Die Dirigentin - Maria Peters - E-Book
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Die Dirigentin E-Book

Maria Peters

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Beschreibung

New York, 1926: Für Antonia Brico gibt es nur die Musik. Unermüdlich übt sie an dem alten Klavier, das ihr Vater, ein Müllmann, auf der Straße gefunden hat. Ihr großer Traum: Dirigentin zu werden. Doch noch nie hat eine Frau in dieser Rolle auf der Bühne stehen dürfen. Als sie sich als junge Frau zu einem Konzert ihres Idols Willem Mengelberg schleicht, und sich auf einem Klappstuhl in den Mittelgang setzt, wird sie herausgeworfen und verliert dabei auch noch ihren Job im Konzerthaus. Sie steht vor dem Nichts. Doch sie gibt nicht auf und reist nach Europa, um für ihren Traum zu kämpfen. Sie verlässt sogar ihre große Liebe Frank, um nicht in dessen Schatten zu stehen. Unermüdlich klopft sie an die Türen der großen Musiker. Karl Muck, der legendäre Dirigent in Berlin, zerreißt vor ihren Augen ihr Empfehlungsschreiben. Antonia sieht letztlich nur einen Weg: Ein Orchester nur mit Frauen, von ihr selbst dirigiert. Mit dem Eröffnungskonzert ist klar: Es wird Antonia befreien – und die Musikwelt für immer verändern.

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Seitenzahl: 351

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Maria Peters

Die Dirigentin

Roman

Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek

Atlantik

Für meine Enkelin Yuna

 

 

»A dream is unrehearsed.«

Yehudi Menuhin

»Vom Mond aus gesehen

sind wir alle gleich groß.«

Multatuli

 

 

»Because we women form only

a small percentage of conductors, it is as if

we are all under a microscope.«

Marin Alsop

~ Willy ~

1New York, 1926

Der falsche Platz. Pass gefälligst besser auf.« Direktor Barnes packt mich am Ellenbogen und wirft mir einen strafenden Blick zu. Erschrocken sehe ich, was er meint. Das Durcheinander in der Sitzreihe ist mir bislang nicht aufgefallen. Das ältere Ehepaar, dem ich eben einen Platz angewiesen habe, bahnt sich mühevoll den Weg zurück in den Gang. Schuldbewusst senke ich den Blick.

»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich möglichst unterwürfig, denn er ist mein Boss, und ich kenne meinen Platz in der Rangordnung. Direktor Barnes ignoriert mich und eilt dem Ehepaar zu Hilfe. Ich stehe verloren daneben, reiße mich aber zusammen und wende mich den nächsten wartenden Gästen zu.

Zum x-ten Mal leiere ich herunter: »Ich wünsche Ihnen ein schönes Konzert.« Leute zum richtigen Platz zu bringen ist meine Abendbeschäftigung. Tagsüber arbeite ich als Schreibkraft in einem großen Büro. Manch einer mag es merkwürdig finden, dass ich zwei Jobs habe, aber ich bin es nicht anders gewohnt. Meine Mutter will das so. Sie hat auch kein Problem damit, meinen Vater zwei Schichten hintereinander ackern zu lassen. Sie braucht das Geld, sagt sie.

Eigentlich tut es mir gut, so oft von zu Hause weg zu sein. Mutter ist nicht unbedingt das, was man einen Sonnenschein nennt. Wenn sie lacht, bildet ihr Mund allenfalls einen Strich; für gewöhnlich hängen ihre Mundwinkel aber nach unten. Als ich in die Schule kam, malte ich sie mit diesem Gesichtsausdruck. Voller Stolz zeigte ich ihr das Bild. Das hätte ich besser nicht gemacht, denn danach konnte ich zwei Tage lang nicht richtig sitzen. Zugegeben, die Zeichnung war kein Meisterwerk, vielleicht hatte sie also sogar recht.

Nach diesem Erlebnis habe ich mich selbst dazu gezwungen, jedes Mal wenn ich in einen Spiegel schaue, zu lächeln. Auch wenn es gerade nichts zu lachen gibt. Meine Einbürgerung steht zwar noch bevor, aber ich lebe schon den amerikanischen Traum. Inklusive des dazugehörigen Dauerlächelns und alles anderen.

 

Das Konzert heute Abend beginnt mit Beethovens Dritter. Hier in Amerika heißt sie Eroica Symphony, wir Holländer nennen sie die Heroische.

Ludwig van Beethoven schrieb die Symphonie zu Ehren von Napoleon Bonaparte, als dieser sich zum Kaiser von Frankreich ausrief. Um allen zu zeigen, wie die Machtverhältnisse waren, erlaubte Napoleon nicht, dass der Papst ihn krönte, sondern er setzte sich die Krone selbst auf. Männer können das.

Beethoven, der in derselben Zeit lebte, feierte die Heldentaten des Diktators. Für mich ist Beethoven ein größerer Held als dieser Napoleon. Er spürte, dass er mehr und mehr ertaubte, aber das tat seiner Streitlust keinen Abbruch. »Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ich ergebe mich ihm nicht«, war seine Reaktion auf den Hörverlust (oder zumindest so ähnlich). Daraufhin beendete er mit seiner Musik die Epoche der Klassik und schlug einen neuen Weg ein, hin zur Romantik. Damit kann man doch etwas anfangen.

Er ist seit neunundneunzig Jahren tot, aber die Menschen strömen noch immer in die Konzertsäle, um seine Meisterwerke zu hören. Ich deute einen Knicks an. Die beiden Herren, denen ich gerade den Platz anweise, beziehen das auf sich, aber in meinem Innern bedanke ich mich bei Beethoven für die Komposition des heutigen Abends. Das Hantieren der Orchestermitglieder, die ihren Platz einnehmen, lenkt mich ab. Bereits die Geräusche, die beim Stimmen der Instrumente entstehen, versetzen mich in Erregung. Ich betrachte die Härchen auf meinem Arm. Ich habe Gänsehaut, jetzt schon.

 

Ich sitze etwas versteckt auf dem Flur. Eine Take-away-Mahlzeit liegt auf meinen Oberschenkeln. Die Türen des Saals sind jetzt geschlossen. Wir dürfen nicht mehr hinein. Ich rühre mit den Essstäbchen durch die chinesischen Nudeln, die längst kalt sind.

Es ist immer höchste Eisenbahn, wenn ich von meinem Tagesjob zu meinem Abendjob wechsle. Im Büro haben wir nur eine Stechuhr, und wenn man Pech hat, wartet da schon eine Schlange. Die Schreibkräfte haben es nicht eilig – wenn man langsam macht, erweckt man den Eindruck, länger gearbeitet zu haben. Wenn ich mich also ganz hinten einreihen muss, bin ich die Dumme.

Ich habe keine Zeit, zwischendurch nach Hause zu gehen. Mutter gibt mir jeden Tag Reste mit, aber die esse ich nie. Sie sind nämlich nicht vom Vortag, denn die isst sie selbst. Sie sind auch nicht zwei Tage alt, denn die bekommt mein Vater. Die Reste, die mir zustehen, sind mindestens drei Tage alt. Es dauerte eine Weile, bis ich ihr System begriff, und zu Anfang bin ich sogar schon mal richtig krank von dem verdorbenen Essen geworden. Deshalb werfe ich das fiese Zeug jetzt immer gleich weg. Allerdings darf ich ihr das auf keinen Fall verraten. Sie würde einen Anfall bekommen: Essen wegzuwerfen ist eine Todsünde.

Der kürzeste Weg vom Büro zur Konzerthalle führt quer durch Chinatown. Mit einem kleinen Restaurant habe ich einen Deal machen können, der mich nicht viel kostet. Sie verkaufen auch außer Haus an der Straße. Mr Huang hat mein Essen bereits fertig, wenn ich vorbeikomme. Er weiß, wie wenig Zeit ich habe. Meistens schlinge ich es sofort herunter, aber wenn ich mich verspäte, hat er es schon für mich eingepackt, sodass ich es mit zur Konzerthalle nehmen kann. Am Anfang hat er mich ausgelacht, als er sah, wie ich mit den Essstäbchen kämpfte, aber als er merkte, wie rasch ich damit zurechtkam, verschaffte mir das Respekt.

Die Nudeln pappen zusammen, und ich habe immer weniger Appetit. Ich habe genug davon in meinen Mund gestopft. Ich frage mich, ob das Konzert schon lange genug läuft, um auf die Herrentoilette zu gehen. Es ist niemand zu sehen. Die Luft ist rein. Auf dem Weg werfe ich das Essen in einen Abfalleimer. Ein Stäbchen behalte ich und verberge es in einer Rockfalte meiner mausgrauen Uniform.

 

Ich kann nichts dagegen tun, die Herrentoilette der Konzerthalle zieht mich an wie ein Magnet. Sie befindet sich in einem der unteren Geschosse, direkt unter der Bühne. Es wäre wesentlich praktischer, wenn dort die Damentoilette wäre; aber in der hört man leider überhaupt nichts vom Konzert. This is the place to be.

Vorsichtig betrete ich den großen, quadratischen Raum, der vor kurzem neu gekachelt wurde. Der hübsche, moderne Stil wird Art déco genannt. Mit einem Blick sehe ich, dass das Pissoir frei ist. Nachdem ich kontrolliert habe, ob auch niemand eine der zahlreichen Toiletten benutzt, stelle ich mich mitten im Raum auf, schließe die Augen und lausche. Ich lausche der Musik, die durch eine akustische Verbindung zur Bühne so klar klingt, als würde ich direkt vor dem Orchester stehen.

Beethovens Musik durchdringt jede Faser meines Körpers. Sie spielen den ersten Satz der Symphonie, insgesamt sind es vier. Es ist das Allegro con brio, das lebendig und feurig gespielt werden muss. Ein echter Held strotzt natürlich immer vor Energie. Ich hebe das Stäbchen hoch und stelle mir alles vor, sehe mich als Dirigentin vor dem Orchester stehen. Hundert Männer folgen meinen Handbewegungen und lassen sich durch mich leiten, die Heroische so zu spielen, wie ich es für richtig halte. Das Stäbchen hebt und senkt sich im Dreivierteltakt. Das macht mich unglaublich glücklich. Als würde mein Leben so viel reicher. Diese Glücksexplosion macht abhängig.

Trotzdem versuche ich, ihr nicht zu oft nachzugeben. Ich gönne sie mir nur einmal pro Woche, immer an unterschiedlichen Tagen. Es darf den anderen Platzanweiserinnen, die sich im Foyer leise miteinander unterhalten, nicht auffallen, dass ich verschwinde. Und ich mache das immer am Anfang des Konzerts. Die erste halbe Stunde ist sicher, ich weiß aus Erfahrung, dass quasi jede Blase so lange durchhält. Mein Vater kann es Gott weiß wie lange einhalten – manchmal geht er nur zweimal am Tag –, aber es sind immer ältere Männer, die während des Konzerts die Toilette besuchen. Dann muss ich mich wieder aus dem Staub gemacht haben. Aber im Augenblick gehört die Herrentoilette mir allein.

Ich mache eine Geste in Richtung der ersten Geige: lauter. Der zweiten Geige: etwas zurückhaltender. Jede Instrumentengruppe erhält einen Hinweis. Ich gehe derart darin auf, dass ich mich selbst vergesse. Es ist eine Art Trance. Wenn auch eine ganz andere als jene, in die Mutter sich versetzen will, wenn sie mit ihrem Frauenclub Séancen abhält. Damit kann sie mir gestohlen bleiben, an diesen Unfug glaube ich nicht. Dass ihr allerdings Beethoven und Liszt bei einer diesen Séancen erschienen sind und allen mitgeteilt haben, ich würde eine große Musikerin werden, kam mir doch sehr zustatten. Sonst hätte sie mir nie die Klavierstunden erlaubt. Aber wieso sie und ihre Freundinnen wussten, wie Ludwig van Beethoven und Franz Liszt aussehen – und das sogar als Geister –, ist mir heute noch ein Rätsel.

 

Die Tür öffnet sich, und ich erschrecke mich zu Tode. Rasch lasse ich die Arme sinken. Ich höre, wie das Essstäbchen auf die Fliesen fällt. Ein junger Mann kommt herein und schaut mich erstaunt an. Ich versuche, nicht ertappt zu wirken, hebe den Kopf und blicke ihn möglichst gelassen an. Schließlich arbeite ich hier und nicht er.

»Das ist die Herrentoilette«, sagt er.

Offensichtlich hält er es für nötig, seine Anwesenheit hier zu begründen. Es dauert einige Sekunden, bis ich die Sprache wiedergefunden habe. »Ich … kontrolliere kurz alles.«

Er betrachtet meine Kleidung, ich trage ganz offensichtlich die Uniform einer Platzanweiserin.

»Was kontrollierst du hier?«

»Ob auch alles sauber ist.« Ich reiße ein paar Türen auf und inspiziere die Kabinen. »Die Herrentoiletten verschmutzen schneller, daher kontrollieren wir sie häufiger.«

Er behält mich im Auge. Der Störenfried kann nicht viel älter sein als ich. Maximal Ende zwanzig. Es regt mich auf, dass er gut aussieht. Seine Kleidung zeugt von Wohlstand. Auch das regt mich auf, denn dadurch fühle ich mich immer unwohler.

»Und bist du jetzt fertig damit?«

Ich nicke: »Alles ist sauber.« Ich halte die Tür zu einer der Kabinen auf und hoffe, dass er dahinter für immer und ewig verschwinden möge. Aber er bleibt stehen, schiebt die Hände lässig in die Hosentaschen, als hätte er alle Zeit der Welt, und blickt mich immer noch an.

»Sie verpassen das Konzert.«

»Das habe ich schon öfter gehört«, antwortet er.

Ich schaue ihm tief in seine viel zu hübschen braunen Augen, als könnte ich ihm damit meinen Willen aufzwingen. Aber nein, er bleibt an der Tür stehen. Also muss ich zum Ausgang gehen. Er tritt zur Seite, um mich vorbeizulassen, wendet den Blick aber nicht ab.

Ich bin schon auf dem Flur, als ich ihn hinter mir sagen höre: »Du hast etwas vergessen.« Ich drehe mich um. Er schaut auf das Stäbchen, er hat also gehört, wie es hinfiel. Es liegt zu seinen Füßen, aber er macht keine Anstalten, es aufzuheben. Ich bücke mich.

 

An diesem Abend bildet das ganze Personal eine lange Reihe. Direktor Barnes verteilt selbstgefällig die wöchentlichen Lohntüten. Es ist Freitagabend, und wie üblich zählt er auf, welche Konzerte uns in nächster Zeit erwarten. Ich höre mit gespitzten Ohren zu, diesen Teil finde ich interessanter als meinen Lohn.

»Und dann haben wir nacheinander Aufführungen der Vierzigsten Symphonie von Mozart, der Hundertsten von Haydn, der Dritten von Schumann, des Violinkonzerts von Mendelssohn …«

Meine Kollegin Marjorie wendet sich mir zu und flüstert: »Ich langweile mich zu Tode. Willst du etwas von meinem Kaugummi abhaben?«

Marjorie und ihr Kaugummi sind unzertrennlich. Sie hat immer mehrere Päckchen auf Vorrat. Adams’ New York Gum No. 1 – Snapping and Stretching. Wenn niemand zuschaut, macht sie Kaugummiblasen und lässt sie zerplatzen. Niemand scheint mitzubekommen, dass sie die ganze Zeit über das Zeug im Mund hat; wie sie das schafft, weiß ich nicht. Einmal klebte sogar Kaugummi in ihrem geflochtenen Haar, das sie immer um den Kopf drapiert. Sie erzählte, es müsse im Schlaf passiert sein. Es dauerte Tage, bis sie alle klebrigen Reste rausgepfriemelt hatte.

»Mir wird von Kaugummi immer schlecht«, flüstere ich zurück.

»Na klar.« Marjorie denkt, ich veräppele sie. Aber es ist die Wahrheit. Ich konzentriere mich wieder auf den Direktor.

»Und dann ist es natürlich eine außergewöhnliche Ehre, dass nächsten Monat der berühmte niederländische Dirigent Mengelberg bei uns zu Gast sein wird …«

Mengelberg!

»… mit Mahlers Vierter Symphonie«, beendet Barnes seine Übersicht.

»Da muss ich dabei sein«, flüstere ich Marjorie zu. Ich bin vollkommen aus dem Häuschen. Marjorie schaut mich an, als wäre ich das siebte Weltwunder. Aber als sie in meinem Gesicht erkennt, dass ich es ernst meine, und Barnes nur noch zwei Schritte von mir entfernt ist, zischt sie mir zu: »Frag ihn einfach!«

Der Direktor bleibt vor mir stehen und begutachtet mich von oben bis unten. Der penetrante Geruch seines Achselschweißes dringt mir in die Nase. Seine Aufmerksamkeit habe ich wahrscheinlich dem Rüffel heute Abend zu verdanken, oder hat der Toilettenbesucher sich etwa doch über meine Anwesenheit auf dem Herrenklo beschwert? Ich verliere den Mut, den Direktor um etwas zu bitten. Schließlich bleibt sein Blick an meinem ausgefransten Kragen hängen.

»Besorge dir eine neue Bluse. Diese ist zerschlissen.«

Ich halte die Augen geradeaus auf die Wand gerichtet und nicke. Er überreicht mir die Lohntüte und geht weiter zu Marjorie.

»Mr Barnes? Sie würde gerne zu dem Konzert gehen«, sagt sie.

»Wie bitte?«

»Willy möchte zu dem Konzert von Mengelen.«

»Mengelberg«, verbessere ich sie schnell.

»Sag ich doch.«

Barnes wendet sich mir zu. »Unmöglich.«

»Aber …«

»Das Konzert war innerhalb eines Tages ausverkauft.«

Barnes geht weiter. Ich schlucke meine Enttäuschung hinunter und habe die Nase gestrichen voll davon, dass das Personal während der Konzerte keinen Zutritt zum Saal bekommt.

 

Als ich den Direktor einige Minuten später im Flur rieche und sehe, wie er sein Büro betritt, gehe ich doch noch nicht zum Personalausgang. Ich klopfe an die offen stehende Tür und bleibe auf der Schwelle stehen.

»Mr Barnes, können Sie mich dann auf die Warteliste setzen lassen? Bitte?! Nur dieses eine Mal?« Es erstaunt ihn, dass ich ihm gefolgt bin, das sieht man deutlich.

»Bitte?«, wiederhole ich.

»Fängst du jetzt an zu betteln?« Er schaut mich prüfend an. »Die einfachste Kategorie kostet einen Dollar.«

Als wüsste ich das nicht. Der teuerste Platz kostet zwei Dollar fünfundsiebzig. Als Studentin käme ich für fünfundzwanzig Cent hinein. Ich will das Geld aus meiner Lohntüte nehmen, aber er hält mich auf.

»Du musst erst bezahlen, wenn tatsächlich ein Platz frei wird.« Er nimmt seinen Füller und setzt meinen Namen mit zierlichen Buchstaben auf die Warteliste.

 

Pfeifend laufe ich die schier endlosen Treppenstufen der Mietskaserne hoch, in der meine Eltern ihre Wohnung haben. Ich weiß, dass es sich für Mädchen nicht schickt, laut zu pfeifen, aber heute ist mir das egal. Ich fühle mich innerlich ganz leicht.

Als ich die Wohnung betrete, gehe ich sofort in mein Zimmer und hole eine der Partituren hervor, die ich unter dem Bett versteckt habe. Ich setze mich auf den Rand des Bettes. Mit Ehrfurcht lese ich den Namen auf der Vorderseite: Gustav Mahler, Vierte Symphonie. Meine Augen gleiten gierig über die Notenblätter und die Anmerkungen, die ich mit rotem und blauem Stift danebengekritzelt habe. Ich schaue auf die Wand, an der eine ganze Reihe von Bildern meiner beiden Idole hängt. Ich betrachte die Fotos von Mengelberg.

»Willy?«

Ich höre, wie meine Mutter in der Diele lärmt. Rasch schlage ich die Partitur zu und will sie wieder unters Bett legen, aber es ist zu spät. Mutter kommt ins Zimmer. Das macht sie immer ohne Ankündigung, sogar jetzt, wo ich schon dreiundzwanzig bin. Sie streckt mir die Hand hin.

»Deinen Lohn.«

Ich gebe ihr die Lohntüten meiner beiden Jobs, und während sie das Geld zählt, schiebe ich mit dem Fuß die Partitur weiter unter das Bett. Sie ahnt nicht, dass mein kleines Zimmer eigentlich eine Ansammlung von Verstecken ist. Das beste befindet sich hinter der Holzverkleidung meines maroden Klaviers. Mit zwei Handgriffen kann ich die unterste Leiste lösen und abheben. Dahinter verstecke ich das Geld, das ich mir vom Mund abspare. Davon bezahle ich unter anderem Mr Huang.

»Ich brauche eine neue Bluse.«

»Jammere nicht rum. Diese ist noch gut.«

»Ich bin deswegen ermahnt worden …«

»Die kannst du noch ausbessern.«

»… sonst würden sie mich rausschmeißen«, beende ich den Satz. Damit habe ich sie in der Hand, denn weniger Geld im Haus wäre für sie eine Katastrophe.

Meine Mutter zögert. Dann gibt sie mir zwei Dollar.

»Ich glaube nicht, dass das reicht«, versuche ich mehr herauszuhandeln, aber sie geht nicht in die Falle.

»Mehr bekommst du nicht.«

Und mit dieser Bemerkung lässt sie mich allein.

 

Der nächste Tag ist ein Samstag, und ich muss nicht ins Büro. Meine Mutter ist nicht da. Sie liest für einen Kunden aus Teeblättern. Mit diesem Betrug verdient sie sich hin und wieder etwas dazu. Ich nehme Nadel und Faden aus ihrem Nähkästchen und kümmere mich um den verschlissenen Kragen an meiner Arbeitsbluse.

An diesem Abend gehe ich dem Direktor nicht aus dem Weg.

»Schauen Sie«, sage ich, als ich ihm im Foyer begegne. Ich zeige auf meine Bluse und lächle.

»Schon besser«, kommentiert er. »Ich freue mich, dass du auf mich hörst.«

~ Willy ~

2

Kurz stehen meine Finger still über den Tasten der Schreibmaschine, und ich schaue auf die große Uhr an der Wand. Noch eine Viertelstunde, dann darf ich gehen. Ich kann es gar nicht erwarten, denn heute dirigiert Mengelberg.

Als ich die sechzig Frauen sehe, die in meiner Abteilung arbeiten, werde ich nervös. Schaffe ich es, als Erste bei der Stechuhr zu sein? Meine Tasche steht gepackt unter dem Tisch, ich muss nur noch diesen einen Brief beenden. Ich beobachte, wie meine Chefin durch die Reihen läuft. Ich konzentriere mich wieder auf die Arbeit und lasse die Finger über die Tasten rasen. Sie soll bloß nicht auf die Idee kommen, ich wäre schon fertig. Aber ich habe Pech. Sie bleibt genau vor meinem Tisch stehen.

»Könntest du kurz einen Test beaufsichtigen?«, fragt sie.

Verflixt und zugenäht, warum sucht sie immer mich für solche Sachen aus? Aber ich antworte natürlich beflissen: »Jetzt?«

»Genau, jetzt.«

Sie winkt zwei wartende Bewerberinnen herbei.

Widerwillig stehe ich auf. Mit meiner Chefin diskutiert man nicht. Sie ist eine typische alte Jungfer, die mit ihrer Arbeit verheiratet ist. Ich habe mir gelegentlich ausgemalt, wie sie wohl ihre Abende verbringt. Aber im Laufe der zwei Jahre, die ich mittlerweile hier an der Maschine sitze, habe ich es aufgegeben, mir darüber Gedanken zu machen. Die Einsamkeit steht ihr ins Gesicht geschrieben; es ist klar, dass sie mutterseelenallein auf der Welt ist. Sie überspielt das recht gut, indem sie sich auf die Arbeit stürzt.

Hinter ihrem Rücken nennen die Schreibkräfte sie den Pitbull, weil sie nie zurückweicht, aber ich beteilige mich nicht daran. Ich finde es unfair, Frauen so bloßzustellen. Würde man einen Mann so bezeichnen, als Pitbull? Oder gar als Furie oder Zimtzicke? Das ist eher unwahrscheinlich. Männer werden auch nicht alte Hexe, Schreckschraube oder Miststück genannt. Ich kenne einige Männer hier auf der Arbeit, die schlimmer sind als unsere Chefin, die nie auch nur einen Zentimeter nachgeben, aber die bekommen keinen bescheuerten Spitznamen.

Für den Boss ist sie natürlich Gold wert. Es gibt Gerüchte, dass sie einmal eine Affäre hatten, aber soweit ich weiß, ist der Kerl ein grundsolider Ehemann; ich kann mir die beiden einfach nicht zusammen vorstellen.

Während die Chefin weitergeht, präsentieren sich mir die Bewerberinnen. Ihre Namen vergesse ich sofort wieder. Die eine Frau ist um die vierzig und macht einen strengen Eindruck. Ihr dunkles Haar ist straff zu einem Dutt zurückgebunden, außerdem trägt sie eine Brille. Unter ihrem Arm klemmt eine Zeitung.

Ich nehme meinen Brief aus der Maschine, gebe ihr ein leeres Blatt und deute auf den Stuhl. Als sie sich hinsetzt, legt sie die Zeitung neben sich ab. Mein Blick bleibt an einem Artikel hängen, in dem das Konzert von Mengelberg ankündigt wird. Sie hat sofort einen Pluspunkt bei mir, allerdings habe ich hier nichts zu entscheiden.

Die andere Frau schätze ich zehn Jahre jünger. Sie hat diese merkwürdig dünnen, unnatürlich hochgezogenen Augenbrauen. Ihre Brüste stechen für meinen Geschmack etwas zu deutlich unter ihrem engen Pullover heraus, und sie kann keinen Schritt auf ihren hohen Absätzen machen, ohne anzüglich mit dem Hintern zu wackeln. Warum sie in solch einem großen Bogen zu dem freien Tisch neben mir laufen muss, ist mir schleierhaft – denn weit und breit ist kein Mann zu entdecken.

Die Aufgabe, die ich ihnen stelle, ist einfach. Sie müssen nur einen Brief abtippen. »Sie haben zehn Minuten«, sage ich kurz vor dem Startzeichen. Ich drücke die Stoppuhr. Die Sekunden verrinnen, genauso wie auf der Wanduhr.

Mir fällt sofort auf, dass die strenge Bewerberin blind und unglaublich schnell tippt, schneller, als ich es je zuvor gesehen habe. Vermutlich sind das mehr als dreihundert Anschläge pro Minute. Was für ein Kontrast zu der koketten Dame, die sich offensichtlich Sorgen um ihre zu langen, rot lackierten Nägel macht. Wenn sie hundert schafft, ist das schon viel. Ich betrachte ihr platinblondes Haar. Ich kann den Blick nicht von dem unvorteilhaften dunklen Haaransatz abwenden. Was muss sie wohl alles für diese Frisur opfern und erleiden, finanziell, aber auch körperlich?

Das Zeichen zum Büroschluss ertönt, und rundum brechen die Kolleginnen auf. Nur die Chefin thront ungerührt auf ihrem Podest. Sie muss erst noch die Briefe korrigieren, die die Schreibkräfte bei ihr abgeben.

 

»Halt«, rufe ich nach zehn viel zu langen Minuten. Ich reiße das Papier aus den Maschinen und renne durch das mittlerweile leere Büro zur Chefin. In meiner Eile stoße ich gegen den Schreibtisch. Eine Thermoskanne fällt um. Ungläubig schaut die Chefin auf den kalten Kaffee, der über die Papiere schwappt. Ich versuche das Ganze abzutupfen, aber das macht alles nur noch schlimmer. Sie schaut mich verärgert an, als ich ihr die beiden Briefe überreiche.

Sie braucht nicht lange.

»Von wem ist dieser?« Sie hält den kürzeren Brief in die Höhe und beobachtet die beiden näher kommenden Frauen prüfend.

»Von mir«, antwortet die kokette Dame.

»Geschwindigkeit zu langsam, Nägel zu lang, zu viele Fehler. Und Sie …«, sie hält jetzt den langen Text hoch: »Flotte Finger, kurze Nägel, null Fehler.«

Die Brillenträgerin freut sich über die Komplimente, aber dann kommt es: »Morgen können Sie anfangen«, wendet sich die Chefin ausdrücklich an die jüngere Frau.

Was war das? Die strenge Bewerberin blickt bestürzt von der Chefin zu ihrer Konkurrentin, die mit ihren unterwürfigen Dankesäußerungen gar nicht aufhören kann. Ich senke beschämt die Augen und vergesse fast, dass ich schon längst weg sein sollte, so sehr tut sie mir leid.

»Ich verstehe das nicht«, sagt sie zu meiner Chefin, als die neue Mitarbeiterin – nicht ohne das obligatorische Hüftwackeln – die Abteilung verlässt.

»Sie denken vielleicht, dass wir die Besten haben wollen«, erläutert die Chefin ihre Entscheidung. »Aber mein Vorgesetzter will hier keine weiblichen Angestellten, die er nicht attraktiv findet, und ich kann niemanden gebrauchen, der mir Konkurrenz macht.«

Aufgebracht geht die unterlegene Bewerberin, und ich mache Anstalten, ihr zu folgen. Aber die Chefin hebt demonstrativ den Stapel tropfender Briefe hoch. Ich würde viel darum geben, wenn ich aus diesem Albtraum einfach aufwachen könnte; allerdings ist er noch nicht vorbei.

 

Wie besessen tippe ich, um die nass gewordenen Dokumente zu ersetzen. Neben mir liegt die Zeitung, die die strenge Bewerberin liegen gelassen hat. Die Porträtaufnahme von Mengelberg starrt mich an. Ich greife nach der Zeitung und springe auf. Mir reicht es jetzt.

»Bist du schon fertig?«, fragt die Chefin von ihrem Podest herunter erstaunt durch den Raum. Sie sitzt etwa zwanzig Meter entfernt.

Gerade jetzt lobe ich mir diesen Abstand: »Nein, aber ich muss zu einem Konzert.«

»Das muss fertig werden!«

Ich fange an zu rennen. »Morgen!«

Hinter meinem Rücken wird sie lauter: »Wenn du jetzt abhaust, bist du entlassen!«

Ich bleibe wie erstarrt stehen und denke über diese Drohung nach. Damit ich etwas Zeit gewinne, drehe ich mich ganz langsam um.

»Wie gut, dass Sie gerade eine so flotte Schreibkraft eingestellt haben.« Und dann renne ich durch die Abteilung. Zum Glück kann ich die Stechuhr jetzt links liegen lassen.

 

Frag nicht, wie ich das geschafft habe. Rücksichtslos muss ich Fußgänger zur Seite geschubst haben, die mir im Weg waren, und auch rote Ampeln waren mir egal. Zwischen hupenden Autos bin ich ohne Rücksicht auf Verluste auf die Straße gesprungen. Ich bin gerannt, gerannt, gerannt – als würde mein Leben davon abhängen. Das Erste, was ich wieder bewusst wahrgenommen habe, ist die Ankündigung des Konzerts an der Fassade des Theaters.

Keuchend lege ich mein Geld hin und kann gerade noch sagen, dass ich auf der Warteliste stehe. Der Kassierer macht sich nicht einmal die Mühe, nach meinem Namen zu suchen.

»Es tut mir leid, Willy, du bist zu spät.«

»Aber der Direktor … der Direktor …« Ich schnappe nach Luft.

Mitfühlend schüttelt er den Kopf. »Du kennst die Regeln. Eine halbe Stunde vor Beginn müssen die Karten abgeholt werden.«

Stinksauer sammle ich mein Geld wieder ein.

 

Ich gehe in den Umkleideraum und ziehe meine Uniform an. Ich weiß nicht genau, warum ich das mache, aber jetzt einfach nach Hause zu gehen ist keine Option. Ich will zumindest im selben Gebäude wie Mengelberg sein.

Gedankenverloren stolpere ich im Gedränge an Marjorie vorbei. Sie spricht mich an. Ich schaue nicht auf, gehe einfach weiter. Ich vermeide jeden Blickkontakt mit den anderen Platzanweiserinnen, die in den letzten Minuten vor Beginn des Konzerts alle Hände voll zu tun haben. Sie würden meine Wut nicht verstehen.

»Wieso steht du hier so rum? Warum arbeitest du nicht?« Marjorie taucht wieder neben mir auf und lässt einen Kaugummi an meinem Ohr zerplatzen. Sie ist sauer, dass ich mich vor der Arbeit drücke. Dass ich mir heute Abend freigenommen habe, hat sie schon längst wieder vergessen. Mein Herz schlägt laut in meinem Brustkorb. Ich muss mich zusammenreißen.

Ich tue so, als würde ich zu einer Besuchergruppe hinübergehen. Aber ich kann mich jetzt nicht so benehmen, als wäre das nur ein ganz normaler Arbeitstag. Das kann niemand von mir verlangen. Trotz des Risikos, erwischt zu werden, rette ich mich auf die Herrentoilette. Zum Glück ist niemand dort. Aufgewühlt tigere ich durch den Raum, bis mir mein Spiegelbild auffällt. Ich bleibe stehen, gehe hinüber und schaue in mein Gesicht. Dieses Mal lächele ich nicht.

~ Frank ~

3

Der Mann, der für Dirigenten und Solisten Konzerte organisiert, so würde ich meine Tätigkeit beschreiben. Meine Visitenkarte ist prägnanter, dort lautet die Berufsbezeichnung: Concert Manager, und heute Abend steht Willem Mengelberg auf dem Programm.

Im Konzertsaal geht es drunter und drüber. Jeder will ihn sehen. Ich muss mich durchkämpfen, um vom Dirigentenraum, wo Mengelberg sich vorbereitet, zu meiner Loge zu gelangen. Immer wieder halten mich Freunde und Bekannte auf, die mir zum Erfolg der Tournee gratulieren wollen. Ich bedanke mich höflich und gebe meine Standardantwort, die ich übrigens stets an das Heimatland des jeweiligen Dirigenten anpasse, also diesmal: »Alles Gute kommt aus den Niederlanden.« Indem ich Mengelberg ein Kompliment mache, lenke ich die Aufmerksamkeit von mir ab. Und ich brauche nicht einmal zu lügen: lieben wir Amerikaner es doch, mit unseren europäischen Wurzeln anzugeben.

Niemand hier muss wissen, dass ich mit dieser saloppen Bemerkung versuche, meinen Schmerz zu betäuben. Die Leute haben nicht die blasseste Ahnung, dass Musik für mich die einzige Medizin ist, um die alles übertönenden Kriegserinnerungen, die ich aus diesem verfluchten Europa mitgebracht habe, für eine Weile verstummen zu lassen. Wenn nicht so viel Schönheit diesem Kontinent entstammte, würde ich ihn für immer und ewig vergessen wollen.

Ich war zu jung, um in diesen blutigen Krieg geschickt zu werden; zu jung und viel zu naiv, wie so viele meiner Kameraden. Und dabei genoss ich noch das Privileg, nicht in die Hölle der Schützengräben zu müssen, sondern in den Feldlazaretten hinter der Front die Schweinerei in Ordnung bringen zu dürfen. Ich arbeitete dort als Medical Officer, da ich in Amerika Medizin studierte. Den Rang hatte ich jedoch nur, weil meine Mutter zum britischen Adel gehört. Tatsächlich war ich allenfalls ein Krankenpfleger. Ich trat meinen Dienst in jenem Jahr an, das später als Gaskriegsjahr in die Geschichtsbücher eingehen würde, aber das konnte ich damals noch nicht ahnen. Aber was soll’s, ich lebe noch. Neun Millionen Soldaten können das nicht von sich behaupten – also welches Recht habe ich, mich zu beklagen?

Willem Mengelberg hat kaum unter dem Weltkrieg zu leiden gehabt, wie er mir einmal erzählte. Die Niederlande wahrten Neutralität, was Amerika zumindest in den ersten drei Kriegsjahren ebenfalls glückte. Als Amerika 1917 in den Krieg eintrat und ich mit kaum zwanzig – ich war noch grün hinter den Ohren – nach Europa aufbrach, war Mengelberg bereits seit gut zwei Jahrzehnten Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters. Sein Ruhm sollte immer weiterwachsen.

Natürlich bin ich stolz darauf, ihn nach New York geholt zu haben. In Amerika ist das Publikum verrückt nach Prominenten, und für die klassische Musik gilt: Nur wenn man es in Europa geschafft hat, gehört man wirklich dazu.

Endlich erreiche ich die Loge, in der meine Eltern bereits auf mich warten. Ich begrüße sie herzlich und setze mich rasch, denn der Konzertmeister ist bereits aufgestanden. Er signalisiert der Oboe, den Kammerton anzugeben, nach dem dann die anderen Musiker ihre Instrumente stimmen.

Als sie fertig sind, betritt Mengelberg die Bühne. Das löst einen Sturm der Begeisterung aus. Der brausende Applaus tut mir gut. Mengelberg schüttelt die Hand des Konzertmeisters und nimmt dann seinen Platz am Pult ein.

Jedes Mal bin ich wieder nervös, sozusagen stellvertretend für die Akteure. Eigentlich merkwürdig, denn ich habe nichts zu tun, ich darf mich einfach zurücklehnen. Aber so entspannt bin ich noch nicht. Ich hocke auf der Kante meines Sitzes und beobachte den Saal unten. All diese erwartungsvollen Menschen, die einen unvergleichlichen Abend erleben werden dank der besonderen Chemie zwischen dem Dirigenten Willem Mengelberg und dem verstorbenen jüdischen Komponisten Gustav Mahler.

Die Vierte Symphonie, die heute Abend aufgeführt wird, ist im Jahr 1900 entstanden, als das Leben dem Komponisten noch freundlich gesinnt war. Er schrieb die Symphonie während der Sommerferien, da er nicht daran gewöhnt war, einfach einmal nichts zu tun. Ein paar Jahre später sollte das Schicksal zuschlagen: Er verlor seine vierjährige Tochter, die Ehe mit seiner viel jüngeren Frau stand permanent unter Druck, die Ärzte diagnostizierten ein unheilbares Herzleiden, und er verlor seinen Posten an der Wiener Hofoper, wo er zehn Jahre lang das Sagen gehabt und einen Schlussstrich unter zahlreiche festgefahrene Traditionen gesetzt hatte. Die Hofoper hatte ihm viele Innovationen zu verdanken. Und trotz all dieser Schicksalsschläge wurden Gustav Mahler und seine Kompositionen immer berühmter. Seine Musik reflektierte sein Leben.

Der elf Jahre jüngere Willem Mengelberg war ein feuriger Bewunderer von Mahler und lud ihn einige Male nach Amsterdam ein, wo Mahler seine eigenen Symphonien dirigieren durfte. Sie wurden gute Freunde. Mit dem Segen des Meisters entwickelte sich Mengelberg zu einem der bekanntesten Mahler-Interpreten. In Amsterdam führte er mehr als zweihundertmal dessen Werke mit dem berühmten Orchester des Concertgebouw auf. Und heute Abend steht er hier, mit der Philharmonic Society of New York.

Die Beleuchtung des Saals wird heruntergedreht. Der Applaus verstummt. Diese magische Stille kurz vor dem ersten Ton, in der sich alle Konzentration verdichtet. Niemand wagt es, auch nur zu hüsteln.

Das Schlittengeläut erklingt zuerst. Es versetzt mich immer in meine Jugend, als meine Eltern dafür sorgten, dass der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten bei uns vorfuhr – allerdings wurde der Schlitten nicht von Rentieren, sondern von sage und schreibe sechs Pferden gezogen. Ich war bereit, alles zu glauben, wenn nur die Glöckchen auf den Rücken der Pferde läuteten. Ich danke Gott dafür, dass Musik mich immer noch so verzaubern kann. Sonst wäre ich verloren. Ich lehne mich zurück. Das Konzert hat angefangen.

Die Symphonie beginnt heiter, als ginge die Sonne im Saal auf. Nach etwa sechzehn Minuten kommt der erste Satz nach einem ausgelassenen Crescendo zur Ruhe. In der weihevollen Stille danach fällt eine Tür mit einem lauten Knall zu.

Gustav Mahler würde sich im Grab umdrehen. Ich glaube nicht, dass jemand hier im Saal weiß, dass Mahler selbst verantwortlich ist für die Stille zwischen den einzelnen Sätzen: Er brachte als Dirigent sein Publikum mit unmissverständlichen Gesten davon ab, zwischendrin zu applaudieren, wie es zur Gewohnheit geworden war.

Erstaunt sehe ich, wie die Leute unter mir die Köpfe zur Seite drehen. Da geht jemand durch den Mittelgang nach vorn. Das ist ungewöhnlich, denn Zuhörer, die zu spät kommen, stehen vor geschlossenen Türen – eine Regel, die ebenfalls von Mahler an der Wiener Hofoper eingeführt wurde.

Ich starre ins Dunkle. Es ist eine Frau, viel mehr kann ich nicht erkennen. Unter einem Arm trägt sie einen hölzernen Klappstuhl, unter dem anderen klemmt ein großes Buch. Sie läuft fast bis zur Bühne. Was hat sie bloß vor? Genau hinter dem Podest des Dirigenten stellt sie den Klappstuhl auf. Woher nimmt sie die Dreistigkeit, sich auch noch hinzusetzen? Im Saal ist empörtes Raunen zu hören.

Mengelberg bekommt davon nichts mit, er blickt so konzentriert auf die Noten, dass er für alle Nebengeräusche taub ist. Ein weiterer Beweis, wie selektiv unser Gehör ist. Mengelberg lässt sich nicht stören.

Die Frau auf dem Stuhl schlägt das Buch auf und wartet wie alle anderen. Meine Mutter beugt sich zu mir herüber.

»Solltest du nicht etwas unternehmen?«

Es ist mir ein Rätsel, warum ich bis jetzt einfach nur wie gelähmt zugeschaut habe.

 

Ich laufe über den dicken Teppich die Treppe hinunter, als mir Direktor Barnes entgegenkommt.

»Sorgen Sie dafür, dass sie da verschwindet«, sage ich zu ihm.

»Wer?«

Offensichtlich hat er von dem ganzen Vorfall noch gar nichts mitbekommen, aber das ändert sich jetzt. Er folgt mir zu einer Seitentür, durch die man den Gang vor der Bühne sehen kann. Als ich die Tür ein wenig öffne, strömt uns allgemeines Murren wie eine Welle entgegen. Ich spähe in den Saal und kann nur das Profil der Frau erkennen.

»Warum hat das Personal sie nicht aufgehalten?«, frage ich wütend.

»Weil sie zum Personal gehört«, antwortet Barnes kleinlaut.

Erst dann erkenne ich sie. Die Toilettenfrau.

In diesem Augenblick dreht sich Mengelberg doch zum unruhigen Publikum um. Sein Blick bleibt am Klappstuhl hängen. Alle halten den Atem an. Genau wie der Saal warte auch ich darauf, was passieren wird.

Ich sehe, wie sie Mengelberg zulächelt. Ihr Lächeln ist ihm trotz der auf ihn gerichteten Schweinwerfer aufgefallen, denn er lächelt freundlich zurück. Das bringt mich noch mehr aus der Fassung.

Gerade als Barnes losstürmen will, fängt Mengelberg mit dem zweiten Satz von Mahlers Vierter an. Ich brauche heute Abend nicht noch mehr Chaos und halte Barnes auf. Aber ich kann die Augen nicht von dem dreisten Rotzlöffel abwenden. Während das geheimnisvolle Scherzo erklingt, sehe ich, wie sie die Partitur auf ihrem Schoß mitliest, und werde fuchsteufelswild.

 

»Sie brauchen mich nicht zu schubsen, ich kann selbst gehen.«

Sie versucht sich loszumachen. Ich packe sie fester am Arm, an dem ihre Tasche schlaff hin und her baumelt. Unter dem anderen Arm trägt sie die Partitur.

Ich habe sie im Flur erwischt, als sie den Klappstuhl auf den Stapel neben der Herrentoilette zurücklegen wollte. Und nun bringe ich sie zum Personalausgang.

»Menschen wie dich muss man wegsperren«, blaffe ich sie an.

»Darf ich mich denn nicht entschuldigen?«, entgegnet sie deutlich ruhiger.

»Bei wem? Dem ganzen Saal?«

»Bei Maestro Mengelberg.«

Oh mein Gott, was heckt sie denn noch alles aus? Ich schüttele den Kopf. »Du glaubst doch nicht, dass ich dich in seine Nähe lasse? Einen großen Musiker behandelt man mit Respekt!«

Ich öffne die Tür zum Ausgang.

»Du bist entlassen«, sage ich, als ich sie hinausschiebe.

Sie stolpert und fällt beinah die Treppe hinunter, aber sie fängt sich wieder und blickt mich funkelnd an.

»Sie sind nicht mein Chef«, ruft sie mir zu.

»Dein Chef hat schon eingewilligt«, sage ich. Das stimmt sogar. Natürlich habe ich das mit Barnes besprochen.

Sie fleht mich an, dass sie diesen Job braucht, aber das kann mir egal sein. Ich sehe, dass sie weder ein noch aus weiß, empfinde aber kein Mitleid. Als sie einwendet, sie habe ihren Lohn für die letzte Woche noch nicht erhalten, zücke ich das Portemonnaie und drücke ihr etwas Geld in die Hand. Als sie den Betrag sieht, hält sie endlich den Mund. Vermutlich war es zu viel.

~ Willy ~

4

Mir blieb vor Angst das Herz stehen, als ich da so saß, um ganz ehrlich zu sein. Aber ich saß aufrecht, und für die anderen sah es so aus, als würde ich ungerührt nach vorn schauen. Dabei spürte ich, wie sich mir die entrüsteten Blicke des Publikums in den Rücken bohrten. Schau einmal an, dachte ich. Man muss sich nur trauen, dann kann man auch eine Heldin spielen.

Ich schlendere durch die Straßen, nehme mir unendlich viel Zeit, alles anzuschauen – nur um nicht nach Hause zu müssen. Am liebsten hätte ich mit Mengelberg gesprochen, über sein Konzert und über die Musik. Über seine Interpretation der Symphonie und das Leistungsniveau unseres Orchesters. Auf Niederländisch. Und vielleicht hätte ich mich sogar getraut, ihm zu erzählen, was ich anders gemacht hätte.

Ich wäre auch damit zufrieden gewesen, ein Teil der Menschenmenge sein zu dürfen, die den Konzertsaal verlässt. Schweigend den Kommentaren zuzuhören und in Gedanken den Abend und seine Eindrücke Revue passieren zu lassen. Aber der Kerl von der Toilette musste ja alles verderben. Das ist ein Naturgesetz: Seifenblasen zerplatzen immer.

Ich bleibe bei dem blinden Bettler stehen, der an seinem festen Platz sitzt. Wenn er gut gelaunt ist, spielt er eigene Melodien auf dem Akkordeon, aber jetzt ist er still. Ich glaube, für heute hat er keine Musik mehr. Ich blicke in seine Augen, die von einem blauen Schleier bedeckt sind, die Pupillen sind unsichtbar. Es kann einen immer noch schlimmer treffen, geht es mir durch den Kopf. Er hört, dass jemand vor ihm steht, denn er hält mir die geöffnete Hand hin.

Ich betrachte den leeren Filzhut, der neben ihm liegt. Er ist von Motten zerfressen. Daneben liegt ein Stück Pappe: Good luck to people who can share, steht darauf. Glück für diejenigen, die teilen können.

Dieses verfluchte Glück. Ich spüre das Geld in meiner Tasche. Ich habe dem arroganten Pinkel sagen wollen, dass es zu viel ist. Ich konnte meine Bemerkung aber gerade noch rechtzeitig hinunterschlucken. Er schien mir sowieso nicht für Argumente zugänglich. Die Summe entspricht drei Wochenlöhnen. Zwei Drittel davon betrachte ich als Schmerzensgeld. Oder als Abfindung, damit ich die Kurve kratze. Sei’s drum, das ist jetzt auch egal.

Ich ergreife die raue Hand des Bettlers und schiebe einige Scheine hinein, sage ihm, er solle sie gut verstecken. Er bedankt sich und wünscht mir, dass Gott mich segnen möge. Eigentlich finde ich es widerlich, wenn Leute pausenlos Gott in ihre Angelegenheiten verwickeln, aber diesmal halte ich den Mund. Vielleicht ist es ja wirklich an der Zeit, dass er mal seinen Job macht. Ich werde es ja sehen.

 

Bei jedem Schritt nach oben wehen Staubwolken auf. Jeder Mieter kümmert sich um seine eigene Wohnung, aber für die Treppe fühlt sich keiner verantwortlich. Niemand will etwas für die Allgemeinheit tun, deshalb bildet der Schmutz Nester auf den Stufen.

So ist es nicht immer gewesen, aber so wird es wohl immer bleiben.

Das ist einer der Gründe, warum meine Mutter jeden Cent auf die Seite legt, um auf ein eigenes Haus zu sparen. Wir Holländer gelten hier als fleißig und reinlich, und so hat meine Mutter jahrelang das Treppenhaus geschrubbt. Die anderen Bewohner wussten das zu Anfang durchaus zu schätzen und bedankten sich, im Laufe der Zeit nahmen sie ihr Gewiener jedoch als selbstverständlich hin. Bis es ihr eines Tages reichte. Sie kippte den Mülleimer auf der frisch geputzten Treppe aus und sagte: »Dann eben so!« Sie zog die Schürze aus, schlüpfte in ihre Jacke und schritt wie eine Königin über den Abfall nach draußen. In Augenblicken wie diesen ist meine Mutter auch einmal ein echtes Vorbild.

Als Erstes fällt mein Blick auf die Zwiebeln, die auf der Anrichte liegen. Ich weiß sofort, was die Stunde geschlagen hat.

»Schweren Tag gehabt?«, fragt meine Mutter, als sie mich sieht.

Offensichtlich noch nicht schwer genug.

»War in Ordnung«, höre ich mich sagen. Ich reibe ihr nicht unter die Nase, dass ich gleich zweimal gefeuert worden bin. Das muss ich erst einmal selbst verarbeiten.

Sie reicht mir das Messer, mit dem sie gerade die erste Zwiebel geschnitten hat. »Mach das schnell fertig.«

Ich sehe, dass noch sechs daliegen.

 

Ich versuche, nicht zu weinen. Das Messer hebt und senkt sich rhythmisch. Die Zwiebelwürfel fallen auf das Brett. Ich muss auf meine Finger aufpassen, denn ich sehe kaum noch was. Aber immer noch mehr als der Bettler, schießt es mir durch den Kopf.

Mein Ekel vor Zwiebeln rührt noch aus der Zeit der Überfahrt nach Amerika, die ich als Kind zusammen mit meiner Mutter unternahm. Vater war schon dort, um einige Dinge zu regeln. Auf dem Schiff aßen wir im Speisesaal, und eines Tages servierte man dort schleimige Zwiebeln in etwas, das wahrscheinlich ein Haschee hätte werden sollen. Ich starrte auf die Matsche auf meinem Teller und weigerte mich, sie zu essen.

Aber nicht mit meiner Mutter: Der Teller musste leer gegessen werden. Sie zwang mich, das Zeug hinunterzuschlucken, indem sie meine Nase zukniff und mir den Löffel in den Mund schob. Ich würgte, aber wenn eine Schlacht zu schlagen ist, gibt meine Mutter nicht so schnell auf. Wenig später musste ich mich erbrechen. Quer über den Tisch, sodass es jeder mitbekam. Es stank unglaublich. Die Menschen um uns herum wandten sich voll Abscheu ab. In unserer Kabine las sie mir wie üblich die Leviten. Das werde ich nie vergessen.

Mein Vater kommt von der Spätschicht zurück. Er arbeitet bei der Stadtreinigung. Nicht im Büro oder so, sondern ganz unten, als Müllmann. Der Lohn ist eher bescheiden, aber Vater hat großes Talent als Schatzsucher. Er findet alles Mögliche im Abfall. Das meiste bringt Mutter sofort zur Pfandleihe – und holt es dann nie wieder ab.

Mein Vater stellt sich neben mich, sieht die Tränen über meine Wangen rollen und schaut zu meiner Mutter.

»Du weißt doch, dass sie davon weinen muss«, sagt er leise, noch nicht einmal vorwurfsvoll. Aber Mutter fühlt sich angegriffen.

»Von ein paar Tränen stirbt man nicht«, faucht sie.

Ich zeige keine Reaktion. Wenn man nichts an sich heranlässt, ärgert es sie am meisten.