Die drei ??? und das Tuch der Toten (drei Fragezeichen) - Marco Sonnleitner - E-Book

Die drei ??? und das Tuch der Toten (drei Fragezeichen) E-Book

Marco Sonnleitner

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Beschreibung

Ein Zeltausflug wird zum neuen Fall für die drei ???: In einem sagenumwobenen Waldgebiet in den Santa Monica Mountains streift eine düstere Gestalt umher. Ein Wesen aus der Urzeit? Justus, Peter und Bob stoßen auf rätselhafte Spuren. Was sie nicht wissen: Sie sind nicht die Verfolger, sondern die Beute ...

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und das Tuch der Toten

erzählt von Marco Sonnleitner

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele weitere Informationen zu unseren Büchern, Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14080-2

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Geisterflüstern

Endlich. Es war ein Tag im Sycamore Valley, wie er schöner nicht hätte sein können: Die Sonne strahlte von einem wolkenlos blauen Himmel, ein sanfter Windhauch durchwehte das Tal, die Vögel zwitscherten, irgendwo plätscherte ein Bach, die Luft roch nach würzigen Gräsern und warmem Stein. Die drei??? hatten sich entschlossen, wandern zu fahren, um einmal so richtig abzuschalten. Keine stressige Schule, keine neuen Fälle. Nach eingehendem Studium der Karten hatten sie sich für das Sycamore Valley entschieden, ein Tal in den Santa Monica Mountains, das etwas mehr als eine Stunde Fahrzeit von Rocky Beach entfernt lag. Saftige Wiesen, schroffe Felshänge und unzählige Platanen, denen das Tal seinen Namen verdankte. Außerdem waren sie noch nie da gewesen. Den ersten Tag hatte es geregnet, der zweite war kühl gewesen, doch heute war es einfach fantastisch. Ein Tag wie aus dem Bilderbuch.

Nicht so für Peter.

»Oh Mann!« Der Zweite Detektiv streifte seinen Rucksack ab und ließ sich in den Schatten eines kleinen Wacholderbaumes fallen. »Ich möchte sterben.«

»So schlimm?«, fragte Bob mitfühlend.

Peter nickte matt. »Noch viel schlimmer als schlimm. Ich bin echt am Ende.«

Auch Justus gönnte sich eine kurze Pause und setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm. »Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»Zum hundertsten Mal, Just. Das waren diese vermaledeiten Bohnen. Die waren schon ganz grün.«

»Deswegen nennt man sie ja auch grüne Bohnen.«

»Ah, hör auf, du weißt, was ich meine.«

»Aber dann müsste Bob und mir heute doch auch speiübel sein, findest du nicht? Ich habe die drei Dosen im Laden von MrKing alle aus demselben Regal geholt.« Der Erste Detektiv beobachtete einen gelb-schwarzen Schmetterling, der neugierig um sie herumflatterte.

»Dann war meine Dose eben eine Montagsdose«, ächzte Peter und wälzte sich zu seinem Rucksack. »Jedenfalls waren meine grünen Bohnen schlecht. Hundert Pro.«

Der Erste Detektiv lächelte süffisant. »Wie du meinst. Aber mein Gefühl sagt mir immer noch, dass es die zwei Tafeln Schokolade waren, die du dir nach den Bohnen reingezogen hast.«

Bob nickte zu Peters Rucksack. »Was suchst du?«

»Wir haben in unseren Erste-Hilfe-Sets doch auch so Magentabletten, oder? Gott, ist euch auch so heiß?«

»Kohletabletten, ja«, bestätigte Justus. »Ein übrigens sehr interessantes Arzneimittel. Kohle wirkt aufgrund seiner feinporigen Struktur wie ein Schwamm und bindet dadurch im Darm Bakterien und Giftstoffe, die unter anderem für ein gestörtes Temperaturempfinden verantwortlich –«

»Just!«, stöhnte Peter. »Bitte nicht! Jetzt keinen Vortrag! Mir platzt sonst der Kopf.«

Justus brummte etwas wie »Hab’s ja nur gut gemeint« und Bob wusste nicht, ob er grinsen oder Peter bedauern sollte.

»Da sind sie.« Der Zweite Detektiv öffnete eine weiße Schachtel und drückte gleich drei Tabletten auf einmal aus der Folie. Anschließend warf er sie in den Mund und zerkaute sie. »Schmecken ja scheußlich. Igitt!«

»Man schluckt sie auch unzerkaut hinunter«, meinte Justus trotzig.

»Toll! Und woher soll man das wissen?«

»Steht auf der Packung. Auf der sich übrigens auch die Nebenwirkungen finden, die sich ab drei Tabletten auf einmal einstellen. Tausende von Gesichtspickeln, Haarausfall und immerwährender übelster Mundgeruch.«

Peter starrte seinen Freund ungläubig an, während Bob noch eine Sekunde an sich halten konnte und dann laut lachend herausplatzte. »Das dürfte es dann gewesen sein mit deiner Karriere als Frauenschwarm.« Der dritte Detektiv lachte noch einmal und zeigte dann auf eine kleine Senke, die sich östlich von ihnen im Sycamore Valley auftat. »Da vorne müsste Hidden Hills liegen, Freunde. Lasst uns da noch hingehen und dort eine längere Rast einlegen. Dann können Peters Tabletten in Ruhe ihre, ähm, Arbeit verrichten.« Er gluckste und ging dann voraus.

Hidden Hills war nicht mehr als eine Ansammlung weniger Gebäude, von denen die meisten in einem miserablen Zustand waren. Als die drei Detektive durch den Ort liefen, fanden sie nur ein knappes Dutzend Häuser, die bewohnt aussahen, darunter einen Lebensmittelladen, eine Werkstatt und eine kleine Gaststätte, das Carlson’s. Die imposante Kirche und das angrenzende Pfarrhaus zeugten jedoch davon, dass Hidden Hills einmal bessere Zeiten gesehen haben musste.

»Kollegen, seht mal!« Bob zeigte auf das Pfarrhaus. »Das scheint jetzt ein Museum zu sein.«

»Du hast recht.« Justus streckte den Kopf nach vorn. »HEIMAT- UND NATURKUNDEMUSEUM SYCAMORE VALLEY«, las er von der kleinen Tafel ab, die neben dem Eingang angebracht war. »Interessant. Was haltet ihr davon, wenn wir uns eine kühle Limonade in der Gaststätte gönnen und dann einen kleinen Abstecher in das Museum machen?«

»Mir egal«, meinte Peter. »Hauptsache, kühl und sitzen.«

Sitzen konnte man im Carlson’s leidlich – auf knochenharten Stühlen. Aber da die schlichte Kneipe keine Klimaanlage besaß, sondern nur einen lahmen Ventilator, der die Fliegen im Kreis herumscheuchte, war es stickig und warm. Dafür war die Zitronenlimonade nahezu schockgefrostet, weil sich der uralte Kühlschrank hinter der Theke offenbar nicht mehr richtig regeln ließ.

Das kleine Museum hingegen erwies sich als echter Geheimtipp. Und das nicht nur, weil die dicken Mauern die Hitze draußen ließen und Peter überall bequeme Sitzgelegenheiten entdeckte. Jedes Zimmer stand unter einem bestimmten Thema: Pflanzen, Tiere, frühe Vergangenheit, jüngere Vergangenheit, Geologie und so weiter. Und die Ausstellungsstücke waren nach Ansicht von Justus durchaus spektakulär.

»Das Skelett eines jungen Mammuts! Sieh mal einer an!« Der Erste Detektiv eilte zu einer Tischvitrine, unter deren Glas die Knochen des Tiers fein säuberlich ausgebreitet lagen. »Und exquisit erhalten!«

Peter sah sich verwundert um. »Hier ist nirgendwo eine Aufsicht zu sehen, Kollegen.«

»Solche kleinen, lokalen Museen sparen sich bisweilen teures Personal und vertrauen auf die Redlichkeit und das Verantwortungsbewusstsein ihrer Besucher«, meinte Justus und wandte sich schon dem nächsten Exponat zu, einem ausgestorbenen Riesenfarn, dessen versteinerter Abdruck hinter Plexiglas bewundert werden konnte.

»Na ja«, sagte Peter, »wer klaut schon ein Mammut?«

Im nächsten Raum fanden sich seltene Steine, Kristalle und Erze. Von dort gelangte man in das ehemalige Kaminzimmer, wo an zwei rohen Ziegelwänden zahlreiche in Harz gegossene fossile Fundstücke hingen. Im angrenzenden Salon konnte man Käfer, Schmetterlinge und viele andere Insekten sowie gepresste Blumen und Blätter begutachten. Der größte Raum beherbergte indianische Relikte wie kunstvoll geflochtene Körbe und ein wunderschön bemaltes Kalumet.

»Kaluwas?«, wandte sich Peter an Justus. Der Zweite Detektiv hatte eine weich gepolsterte Bank gefunden und entspannte sich mit geschlossenen Augen.

»Kalumet, Friedenspfeife«, erklärte Justus nebenher, während er ein Schild las, das Sinn und Zweck eines kuppelartigen Zeltes aus Rindenstücken erklärte. »Die typische Behausung der Diegueño-Indianer«, murmelte er, »… einer der größten Stämme im Süden Kaliforniens… aßen Eicheln. Sehr interessant, sehr interessant.«

»Just«, rief Bob in diesem Moment aus dem benachbarten Raum, »komm mal! Ich hab was für dich.«

Der Erste Detektiv lief zu seinem Freund und sogar Peter verließ neugierig sein Sofa.

»Oh nein!« Justus starrte auf eine imposante Sammlung von in Formaldehyd eingelegten Tieren, unter denen sich zahlreiche Schlangen befanden. »Ich hasse Schlangen.«

»Die da sieht dich sogar an«, meinte Peter und zeigte auf eine gewaltige Klapperschlange. »Ich glaube, die spürt immer noch, dass du kein Freund ihrer Art bist.« Der Zweite Detektiv grinste.

Justus schluckte und wandte sich um. Nein, für Schlangen würde er sich in diesem Leben nicht mehr begeistern können.

Die drei??? hielten sich noch eine ganze Stunde in dem Museum auf, und da Peters Magen danach wieder einigermaßen mitspielte, konnten sie ihre Trekking-Tour fortsetzen. Am Ausgang bat eine alte Holzkiste um eine kleine Spende und Bob steckte einige Dollar-Scheine in den Schlitz. Zufällig fiel sein Blick dabei auf eine große Tafel, die über dem Kästchen hing und sofort sein Interesse weckte.

»Kollegen, seht euch das mal an.«

Justus und Peter kamen hinzu. Gemeinsam lasen sie, was auf dem vergilbten Blatt stand.

»Nicht gut«, meinte Peter verhalten, als er zum Ende gekommen war. »Whisper Valley, so nennt man die Gegend hier auch. Flüstertal. Gar nicht gut.«

»Jetzt bekommt auch der Name der Kneipe einen Sinn«, sagte Bob.

Justus nickte. »Die Carlson-Bande hat also hier im 19. Jahrhundert ihr Unwesen getrieben. Von der habe ich schon mal gehört. Zwei Brüder, die alles und jeden ausnahmen. Auf ihrer finalen Flucht vor dem Sheriff und seinen Leuten verschwanden sie dann jedoch spurlos in diesem Tal und wurden nie mehr gesehen.«

»Aber gehört.« Der Zweite Detektiv zeigte auf die Tafel. »Da steht’s: Etliche Menschen geben an, dass sie die Kerle haben flüstern hören.«

Der Erste Detektiv lächelte. »Solche Legenden und Mythen gehören zum Tourismus-Geschäft. Damit lockt man Besucher an und verschafft ihnen ein wohliges Gruseln, wenn sie durch die Wälder streifen. Aber du kannst dir ja ab jetzt die Ohren zuhalten, Zweiter.«

»Sehr witzig«, erwiderte Peter und dachte eine Sekunde lang über diese Möglichkeit nach.

Und eine Stunde später wünschte sich der Zweite Detektiv, dass er genau das getan hätte. Denn da waren Stimmen! Eindeutig! Seit gut zwanzig Minuten liefen sie jetzt durch diesen lichten Wald und vor fünf Minuten hatte er es zum ersten Mal gehört. Ein Wispern, ein gedämpftes Flüstern wie von einem Menschen, der große Schmerzen litt! Erst hatte er versucht, diese unheimlichen Geräusche zu ignorieren. Aber sie waren da, er hatte sie noch ein zweites und dann ein drittes Mal gehört. Und gerade war auch Bob zusammengezuckt.

»Du… hast es auch gehört, Dritter, nicht wahr?«, fragte er seinen Freund beklommen.

Der dritte Detektiv zögerte. »Du meinst…«, erwiderte er unsicher. »Das… kann alles Mögliche –«

Da! Wieder!

Lauter!

»Just! Bob!«, rief Peter beunruhigt. »Da ist was! Ihr müsst es doch gehört haben!«

Justus nickte langsam. »Du hast recht, Zweiter. Da hat jemand geflüstert.« Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Hallo? Ist da jemand? Brauchen Sie Hilfe?«

»Ob er Hilfe braucht?«, wunderte sich Peter. »Wir brauchen Hilfe!«

»Peter, das sind keine Geister, glaub mir. Es gibt sicher –«

»Von da!«, rief Bob und rannte los. »Das kam von da!«

Das Flüstern war durch eine Gruppe von wilden Fliedersträuchern gedrungen, die hier zwischen den hohen Platanen wuchsen. Ein heiseres Flüstern, das mal deutlicher und fast zu einer Stimme wurde, dann wieder abrupt abbrach. Die drei??? umrundeten die Sträucher in banger Erwartung dessen, was oder wer sich wohl dahinter befinden würde. Im Moment war nichts zu hören. Dann waren sie um die Büsche herum und blieben wie angewurzelt stehen.

Dort lag leblos ein Mann. Und neben ihm auf dem Waldboden ein langes, scharfes Messer.

Das Wesen im Wald

Bob machte einen Schritt nach vorn. »Mister?«

Der Mann rührte sich nicht. Es handelte sich um einen vielleicht sechzigjährigen Mexikaner, der flach auf dem Rücken lag und den Kopf zur Seite gedreht hatte. Justus beobachtete den Brustkorb. Nichts, keine Atembewegung.

Der Erste Detektiv ging näher heran. »Mister? Hallo! Alles in Ordnung?«

Peter hielt sich im Hintergrund. »Waren die Carlsons Mexikaner?« Er lugte vorsichtig an Justus vorbei.

»Mann, Kollegen, hoffentlich…« Bob streckte die Hand aus und fasste den Mann behutsam an der Schulter. »Mister, geht es Ihnen –«

Auf einmal zuckte der Fremde zusammen, richtete sich blitzartig auf und ließ einen erschrockenen Schrei los. Bob erschrak ebenfalls und schrie, Justus taumelte nach hinten und Peter erstarrte vor Schreck.

»¡Por Dios!« Der Mann drehte sich von den Jungen weg und sprang auf. »Wer ihr seid? Was ihr wollt?« Verängstigt starrte er sie an. Dann fiel sein Blick auf das Messer.

Justus hob beschwichtigend die Arme. »Keine Angst! Wir tun Ihnen nichts. Wir dachten nur, dass Ihnen etwas zugestoßen sei.«

»Mir? No.« Der Mexikaner schaute sich ängstlich im Wald um.

»Wir haben seltsame Geräusche gehört«, erklärte Bob. »Ein Flüstern und dann haben wir Sie am Boden…« Er hielt inne. Jetzt erst entdeckte er das kleine Taschenradio, das hinter dem Mann auf dem Boden gelegen hatte. Und aus diesem Radio drangen in ebenjenem Moment wieder Geräusche. Undeutliche, leise Stimmen. Im nächsten Augenblick hatte das Radio die Frequenz wieder verloren und verstummte. »Flüstern«, wiederholte der dritte Detektiv und zeigte auf das Radio. »Kollegen, da. Da haben wir unser Gespenst.«

Justus verdrehte die Augen und Peter atmete erleichtert auf.

»¿Fantasma?« Der Mexikaner erschrak und sah sich abermals um. »Wo ist der Gespenst? Wo?«

Der Erste Detektiv übernahm es, den Mann über das Missverständnis aufzuklären, und entschuldigte sich dafür, dass sie ihn aufgeweckt und erschreckt hatten. Zunächst war Guillermo – mit diesem Namen stellte er sich den Jungen vor – noch etwas zurückhaltend, aber dann entpuppte er sich als sehr freundlicher und zugänglicher Mann. Er habe sich nur ein wenig ausruhen wollen und sei dabei wohl kurz eingenickt.

»Darf nicht passieren«, sagte er wie zu sich selbst, »darf nicht passieren.« In seinen schwarzen Augen spiegelte sich noch immer eine ungreifbare Furcht. Dann sah er auf seine Uhr. »¡Ay! Ya es muy tarde. Jetzt ich muss weiter. ¡Adiós, muchachos!« Er winkte, drehte sich um und lief in den Wald.

»Señor! Ihr Messer!«, rief Bob.

Guillermo wandte sich um und schlug sich an die Stirn. »Ah, ich bin immer so vergesslich.« Er hob es auf und wollte wieder gehen.

»Und Ihr Radio«, ergänzte Peter lächelnd.

»¡Madre de Dios!« Guillermo strubbelte seine pechschwarzen, borstigen Haare und nahm auch das Radio mit. »Ein Tag ich werde vergessen meinen Kopf.«

In diesem Augenblick hallte ein schrecklicher Schrei durch den Wald. Der Schrei einer Frau.

Die drei Jungen und Guillermo zuckten zusammen.

»Miss Grace! ¡No!«, rief Guillermo entsetzt und rannte los. Die drei??? Detektive sahen sich eine Sekunde an und folgten ihm dann auf dem Fuß.

»Was ist da los?«, entfuhr es Peter.

»Keine Ahnung«, gab Bob zurück.

Die Frau namens Grace konnte nicht weit entfernt sein, der Schrei hatte recht nah geklungen. Und wenn es sich Justus recht überlegte, hatte sich der Schrei auch nicht so sehr nach einer Frau in Todesgefahr angehört, sondern vielmehr erschrocken und überrascht. Aber das würden sie ja gleich wissen.

Drei Minuten später fanden sie am Fuße einer Felswand neben einem großen Findling eine Frau und einen Mann. Die Frau mochte um die sechzig sein, hatte schlohweißes, langes Haar, das zu einem Pferdschwanz zusammengebunden war, trug beige Cargo-Hosen und ein Holzfällerhemd. Sie saß auf einem Steinbrocken, atmete tief und versuchte allem Anschein nach, sich zu beruhigen. Der Mann hingegen, etwa fünfunddreißig, groß, kurze, schwarze Stoppelhaare, gewaltige Ohren, lief aufgeregt hin und her und winkte Guillermo hektisch zu sich.

»Wo zum Henker bist du gewesen, Guillermo?« Der Adamsapfel des Mannes hüpfte nervös auf und ab. »Bist du wieder eingepennt oder was?«

»Ich, äh… äh, was ist passiert? Miss Grace? Haben sich Sie verletzt?« Guillermo kniete sich vor die Frau.

»Alles in Ordnung, Guillermo.« Die Frau hatte eine angenehm dunkle und weiche Stimme. »Nichts ist passiert.« Sie sah auf und blickte die drei Detektive überrascht an.

»Von wegen!« Der andere Mann blieb stehen und deutete die Felswand hinauf. »Du hast ihn doch gesehen, Grace. Da oben! Ganz deutlich!«

Die Jungen und Guillermo schauten die steinige Böschung hinauf. Felsen, Gestrüpp, Bäume, ein Spiel von Licht und Schatten.

»Wer war da?«, fragte Guillermo misstrauisch.

Die Frau nickte den drei Jungen zu. »Und wer bitte seid ihr?«

Die drei??? stellten sich vor und Justus erklärte der Frau in kurzen Worten, warum sie nun vor ihr standen. Dabei vermied er es jedoch zu erwähnen, dass sie Guillermo schlafend unter den Büschen vorgefunden hatten. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie das besser für sich behalten sollten, und ein dankbares Zwinkern von Guillermo bestätigte ihn in dieser Vermutung.

»Justus, Peter, Bob.« Die Frau stand auf und gab jedem von ihnen die Hand. »Freut mich. Ich bin Grace, Grace Powell, aber nennt mich bitte Grace.«

»Grace!« Der zweite Mann wartete offenbar immer noch auf eine Antwort. »Das war nicht nichts!«

Grace drehte sich um. »Stanley, das kann ein Tier gewesen sein, der Schatten eines Paragliders, die sich dahinten zu dutzenden von den Abhängen stürzen, meinetwegen auch ein Wanderer, der sich vor uns genauso erschrocken hat wie wir vor ihm.« Sie wandte sich wieder den Jungen zu. »Jungs, das ist Stanley Morgan, Stanley, Justus, Peter, Bob.«

»Guten Tag.« Die Jungen hoben die Hand oder nickten und Bob begutachtete dabei die Ausrüstung, die um Grace und Stanley verstreut am Boden lag: Drei große Rucksäcke, Landkarten, Grabwerkzeuge, Seile, Fernstecher, kleine Plastikdosen und Tütchen, sogar einen Koffer mit Reagenzgläsern und chemischen Substanzen entdeckte er. Das war keine normale Wanderung, die die beiden hier unternommen hatten. Beziehungsweise die drei, denn Guillermo gehörte ja offenbar auch irgendwie zu ihnen.

»Nein, Grace!«, entrüstete sich Stanley, ohne die Jungen eines Blickes zu würdigen. »Du hast den Kopf genauso gut gesehen wie ich. Sehr lang, spitz, große Ohren. Und die Tücher.«

»Langer Kopf? Spitzer Kopf? Große Ohren?« Guillermo wirkte auf einmal mehr als nur misstrauisch. Er war nahezu schockiert.

»Große Ohren hast du auch, Stanley.« Grace lächelte, aber Justus hatte den Eindruck, dass dieses Lächeln etwas Bemühtes, Gewolltes hatte.

Stanley stöhnte. »Ich glaub’s nicht! Da oben war er!« Er deutete noch einmal die Felswand hinauf. »Und hat zu uns heruntergestarrt.«

»Spitzer Kopf«, murmelte Guillermo. »¡Por Dios!«

»Ähm«, schaltete sich nun Peter ein, den allmählich ein mulmiges Gefühl beschlich. »Wenn ich fragen darf: Was war da oben? Oder wer?«

Grace winkte ab. »Vergesst es. Da war nichts.«

»Ein Wesen«, sagte Stanley und sah dabei unverwandt Grace an, »das es nicht geben kann, weil es schon lange nicht mehr existiert. Was aber offenbar nicht stimmt. Vielleicht, weil wir bisher falschlagen mit unserer Vermutung. Wir und der Rest der Wissenschaft. Oder weil dieses Wesen wieder… lebendig wurde. Gewissermaßen.«

Die drei??? blickten den Mann verwundert an. Was erzählte er da? Was meinte er?

»Wobei meiner Meinung nach genau Letzteres der Fall ist«, fuhr Stanley fort, der seinen Blick immer noch auf Grace geheftet hatte. »Grace! Die Tücher! Das ist doch eindeutig!«

»Fantasma«, flüsterte Guillermo, aus dessen Gesicht alle Farbe gewichen war.

»Unsinn.« Grace schüttelte den Kopf und wandte sich zu einem der Rucksäcke um. Aber beim ersten Schritt knickte sie ein und stöhnte schmerzvoll auf.

Bob war sofort bei ihr. »Sie sind verletzt!«

Grace rieb sich den Knöchel und verzog das Gesicht. »Ich habe mir wohl vorhin den Fuß vertreten, als ich mich… erschrocken habe.«

Stanley nickte wissend, sagte aber nichts.

»Sollen wir Ihnen helfen?«, bot sich Justus an. »Sie können unmöglich den schweren Rucksack tragen, wenn Ihr Fußgelenk nicht in Ordnung ist. Womöglich haben Sie sich die Bänder gezerrt. Wo müssen Sie hin?«

Grace überlegte einen Augenblick. »Am besten, wir machen für heute Schluss«, sagte sie zu Guillermo und Stanley. »Morgen ist auch noch ein Tag. Und ja«, sie blickte Justus an und lächelte, »es wäre sehr nett, wenn ihr uns helfen könntet. Mein Knöchel ist wohl tatsächlich etwas lädiert. Aber nur, wenn ihr Zeit habt und es euch keine Umstände bereitet!«