Die drei von der Risikogruppe - Ulrike Thomas - E-Book

Die drei von der Risikogruppe E-Book

Ulrike Thomas

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Beschreibung

Was zählt in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist? Im Mittelpunkt der Erzählung stehen drei Frauen im Alter zwischen 71 und 78 Jahren und deren Freundschaft, die vor dem Hintergrund der Pandemie an Tiefe gewinnt. Dabei verbindet die Autorin geschickt Fiktion und Realität. So unbekannt und unberechenbar wie das Virus erscheint Brigitte ihr überraschend aufgetauchter Sohn, den sie vor 59 Jahren geboren und danach nie wieder gesehen hat. Billy spürt nach dem Tod ihres Mannes die lebenslang unerfüllte Reiselust fast schmerzhaft. Wird sie Mittel und Wege finden, trotz Corona dem Alltag zu entfliehen? Den verordneten Stillstand empfindet die kulturaffine Leo als Diebstahl ihrer Lebenszeit, von der ihr vielleicht nur noch wenig bleibt. War es schon vor der Pandemie für die drei alleinlebenden Frauen nicht leicht, der lauernden Einsamkeit zu entkommen, so wird es unter den besonderen Umständen der Pandemie zu einer echten Herausforderung.

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Das Buch

Was zählt in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist?

Im Mittelpunkt der Erzählung stehen drei Frauen im Alter zwischen 71 und 78 Jahren und deren Freundschaft, die vor dem Hintergrund der Pandemie an Tiefe gewinnt. Dabei verbindet die Autorin geschickt Fiktion und Realität.

So unbekannt und unberechenbar wie das Virus erscheint Brigitte ihr überraschend aufgetauchter Sohn, den sie vor 59 Jahren geboren und danach nie wieder gesehen hat.

Billy spürt nach dem Tod ihres Mannes die lebenslang unerfüllte Reiselust fast schmerzhaft. Wird sie Mittel und Wege finden, trotz Corona dem Alltag zu entfliehen?

Den verordneten Stillstand empfindet die kulturaffine Leo als Diebstahl ihrer Lebenszeit, von der ihr vielleicht nur noch wenig bleibt.

War es schon vor der Pandemie für die drei alleinlebenden Frauen nicht leicht, der lauernden Einsamkeit zu entkommen, so wird es unter den besonderen Umständen der Pandemie zu einer echten Herausforderung.

Die Autorin

Ulrike Thomas, 1956 geboren, wuchs in Frankenthal in der Pfalz auf. Seit 1997 arbeitet die promovierte Diplom-Psychologin als Psychotherapeutin in eigener Praxis in Mannheim.

Schreiben ist für die Autorin Ausgleich und Ventil. Einfühlsam und um die Menschen hinter den Fassaden wissend haucht sie ihren vielschichtigen Charakteren Leben ein. Der vorliegende Roman ist ihr dritter.

Für alle Älteren und die,

die es werden wollen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

14. Februar – Heiter bis wolkig

Ende Februar – Die Krone

13. März – Hamsterkäufe

27. März – Absagen

Anfang April – Der Unbekannte

Ostern – Maskenpflicht

Ende April – Vorsichtige Öffnungen

Mai – Druck und Gegendruck

Erste Junihälfte – Neue Normalität

Zweite Junihälfte – Wo ist das Virus?

Erste Julihälfte – Spurensuche

Zweite Julihälfte – Vorsichtige Öffnung

Hochsommer – Neues Altes

Spätsommer – Altes Neues

Frühherbst – Aussprachen

Mitte Oktober – Risikogebiete

Ende Oktober – Ernte

November – Perspektiven schwinden

Dezember – Was am Ende bleibt

Vorwort

Sie kannte dieses Gefühl. Es hatte Phasen in ihrem Leben gegeben, in denen sie sich alleine fühlte, übriggeblieben und ihre Existenz ihr unnütz erschien. Diese Stimmungen hielten ein paar Tage an und schwemmten bald eine Welle von wunderbaren Ideen heran. Auch im Bewusstsein darüber, dass deren Umsetzung in ihrer Restlebenszeit niemals gelingen könnte, erfreuten und beflügelten sie alleine die Gedanken daran. Sie plante, schmückte aus, träumte. Und was ihr vor Tagen noch als Fluch erschienen war, erzeugte einen Energieschub, der sie auf Wolken aus ihrem Tief trug. Sie war ein freier Mensch und konnte tun und lassen, was und wann immer sie es wollte.

Aber nun war es anders, quälend in seiner Unausweichlichkeit. Was sie sich in den letzten Jahren mühsam aufgebaut hatte, verlor seine Wirksamkeit. Die verordneten Beschränkungen blockierten nicht nur ihre Vorhaben, sie erschwerten auch die damit verbundenen und so wichtigen sozialen Kontakte. In diesem Tief entstanden keine kreativen Ideen, jegliche Planung ging ins Leere. Unsicherheit, Angst, das Gefühl, kostbare Zeit zu verschwenden und zu verlieren, machte sich breit. Nicht die Angst vorm Tod war das Bedrückende, sondern diese Beklemmung im eingeengten Raum. Wie lange würden die Beschränkungen anhalten, wie groß war die Gefahr tatsächlich? Wo war das Licht am Ende des Tunnels? Gab es einen Ort, an dem man sich frei bewegen konnte, wann würde dieser Wahnsinn enden?

20. März 2020

Einleitung

War es fünfzehn oder sechzehn Jahre her? Sie hatten sich bei einem Sprachkurs für Menschen jenseits der 50 kennengelernt. Ihre rudimentären Italienischkenntnisse zu erweitern, war sicher nur eines der Bedürfnisse, die sie dort hin geführt hatten. Es galt, im täglichen Einerlei des Alltags eine Abwechslung zu schaffen, die anregend und sinnstiftend sein würde. Die Bekanntschaft von anderen Menschen zu machen, im besten Falle gleichgesinnter, dürfte ebenso ein Motiv gewesen sein. Wie meist in solchen Kursen waren Frauen deutlich in der Überzahl und der einen oder anderen stand die Suche nach einem männlichen Gegenüber ins Gesicht geschrieben. Wohl wissend um derlei Begierden, betonte der Kursleiter en passant, dass er in festen Händen und damit sehr zufrieden sei.

Nach vier Monaten war der Kurs zu Ende und drei der Frauen, zu Beginn eher zufällig, später absichtlich nebeneinander sitzend, verabredeten, sich privat weiter zu treffen. Trotz unterschiedlicher Hintergründe waren sie sich sympathisch. Vielleicht einte sie – neben dem gemeinsamen Wunsch, ihre sozialen Kontakte auszubauen –, ihre Bodenständigkeit.

Als sie sich kennenlernten, waren die drei noch berufstätig. Leonore, von ihrem Mann in Leo umgetauft, verdiente ihr Geld als Lehrerin. Brigitte war Erzieherin und Billy die Geschäftsfrau unter ihnen.

Jeden zweiten Freitagnachmittag trafen sich die drei Freundinnen seither in der Stadt zum »Babble«, wie man in Mannheim sagt, oder genauer, um all dem Ungesagten, das sich in den zwei Wochen angestaut hatte, Luft zu verschaffen.

14. Februar – Heiter bis wolkig

Obwohl erst Mitte Februar, wehte ein Hauch von Frühling durch die Innenstadt und lockte die Menschen ins Freie. Hier war es meist ein paar Grad wärmer als in den Vororten und an diesem Tag kam die bereits recht kräftige Sonne dazu. Auch Brigitte, Leo und Billy machten einen Spazier- oder eher Inspiziergang durch die Fußgängerzone.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, schimpfte Billy und zeigte auf den Boden.

»Das ist eine Sauerei!«, verstärkte Brigitte die Unmutsäußerung ihrer Vorrednerin.

»Das sollten die Schmutzfinken eigenhändig abkratzen müssen«, setzte Leo noch eins drauf. »30 Millionen hat das die Stadt, also uns gekostet und was sehe ich, nichts als fleckiges Grau.«

Brigitte bückte sich und griff mit ihrer kleinen Zange, die sie stets mit sich führte, ein weggeworfenes Papiertaschentuch auf und trug es zum nächsten Mülleimer, der allerdings auch schon überquoll.

»Da nützt die Zange nichts, das Zeug klebt für die Ewigkeit«, kommentierte Leo, mit Blick auf die dunklen Flecken auf dem neuen Pflaster, das Bemühen.

»Wenn mehr Menschen den Dreck aufheben würden, den andere hinterlassen, sähe es anders aus auf der Straße«, nahm Billy die Freundin in Schutz.

»Am allerbesten wäre es, wenn niemand seinen Dreck fallenlassen und vor allem keine Kaugummis auf den Boden spucken würde«, gab Leo ihren Senf dazu.

Tatsächlich waren nach der Renovierung der Fußgängerzone die Bußgelder für derlei Fehlverhalten drastisch erhöht worden, allerdings nicht das Personal, um den Passant*innen hinterher zu kontrollieren.

»Guckt euch das an, in den neuen Rosten um die Bäume herum, liegen schon wieder Massen von Kippen, und die zwei, die da sitzen und rauchen, haben auch keinen Aschenbecher dabei!«, deutete Billys Blick vorwurfsvoll nach links.

Trotz des schönen Wetters, das stimmungsaufhellend wirken sollte, schimpften die drei noch im Eiscafé über die Rücksichtslosigkeit ihrer Mitmenschen. Als sie gerade begonnen hatten, ihren Eisbecher zu löffeln, fuhr ein schwarzer BMW mit laut aufgedrehter Musik auf den Straßenbahngleisen vorbei. Menschen erschraken und drehten sich nach der Lärmquelle um. Manche schien es nicht zu stören, die anderen tauschten, nachdem das Auto verschwunden war, vielsagende Blicke aus.

»Unverschämtheit!«

Die drei Freundinnen waren sich einig in der Bewertung dieses Vorfalls.

»Wo ist der denn überhaupt rein gekommen, ich denke die haben die Fußgängerzone abgeriegelt?«, fragte Brigitte.

»Ganz kriegst du die ja nie zu, die Straßenbahn muss doch auch noch rein fahren können«, gab Leo zu bedenken.

»Da habe ich mir heute das Abendessen gespart«, verlieh bald darauf Billy ihrem Wohlbefinden Ausdruck.

»Die Eisbecher haben es in sich, sind aber auch gut«, äußerte Leo ihre Zufriedenheit.

Nach dem Genuss der Fett- und Zuckerbomben war der Ärger zugunsten von Verdauungsaktivitäten verschwunden.

»Man gönnt sich ja sonst nichts«, fasste Billy die allgemeine Stimmungslage zusammen.

»Zu gerne würde ich mit euch mal ein Eis in Italien essen«, träumte Brigitte, mit 74 Jahren noch topfit aber klamm im Portemonnaie, schwärmerisch von ihrem Sehnsuchtsland. Kinderlos und nie verheiratet, war sie lebenslang berufstätig gewesen, aber der Lohn für ihren Einsatz als Erzieherin nie üppig, und ihre Rente war es noch weniger. Große Sprünge konnten alle drei nicht machen. Leo, mit 78 Jahren die Älteste des Trios, verfügte zwar über eine halbwegs gute Pension aus ihrem früheren Job als Grundschullehrerin, aber die große Mietwohnung in der Oststadt, die sie partout nicht aufgeben wollte, war inzwischen so teuer, dass von ihrem schönen Geld kaum was übrig blieb. Und nach der Scheidung von ihrem Hans, dem notorischen Fremdgänger, hatte sie ihr gespartes Geld in weite Reisen investiert, um Abstand zu gewinnen, und nun waren die Reserven weg.

Die drei zahlten und machten sich auf den Weg Richtung Wasserturm, wo Brigitte ihr Fahrrad geparkt hatte.

»Steht da nicht das Auto von vorhin?«, traute Leo am Ende der Fußgängerzone ihren Augen kaum.

»Du hast Recht, das ist der BMW, und genau da abgestellt, wo die Stadt freundlicherweise Bänke zum Sitzen gruppiert hat«, bemerkte Billy und ging um das Fahrzeug herum. »Ihr werdet es nicht glauben, aber da steckt sogar der Schlüssel«, drückte sie den Knopf von der Fahrertür.

Ende Februar – Die Krone

Nebel war aufgezogen. Zunächst nur ein zartes Grau, das die Realität unwesentlich verschleierte, lag nun eine Ahnung in der Luft, die da und dort zur Vorsicht mahnte. Das Phänomen, das seit Dezember letzten Jahres weit entfernt in einer chinesischen Provinz die Menschen das Fürchten lehrte, und zu einer dramatischen Ausgangssperre geführt hatte, die aus der Ferne betrachtet gerne auch dem Geist des dortigen autoritären Regimes zugeschrieben und damit als übertrieben eingeordnet wurde, rückte näher. Schon Ende Januar war die erste Infektion eines Mitarbeiters eines chinesischen Automobilzulieferers in Bayern, der sich bei einer aus China angereisten Kollegin angesteckt hatte, bekannt geworden. Anfang Februar wurden die ersten Deutschen mit einem Bundeswehrflugzeug aus dem chinesischen Wuhan ausgeflogen und mussten sich, wenn sie als infiziert galten, ins Krankenhaus oder symptomlos in einer Bundeswehrkaserne in Quarantäne begeben. Bis dahin kamen die Meldungen fein dosiert und die Erkrankten als gut verpackte Päckchen daher. Doch Mitte Februar hatte sich das Virus bei einer Karnevalsveranstaltung in Nordrhein-Westfalen unkontrolliert verbreitet und auch aus Norditalien wurden dramatisch steigende Infektionszahlen gemeldet.

Angesichts der eigenen Probleme war die neuartige Lungenerkrankung, die die Weltgesundheitsorganisation »Covid-19«, also Coronaviruskrankheit 2019 genannt hatte, für das Trio nur am Rande Thema.

Unabhängig davon also lud Billy – mit 71 Jahren die Jüngste der Gruppe – die anderen beiden zur Lagebesprechung in ihr Haus nach Käfertal ein. Seit dem Tod ihres Mannes wohnte sie alleine in dem großen Anwesen, das früher ein Bauernhof gewesen war. Georg, der Verstorbene und sie hatten in jungen Jahren das Gehöft gekauft und erfolgreich zu einer hoch frequentierten Autowerkstatt umgebaut. Georg war ein guter Kraftfahrzeug-Mechaniker gewesen und Billy schmiss als gelernte Sekretärin das Büro. Zeitweise komplettierten in Büro und Werkstatt bis zu fünf Angestellte das bestens eingespielte Zweierteam.

Für Billy war es eine furchtbare Zeit schon während der Krankheit ihres Mannes gewesen, der langsam und elend an Lungenkrebs gestorben war. Sechs Jahre war das nun her. Die Witwe gab nach seinem Tod zwar das Geschäft auf, aber ihr Zuhause zu verkaufen, in das sie so viel Herzblut und Eigenarbeit gesteckt hatte, konnte sie sich – entgegen entsprechender Ratschläge von vermeintlich Besserwissenden – nicht durchringen. »Du hast doch keine Kinder, was willst du denn mit dem großen Besitz?« »Mache es dir doch leichter und verkaufe das Gelumps« und ähnlich lauteten die Kommentare. Ja, die Beziehung war kinderlos geblieben, das Geschäft war das Kind des Paares gewesen. Und seine Kinder verkauft man schließlich auch nicht.

Die drei Freundinnen saßen an dem großen Küchentisch, in dessen Mitte eine riesige Platte mit belegten Broten eskortiert wurde von zwei Flaschen Wein, einer roten und einer weißen.

»Nehmt euch, nehmt euch«, forderte die Gastgeberin auf.

»In der Zeitung stand absolut nichts«, ereiferte sich Brigitte.

»Du hast nur die hiesige Zeitung gelesen. Das Auto hat Ludwigshafener Kennzeichen, vielleicht stand was in der dortigen Lokalzeitschrift«, mutmaßte Billy.

»Und was machen wir nun?«, fragte Leo in die Runde.

»Fürs erste steht es gut«, versuchte Billy zu beruhigen. »Wollt ihr es sehen?«

Sie führte die Freundinnen in die Autohalle. Da stand es, schwarz und glänzend.

»Es ist schon ein schönes Auto«, bemerkte Brigitte.

»Das Auto sieht nicht nur gut aus, es fährt auch prima«, gab Billy, durch die Arbeit in der Werkstatt selbst in hohem Maße mit der Technik vertraut, das Ergebnis ihrer Überprüfung bekannt. »Sogar der Tank war noch fast voll, nur Autopapiere waren keine drin«, schloss sie ihren Bericht.

Leo, früher eine passionierte Autofahrerin, saß schon hinter dem Steuer. »Schade, dass ich meinen Führerschein abgegeben habe.«

Die drei gingen zurück in die Küche, aßen die Brote und tranken den Wein, nicht ohne immer und immer wieder die dramatischen Ereignisse Revue passieren zu lassen. Die Spekulationen darüber, wieso niemand das Fahrzeug vermisste oder es zumindest nicht offiziell suchte, schossen ins Kraut. War das Auto gestohlen, also schon bevor Billy es sich unter den Nagel gerissen hatte, oder der Fahrer gar in der kurzen Zeit verstorben, gab es andere Gründe für ihn, die Polizei zu meiden, war er ein gesuchter Verbrecher?

Keine Sekunde hatte Billy gezögert und das Auto gezündet. Eigentlich wollte sie nur ein paar Meter fahren und den Wagen um die Ecke verstecken, um dem Besitzer eine Lektion zu erteilen. Doch dann ging alles wie von selbst. Kaum war sie aus der Fußgängerzone raus, folgte das schnurrende Gefährt der Ringstraße und die Freundinnen verschwanden im Rückspiegel. Zunächst wollte sie nach einer Runde wieder zurück an den Ausgangspunkt. Doch mit wachsender Entfernung erschien ihr das zu riskant und sie lenkte den Wagen über die Friedrich-Ebert-Straße nach Käfertal. Ihr Handy summte auf dem Beifahrersitz. Das war bestimmt Leo, Brigitte verweigerte sich diesen Dingern ja.

Sie musste sich konzentrieren. Das Auto ließ sich gut fahren, aber der Geruch des aufdringlichen Männerparfüms irritierte sie. Das hatte einer großzügig auf sich und dem Lenkrad verteilt. Was er damit wohl verdecken wollte? Billy näherte sich ihrem Haus und überlegte kurz, ob sie den Wagen in den Wald fahren und erst nach Einbruch der Dunkelheit holen sollte, entschied sich aber für den bequemen Weg. Sollten die Nachbarn doch denken, was sie wollten.

Leo und Brigitte konnten das Verhalten ihrer Freundin kaum fassen. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, vermieden sie es, sich lauthals darüber zu unterhalten, guckten sich nur staunend an und setzten sich schließlich wartend und die Szenerie beobachtend auf eine der Bänke. Erfolglos versuchte Leo, Klarheit per Telefon zu schaffen. Weder der Besitzer des Autos noch Billy tauchten auf. Passant*innen schienen nichts bemerkt zu haben, alle gingen ihrer Wege. Nachdem mehr als eine halbe Stunde vergangen war, traten die Freundinnen den Heimweg an, das Stück die Augusta-Anlage entlang gingen sie gemeinsam, dann bog Leo nach links zu ihrer Luxuswohnung in der Oststadt ab und Brigitte nach rechts zu ihrer günstigeren Behausung in der Schwetzinger Vorstadt. Auf ihren jeweiligen Festnetzanrufbeantwortern fanden sie dann folgende Nachricht vor: »Hallo, hier Billy, ich bin mit meinem schwarzen Gefährten zuhause angekommen.«

Danach hatten die Telefone nicht still gestanden, zu groß war der Drang, sich auszutauschen über nagende Befürchtungen, gewagte Vermutungen, mögliche Probleme und deren abenteuerliche Lösungsansätze, den individuellen Persönlichkeiten entsprechend. Auch der Austausch von Emails – diese Technik nutzte auch Brigitte – florierte.

Obwohl die drei sich mehr als 15 Jahre kannten, waren Treffen im Privathaushalt die absolute Ausnahme gewesen. Sie wollten »keine Hockerei«, wie es Brigitte einmal formulierte, aber Grund für die Treffen »auf neutralem Boden« waren in erster Linie die häuslichen Hintergründe. Bewusst sollten die Ehemänner herausgehalten werden, schließlich musste auch über sie getratscht werden. Als es keine Ehemänner mehr gab, änderte sich an den Treffen nichts, weder an deren Rhythmus, noch an deren Orten. Sicher spielten dabei die unterschiedlichen Lebensverhältnisse eine Rolle. Brigitte hatte mit Abstand die kleinste Wohnung und das geringste Einkommen. Keine wollte die andere in Verlegenheit bringen. Keine sollte sich genötigt fühlen, die Wohnung herauszuputzen oder ein Gelage zu veranstalten. Am liebsten trafen sie sich in der Innenstadt, die für Billy mit öffentlichen Verkehrsmitteln genauso gut zu erreichen war, wie für Leo und Brigitte per Fahrrad oder zu Fuß. Ein beliebter Treffpunkt war vor allem bei kühlem oder feuchten Wetter das Drei-Etagen-Café, das vor ein paar Jahren den Betrieb einstellte. Dort hatten sie stets einen ruhigen Platz gefunden. Die Kettencafés waren nicht nach ihrem Geschmack, zu laut, zu eng. Bei warmem Wetter hatten die Eisdielen Saison, aber auch andere Lokalitäten mit Außengastronomie. Der Freitagnachmittag war ursprünglich die einzige Zeit, zu der alle drei Frauen frei hatten. Die Grundschullehrerin musste nicht in die Schule, die Geschäftsfrau machte um 14 Uhr Schluss und die Erzieherin nahm sich da ihren freien Nachmittag. Sie hatte es mit ihren unregelmäßigen Arbeitszeiten am schwersten, einen regelmäßigen Termin wahrzunehmen, aber letztlich konnte sie sich bei ihrer Chefin in der Kindertagesstätte – zumindest was den vierzehntägigen Freitagstermin anging – durchsetzen.

Endlich an Billys Küchentisch zusammensitzend, und gestärkt durch Speis und Trank, fühlten sich die drei sicherer und kamen ins Fantasieren.

»Meint ihr nicht, wir könnten den Karren verkaufen?«, fragte die ehemalige Lehrerin zum x-ten Mal.

»Klar, wenn du jemand findest, der ihn uns ohne Papiere abkauft«, kriegte sie es von der – im Handel mit Gebrauchtautos versierten – Ex-Chefin einer Autowerkstatt zum soundsovielten Mal zurück.

»Das klappt vielleicht im Ausland, von Polen hört man so was doch«, war ein weiterer wenig qualifizierter Vorschlag, den die einstige Erzieherin einbrachte.

Nachdem der Wein geleert war, bestand Einigkeit, zunächst etwas Gras über die Sache wachsen zu lassen und zwei Wochen später erneut zu beraten. Leicht angeheitert traten Leo und Brigitte per Straßenbahn den Heimweg an.

13. März – Hamsterkäufe

Ein Freitag der 13., der seinem Ruf alle Ehre machte! Die Lage spitzte sich zu. Vor zwei Tagen hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Ausbreitung des Coronavirus zur Pandemie erklärt. Es grassierte in über 100 Ländern. Am 12. März stürzte der DAX um mehr als 10 Prozent in die Tiefe. Als stünde ein langer schwerer Krieg bevor, hamsterten in Europa immer mehr Menschen Produkte, die ihr Überleben sichern sollten. Desinfektionsmittel, Toilettenpapier, Seife, Konserven, Nudeln, Mehl und Hefe waren die Renner und in vielen Läden ausverkauft!

Beim mittlerweile täglichen telefonischen Hin und Her nahm das Thema auch bei den drei Freundinnen breiteren Raum ein. Hamsterkäufe waren ihre Sache dessen ungeachtet nicht. Billy hatte ohnehin stets ein gut gefülltes Lager, Brigitte brauchte nicht viel, wie sie sagte, und Leo sah das Ganze gelassen. Schon zum zweiten Mal trafen die drei Frauen sich bei Billy, hauptsächlich aus Gründen, die mit dem schwarzen Vehikel in deren Garage zusammenhingen. Niemand durfte Wind davon bekommen. Die drei hatten sich geschworen, keine Silbe darüber in der Öffentlichkeit oder gegenüber anderen Ohren fallen zu lassen. Billy plagte ihr schlechtes Gewissen ganz furchtbar. Was hatte sie mit ihrer Spontanaktion nur sich und den Freundinnen eingebrockt? Falls sie auffliegen sollte, würde sie natürlich die Verantwortung übernehmen. Der Wagen musste so schnell wie möglich weg. Und die drei hatten dazu eine Idee, die sie heute konkretisieren wollten.

Die Stimmung war angespannt, aber nicht schlecht, schließlich wirkte das in Aussicht stehende gemeinsame Abenteuer ausgesprochen belebend.

»Meint ihr, wir schaffen es, in zwei Wochen los zu fahren?«, fragte Billy, die den meisten Druck hatte, in die Runde.

»Für mich ist das kein Problem, von mir aus können wir morgen starten«, war Brigittes Meinung.

»Ich brauche noch ein paar Tage, um verschiedenes zu regeln«, bremste Leo.

»Hoffentlich kommt uns dieses Virus nicht in die Quere«, gab Brigitte zu bedenken.

»Hast du Angst, dich anzustecken, oder was meinst du?«, fragte Billy nach.

»Das weniger, aber die Lage scheint ernster zu sein, als noch vor Tagen angenommen. Man hört von ersten Grenzschließungen, Großveranstaltungen dürfen nicht mehr stattfinden und vor allem Norditalien hat es schwer erwischt. Flüge sollen gestrichen worden sein und manche europäische Staaten überlegen, keine Deutschen mehr ins Land zu lassen«, erklärte Brigitte ihre Bedenken.

»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Die können doch nicht innerhalb der EU die Leute am Reisen hindern«, beschwichtigte Billy.

»Ich fürchte, wir sollten die Lage genau beobachten und kein Risiko eingehen. Schließlich hätten wir ein gestohlenes Auto unter dem Hintern«, setzte Leo nach.

»Da hast du natürlich Recht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals an der Grenze nach den Autopapieren gefragt worden zu sein, seit es die EU gibt, aber das ist in der Tat unsere große Schwachstelle«, lenkte Billy ein.

Trotz des guten Essens – heute komplettierten Leo und Brigitte mit Köstlichkeiten zum Nachtisch Billys Mahl – beschlich die drei ein mulmiges Gefühl, was noch verstärkt wurde, nachdem sie erst im zweiten und dann im ersten Programm die Nachrichten geguckt hatten. Corona bestimmte das Geschehen. Die Topthemen der letzten Monate waren perdu. Weder die Machtkämpfe innerhalb der Parteien noch der Klimaschutz schafften es in die Berichterstattung. Stattdessen übertrumpften sich die Sender mit Horrormeldungen über hohe Zahlen von Coronatoten und massiven drohenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Europäische Länder schlossen ihre Grenzen.

In der anschließenden Diskussion waren sich die drei Freundinnen alles andere als einig. Leo hielt das alles für Panikmache und überzogen und sah die Lobbyisten der Pharmaindustrie am Werk, die mit einem Impfstoff satte Gewinne machen wollten. Brigitte begann, sich Sorgen um die eigene Gesundheit zu machen. Und Billy befürchtete, ihr anderes Problem auf absehbare Zeit nicht lösen zu können. Die Italienreise, die sich nicht nur als Rettung in Sachen Peter – so hatten sie den BMW aus Geheimhaltungsgründen inzwischen getauft – sondern auch als lustvolle gemeinsame Aktion erweisen sollte, war gestorben.

27. März – Absagen

Die Lage war ernst. Deutschland befand sich in einem »Lockdown«. Eine Ausgangssperre, wie in etlichen anderen europäischen Ländern, wurde nicht verhängt, aber die Einschränkungen waren enorm. Es wurde ein Zusammenbrechen des Gesundheitssystems wie in Teilen Italiens, Frankreichs und New Yorks befürchtet. Keine Veranstaltungen mehr, Schulen, Kindergärten, Volkshochschulen, Sporthallen, Geschäfte, Lokale geschlossen, das öffentliche Leben völlig eingestellt. Das Private hatte an Wichtigkeit verloren, Planungen waren obsolet. Sogar das Treffen der drei Freundinnen stand akut in Gefahr. Draußen durften – mit Ausnahme von Familien – nur noch zwei Personen zusammen unterwegs sein. Und das wurde kontrolliert. Es gab einen Bußgeldkatalog und Streifen patrouillierten. Mit der wachsenden Angst vor Ansteckung breitete sich Blockwartverhalten aus. Angesichts der beträchtlichen Unklarheiten fielen Verschwörungsmythen über Herkunft und Sinn der Pandemie auf einen fruchtbaren Boden. Die meisten Menschen hielten sich an die Verordnungen der Regierung.

Das Trio war gewillt, sein Treffen trotz aller Appelle, zuhause zu bleiben, zu retten. Bekanntermaßen hatten sie daheim keinen Partner, mit dem sie sich zurückziehen und es sich gemütlich machen konnten, wie viele Paare es taten. Und alle anderen Möglichkeiten, die drohende Einsamkeit zu verhindern, waren abgesagt, verboten, ausgeschlossen. Die Angst vor Ansteckung grassierte überall. Das Misstrauen Fremden gegenüber wuchs, manche Menschen vermieden es außerhalb der Wohnung zu sprechen oder hielten in geschlossenen Räumen – z. B. im Laden an der Kasse – die Luft an. Die drei Freundinnen beschlossen, sich nicht vereinzeln zu lassen. Billys Haus hatte sich als konspirative Lokalität bewährt und sollte weiter als solche genutzt werden.

Leo telefonierte mit Billy. Brigitte hatte abgesagt.

»Was ist los mit ihr? Sie meldet sich nicht. Aus ihrer dürren E-Mail lässt sich nichts erkennen. Hast du mit ihr gesprochen?«, richtete sie ihre Sorgen an die Freundin.

»Ich habe mehrfach versucht, sie telefonisch zu erreichen. Mehr als ihre Mail von gestern habe ich auch nicht. Meine Nachfrage hat sie nicht beantwortet. Wenn es ihr nicht gut ginge, könnte sie es doch sagen. Ich komme trotzdem, oder was meinst du?«

»Na klar, vielleicht kannst du auf dem Weg zu mir bei ihr klingeln, ich mache mir ernsthaft Sorgen.«

Nachdem der Straßenbahnfahrplan erheblich ausgedünnt war, nahm Leo das Fahrrad. Schon auf dem Heimweg vor vierzehn Tagen fuhren die Bahnen nicht mehr regelmäßig und Leo und Brigitte waren lange unterwegs gewesen, bis sie in ihre Betten fallen konnten. Das Wetter war nach wie vor gut und Bewegung schadete nichts.

Die beiden Frauen umarmten sich herzlich und kamen sich dabei vor, als hätten sie eine Straftat begangen, so sehr wurde das »social distancing« propagiert. »Abstand halten« schien das Gebot der Stunde zu sein.

»Brigitte ist nicht da oder macht nicht auf. Ich habe Sturm geklingelt, bis sich ihre Nachbarin über den »Lärm« beschwert hat. Sie wusste auch nicht, ob sie da ist. Das spricht allerdings eher dafür, dass sie nicht da ist, sind doch die Häuser so hellhörig, dass man es mitbekommt, wenn sich jemand in der Nachbarwohnung aufhält«, berichtete Leo.

»Das Haus ist Vorkriegsware und sehr solide gebaut. Waren ihre Rollläden offen?«

»Ja, und das Badfenster gekippt.«

»Dann ist sie zuhause. Sie lässt nie ein Fenster offen, wenn sie das Haus verlässt.«

Billy ging zum Telefon und wählte Brigittes Nummer.

»Ja«, meldete sich Brigitte nach einer gefühlten Ewigkeit mit dünner Stimme.

»Was ist los mit dir, wir machen uns Sorgen.«

»Es ist was passiert, das ich erst verdauen muss. Ich will euch nicht mit meinen Problemen belasten.«

»Bist du meschugge, uns nicht mit deinen Problemen belasten, was ist denn das für ein Quatsch, für was ist Freundschaft da, du blöde Kuh«, entfuhr es Billy in einer Mischung aus Erleichterung und Empörung.

»Setz' dich aufs Rad und komm her«, machte Leo, die mithörte, eine klare Ansage.

»Seid mir nicht böse, mir ist heute nicht danach«, erwiderte Brigitte kleinlaut.

»Was ist denn los, geht es dir nicht gut?«, versuchte Billy die Freundin aus der Reserve zu locken.

»Lasst mir ein wenig Zeit, ich muss nachdenken. Ich melde mich. Versprochen. Euch einen schönen Abend.«

Mehr war Brigitte nicht zu entlocken. Leo und Billy waren ratlos. Wieso machte Brigitte so ein Geheimnis um ihr Befinden?

»Sie wird doch nicht an Corona erkrankt sein?«, fragte Billy die Freundin.

»Ach was, vielleicht nimmt sie die Empfehlungen sehr ernst und ängstigt sich. Wir Alte werden ja neuerdings als Risikogruppe gesehen und sollen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden.«

»So gefährlich empfinde ich uns gar nicht«, bemerkte Billy grinsend.

»Entschuldige, aber du hast vor kurzem ein Auto geklaut. Das hätte ich dir vorher auch nicht zugetraut«, witzelte Leo und ergänzte dann ernst: »Wie wenig wir doch voneinander wissen.«

Leo hatte Recht. Die drei hatten sich all die Jahre ausführlich unterhalten, aber eher über Belanglosigkeiten, oder Dinge, die sie nicht persönlich tangierten. Wie viel leichter war es, sich über den Schmutz in der Fußgängerzone zu echauffieren als über die Verletzungen, die unter die eigene Haut gingen. Wie oberflächlich ihre Gespräche gewesen waren. Als Billys Mann so schwer erkrankt war, hatte sie über seine Schmerzen geredet, aber was war mit ihren eigenen? Nach seinem Tod hatte sie sich in die Arbeit gestürzt, die Werkstatt abgewickelt, das Haus renoviert und sich von den Menschen in ihrem Umfeld – auch von den beiden Freundinnen – für ihren Tatendrang bewundern lassen. Das Fehlen ihres Gefährten, ihre Einsamkeit hatte sie mit sich selbst ausgemacht, genauso wie die Probleme in ihrer langjährigen Beziehung. Niemand wusste, wie schwierig Georg schon vor seiner Erkrankung gewesen war. Seine Stimmungsschwankungen, seine Unzufriedenheit, sein depressiver Rückzug, den er antrat, wenn er wieder einmal an sich und der Welt verzweifelte, das alles deckte Billy nach außen ab. Über ihre seelischen Zustände redete sie nicht.

»Ja, das ist schon traurig. Was muss passiert sein, dass Brigitte glaubt, uns ihre Probleme verschweigen zu müssen? Schämt sie sich für etwas?«

»Ich finde es schade, dass sie nicht kommt, aber noch mehr, dass sie so wenig Vertrauen in unsere Freundschaft hat. Gerade in dieser merkwürdigen Zeit ist der Austausch doch so wichtig. Jedenfalls geht es mir so. Ich empfinde das alles als reichlich surreal. War unser Vorhaben, mit einem gestohlenen Auto nach Italien zu verreisen schon mehr als gewagt, ist dieses Schließen unserer Gesellschaft einfach absurd, oder was meinst du?«

»Mir geht es ähnlich, ich kann es nicht wirklich begreifen, und ich frage mich, ob Brigitte außer uns jemanden hat, mit dem sie reden könnte. Genaugenommen weiß ich nicht viel über sie. Sie hat irgendwann von ehemaligen Kolleginnen erzählt, die sie ab und an trifft. In der Pfalz hat sie noch Verwandte. Über die hat sie aber auch wenig gesprochen. Ich erinnere mich, dass sie aus einem kleinen Kaff kommt, dem sie aber schon als Jugendliche den Rücken gekehrt hat.«

»Ja, sie hat ihre Ausbildung zur Erzieherin in Mannheim gemacht«, überlegte Billy laut.

»Soweit ich weiß, hat sie damals schon in Mannheim gewohnt. Was sie früher privat gemacht hat, weiß ich aber nicht wirklich. Ob sie eine Beziehung zu einem Mann hatte?«

»Na ja, verheiratet war sie nicht, vielleicht hatte sie einen Freund? Keine Ahnung, sie hat wohl immer alleine gelebt.«

»Wie wenig wir von ihr wissen«, sinnierte Leo.

»Schon merkwürdig, was wir in all den Jahren in unserem Frauenclub getrieben haben. Besonders tiefgründig waren unsere Gespräche selten. Ich muss gestehen, dass ich euch gegenüber auch nicht oft ausgesprochen habe, was mich belastet hat. Ihr habt allerdings auch nicht nachgefragt.«

»Nein, wir haben die schwierigen Themen vermieden. Wie beschissen es mir mit den Eskapaden meines Exgatten ging, habe ich euch höchstens auszugsweise anvertraut. Ich wollte stark wirken, auch euch gegenüber. Geheult habe ich alleine im stillen Kämmerlein.«

Sie schwiegen eine Weile und wechselten dann zu den unverfänglicheren Themen. Corona, Corona und nochmals Corona. Oder Leo erzählte von ihren Reisen und Billy Anekdoten aus ihrer Autowerkstatt. Peter erwähnte sie am Rande. Er stand sicher und fraß kein Brot, wie ihre Mutter zu sagen pflegte. Die Sorge um Brigitte blendeten sie aus. Es wurde ein langer Abend. Als Leo wiederholt die Augen zufielen, wobei sie betonte, nicht zu schlafen, bot Billy ihr das Gästezimmer an, das sie ohne Gegenwehr annahm. Noch eine Premiere.

Anfang April – Der Unbekannte

Strahlend blauer Himmel, Sonnenschein. Straßen ohne Autos, wenige Menschen unterwegs, die meisten zu Fuß oder mit dem Rad. Ungewohnte Ruhe lag über der Stadt, merkwürdige Postkartenidylle. Die Zahl der gemeldeten an Corona Erkrankten lag in Deutschland um die 80.000, über 1000 waren mit dem Virus verstorben. Häufungen von Infektionen gab es in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Wer wen dort angesteckt hatte, war unklar. Klar war, nichts war, wie es war.

Brigitte saß am Küchentisch in ihrer gemütlichen kleinen Wohnung und grübelte. Seit Stunden stand das karge Frühstücksbrötchen angebissen vor ihr. Die Käsescheibe schwitzte. Es war warm, fast sommerlich. Die Nachbarschaft drehte immer noch die Heizung auf. Sie selbst konnte dadurch Nebenkosten sparen. Boden und Wände des alten Mietshauses gaben genug Wärme ab. Nach draußen zu gehen, machte ihr Angst. Und, er hatte es ihr verboten. Nur Eier und Brot hatte sie sich im Laden um die Ecke besorgt, die Vorräte sollten reichen. Sie hatte eh keinen Hunger, ihr Magen war wie zugeschnürt. Wenn sie so weiter machte, würde sie noch magerer werden. Wie egal ihr das war. Dass sie den Freundinnen nicht die Wahrheit gesagt hatte, tat ihr leid. Verschweigen war doch auch nicht feiner als Lügen. Wie gerne hätte sie sich das Erlebte von der Seele geredet, aber es war so lange her. Sie hatte geglaubt, Vergessen wäre der beste Weg. Tatsächlich waren die Farben des Verdrängten mit den Jahren verblasst. Sie dachte nur noch selten daran. Es war, als wäre es gar nicht ihr passiert. Es fühlte sich an, wie ein im Fernsehen vor langer Zeit gesehener Krimi, die Hauptdarsteller im Dunst verborgen und ihre Namen unbekannt. Nichts als Selbstbetrug, eine der Mitwirkenden war sie selbst gewesen.

Da war er plötzlich, leibhaftig und wie aus dem Nichts. Wie wichtig es ihm gewesen war, sie zu finden. Wie viel Mühe er sich gegeben hatte, um ihre Adresse aufzuspüren. Seine Stimme am Telefon klang fremd, aber unangenehm war ihr sein Anruf nicht gewesen. Das Interesse an ihrer Person schmeichelte ihr, ihr, die nie wichtig sein wollte. Am besten nicht gesehen werden. Er wollte sie sehen und mit ihr reden. Wie einfach und selbstverständlich das im Beruf gewesen war. Da hatte sie mit einer Mischung aus Empathie und professioneller Distanz kein Thema vermieden und sei es noch so intim oder dramatisch gewesen. Und ihr Klientel, die Eltern ihrer Kinder, hatte definitiv jeden Schlamassel mitgebracht, den man sich vorstellen konnte.

Privat hatte sie Gespräche mit Männern, überhaupt den Kontakt zu ihnen, gemieden. Sie wollte ihnen nicht zu nahe kommen, die Schmeichler verursachten ihr Unbehagen. »Lass' mich mit deinen Komplimenten in Ruhe, ich weiß was du willst«, dachte sie in solchen Situationen. In jungen Jahren hatte sie gelernt, auf sich aufzupassen, hatte es lernen müssen. Immer wieder gab es brenzlige Begebenheiten, in denen ihr »Nein« als Aufforderung verstanden wurde. Sie hasste diese Blicke. Nicht der pfeifende Arbeiter auf der Baustelle war das Problem, eher der Kollege oder gute Bekannte, der Freund einer Freundin, jeder der im Umfeld übergriffig werden konnte. Sie hatte sich angewöhnt, sich sehr unauffällig zu kleiden in dunklen, gedeckten Farben, nie schminkte sie sich. Auch die Haare hatten stets den gleichen Schnitt, halblang und meist zum Minipferdeschwanz gebunden, war auch praktischer. Als sich die ersten Grauen zeigten, ließ sie sie – obwohl sie häufiger als ihr lieb war, den mehr oder weniger dezenten Hinweis erhielt, ein wenig Farbe würde ihr gut stehen – wie sie waren. So wurde sie langsam aber sicher auch optisch die graue Maus, die sie sein wollte. Und sie hatte sich eingerichtet in ihrer Welt ohne diese spezielle Verbundenheit mit einem Mann, dieses Gefühl, das unter dem Begriff »Liebe« die ganze Gesellschaft beherrschte. Kein Buch, kein Film, keine Werbung kam ohne diese Verheißung des perfekten Glücks aus. Und sie lebte in der festen Überzeugung – die sie angesichts all der zerrütteten Beziehungen in ihrem Umfeld regelmäßig bestätigt sah –, dass es ihr an nichts fehlte. Bis vor etwa 15 Jahren. Gerade war sie 60 geworden, als sie schmerzhaft Sehnsucht nach dem verspürte, was alle anderen hatten oder zumindest anstrebten. Sie wusste nicht, wie sie einen passenden Partner finden sollte. In ihrem Beruf hatten Männer Seltenheitswert, wenn man von den wenigen Erziehern absah, die selten lange blieben. Jeder Kollege, der was auf sich hielt, bewarb sich auf eine Leitungsstelle und bekam sie auch. Die Kolleginnen waren weniger an Karriere interessiert. Die meisten trauten sich den Leitungsposten – so wie sie selbst auch – nicht zu. Sich in amouröser Absicht an die Chefs heranzumachen, war genauso indiskutabel, wie an die Väter der von ihr betreuten Kinder, nicht einmal an die wenigen alleinerziehenden. Aber sie musste aktiv werden, bevor dieses bohrende Verlangen nach dieser Art Zweisamkeit sie zu zerfressen drohte. So versuchte sie es in 50+-Kursen, die zu der Zeit in Mode kamen. Seniorinnen und Senioren wurden als Zielgruppe entdeckt. Schnell verstand Brigitte, dass sie nicht die einzige Suchende war. Ob bei Kreativkursen oder Reisen, beim Sport oder bei geselligen Angeboten für die »reifere Jugend« waren Männer wie in ihrem Beruf Mangelware. Und die wenigen, die auftauchten, waren vollkommen inakzeptabel. Entweder waren sie psychisch angeschlagen oder wollten versorgt werden, sprich, sie suchten eine Köchin, Putz- und Waschfrau, die aber dennoch schlank, jünger und attraktiv sein sollte, während sie selbst ihren stattlichen Bauch voller Stolz vor sich hertrugen. Nein, zu dieser Rolle hatte sie keine Lust. Statt einen Partner fand sie Spaß am Lernen und landete schließlich in dem Italienischkurs, in dem sie Leo und Billy kennenlernte, die damals noch mit ihren Männern zusammenlebten.

Die Freundinnen würden nicht locker lassen. Sie musste sich ihren Fragen stellen. Ein paar Tage noch wollte sie warten. Erst mit ihm reden. Sollte sie ihn in ihrer Wohnung empfangen? Das Draußen erschien ihr gefährlicher und vor allem vertrackter. Ausgerechnet jetzt. Sie hätte sich mit ihm in einem Café treffen können, ging nicht. Auch im Park wäre gut gewesen. Die Parks waren geschlossen. Er wollte sich heute melden.

Auch ihn hatte sie um Bedenkzeit gebeten. Sie spürte, er würde sich nicht abschütteln lassen.

Leo und Billy gluckten schon wieder zusammen. Sie machten sich Sorgen um die Freundin und um sich selbst. Würden sie nun alle drei an diesem Virus sterben, qualvoll im Beatmungsgerät auf dem Bauch liegend ersticken? Die Bilder im Fernsehen waren beängstigend. Während in der chinesischen Stadt Wuhan die Abschottung gelockert wurde, überschlugen sich in Deutschland Politik und Wissenschaft mit Vorschlägen zu Vermeidungsstrategien. Virologen und seltener Virologinnen wurden in Talkshows wie göttliche Prophet*innen präsentiert. Die Seuche war allgegenwärtig.

Billy und Leo fühlten sich zwar relativ wohl in ihrer kleinen Schicksalsgemeinschaft, aber ihre Gespräche kreisten im Großen und Ganzen um das Eine. Während Leo nach wie vor skeptisch war, ob die Horrormeldungen nicht Übertreibungen waren, war Billy zur kompletten Anpassung übergegangen und ermahnte die Freundin, wenn diese die verordneten Maßnahmen ein wenig lockerer sah.

»Ich bin 78 Jahre alt, was soll mir noch passieren. Wo soll ich mich denn infizieren, ich bewege mich doch nur noch zwischen meiner und deiner Wohnung?«, diskutierte die Ältere.

»Du gehst einkaufen. Und wenn du mit dem Fahrrad zu mir fährst, halten nicht alle den nötigen Abstand zu dir. Du stehst an der Ampel und alle anderen auch. Das Zeug kommt über den Atem«, erklärte Billy zum wiederholten Mal.

»Soll ich etwa aufhören, Luft einzuatmen, das könnte auch tödlich sein«, witzelte Leo. »Ich bin bloß froh, dass sie bis jetzt noch keine Maskenpflicht eingeführt haben, das wäre noch unangenehmer. Auf jeden Fall ist es sehr ungesund, sich nur noch in den eigenen vier Wänden aufzuhalten, wie es so viele unserer Altersgenossinnen tun. Da fällt einer doch die Decke auf den Kopf. Depressiv will ich nicht werden und verbieten lasse ich mir auch nichts, eher scheide ich freiwillig aus dem Leben«, bemerkte sie trotzig.

Es war Mittagszeit und die beiden Frauen saßen im Freien am großen Tisch unterm Sonnenschirm. Die riesigen Blumenkübel mit Oleander, Palmen und Zitruspflanzen zauberten ein mediterranes Ambiente in den Innenhof des Anwesens. Auch schon zu Werkstattzeiten war es Billy ein Anliegen gewesen, einen Gegenpol zu schaffen, der für Kundschaft und Personal das Kalte und Schmutzige des Reparaturbetriebs ein wenig kaschierte. In der Zwischenzeit waren die Pflanzen dank des Klimawandels und der Pflege Billys riesig geworden. Im Frühjahr pflanzte sie wie jedes Jahr ein paar bunte Blüten dazwischen, die die Lücken schließen sollten. In diesem Jahr stand sie wie viele andere auch, geduldig in langen Schlangen vorm Eingang des Gartencenters, bis sie ihre schönen Lieblinge aussuchen konnte. Das Angebot war riesig und verführerisch. Langeweile aufgrund von Kurzarbeit und fehlender Alternativen trieb die Blumenliebhaber und Hobbygärtnerinnen in Massen zu den Baumärkten und Gärtnereien, die mit den Lebensmittelgeschäften die Ausnahme im Schließkonzert bilden.

Brigitte telefonierte. Er wollte heute noch vorbeikommen und drängte sie, es ihm zu erlauben. Schließlich willigte sie ein. »Ich muss es hinter mich bringen«, dachte sie bei sich. Sie kochte Kaffee und schüttete ein paar Kekse aus der Tüte in die Schüssel. Das sollte genügen.

Leo fuhr nach Hause und Billy begleitete sie. Auf dem Weg wollten sie die Freundin, die sich bis auf ein kurzes Telefonat, in dem sie nochmals darum bat, ihr ein wenig Zeit zum Rückzug zu gönnen, rar machte, überraschen. Die Fahrradwege waren gut frequentiert. Im Gegensatz zu sonst war der Autoverkehr auf der doppelspurigen Straße ziemlich überschaubar. Billy, die nicht regelmäßig Fahrrad fuhr, und wenn, dann eher auf Radwegen abseits von Autostraßen, war froh darum. »So lässt es sich aushalten. Die Luft ist viel sauberer als sonst. Die Disziplin der Radfahrenden ist allerdings ausbaubar. Dass die auf dem schmalen Weg in beide Richtungen fahren, nervt.«

»Da hast du Recht. Das ist in der ganzen Stadt so. Viele halten sich nicht an die Verkehrsregeln.«

Sie klingelten an Brigittes Haustür, mehrfach. Die Freundin öffnete nicht. Als ein Bewohner das Haus verließ, schlüpften die beiden hinein und gingen leise die Treppe hoch. Vor Brigittes Tür lauschten sie. Es klang, als würden sich eine Frau und ein Mann leise unterhalten. Sie klopften an die Tür, klingelten erneut und riefen Brigittes Namen. Nichts regte sich, aber das Gespräch verstummte. Schließlich verließen Leo und Billy unverrichteter Dinge das Haus.

»Hast du auch Stimmen gehört in der Wohnung?«, fragte Leo.

»Du weißt ja, dass ich etwas schwerhörig bin, aber es klang nach Brigitte und einer Männerstimme. Sicher bin ich mir allerdings nicht. Es könnte auch in der Nachbarwohnung gewesen sein«, mutmaßte Billy.

»Ich bin mir ganz sicher. Warum sonst hätte das Gespräch abbrechen sollen, als wir geklingelt haben. Unsere liebe Brigitte hat Männerbesuch und wir sind abgemeldet, so sieht's aus«, beschwerte sich Leo.

Als die Freundinnen Sturm klingelten, ordnete Brigitte die Blumen in der Vase, die er mitgebracht hatte, ein bunter Strauß Wiesenblumen, nicht selbst gepflückt, wie er betonte. Mehr als höfliche Begrüßungsfloskeln hatten sie nicht ausgetauscht. Jetzt bat sie ihn, leise zu sprechen. Sie konnte die Freundinnen unmöglich hereinbitten. Als das Klingeln, Rufen und Klopfen aufgehört hatte, und sich die Schritte im Treppenhaus nach unten bewegten, saß er ihr gegenüber am Küchentisch, genauso unsicher und nervös wie sie. Über was sollten sie reden?

Er war ein gutaussehender Mann, seine fast 60 Jahre sah man ihm nicht an. Sein Haar war dunkelbraun wie das ihre auch gewesen war. Die wenigen weißen Fäden zeigten, dass er nicht mit Farbe nachgeholfen hatte. Sein Kleidungsstil gefiel ihr, sportlich, leger und gepflegt. Abgesehen von einem kleinen Bäuchlein war er schlank, sein Gesicht glatt rasiert. Groß war er nicht. Fasziniert blickte sie in seine schönen dunklen Augen.

Sie sollte ihn fragen, wie es ihm ergangen war. Aber wo anfangen mit all dem schlechten Gewissen? Was erwartete er von ihr? Erwartete sie etwas von ihm?

Ostern – Maskenpflicht

Der Papst musste seinen Segen »Urbi et orbi« vor einem leeren Petersplatz spenden. Die Menschen versammelten sich nicht mehr. In Italien herrschte Ausgangssperre. In Deutschland wurde stakkatoartig »Bleiben Sie zu Hause« an die Bevölkerung appelliert. Nur zwei Personen aus verschiedenen Haushalten durften sich im Freien treffen. Und weiterhin hielten die meisten sich daran. Nicht nur die Kirchen boten ihre Dienste online an, auch Künstler*innen aller Art versuchten auf diesem Wege aktiv und ihrem Publikum in Erinnerung zu bleiben. Selbst Schulunterricht wurde per Internet an die Kinder und Jugendlichen geschickt, die zu Hause von den Eltern, die im Homeoffice arbeiteten, betreut werden mussten. Wohl denjenigen, die über die nötige Infrastruktur verfügten und sie bedienen konnten. Das waren längst nicht alle. Vor allem Kinder aus armen Familien und etliche alte Menschen waren diesbezüglich abgehängt. Zum Schutz vor Ansteckung waren Pflegeheime gänzlich abgeschottet. Niemand – mit Ausnahme der Angestellten – durfte hinein und die Bewohner*innen nicht raus. Ein Großteil der Bevölkerung schien sich in den eigenen vier Wänden mit dem Ausnahmezustand arrangiert zu haben. Die in Familien oder Beziehungen lebten, waren zumindest nicht alleine. Lagerkoller und Einsamkeit machten sich breit. Aber was hinter geschlossenen Türen passierte, ging niemanden was an. Das sommerliche Wetter und der Bewegungsdrang trieb zahlreiche Menschen dennoch ins Freie, vor allem in den Städten tummelten sie sich an den wenigen zur Verfügung stehenden Orten und Wegen. Während das Abstandhalten – mindestens 1,50 Meter – mantraartig betont und soweit möglich berücksichtigt wurde, wurde über die Maskenpflicht kontrovers diskutiert. Nützte sie vor Ansteckung oder nicht? Das Hauptproblem war tatsächlich, dass es kaum Masken zu kaufen gab und das rare Gut denen vorbehalten war, die es im Beruf dringend benötigten. Landauf, landab begannen nun vor allem des Nähens kundige Frauen sich kreativ der Lösung des Problems anzunehmen.