Die Droge Verwöhnung - Jürg Frick - E-Book

Die Droge Verwöhnung E-Book

Jürg Frick

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Beschreibung

Warum werden Kinder zu sehr verwöhnt? Weshalb ist dies den Eltern oft gar nicht bewusst? Ein Blick in die Bereiche Kindergarten, Schule und Elternhaus zeigt die Aktualität des Themas - nicht nur vor dem Hintergrund neuerer technischer Geräte wie Tablets und Handys, die zusätzliche Verwöhnungsfelder bieten. Es geht oft um weit mehr als nur um materielle Überversorgung, auch emotional kann man Kinder zu sehr verwöhnen. Und nicht nur Eltern verwöhnen: Es geschieht auf «breiter Front», durch die Schule genauso wie im Rahmen von Freizeitangeboten. Die Folgen können schwerwiegend sein: Überängstlichkeit im Leben, mangelndes Selbstvertrauen bis hin zur Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit und der emotionalen Intelligenz. Im Schlusskapitel bietet der Autor Denkanstöße für Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Er entwickelt Alternativen für einen liebevollen, aber dennoch nicht verwöhnenden Umgang mit Kindern. Drei Fragebogen erlauben es den Erziehenden, ihren Erziehungsstil auf Verwöhnungsanteile hin zu überprüfen. Die vorliegende fünfte Auflage wurde vom Autor überarbeitet und erheblich erweitert; so sind etwa wichtige Aspekte zu Selbststeuerung/Selbstkontrolle neu berücksichtigt worden.

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Jürg Frick

Die Droge Verwöhnung

Beispiele, Folgen, Alternativen

5., überarbeitete und erweiterte Auflage

Mit einem Geleitwort von Franz Petermann und einem Vorwort von Jürg Rüedi

Die Droge Verwöhnung

Jürg Frick

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:

Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Franz Petermann, Bremen; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.

Prof. Dr. Jürg Frick, emeritiert

(Pädagogische Hochschule Zürich)

Psychologische Beratung – Seminare – Kurse

Rietlirain 44

8713 Uerikon

Schweiz

E-Mail: [email protected]

E-Mail: [email protected]

www.juergfrick.ch

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Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3000 Bern 9

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Tel: +41 31 300 45 00

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.hogrefe.ch

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Herstellung: Daniel Berger

Umschlagabbildung: © shironosov, by iStockphoto

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen

Originalzeichnungen: Hans Winkler

Satz: punktgenau GmbH, Bühl

Format: EPUB

5., überarbeitete und erweiterte Auflage 2018

© 2018Hogrefe Verlag, Bern

© 2001/2004/2005/2011 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95746-3)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75746-9)

ISBN 978-3-456-85746-6

http://doi.org/10.1024/85746-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhalt

Geleitwort zur 5. Auflage

Vorwort

Vorwort zur 2. Auflage

Vorwort zur 3. Auflage

Vorwort zur 4. Auflage

Vorwort zur 5. Auflage

1 Einleitung

2 Was heißt Verwöhnung? Die begrifflich-phänomenologische Ebene

Was heißt Verwöhnung?

Normales und verwöhnendes Verhalten

Positive Verwöhnung

3 Felder der Verwöhnung: Die Angebotsebene

Frühe Kindheit und Vorschule

Schule/Schulalter

Fortführende Ausbildungsstätten

Arbeitswelt

Freundschaft, Partnerschaft/Liebe

Freizeit, Konsum und Werbung

Gesundheit, Sucht, Medizin und Psychiatrie

Psychologie und „Lebensberatung“

Religion und Esoterik

4 Auswirkungen und Folgen der Verwöhnung: Die Symptom-Ebene

Vierundzwanzig häufige Auswirkungen von A (Angst) bis Z (mangelndes Zutrauen)

Auswirkungen in verschiedenen Bereichen

Verwöhnung und psychische Gesundheit

Literarische Darstellungen von Verwöhnung

Kritischer Exkurs: Verwöhnung und Selbstverwöhnung in der Chefetage

5 Prädisponierende Faktoren, Hintergründe und Bedingungen der Verwöhnung: Die (meistens) unbewusste Ebene

6 Verwöhnung als subtile Form der Kindsmisshandlung?

7 Fallbeispiel: Ein extrem verwöhntes Einzelkind

8 Statt Verwöhnung: Einsichten, Anregungen, Umgang, Konsequenzen

Was heißt Erziehen?

Unterstützung statt Einschränkung

Erziehen ohne verwöhnen

Die Kunst der Ermutigung

Wie kann man mit verwöhnten Kindern umgehen? Ein Entwöhnungsprogramm

Anhang: Fragebogen

Literaturverzeichnis

Internet-Seiten

Weiterführende Literatur

Bilder- und Lesebücher

Empfehlenswerte Internet-Seiten

Empfehlenswerte Filme

Sachwortregister

Über den Autor

Geleitwort zur 5. Auflage

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit einer zentralen Fragestellung der Kindererziehung und Klinischen Kinderpsychologie: Wie viel darf und muss ich einem Kind abverlangen, was kann ich ihm „zumuten“, damit eine gesunde Entwicklung möglich wird? Generell führen extreme, einseitige Erziehungseinstellungen und Interaktionsformen im Umgang mit Kindern zu spezifischen Entwicklungsrisiken. Eine besonders strenge (oder gar harsche) Erziehungsmethode darf als genauso schädlich angesehen werden wie eine verwöhnende Erziehung, die einem Kind alle Barrieren im Leben möglichst aus dem Wege räumt. Jürg Frick ist zuzustimmen: Die meisten Erziehungsfehler, die Eltern und andere Bezugspersonen von Kindern begehen, erfolgen wohlmeinend und in bester Absicht. Bestimmte Erziehungsfehler sind für Eltern schwer erkennbar und vielfach unbewusst. Verwöhnen bedeutet, einem Mitmenschen ohne Vorbedingungen unmittelbar Wünsche zu erfüllen. Der Interaktionspartner kommt den Forderungen oder auch unausgesprochenen Wünschen nach, ohne dass der „Beschenkte“ sich darum bemühen muss – er zeigt keinerlei Anstrengungen. Ohne eigene Anstrengungen zu einem gewünschten Erfolg zu gelangen, führt zu überzogenen Forderungen im Sozialkontakt und beeinträchtigt die sozial-emotionale Entwicklung eines Kindes. Bestimmte positive Eigenschaften im Sozialkontakt, wie kooperatives Verhalten, soziale Rücksichtnahme oder Einfühlungsvermögen, können sich kaum entwickeln.

Verwöhnen bedeutet häufig, sofort und ohne eigene Anstrengungen eine Belohnung zu erhalten. Belohnungsaufschub ist jedoch – so die aktuelle Diskussion – entscheidend für die Entwicklung eines angemessenen, rücksichtsvollen Sozialverhaltens. Belohnungsaufschub ist auch zentral, wenn es um die Entwicklung einer Anstrengungsbereitschaft und Leistungsmotivation im Schulalter geht. Die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub entwickelt sich bereits im Vorschulalter und bleibt über die Lebensspanne stabil und erklärt Unterschiede in der Selbstregulation. Eine gute Selbstregulation ist wiederrum Voraussetzung dafür, dass sich emotionale und soziale Kompetenzen entwickeln können. Aber auch Selbstregulation und Schulerfolg hängen eng zusammen, da Kinder mit guter Selbstregulation bei Schuleintritt eine bessere Beziehung zur Lehrkraft aufbauen können und eine optimale Schulakzeptanz erreichen.

Verwöhnen bedeutet auf den ersten Blick: Erfolg zu haben, ohne eigenen Einsatz zu zeigen. Viele Eltern vermuten, damit ihrem Kind (aus Schuldgefühlen oder eigenen schlechten Lebenserfahrungen) etwas „Gutes“ zu tun. In der Beratung solcher Eltern und in der Arbeit als Klinischer Kinderpsychologe erfährt man, dass verwöhnte Kinder einerseits sehr egoistisch und rücksichtslos auftreten oder andererseits ohne Selbstvertrauen, sozial isoliert und extrem angstbeladen aufwachsen. Mit beiden „Erziehungsergebnissen“ haben Eltern nicht gerechnet, und spätestens wenn psychische Auffälligkeiten oder Störungen entstehen, sind Eltern entsetzt und völlig in ihrem Erziehungsbemühen verunsichert. Vor allem der Hinweis, dass man durch Verwöhnen einem Kind die Stolzgefühle auf eigenes Bemühen raubt, macht Eltern betroffen. Sie wollten genau solche Stolz- und Glücksgefühle vermitteln. Die meisten Eltern wollen ihrem Kind durch Verwöhnen verdeutlichen, wie wichtig ihnen ihre Tochter/ ihr Sohn ist. Vielleicht ist es Eltern neu, dass Kinder erst durch eigenes Bemühen, Erfolge und bewältigte Misserfolge auf sich und ihre Handlungen stolz sein können. Die persönliche Bilanz eines Kindes darüber, was es kann und was es eigenständig erreicht hat, stärkt das Selbstbewusstsein und schützt davor, bei zukünftigen Niederlagen zu resignieren. Erfolge, unter widrigen Bedingungen erzielt durch eigenes Bemühen, scheinen die Widerspruchskraft und Robustheit (= psychische Resilienz) von Kindern besonders zu stärken. Dies bedeutet, dass Eltern nicht für ihre Kinder handeln, sondern ihre Töchter und Söhne zur altersangemessenen Selbstständigkeit ermuntern sollen; bei Schwierigkeiten sollten sie verfügbar und ansprechbar sein, wobei die Kinder in die Lage sein sollten, diese Hilfe aktiv „anzufordern“, ohne eine komplette Problemlösung von den Eltern zu erwarten.

Das vorliegende, sehr erfolgreiche Buch von Jürg Frick geht auf die eben skizzierten Fragestellungen praxisnah ein. Es werden in sehr beeindruckender Weise vielfältige Erziehungsformen der Verwöhnung und möglicherweise daraus resultierende ungünstige psychische Folgen (von Egoismus bis fehlendes Zutrauen in eigene Fähigkeiten) beschrieben. Die Fallbeispiele aus der kinderpsychologischen Praxis des Autors sind sehr überzeugend. Den Rückbezug auf individualpsychologische Konzepte (hier Alfred Adler und seine Schüler) finde ich dem Thema angemessen. Die ausgeführten Ideen zur Ermutigung von Kindern und die Ausführungen zu einem „Entwöhnungsprogramm“ empfinde ich als sehr wertvoll für die Praxis des Klinischen Kinderpsychologen. Das Buch enthält durch die Alltagsbeispiele natürlich auch viele Anregungen für Eltern und Bezugspersonen von Kindern.

Ich wünsche dem Buch von Jürg Frick weiterhin eine interessierte Leserschaft und bin mir sicher, dass es einen wesentlichen Beitrag zur Neuorientierung unseres Verständnisses einer gelungenen Kindererziehung leisten wird.

Franz Petermann

Vorwort

„Ein Kind verwöhnen, heißt es töten.“

„Ein umhegtes Kind weiß nicht, wie sich seine Mutter plagt.“

(Chinesische Sprichwörter)

Was eine verwöhnende Erziehung im Leben eines Menschen anzurichten vermag, wird heute in unserer Kultur noch weitgehend unterschätzt, und zwar von Laien wie von Fachleuten.

In der pädagogischen Fachliteratur wird Verwöhnung als Erziehungsfehler selten erwähnt. Eine systematische Behandlung fehlt weitgehend, generell ist das Interesse an der Erziehungsstilforschung in den letzten 20 Jahren zurückgegangen. In unserer Alltagssprache wird unter einem verwöhnten Kind oft verniedlichend eines verstanden, mit dem es die Eltern „zu gut“ meinten, so dass es sich später gerne bedienen lasse. Der Endeffekt ist der gleiche: Sowohl im Alltag wie in der Theorie werden die verheerenden Folgen der Verwöhnung unterschätzt, diese wird nicht erkannt als das, was sie in Wirklichkeit sein kann: „eine subtile Form von Kindsmisshandlung“. Es ist das Verdienst des Zürcher Psychologen und Pädagogen Jürg Frick, die in den chinesischen Sprichwörtern enthaltenen grausamen Wahrheiten wissenschaftlich zu erklären und in systematischer Ausführlichkeit zu veranschaulichen, so dass Leserinnen und Leser die unheilvollen Folgen der Verwöhnung erkennen und nachvollziehen können. Dabei unterscheidet der Autor 24 schädliche Auswirkungen, indem er bei der gesteigerten Macht- und Herrschsucht beginnt und bei der extremen Passivität und Lebensuntüchtigkeit endet. Dazwischen liegt ein weites Spektrum psychischer Fehlentwicklungen, das erstaunen mag und in keinem Fachbuch zu finden ist. Darin liegt eine besondere Stärke dieses Buches: Es zeigt auf, dass Verwöhnung eine Form von subtiler Kindsmisshandlung sein kann, ohne deswegen Erzieherinnen und Erzieher die Schuld zuzuweisen: „Schuld setzt bewusstes Wollen voraus. Gerade die Tiefenpsychologie konnte aber nachweisen, wie mächtig unbewusste Kräfte im Menschen zu wirken vermögen.“ (Kap. 5, S. 161–162)

Indem Frick die Erkenntnisse der Entwicklungs- und der Tiefenpsychologie, vor allem der Individualpsychologie, einbezieht, vermeidet er jeden Vorwurf und schließt so an Alfred Adler an, der schon 1912 in seinem Aufsatz „Zur Erziehung der Eltern“ darauf hinwies, dass fast alle Eltern das Beste für ihre Kinder wollen. Der Verzicht auf verletzende Schuldzuweisungen darf jedoch nicht mit einem Denkstopp gleichgesetzt werden, der auf ein Erforschen der Ursachen verzichtet. Verwöhnendes Erzieherinnen- und Erzieherverhalten hat zahlreiche Gründe, die zu erkennen notwendig sind, wenn etwas verbessert werden soll. „Jenseits von Gut und Böse“ (Nietzsche) analysiert Frick darum im Kapitel 5 die meist unbewussten Hintergründe des verwöhnenden Erziehungsverhaltens, damit die betreffenden Eltern – oder auch Lehrkräfte – verstehen, ohne sich anzuklagen: „Tout comprendre, c’est tout pardonner“, heißt ein französisches Sprichwort.

Unter Verzicht auf jegliche Anklage werden Pädagoginnen und Pädagogen dazu angeleitet, die Zusammenhänge zwischen verwöhnendem Erziehungsstil und persönlichen/situativen Hintergründen zu erkennen, was einen Ausgangspunkt schafft, um Kindern und Jugendlichen neu zu begegnen.

Das Buch endet mit einem optimistischen Ausblick auf die Möglichkeiten einer Erziehung ohne Verwöhnung. Es gibt sie, die Erziehung ohne Verwöhnung. Den Weg dazu zeigt Frick in seinem abschließenden Kapitel „Statt Verwöhnung: Einsichten, Anregungen, Konsequenzen“ (s. Kap. 8) auf. Der Autor hütet sich konsequent vor Glücksversprechen oder einfachen Lösungen. So verführerisch Rezepte und Ratschläge sein mögen, sie laufen meistens auf eine Verhinderung des eigenen Lern- und Forschungsprozesses – und damit auf eine neue Art von Verwöhnung – hinaus.

Wer sich jedoch freut, sich selber seines Verstandes zu bedienen, zum Beispiel nach eigenen Verwöhnungstendenzen oder selbst erlebter Verwöhnung zu suchen, der/dem bietet das vorliegende Buch fachkundige, wissenschaftlich abgestützte Anleitungen. Fricks Werk kann darum Eltern, KinderpsychologInnen, ErzieherInnen und Lehrkräften aller Stufen nur empfohlen werden.

Möge es dazu beitragen, im Erziehungsalltag die Sensibilität zu erhöhen für die Gefahren der Verwöhnung, so dass diese noch mehr erkannt wird als das, was sie ist: eine Droge und subtile Form von Kindsmisshandlung. Die pädagogische Theorie bzw. die Erziehungsstilforschung ihrerseits könnten sich zu zukünftigen Fragestellungen anregen lassen, was wiederum zu einer Sensibilisierung für die Gefahren der Verwöhnung beitragen könnte.

In diesem Sinne wünsche ich dem Buch eine weite Verbreitung und eine interessierte Leserschaft.

Jürg Rüedi

Vorwort zur 2. Auflage

Die positive Aufnahme des Buches und damit einhergehend zahlreiche erfreuliche Rückmeldungen von LeserInnen und KursteilnehmerInnen ermöglichen eine 2., mit diversen Korrekturen und Ergänzungen verbesserte Auflage, die – so die Hoffnung des Autors – weitere LeserInnen findet.

A. Wunsch, Autor des Buches „Die Verwöhnungsfalle“ (Wunsch, 2000) hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass von ihm u. a. in der Tageszeitung „Die Zeit“ vom 1. Oktober 1998 ein Beitrag mit dem Titel „Droge Verwöhnung“ erschienen ist.

Jürg Frick

Vorwort zur 3. Auflage

Die anhaltende gute Nachfrage nach Die Droge Verwöhnung hat mich veranlasst, das Buch für eine 3. Auflage kritisch durchzusehen und mit verschiedenen Ergänzungen und zusätzlichen Beispielen zu verbessern. Ergänzend finden LeserInnen neu am Schluss des Buches ein ausführliches Inhaltsverzeichnis.

Viele mündliche und schriftliche Rückmeldungen zeigen mir, dass eine meiner Grundintentionen – Denkanstöße statt Schuldzuweisungen! – verstanden worden und offensichtlich angekommen ist. Das freut mich. In diesem Sinn wünsche ich auch neuen LeserInnen anregende Stunden.

Jürg Frick

Vorwort zur 4. Auflage

Die Droge Verwöhnung habe ich für diese 4. Auflage kritisch durchgesehen, erheblich erweitert und wo nötig aktualisiert.

Dabei erfuhr auch das „Memorandum“ am Ende des 8. Kapitels eine Überarbeitung und Erweiterung, und ein neues Kapitel über „sinnvolle Kinderarbeit“ wurde eingefügt. Weiter findet sich neu ein ergänzender Abschnitt über – höflich ausgedrückt – problematische Angebote, die in Zeitschriften und Zeitungen unter der Rubrik „Lebensberatung“ vielfältige Verwöhnungsbedürfnisse erwachsener Ratsuchender missbrauchen. Zudem bin ich in der Einleitung neu kurz auf einige historische pädagogische Vorgänger in der Verwöhnungskritik (z. B. Montaigne, Locke, Rousseau) eingegangen.

Die Art der Bewältigung der weltweiten Finanzkrise erfordert schließlich, den kritischen Blick auf die Verwöhnung um eine zusätzliche Dimension zu erweitern: Ein kurzes (und kritisches) Kapitel über Verwöhnung und Selbstverwöhnung in der Chefetage ergänzt die vorliegende Ausgabe. Die neu eingefügten Illustrationen von Hans Winkler veranschaulichen treffend zentrale Textaussagen.

Schließlich habe ich einen zusätzlichen Fragebogen zu konkreten Haltungen, Erwartungen sowie zum Umgang mit Kindern entwickelt.

Franz Petermann danke ich für das freundliche Geleitwort.

Jürg Frick

Vorwort zur 5. Auflage

Die Droge Verwöhnung wurde für diese 5. Auflage von mir kritisch durchgesehen und an verschiedenen Stellen aktualisiert, beträchtlich erweitert und mit vielen zusätzlichen Beispielen ergänzt. So sind u. a. wichtige Aspekte zu Selbststeuerung/Selbstkontrolle neu berücksichtigt worden. Zudem habe ich zwei spannende literarische Beispiele (Némirovsky, Dalí) für Verwöhnung im Kapitel 4 eingearbeitet. Zusätzlich wurden einige Erfahrungen der Elterncoaches Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler aufgenommen.

Wer auch im neuen Jahrtausend nähere Einblicke in die Bereiche Kindergarten, Schule und Elternhaus hat, stellt fest: Das Thema bleibt nach wie vor sehr aktuell, neuere technische Geräte wie Tablets und Handys bieten zusätzliche Verwöhnungsfelder.

Heutige verwöhnende Eltern wollen es den Kindern, ihren Kindern, viel zu sehr recht machen – sie sind zu stark und einseitig auf diesen Modus ausgerichtet. Diese falsche Ausrichtung führt, wie ich das im Buch an vielen Stellen näher beleuchte, zu einer Umkehrung des Kind-Eltern-Verhältnisses: Statt dass die Kinder sich in vielen (nicht allen!) Bereichen an die Lebenswelt der Erwachsenen – natürlich entwicklungsentsprechend – anpassen lernen, orientieren sich die Erwachsenen viel zu stark und zu rasch an den Wünschen ihrer Kinder. Die teilweise fatalen Folgen habe ich für diese Auflage in weiteren zusätzlichen Beispielen dargestellt.

Und zum Kapitel 4 (Verwöhnung in der Chefetage) lehrt uns die Art der Bewältigung der Bankenkrise deutlich: Es sind leider weiterhin keine substanziellen, tiefgreifenden Änderungen feststellbar, und so habe ich dazu noch einige weitere Ergänzungen hinzugefügt. Die maßgebenden PolitikerInnen sind nicht willens und/oder fähig, an dieser unglaublichen Selbstbereicherung etwas zu ändern, zum Beispiel mit wirkungsvollen Gesetzen – und die Bevölkerung schaut hilflos oder wütend zu oder wählt populistische Demagogen, die ihnen einfache Lösungen vorgaukeln.

Jürg Frick

1 Einleitung

Ein Buch über Verwöhnung. Wozu? Jedermann und jede Frau weiß doch, was Verwöhnung ist und wie schädlich sie ist, und wird in der Regel bestreiten, damit irgendetwas zu tun zu haben. Verwöhnung scheint ein Phänomen zu sein, das verdrängt wird. Wer will schon verwöhnen und wer möchte gar eingestehen, verwöhnt zu sein? Verwöhnung ist für viele zu einem Schimpfwort geworden.

Unter dem Begriff Verwöhnung versteht der Volksmund meistens: Alle materiellen Wünsche „subito“ erfüllt bekommen, z. B. mit Spielsachen und reichlichem Taschengeld eingedeckt sein. Meistens wird der Begriff interpretiert im Sinne von „alles bekommen“. Äußerungen, vor allem bei älteren Menschen, wie die folgenden oder ähnliche sind recht verbreitet:

„Die heutigen Jungen haben es zu gut, sie bekommen alles. Sobald sie pieps machen, bringen die Eltern subito das Gewünschte herbei. Wenn es einem nur gut geht, muss es ja so herauskommen: Drogen, Langeweile, Kriminalität. Bei uns gab es das noch nicht; wir sind eben nicht so verwöhnt und verpäppelt worden.“ Diese Auffassung von Verwöhnung halte ich für ebenso verkürzt wie einseitig. So stark die materielle Verwöhnung ins Auge springt, so subtil und unerkannt verläuft im Allgemeinen die eher unsichtbare psychische Form der Verwöhnung. Häufig wird in der Alltagssprache unter einem verwöhnten Menschen auch jemand verstanden, der es gewohnt ist, dass seine Bedürfnisse (oder was er für seine Bedürfnisse hält) sofort befriedigt werden: Beim kleinsten Durst verlangt der Verwöhnte sofort zu trinken, bei Ansprüchen von anderen Erleichterung usw. Verwöhnt wird auch derjenige genannt, der jede Anstrengung scheut, sich nur bedienen lässt. Diese verkürzte bzw. eindimensionale Sicht der Verwöhnung verbreitet auch das Titelbild des Spiegel vom 14. August 2000: Eine Mutter kniet vor ihrem überdimensional gezeichneten Sohn und bindet ihm seine Turnschuhe, während er mit verschränkten Armen selbstbewusst, unbeteiligt und abschätzig wegschaut. Verwöhnung beinhaltet aber viel mehr und zudem auch anderes, als dieses Bild plakativ suggeriert.

Ich möchte im vorliegenden Buch zeigen, dass der verwöhnte Mensch das psychologisch Wesentliche für seine Entwicklung gerade nicht bekommt. Das Zuviel wird letztlich zu einem Zuwenig: So kommen verwöhnte Kinder und Erwachsene – so paradox das vielleicht auf den ersten Blick erscheint – zu kurz, da ihnen durch eine verwöhnende Erziehung und einen via Sozialisation erworbenen verwöhnten Lebensstil außerordentlich wichtige Kompetenzen für eine befriedigende Lebensbewältigung und für Lebensfreude fehlen.

Bei einer kritischen Durchsicht der pädagogischen und psychologischen Literatur der letzten zwanzig Jahre konnte ich feststellen, dass zu Problemfeldern wie „Sexuelle Misshandlung von Kindern“ oder „Gewalt“ die Bücherliste übervoll ist. Bei der Verwöhnung sieht das etwas anders aus: Verwöhnung scheint kaum bzw. erst in jüngster Zeit ein Thema für AutorInnen zu sein. Das ist erstaunlich, höre ich doch in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Fortbildungen und in Diskussionen immer wieder Klagen über verwöhnte Kinder und Jugendliche. Zudem spielt in psychologischen Beratungen und Therapien von Menschen bei der Anamnese, der Aufarbeitung und der Behandlung der Faktor „Verwöhnung“ häufig eine wichtige Rolle. Es ist für Eltern, Lehrpersonen, Ärzte und Kinderärzte, PsychologInnen und SchulpsychologInnen usw. unerlässlich, allfällige Verwöhnungsanteile ihrer Klientel zu erkennen, um so richtig einwirken zu können und die Verwöhnung nicht unbewusst und ungewollt weiterzuführen.

Nachfolgend zur schnellen Orientierung eine kurze Übersicht zum Buch:

Ich werde im 2. Kapitel eine Klärung zum Begriff „Verwöhnung“ vornehmen: Was heißt eigentlich Verwöhnung? Woran ist Verwöhnung erkennbar? Gibt es verschiedene Typen von Verwöhnung?

Das 3. Kapitel wird die Verwöhnung in verschiedensten Bereichen von der Vorschule bis zur eigenen Lebensgestaltung ins Blickfeld nehmen. Dabei werden LeserInnen vielleicht neue Aspekte auch bei sich selber entdecken können.

Anhand vieler Beispiele zeigt das 4. Kapitel die subtilen wie die offensichtlicheren Auswirkungen der Verwöhnung auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Auch hier sind Entdeckungen bei eigenen Kindern, Schülern oder bei sich selber möglich!

Warum verwöhnen Menschen eigentlich? Dass Verwöhnung meistens aus vielfältigen und unbewussten Motiven betrieben wird, erhellt das 5. Kapitel.

Kann ausgeprägte Verwöhnung, ebenso wie etwa wiederholtes Schlagen von Kindern, eine spezielle und bisher eher unerkannte Form der Kindsmisshandlung darstellen? Eventuellen Zusammenhängen zwischen Verwöhnung und Kindsmisshandlung werde ich im 6. Kapitel nachgehen.

Im 7. Kapitel zeige ich anhand eines tragischen Beispiels, wie katastrophal sich eine extrem verwöhnende Erziehung im Einzelfall auswirken kann.

Gibt es Alternativen zu und Konsequenzen aus verwöhnendem Verhalten? Welche Verhaltensweisen wären hilfreicher, nützlicher? Wie kann man mit verwöhnten Kindern und Jugendlichen umgehen? Zu diesen Fragen gebe ich in Kapitel 8 Anregungen und Denkanstöße.

Die drei beigefügten Fragebogen schließlich sollen Erziehenden und anderen Interessierten die Möglichkeit geben, allfällige Verwöhnungsanteile in ihrem eigenen Fühlen, Denken und Handeln zu überprüfen, zu reflektieren und allfällige Konsequenzen daraus zu ziehen.

Zu Merkmalen und Folgen einer verwöhnenden Erziehung haben sich wiederholt schon in früheren Jahrhunderten pädagogische Autoren kritisch geäußert, worauf Osterwalder (2006) zu Recht hingewiesen hat. In einem der ersten neuzeitlichen Erziehungstraktate von 1450, verfasst vom nachmaligen Papst Pius II. mit dem Titel Über die Erziehung der freien Männer, erhält der König von Ungarn für die Erziehung seines Sohnes Kaspar unter anderem folgenden Hinweis: „Weiche Erziehung, welche wir Verwöhnung nennen, zerrüttet Geist und Körper.“ (zitiert nach Osterwalder, 2006, S. 10). Dabei wird vor weichen Federbetten und Seidenkleidern gewarnt – stattdessen sollen harte bäuerliche Textilien aus Leinen verwendet werden. Allerdings wird hier natürlich noch von einem viel einfacheren bzw. eingeschränkteren Verständnis von Verwöhnung ausgegangen als im vorliegenden Buch.

Eine weitere Stellungnahme zur verzärtelnden Erziehung stammt von Michel de Montaigne (1533–1592): Der vehemente Gegner von Gewalt und Zwang in der Erziehung lehnt ebenso strikt verweichlichende Tendenzen ab: Der Zögling soll abgehärtet werden gegen Schweiß und Kälte, Wind und Sonne, er soll aller Weichlichkeit, aller Verzärtelung bei Schlaf und Bekleidung, beim Essen und Trinken entwöhnt werden; ja, Montaigne geht sogar so weit zu fordern, den jungen Menschen an alle Härten zu gewöhnen (Montaigne, 2000, S. 258–259)! Wie weit das tatsächlich gehen soll – darüber lässt sich sicher diskutieren und streiten!

Auch in späteren bedeutsamen Erziehungsratgebern gilt der Verwöhnung eine besondere Aufmerksamkeit: So warnt beispielsweise John Locke (1632–1704) in seiner berühmten Schrift Gedanken über Erziehung von 1693 u. a. in einem eigenen Unterkapitel (Verzärteln) davor, „dass die Anlagen der meisten Kinder entweder verdorben oder zumindest geschädigt werden durch Hätscheln und Verzärteln“ (Locke, 1980, S. 8). Stattdessen sollen die Kinder durch Gewöhnung früh an die Widrigkeiten des Lebens angepasst oder genauer: dafür abgehärtet werden – Locke plädiert dabei allerdings nicht für eine autoritär-rücksichtslose Behandlung der Kinder, sondern für ein einfaches und gesundes Leben, dem Hitze, Kälte u. a. wenig anhaben können.

Ähnlich warnt Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in seinem berühmten Erziehungsbuch Emile (1762) an verschiedenen Stellen wiederholt nachdrücklich vor den Gefahren der verwöhnenden Erziehung: Statt immer nur daran zu denken, das Kind vor verschiedenen Gefahren zu behüten, gehe es mehr darum es zu lehren, sich als Mensch selbst zu schützen, Widrigkeiten des Lebens zu trotzen: „Übt sie also für die Gefahren, denen sie eines Tages ausgesetzt sein werden.“ (Rousseau, 1986, S. 127). Die verwöhnende Erziehung bedeutet für Rousseau auch ein Abweichen von den Gesetzen der Natur: So sei es ein Fehler, wenn eine Mutter ihr Kind zum Idol mache, „wenn sie seine Schwäche steigert und züchtet, damit es sie nicht spürt. Wenn sie, in der Hoffnung, es den Gesetzen der Natur entziehen zu können, alles, was ihm schmerzlich sein könnte, aus dem Weg räumt“ (S. 126). Er geht sogar so weit, von grausamen Müttern zu sprechen, denn „sie tauchen ihre Kinder in die Verweichlichung und bereiten ihnen zukünftiges Leid“ (S. 127). Mit der nachfolgenden Behauptung, die Erfahrung lehre, „dass die Todesfälle bei verzärtelten Kindern häufiger sind als bei anderen“ (S. 127), geht er in seinem Eifer allerdings etwas zu weit, ebenso mit der wiederholten Meinung, das Kind müsse lernen zu leiden (S. 182). Trotzdem zeigt die folgende Einschätzung Rousseaus, wie aktuell einige Teile seiner Verwöhnungskritik aus heutiger Sicht geblieben sind: „Es gibt ein Übermaß an Strenge und ein Übermaß an Nachsicht; eins wie das andere sind zu vermeiden. Lasst ihr die Kinder leiden, setzt ihr ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel, so macht ihr sie im Augenblick unglücklich, erspart ihr ihnen durch zuviel Fürsorge jegliche Art von Unbehagen, bereitet ihr ihnen zukünftige Leiden; ihr verzärtelt sie, macht sie überempfindlich […].“ (S. 199 f.). „Kennt ihr das sicherste Mittel, euer Kind unglücklich zu machen? Gewöhnt es daran, alles zu bekommen. Denn, da seine Wünsche sich dann durch die Leichtigkeit ihrer Erfüllung unablässig vermehren, werdet ihr früher oder später durch die Unmöglichkeit, sie alle zu befriedigen, gezwungen sein, sie zu verweigern.“ (S. 201). Derart verwöhnte Kinder würden, so warnt Rousseau eindringlich, zu Despoten, die immer zänkisch, stets aufsässig und später als Erwachsene in der Erwartung seien, dass sich ihnen alles beugen würde (S. 202)! Bald darauf würden sie durch ihr „anmaßendes Benehmen und ihre kindische Eitelkeit nur Demütigungen, Geringschätzung und Spott“ ernten (S. 202). Allen kindlichen Wünschen einfach rasch nachzugeben, macht das Kind also launenhaft, tyrannisch und – aus meiner Sicht ganz wesentlich – zusätzlich unglücklich. Schließlich behält Rousseau so viel Augenmaß, die autoritäre, rücksichtslose Erziehungsvariante ebenso deutlich bzw. noch klarer zu kritisieren, denn „Ehrgeiz, Geiz, Tyrannei, die missverstandene Vorsorge der Väter, ihre Nachlässigkeit und ihre harte Empfindungslosigkeit sind hundertmal verhängnisvoller für die Kinder als die blinde Zärtlichkeit der Mütter“ (S. 108). Allerdings ist Rousseaus Position in der Verwöhnungsdebatte – wie auch in anderen Fragen – durchaus widersprüchlich: So lässt er Emile isoliert und somit behütet von der als problematisch erachteten Gesellschaft aufwachsen, traut seinem Zögling also nicht einen angemessenen Umgang mit den Angeboten und Gefahren der Gesellschaft zu! Dieses Bewahren oder Beschützen repräsentiert Rousseaus – von ihm selber nicht erkannte! – Variante der Verwöhnung, vor der er, wie oben gezeigt, eindringlich warnt: Verwöhnen durch Abschirmen!

Alfred Adler hat als einer der ersten Psychologen schon sehr früh (in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts!) auf die Gefahren der Verwöhnung hingewiesen. Diese sind seither noch aktueller geworden: Besonders in den beiden in den frühen 1930er-Jahren erschienenen Büchern Der Sinn des Lebens (1933) und Wozu leben wir? (1931)1 beschreibt Adler außerordentlich eindrücklich und anschaulich die Merkmale, Auswirkungen und Folgen einer verwöhnenden Erziehung mit Beispielen. Vieles – nicht alles –, was Adler dazu geschrieben hat, ist erstaunlich aktuell geblieben. Interessant ist z. B. auch seine schon vor 1930 vorgenommene Auflistung der vier problematischen Lebensumstände bzw. Erziehungsstile der Eltern: 1. Mängel und Schwächen der organischen Ausstattung (Adler nennt das Organminderwertigkeit). 2. Vernachlässigung und Mangel an Zuwendung. 3. Autoritärer Zwang und brutale Unterwerfung. 4. Verwöhnung oder Verzärtelung. Ab etwa 1930 verlagert sich der Schwerpunkt auffallend: Adler bezeichnet nun die Verwöhnung sogar als schwersten und folgenreichsten Erziehungsfehler: „[…] dass kein Übel größer ist als die Verwöhnung des Kindes mit ihren Folgen (Adler, 1973, S. 99).“

Ich teile diese letzte für mich zu einseitig-radikale Einschätzung Adlers zwar nicht, bin aber der Meinung, dass die Verwöhnung als eine der wichtigsten Ursachen für problematisches Verhalten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen betrachtet werden muss.

Es ist bis vor wenigen Jahren vor allem individualpsychologisch orientierten PsychologInnen und PädagogInnen vorbehalten geblieben, sich mit dem Thema Verwöhnung näher beschäftigt zu haben: Erwähnt seien hier nur Dreikurs und Soltz (1990), Rattner (1968), Oehler (1977), Brandl (1997), Rüedi (1995), Hugo-Becker und Becker (2000) und Wunsch (2000).

Der Adler-Schüler Dreikurs erörtert die Verwöhnung vor allem an kurzen praktischen Beispielen und weist u. a. auf wichtige Zusammenhänge zwischen Verwöhnung und Entmutigung hin.

Rattners leider seit langem vergriffene meisterhafte psychologische Interpretation zu Gontscharows Roman Oblomow legt eindrücklich die verheerenden Erziehungsfolgen der Verwöhnung wie z. B. Ich-Schwäche und Entscheidungsunfähigkeit dar.

Die Dissertation von Oehler mit dem Titel Der Einfluss der verwöhnenden und verzärtelnden Erziehung auf die gesunde und kranke Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit fasst die Adler’sche Sichtweise zur Verwöhnung in übersichtlicher Weise zusammen.

Erziehen ohne Verwöhnen von Brandl ist eher eine Einführung in die Lehren von Adler und Künkel und die Darstellung einer Erziehungslehre; das Thema Verwöhnung wird dazu punktuell immer wieder kurz angesprochen.

Rüedi widmet die beiden Kapitel 5 und 6 seiner sehr empfehlenswerten Einführung in die individualpsychologische Pädagogik ganz der Thematik der Verwöhnung. Diese rund 30 Seiten sind aus meiner Sicht die fundiertesten Erörterungen zum Thema in neuerer Zeit.

Die Verwöhnungsfalle von Wunsch schließlich enthält viele Beispiele und Anregungen; mir ist der Autor häufig zu moralisierend, und einige seiner gesellschaftspolitischen Auffassungen und Forderungen (z. B. zum Abbau des Sozialstaats) teile ich persönlich nicht. Auch meines Erachtens berechtigte Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Sozialleistungen (vor allem in tiefen Lohnklassen) oder einer Umverteilung von oben nach unten – man denke an zum Teil horrende Gehälter und Vermögen oberer Kader! – als Massenverwöhnung zu bezeichnen, halte ich für ungerechtfertigt (vgl. Wunsch, 2000, S. 121 ff).

Die folgenden Autoren sind nicht-individualpsychologisch orientiert, obwohl die zwei ersten zum Teil zu ähnlichen Folgerungen gelangen. Der amerikanische Kinderpsychiater Missildine widmet in seinem lesenswerten Bestseller In dir lebt das Kind, das du warst das Kapitel 13 dem Thema Verwöhnung (Missildine, 1990).

Auch im Werk des Autorenduos Ashner und Meyerson, Wenn Eltern zu sehr lieben, wird an einigen Stellen, besonders aber im 2. Kapitel, auf das verwöhnt-vernachlässigte Kind näher eingegangen (Ashner & Meyerson, 1993).

Erstaunlich ist für mich hingegen, dass Rogge in seinem sehr praxisbezogenen Erfolgstitel Kinder brauchen Grenzen nur auf vier Seiten die Verwöhnung anspricht (Rogge, 1997).

Einen ganz anderen, d. h. verhaltensbiologischen Zugang zum Thema leistet von Cube in seinem 1999 überarbeiteten Buch Fordern statt verwöhnen (Cube, 1999). Von Cubes Buch bietet einige bedenkenswerte Anregungen, ist mir aber – ähnlich wie der Text von Wunsch – zu einseitig und moralisierend: So führt er beispielsweise die meisten Probleme in unserer Gesellschaft wie Zivilisationskrankheiten, Gewalt, Drogenkonsum, Kriminalität oder Umweltzerstörung fast ausschließlich auf die Verwöhnung zurück und vernachlässigt damit andere wichtige, z. B. gesellschaftliche und politische Faktoren. Und wenn er diese dann doch anspricht, so aus einer meines Erachtens sehr einseitigen und konservativen Position: War für ihn in den 1950er-Jahren noch (fast) alles eine heile Welt (Leistung, Moral, Religion), so wurde via „Ideologie der Gleichheit“ sowie „Abwertung von Leistung“ durch die sozialdemokratische Ideologie und deren Politik die Massenverwöhnung zum Standard und Volksübel (vgl. Cube, 1999, S. 179–185, auch S. 187, 190, 192). Ich kann dem überhaupt nicht zustimmen.

Zwei weitere jüngere Publikationen, die das Thema Verwöhnung teilweise ins Blickfeld nehmen, sind: Wenn Eltern zu sehr … Warum Kinder alles bekommen, aber nicht das, was sie wirklich brauchen von Ehrensaft (2000), ein eher auf US-Verhältnisse ausgerichtetes Buch, sowie Kinder heute: Verwöhnt und vernachlässigt, von Singerhoff (2000), ein kurzer Text. Schließlich berichtete auch Der Spiegel (2000) unter dem Titel Die verwöhnten Kleinen eher oberflächlich über das Thema. Der Ratgeber Ist mein Kind denn zu verwöhnt? von de Jong und Köster richtet sich besonders an Eltern.

In einem weiteren Buch mit dem Titel Verwöhnte Kinder fallen nicht vom Himmel von Peter Angst (2003) werden Hintergründe und Vorschläge zum Umgang mit solchen Kindern aufgezeigt. Gereon Reimann (2006) möchte in seiner Schrift Lieben statt verwöhnen Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe unterstützen und sie befähigen, aus der Verwöhnungsspirale auszusteigen.

Weitere Autoren, die sich seit neuerem mit verschiedenen Aspekten der Verwöhnung ausführlicher beschäftigt haben, sind der Kinderpsychiater Winterhoff (2009, 2013) oder Kraus (2015), der mit seinem Titel „Helikoptereltern“ den Förderwahn und die Verwöhnung aus Lehrersicht kritisiert. Winterhoff kommt in seinen Büchern bezüglich der Auswirkungen einer verwöhnenden Fehlhaltung zu einigen ähnlichen Folgen, wie ich sie in meinem Buch beschreibe. Er betont dabei besonders die Ich-Bezogenheit und die mangelnde Reife der betroffenen Kinder und Heranwachsenden: Sie können sich nicht oder sehr mangelhaft auf das Gegenüber, ob nun Lehrer oder Eltern, einstellen, sondern versuchen entsprechend ihrem fehlgeleiteten Weltbild den Erwachsenen auf sich einzustellen – mit fatalen Folgen in der Schule und später etwa in der Arbeitswelt. Allerdings teile ich seine aus meiner Sicht teilweise alarmistischen Aussagen und die Verklärung der Erziehung der 1950er- und 1960er-Jahre nicht. Auch Aussagen über Jugendliche in seiner Praxis, die den emotionalen und sozialen Reifegrad eines 16-monatigen Kleinkindes aufweisen würden (!), sind schwer nachvollziehbar. Verwöhnung und Überförderung sind reale tatsächliche Probleme, aber die Welt steht deswegen nicht am Abgrund oder vor einem entscheidenden Wendepunkt. Es gibt aus meiner Sicht – zum Glück – keinen generellen Erziehungsnotstand, aber erhebliche Probleme.

Die Überängstlichkeit und Übervorsichtigkeit von Eltern kommt auch in Schlagworten wie „Airbag-Eltern“ oder in Begriffen wie „Pascha-Syndrom“ bzw. „Prinzessinnen-Syndrom“ anschaulich zum Ausdruck. Zu letzterem Thema liegen schon länger empfehlenswerte Kinderbücher vor (vgl. z. B. Atwood, 1998 – siehe auch in der Literaturliste bei Bilder- und Lesebücher).

Die „Entdeckung“ der Hochbegabten hat schließlich dazu geführt, dass wir heute (angeblich) Gefahr laufen, Tausende von verkannten Hochbegabten und Genies zu übersehen. Um das zu verhindern, haben clevere Geschäftsleute Tests zur Messung von frühen Kompetenzen erfunden. Und auch die Hirnforschung ist hier voll dabei: Von der Neurodidaktik bis zur Neuropädagogik bieten sich viele Autoren und Experten an, um das Maximum schon möglichst früh aus den Kindern herauszuholen (oder herauszupressen) – im besten Fall gut gemeint, aber vermutlich auch ein Ausdruck unserer neoliberalen, wirtschaftsorientierten und finanzgetriebenen Gesellschaft, in der es darum geht, möglichst früh alle Ressourcen für den späteren erbarmungslosen Konkurrenzkampf in Schule und Arbeitswelt anzuzapfen. Weitere, teilweise haarsträubende wie auch amüsierende Beispiele finden sich bei Kraus (2015).

Zwei für Eltern sehr empfehlenswerte Bücher zur Erziehung und sinnvollen Förderung und Stärkung der Kinder bieten uns der Psychologe Fabian Grolimund (2016) mit seinem Buch Mit Kindern lernen. Konkrete Strategien für Eltern sowie Margrit Stamm (2017).

Ich werde in diesem Buch mir wichtig erscheinende Aspekte dieser AutorInnen integrieren, das Thema aber breiter und vertiefter behandeln. Es geht mir im vorliegenden Buch nicht darum, schnelle und billige Ratschläge zu erteilen oder etwa Verwöhnung im Sinne eines Checklisten-Ratgebers abzuhandeln. Stattdessen möchte ich anhand wichtiger Erkenntnisse aus Theorie und Praxis sowie mit illustrierenden Beispielen Denkanstöße zu verwöhnendem Verhalten und seinen Folgen geben. Ich traue und mute den LeserInnen zu, ihr persönliches Verhalten selber zu überdenken und eigene Schlüsse zu ziehen, die letztlich handlungsrelevanter und nachhaltiger sind, als dies mit oberflächlichen Tipps möglich ist, welche die individuell-persönliche Situation nicht angemessen berücksichtigen. Selbstverständlich kann ein Buch eine tiefergehende allfällige Beratung nicht ersetzen, aber vielleicht den Weg dazu erleichtern.

Die meisten der angeführten Beispiele stammen aus meiner eigenen langjährigen Tätigkeit als psychologischer Berater, als Dozent für Psychologie, Entwicklungspsychologie und Pädagogik in verschiedenen LehrerInnen-Ausbildungsstätten sowie als Fortbildner und Kursleiter in pädagogischen Institutionen. Um Anonymität zu gewährleisten, sind alle Beispiele namentlich und soweit nötig auch inhaltlich leicht verändert. Mein theoretischer Ausgangspunkt beruht nicht ausschließlich auf einem einzelnen theoretischen Ansatz, gleichwohl setze ich individualpsychologische, entwicklungspsychologische und erziehungswissenschaftliche Schwerpunkte.

Kinder und Heranwachsende (oder auch Erwachsene!) zu verwöhnen kann sich in vielfältiger Art und Weise äußern und stellt eine Haltung der verwöhnenden Person dar, eine Persönlichkeitstendenz, die dem oder der Betreffenden meistens nicht bewusst ist. Verwöhnung ist an fast kein Alter gebunden: Schon Kinder in der Familie gegenüber jüngeren Geschwistern, Kinder im Kindergarten, Lehrpersonen in Schulen, aber auch PsychologInnen oder Ärzte laufen Gefahr, aus besten Absichten ihr Gegenüber in bestimmten Bereichen zu verwöhnen. Mehr dazu in den folgenden Kapiteln.

Bevor wir uns nun der mehr individuellen Seite der Verwöhnung zuwenden, zum Schluss noch Folgendes: Ein Blick in die menschliche Geschichte und die Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse zeigen über den einzelnen Menschen hinaus, dass das Streben nach Verwöhnung, das Streben, Unlust zu vermeiden und Lust zu gewinnen, so alt ist wie die Menschheit selbst. Erwähnt seien hier nur die farbigüppigen Darstellungen vom Schlaraffenland oder vom ewig währenden – allerdings auf die Dauer doch meistens etwas langweiligen – Paradies in den Vorstellungen verschiedener Religionen.2 Der Philosoph Wilhelm Schmid (2005, S. 86, leicht verändert) meint treffend: „Blauer Himmel, weißer Sand, blaugrünes Wasser – und das Tag für Tag! Kein Mensch hält es im Paradies lange aus.“

Das Streben nach Lust ohne oder mit geringer Anstrengung ist menschlich und unproblematisch, sofern es maßvoll betrieben wird. Doch mehr dazu in den folgenden Kapiteln.

1

vgl. z. B. Adler, A. (1973). Der Sinn des Lebens. Frankfurt: Fischer (Erstausgabe 1933), S. 40–44, 94–99, sowie: Adler, A. (1979). Wozu leben wir? Frankfurt: Fischer (Erstausgabe 1931), S. 25, 28, 107–108.

2

vgl. z. B.: Braun,H.-J. (1996). Das Jenseits. Die Vorstellungen der Menschheit über das Leben nach dem Tod. Zürich: Artemis und Winkler. Oder auch: Lang& McDannell, C. (1996). Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens. Frankfurt: Insel.

Jeffrey Burton Russell (1999) kommt in seiner Geschichte des Himmels zu einem etwas farbigeren Bildes des Himmels, speziell sieht er dies in Dantes Göttlicher Komödie.

Amüsant und unbedingt lesenswert zum Thema ist auch Esther Vilar (2009) Die Schrecken des Paradieses. Wie lebenswert wäre das ewige Leben?.

2 Was heißt Verwöhnung? Die begrifflich-phänomenologische Ebene

In der akademischen Psychologie sowie in der Pädagogik als Erziehungswissenschaft findet sich der Begriff „Verwöhnung“ kaum. Und der englische Begriff overprotection deckt auch nur – und ungenau – einen Teil des Verwöhnungsproblems ab.

Die Erziehungsstil-Forschung der vergangenen Jahrzehnte (z. B. Lewin, Tausch und Tausch, Anderson, Schmidtchen u. a.) beschreibt Erziehungsstile, ohne die Verwöhnung explizit zu erwähnen. Manchmal werden noch der „permissive Erziehungsstil“ (Maccoby & Martin, 1983 in Perlet & Ziegler, 1999) oder der „überbehütende Erziehungsstil“ (Kruse, 2001 in Walper & Pekrun, 2001) erwähnt und beschrieben – meistens allerdings nur kurz. Auch im Überblicksband von Weber (1986) findet sich kein Wort dazu. In keinem dieser Erziehungsstil-Modelle erkennt man Praktiken, die verwöhnende Aspekte ausführlicher enthalten. Das ist doch eher erstaunlich, da das Phänomen Verwöhnung schon seit langem in der Theorie (vgl. z. B. bei Adler), in der Alltagssprache wie auch in der pädagogischen Praxis (Erziehung, Schule) bekannt ist. Vielleicht hängt diese Amnesie mit den zum Teil eher theoretisch entwickelten Konzepten der Erziehungsstil-ForscherInnen zusammen.

Nach Hobmair bezeichnet ein „Erziehungsstil die Art und Weise, wie ein Erzieher dem zu Erziehenden gegenübertritt. Dabei handelt es sich um relativ konstante Verhaltensweisen des Erziehers gegenüber dem zu Erziehenden […] Erziehungsstil kennzeichnet also eine durchgängige Grundhaltung des Erziehers.“ (Hobmair et al., 1996, S. 212) Diese Definition lässt sich sehr genau auf die Verwöhnung übertragen: Verwöhnung ist ebenfalls – wie ich gleich zeigen werde – eine Grundhaltung der betreffenden Eltern oder Lehrperson, die mehr oder weniger konstant und anhand bestimmter Kriterien identifizierbar ist. Verwöhnung ist eine eigene Variante eines Erziehungsstils, so wie in der Literatur etwa ein kooperativer, ein autoritärer, ein Laisser-faire-Stil (Lewin) oder eine Dimensionenkombination (Tausch und Tausch) beschrieben worden sind.

Hobmair spricht in seinem Lehrbuch der Pädagogik nur einmal von einem überbehütenden Stil (Hobmair et al, 1996, S. 222), der nach Tausch und Tausch eine sehr hohe Lenkung sowie eine maximale Wertschätzung beinhalten soll. Leider geht er darauf nicht näher ein. Ich möchte das in diesem Kapitel nachholen. Verwöhnung beinhaltet mehr und zum Teil anderes als nur sehr hohe Lenkung und maximale Wertschätzung, und Verwöhnung lässt sich auch nicht auf diese zwei Dimensionen reduzieren. Der verwöhnende Erziehungsstil hat auch wenig mit Laisser-faire oder Permissivität (Gewährenlassen) zu tun.

In Heilbruns Kontrollmuster-Modell werden zwei Hauptdimensionen (niedrige vs. hohe Unterstützung, niedrige vs. hohe Kontrolle) unterschieden. Die Kombination von hoher Kontrolle mit hoher Unterstützung wird dort mit überbehütend (engl. overprotective) bezeichnet. Ich halte dieses Konzept bezüglich der Verwöhnung für ungenau, da beim verwöhnenden Erziehungsstil die Unterstützung aus der psychologisch-pädagogischen Perspektive eben gerade nicht hoch ist: Eine echte hohe Unterstützung würde vielmehr bedeuten, dem einzelnen Kind die persönlichkeits-, situations- und altersspezifisch optimale, nicht einfach „hohe“, Unterstützung zukommen zu lassen. Hohe, also optimale, Unterstützung würde dann sehr spezifisch – sich an den Bedürfnissen und Möglichkeiten des einzelnen Kindes und Jugendlichen orientierend – manchmal hoch, dann tief, später vielleicht mittel ausfallen, je nach Situation und Person (vgl. Krohne & Hock, 1994).

Von Cubes verhaltensbiologische Definition – „Unter Verwöhnung verstehe ich eine rasche und leichte Triebbefriedigung – mit dem damit verbundenen Lusterlebnis – ohne Anstrengung.“ (Cube, 1999, S. 15) – lenkt das Augenmerk stark auf triebgeleitete Aspekte. Wunschs Beschreibung von Verwöhnung berücksichtigt dagegen stärker eine psychologisch orientierte Sichtweise: „Verwöhnung ist das Resultat unangemessenen Agierens oder Reagierens auf Wünsche oder Verhalten.“ (Wunsch, 2000, S. 83) Und etwas später schreibt er treffend: „Verwöhnung vollzieht sich durch die Erfüllung bzw. Weckung lebensbehindernder Bedürfnisse, konkret durch zuviel oder zu wenig Gewährenlassen oder durch unangemessenes Agieren und Reagieren.“ (S. 87) Schließlich gibt Wunsch noch eine direktere Beschreibung von Verwöhnung: „Wer einem Menschen Lob, Geld, soziale Anerkennung oder andere Zuwendungen ohne eigenen Beitrag – und sei er noch so klein – auf Dauer zukommen lässt, der verwöhnt.“(S. 154)

In diesen drei Zitaten Wunschs sehen wir deutlich zwei Aspekte: Verwöhnung ist eine Handlung sowie eine Haltung von Erwachsenen. Auf beides möchte ich näher eingehen.

Was heißt Verwöhnung?

Verwöhnung hat viele Erscheinungsformen und tritt in verschiedenen Varianten und unterschiedlichen Ausprägungsgraden auf.

Dreikurs und Kollegen (2003, S. 50–52) führen in ihrem Klassiker über Disziplinprobleme vier verschiedene Tendenzen der Verwöhnung durch Eltern auf:

den Kindern alles geben, was sie haben wollen, ihnen jeden Wunsch erfüllen

den Kindern alles erlauben, was sie tun wollen; ihnen jede Frustration ersparen

den Kindern jede Entscheidung abnehmen; ihnen jeden Schritt des Lebens vormachen

die Kinder vor jedem Unglück bewahren; ihnen das Ertragen der Folgen ihres Handelns abnehmen.

Diese Aufzählung scheint mir zwar interessant, aber sie überzeugt nicht zuletzt auch deshalb nicht, weil erzieherisches Handeln in dieser Absolutheit und Ausschließlichkeit schlichtweg unmöglich ist. In der Realität sind es wohl eher Haupttendenzen im erzieherischen Verhalten, die zu beobachten sind.

Die nachfolgend aufgeführten Merkmale der Verwöhnung können einzeln oder kombiniert auftreten; meistens ist zu beobachten, dass bei Verwöhnung mehrere der nachfolgend beschriebenen Aspekte vorkommen. Zudem spielen Umstände der Verwöhnenden (z. B. knappe Zeit, Trennung) und die Zeitdauer der Verwöhnung (vorübergehend oder lang anhaltend) eine wichtige Rolle. Da Verwöhnung von so vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, gibt es auch nicht die Verwöhnung, sondern vielmehr individuelle, für die betreffenden Personen und Situationen persönlich charakteristische Formen der Verwöhnung. Das macht die Sache einerseits kompliziert, aber gleichzeitig auch äußerst spannend.

Verwöhnung beinhaltet:

1. dem Kind und Jugendlichen (zu) wenig zutrauen, Überbesorgnis und Zweifel (z. B. schulisch, im Bewältigen von Aufgaben und im Erlernen von Fertigkeiten). Verwöhnung kleidet sich hier in einer Form der Überbehütung.

Die Haltung, die bei diesen Eltern – ähnlich wie bei Punkt 2 – zum Ausdruck kommt, hat dazu geführt, dass sie in Skandinavien als Curling-Eltern (die jedes Hindernis aus dem Weg räumen) bezeichnet werden, andere nennen sie Helikopter-Eltern (Kraus, 2015), weil sie in ihrer Ängstlichkeit wie im Helikopter über den gefährdeten Schützlingen wachen. Es sind gut meinende, hypersensibilisierte Eltern, die viel zu rasch eine Gefahr sehen. Das wird letztlich auch im bekannt gewordenen deutschen Film „Frau Müller muss weg“ (2015) deutlich: Damit ihre Kinder die von ihnen erwarteten guten Noten bekommen, gruppieren sich Eltern gemeinsam gegen eine Lehrerin und setzen sie massiv unter Druck. Damit kein Missverständnis entsteht: Es ist aus meiner Sicht ein großer Fortschritt, wenn Eltern und Lehrpersonen sich um die Entwicklung ihres Nachwuchses kümmern und sich für sie einsetzen, wenn sie für bestimmte Gefahren sensibilisiert sind oder wenn sie sich dafür engagieren, dass Klettertürme nicht mehr auf dem nackten Asphalt, sondern auf einem Gummibelag montiert werden. Ebenso sinnvoll ist es, wenn Kinder beim Velo- und Skifahren einen Helm tragen.

Aber: zu viele Väter und Mütter stecken in einem Dauer-Angst-Modus, überwachen ihre Nachkommen mit Babyphone und Handy-GPS und wittern im Sportverein ihres Kindes viel zu rasch einen pädagogischen Unhold. Allerdings scheint es mir da wenig hilfreich, wenn beispielsweise Frank Furedi solche Erscheinungen in seinem Buch unter dem reißerischen Titel Die Elternparanoia (Furedi, 2002) platziert.

Dreikurs gibt uns ein Beispiel, wie dies schon bei kleinen und harmlosen Situationen passieren kann:

Die vierjährige Petra kniete auf dem Küchentisch und beobachtete, wie ihre Mutter ihre Einkäufe aufräumte. Eben hatte die Mutter den Eierbehälter vom Kühlschrank auf den Tisch gesetzt und aus ihrer Einkaufstasche den Karton mit Eiern genommen, als Petra nach dem Karton griff und die Eier in den Eierbehälter tun wollte. „Um Gottes willen!“ schrie die Mutter, „sei vorsichtig, damit die Eier nicht kaputtgehen; ich werde es besser selber tun; warte, bis du größer bist.“ (Dreikurs & Soltz, 1990, S. 42).

Natürlich hat das kleine Kind weniger Übung mit zerbrechlichen Gegenständen; die Frage aber ist, wie es den Umgang damit erlernt. Die Mutter gibt ihm in diesem Beispiel keine Gelegenheit dazu. Der Zweifel an den eigenen, sich entwickelnden Fähigkeiten des Kindes ist das psychologisch besonders schädlich wirkende Element. Häufig drückt sich diese Haltung dem Kind und Jugendlichen gegenüber, verbal und nonverbal, in Mimik und Gestik, direkt und indirekt, wie folgt aus:

„Das kannst du noch nicht! Dafür bist du noch viel zu klein.“

„Das ist zu schwer für dich!“

„Das strengt sie viel zu sehr an!“

„Das ist viel zu gefährlich!“

„Das kann nur schief gehen.“

„Du gehst mir nicht allein aus dem Haus.“

„Du kannst dich fürchterlich verbrennen, schneiden, dir wehtun …“

„Das darfst du noch nicht!“

„Ich muss immer genau wissen, was du tust … wo du bist.“ usw.

Nicht gemeint sind natürlich sinnvolle und erst- oder zweimalige Warnungen vor echten Gefahren wie einem heißen Grill, einem Lagerfeuer oder einer stark befahrenen Straße. Mit diesen Dingen muss das Kind tatsächlich umgehen lernen. Es geht also vielmehr um das Prinzip der dauernden Warnung, Unterforderung, des fortlaufenden Kleinhaltens. Immer steht die Besorgnis, der Zweifel, die Angst des Verwöhnenden im Vordergrund, und diese Haltung kann das sich entwickelnde Selbstwertgefühl des Kindes wie eine Säure auflösen. Zu dieser Einstellung gehören häufige Zweifel und übertriebene Ermahnungen wie etwa:

„Schafft er es wohl? Wie geht das nur aus? Es kann so viel passieren!“

„Hast du auch nichts vergessen? Soll ich nochmals nachschauen?“

„Telefonierst du mir sofort, wenn du heil angekommen bist?“ oder:

„Telefoniere mir bitte sofort, wenn du heil angekommen bist!“

„Schreib mir sofort, wie es dir geht!“

„Wenn es nicht geht, holen wir dich natürlich wieder nach Hause.“

„Hast du auch ja den Pass dabei?“

„Hast du alles gepackt?“, „Fehlt dir nichts mehr? Bist du sicher?“

„Hoffentlich kommst du ja zurecht!?“

„Sei vorsichtig beim Zelten, Autofahren …“

„Meinst du wirklich, dass du das schaffst?“

„Soll ich nicht doch für dich …?“ usw.

Nicht die einmalige Äußerung, sondern die permanente auf das Kind oder den Jugendlichen niedergehende, fast elektrisierende Sorge, Angst und das Nicht-Zutrauen des Erwachsenen wirken psychologisch so verheerend. Auf diese Folgen werde ich in Kapitel 4 ausführlich eingehen.

Das Kind wird so von jeder normalen Beschäftigung, Aufgabe und Anforderung „entwöhnt“ und lernt nicht, auf eigenen Füßen zu stehen.

Dreikurs liefert dazu ein bedrückendes Beispiel, das auch Aspekte der weiteren Punkte abdeckt: