weniger ist mehr! Schafft Schulen für Kinder, richtige Kinder und für Jugendliche, richtige Jugendliche und gebt auch denen Raum, die die Natur nicht für den Schulbetrieb bestimmt hat.

Es mag sein, dass dadurch Lernziele, die aus heutiger Sicht vernünftig und wünschenswert erscheinen, nicht mehr erreicht werden. Es mag auch sein, dass dadurch die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft und mit ihr der materielle Lebensstandard einer Bevölkerung sinkt. Das aber wäre hinzunehmen, wenn dadurch Menschen, gerade auch junge Menschen, besser in die Lage versetzt würden, ihren eigenen Lebensweg aufzuspüren und zu gehen. Die blinde Verfolgung gesellschaftlicher Ziele, die schon seit Generationen nicht mehr hinterfragt wurden, ist jedenfalls keine sinnvolle Vorgabe für Kitas und Schulen. Die Frage drängt: Wohin strebt die Gesellschaft überhaupt? Erst wenn diese Frage geklärt ist, lässt sich sagen, was die Schulen wollen sollen.

Hochschulen

Verschulung

Zu den hehrsten Zielen fast aller Länder gehört die ständige Verlängerung der Beschulungszeit von immer größeren Bevölkerungsteilen. Das fördere, so die Begründung, die Entfaltung der Menschen und erhöhe ihre Lebensqualität. Nicht minder wichtig sei jedoch, dass ausgiebig Beschulte leichter und produktiver zu beschäftigen seien. Und das wiederum sei Voraussetzung für die Sicherung und Mehrung des materiellen Lebensstandards. Beschulung, genannt Bildung, sei eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste ökonomische Ressource.

Da versteht es sich von selbst, mit der Beschulung so früh wie möglich zu beginnen. Vielerorts werden Kinder noch vor der offiziellen Einschulung durch Eltern, zumeist aber durch speziell ausgebildetes Personal mehr oder minder spielerisch auf den anschließenden Schulbetrieb eingestimmt. Dieser ­beginnt in Deutschland üblicherweise mit dem vierjährigen Besuch einer sogenannten Grundschule, an die sich weiterführende Schulen anschließen. Abhängig vom jeweiligen Bundesland ist deren Besuch fünf oder sechs Jahre lang obligatorisch.45 Zusammen mit der Vorbereitungszeit in Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen wird damit jedes Kind in Deutschland elf bis zwölf Jahre lang beschult.

Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen verweilen aber noch länger in Bildungseinrichtungen, wo etwa der Hälfte eines Jahrgangs – unterschiedlich nach Bundesland und gewähltem Ausbildungsgang – nach zwölf bis 13 Jahren reiner Schulzeit die Hoch- beziehungsweise Fachhochschulreife zuerkannt wird. Von dieser Hälfte nehmen derzeit etwa siebzig Prozent ein Studium auf.46 Die Gesamtzahl der Studierenden liegt gegenwärtig bei 2,5 Millionen, was etwa drei Prozent der Bevölkerung entspricht. Diese Studierenden werden am Ende ihrer formalen Ausbildungszeit etwa zwanzig Jahre lang in schulischen oder schulähnlichen Einrichtungen verbracht haben. Das ist mehr als ein Viertel der durchschnittlichen Lebenszeit.

Noch vor fünfzig Jahren erlangte nicht jeder Zweite, sondern nur jeder Sechzehnte eines Jahrgangs die Hoch- oder Fachhochschulreife, und der Anteil Studierender an der Bevölkerung lag nicht bei drei, sondern bei 0,4 Prozent, also bei nur reichlich einem Zehntel des heutigen Wertes. Promovierten damals etwa 5500 Studierende im Jahr, so sind es jetzt 27000 – das Fünffache.47

Die Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung spiegelt diese Entwicklung wider. Vor fünfzig Jahren hatten nur etwa drei Prozent der Erwerbstätigen einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss. 25 Jahre später hatte sich dieser Anteil auf reichlich ein Zehntel mehr als verdreifacht. Heute liegt er bei etwa einem Sechstel und in absehbarer Zeit wird er sich auf ein Drittel erhöht haben.48

Verbildung

Dass auch der babylonische Turm der Hochschulbildung von Jahr zu Jahr höher wird, ist unübersehbar. Ob die Qualität des Baus mit dessen quantitativer Zunahme Schritt gehalten hat, ist hingegen schwerer zu erkennen. Kann die Hälfte eines Jahrgangs oder können gar zwei Drittel, wie von manchen Bildungs­politikern angestrebt, schulisch genauso qualifiziert werden wie das leistungsstärkste Drittel oder Viertel? Oder kann eine Gesellschaft ernsthaft erwarten, dass ein Drittel eines Jahrgangs das gleiche akademische Niveau erreicht, das ein Sechstel vielleicht hätte erreichen können?