Was uns antreibt und bewegt - Jürg Frick - E-Book

Was uns antreibt und bewegt E-Book

Jürg Frick

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Beschreibung

Verstehen Sie besser, was Sie und andere Menschen wirklich bewegt! Von Kindesbeinen an werden wir von verschiedensten inneren und äußeren Faktoren beeinflusst und angetrieben. Oft ist uns dabei nicht klar, was uns und unsere Familie wirklich bewegt. Aber nur wenn wir erkennen, was sich in unserem Inneren abspielt, können wir Entwicklungen bei uns und bei unseren Kindern tatsächlich beeinflussen und fördern.

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Seitenzahl: 430

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Frick

Verlag Hans Huber

Was uns antreibt und bewegt

Psychologie Sachbuch

Wissenschaftlicher Beirat:

Prof. Dr. Dieter Frey, München

Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich

Prof. Dr. Meinrad Perrez, Freiburg i. Ü.

Prof. Dr. Franz Petermann, Bremen

Prof. Dr. Hans Spada, Freiburg i. Br.

Von Jürg Frick sind im Verlag Hans Huber außerdem erschienen:

Jürg Frick

Die Droge Verwöhnung

Beispiele, Folgen, Alternativen

208 S. (ISBN 978-3-456-94878-2

Jürg Frick

Die Kraft der Ermutigung

Grundlagen und Beispiele zur Hilfe und Selbsthilfe

374 S. (ISBN 978-3-456-95022-8)

Jürg Frick

Ich mag dich – du nervst mich!

Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben

352 S. (ISBN 978-3-456-94704-4)

Weitere Informationen über unsere Neuerscheinungen finden Sie im Internet unter www.verlag-hanshuber.com.

Jürg Frick

Was uns antreibt und bewegt und bewegt

Entwicklungen besser verstehen, begleiten und beeinflussen

Mit einem Geleitwort von Franz Petermann

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Jürg Frick

Pädagogische Hochschule Zürich

Zentrum für Beratung – ZfB

Birchstrasse 95

Postfach

CH-8090 Zürich

[email protected]

Lektorat: Tino Heeg, Gaby Burgermeister

Herstellung: Yaiza Iglesias

Illustrationen: Donat Bräm

Umschlagillustration: Claude Borer, Basel

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Basel

Druckvorstufe: Claudia Wild, Konstanz

Druck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen oder Warenbezeichnungen in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen.

Anregungen und Zuschriften bitte an:

Verlag Hans Huber

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

CH-3000 Bern 9

Tel: 0041 (0)31 300 45 00

Fax: 0041 (0)31 300 45 93

[email protected]

www.verlag-hanshuber.com

1. Auflage 2011

© 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

(E-Book-ISBN 978-3-456-94981-9)

ISBN 978-3-456-84981-2

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhalt

Geleitwort Franz Petermann

Vorwort

1. Einführung

Zum Aufbau dieses Buches

2. Wie wirken und wie beeinflussen uns Entwicklungsmodelle?

Zur Einführung: Acht Auffassungen über Entwicklung

Haupt-Typen von Entwicklungsmodellen

Wenn arme und schwarze Kinder von Natur aus dümmer sind

Unterstützen statt aufgeben: Der «Märtplatz»

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

3. Was treibt den Menschen an?

Einleitung

Ein Modell der Persönlichkeit: Entwicklungsfaktoren

Elf Grundbedürfnisse des Menschen

Die 16 Lebensmotive nach Reiss

Die vier Prioritäten des Menschen nach Schottky und Schoenaker

Quellen und Entwicklungswege der Prioritäten

Die 28 Lebensstiltypen nach Mosak/Frick

Schematische Darstellung der Entwicklung der Persönlichkeit

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

4. Mit dem «Entwicklungspfadmodell» Lebenswege besser verstehen

Einleitung

Entwicklungspfade und Entwicklungsbaum nach Sroufe

Entwicklungspfadmodell «Wanderung»

Der Entwicklungsverlauf zweier Schwestern

Ungünstiger und günstiger Entwicklungsverlauf

Entwicklungspfade als Muster

Indikatoren für ungünstige Entwicklungsverläufe

Indikatoren für günstige Entwicklungsverläufe

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

5. Warum möchten Kinder groß sein?

Drei Szenen

Kleine Kinder fühlen sich unterlegen

Sich stark fühlen über eigenes Tun

In der Peer-Gruppe die Identität entwickeln

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

6. Ängste im Kindes- und Jugendalter

Zum Einstieg: Einige Äußerungen über die Angst

Einleitung

Angst ist natürlich und notwendig

Angst und Entwicklungsabschnitte

Erscheinungsformen der Angst

Die Körpersprache der Angst

Schulängste

Übergangsobjekte und FantasiegefährtInnen

Viele mögliche Auslöser und Ursachen von Ängsten

Wann ist Angst normal, wann wird sie problematisch?

Angststörungen

Gott und die Angst: Religiöse Ängste

Elterliche, erziehungsbedingte Einflussfaktoren

Wann ist Hilfe nötig?

Francescos Umgang mit der Angst

Von der Angst zum Mut: Viele Möglichkeiten der Einflussnahme

Der konstruktive Umgang mit Ängsten: Ein Beispiel

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

7. Welche Bedeutung hat der Schuleintritt?

Der Schuleintritt als psychologische Herausforderung für das Kind

Erwartungen und Erfahrungen in den ersten Schultagen und Schulwochen

Wie fühlen sich Kinder in der ersten Schulwoche?

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

8. Die Rolle von Peers und Freunden in Kindheit und Jugend

Einleitung

Zur Entwicklung des Freundschaftsbegriffs und zur Entwicklung von Freundschaften

Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Peer-Freundschaften und Geschwister-Beziehungen

Weitere Merkmale, Bedeutungen und Möglichkeiten von Freundschafts- und Peer-Beziehungen im Kindes- und Jugendalter

Gibt es Störfaktoren für Freundschaften?

Freundschaftsförderndes elterliches Verhalten

Umgang und Unterstützung von Freundschaft durch ErzieherInnen und Lehrpersonen

Die acht wichtigsten Freundschaftsfaktoren

Freunde bedeuten Leben

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

9. Mit welchen Aufgaben werden Heranwachsende konfrontiert?

Einleitung

Das Konzept der Entwicklungsaufgaben

Stufenspezifische Entwicklungsaufgaben

Konflikte im Umgang mit Entwicklungsaufgaben

Worüber machen sich Jugendliche am meisten Gedanken?

Wann zählt man zu den Erwachsenen?

Spezifische Entwicklungsaufgaben

Die persönliche Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben: Gedanken einer Oberstufenschülerin

Entwicklungsaufgabe «Identität»: Aufsatz einer Oberstufenschülerin

Entwicklungsaufgaben und Coping-Strategien

Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter: Einflussfaktoren

Zum Schluss: Kein Ende!

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

10. Wie wichtig ist das Selbstkonzept?

Einleitung

Zur Entwicklung des Selbstkonzepts

Selbstkonzeptbereiche

Positive und negative Selbstkonzepte

Dynamisches und statisches Selbstkonzept

Die Differenzierung des Selbstkonzepts

Selbstkonzeptfaktoren in der Selbstbeschreibung einer 14-jährigen Heranwachsenden

Verhalten und Umfeld, Selbstkonzept und Leistung

Innere Stimmen als Ausdruck des Selbstkonzepts

Zur Veränderung des Selbstkonzepts

Gesellschaftliche Bewertung der Selbstkonzepte

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

11. Resilienz: Welche Schutzfaktoren helfen?

Einleitung

Das Risikofaktorenkonzept

Resilienz oder Resilienzen?

Resilienzfaktoren: Die wichtigsten Schutzfaktoren

Interaktion von Risiko und Resilienz: Ein Beispiel

Zu Chancen und Gefahren des Resilienzkonzeptes

Fragen und Denkanstöße I

Fragen und Denkanstöße II

Fragen und Denkanstöße III

Literaturhinweise

12. Zeichen und Warnsignale bei suizidgefährdeten Heranwachsenden

Der plötzliche Jugendsuizid aus heiterem Himmel: Ein Mythos

Was sind mögliche Zeichen oder Warnsignale für eine erhöhte Suizidgefahr bei Jugendlichen?

Wichtige Signale zur psychischen Situation I: Zeichnungen, Bilder, Illustrationen

Wichtige Signale zur psychischen Situation II: Gedichte und Notizen

«Trust is freedom»: Aufsatz einer 15-jährigen Oberstufenschülerin

Abschiedsbriefe

Nicht sterben, sondern nicht mehr leiden wollen oder können!

Merkpunkte zur Krisenintervention

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

13. Interview I: Merkmale, Wirkung und Entwicklung von Souveränität

Einleitung

Interview

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

14. Interview II: Wie wichtig ist Selbstvertrauen?

Einleitung

Interview

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

15. Interview III: Warum ist Neinsagen für die Entwicklung wichtig?

Einleitung

Interview

Denkanstöße und Denkangebote: Elf hilfreiche Punkte zum Neinsagen

Literaturhinweise

16. Hinweise für ein entwicklungsförderndes ABC des Lebens

Einleitung

ABC

Zum Schluss

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

17. Mit Aphorismen und Sprüchen (eigene) Entwicklungsprozesse anregen

Einleitung

Aphorismen und Sprüche – eine Auswahl

Fragen und Denkanstöße

Literaturhinweise

Anhang

Anhang A: Die 28 Lebensstiltypen nach Mosak/Frick

Anhang B: Persönliches Entwicklungspanorama

Anhang C: Kleiner Entwicklungsfragebogen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Sachwortregister

Geleitwort

Das vorliegende Buch von Jürg Frick beschreibt facettenreich die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Der Autor verbindet dabei entwicklungspsychologische und ganz weit gefasste humanwissenschaftliche Konzepte miteinander, mit denen es gelingt, die Risiken und Potenziale menschlicher Entwicklungen zu beschreiben und zu analysieren. Zur Einordnung solcher Konzepte wird seit zwei Jahrzehnten eine bio-psychosoziale Sichtweise gefordert, die meist in sehr abstrakter Form in Fach- und Lehrbüchern behandelt wird. Ganz anders wird in dem vorliegenden Buch verfahren: Alltagsbeispiele, historische Irrtümer, praxisnahe Übersichten und Materialien (im Anhang zu diesem Buch) eröffnen der Leserschaft einen anschaulichen Zugang zur Thematik.

Jürg Frick nimmt bei der Bearbeitung dieser komplexen Problematik eine optimistische Grundhaltung ein, die das Buch für einen großen Leserkreis besonders attraktiv macht. Eine entwicklungsorientierte Sichtweise verdeutlicht, wie Fertigkeiten aufgrund der Bewältigung von Anforderungen sich sukzessive herausbilden. Entwicklungsmodelle helfen uns zu begreifen, wie es nach einem misslungenen Start ins Leben dennoch zu einem optimalen «Entwicklungsergebnis» kommt. Unser modernes Verständnis von Risiko- und Schutzfaktoren gibt Eltern, Pädagogen und Psychotherapeuten eine Richtschnur, um zu erfassen, welche Klippen und Chancen unser Leben beinhaltet. Aus den Erfahrungen im Entwicklungsverlauf formt sich schrittweise unsere Identität.

Das in diesem Buch ausgeführte moderne Verständnis von «Entwicklung» vermittelt Kinderpsychologen, Pädagogen und Bezugspersonen, wann und wie man Kinder aktiv fördern kann, wann ein «Zuwarten» in der Entwicklung ratsam ist und wie man Begrenzungen im Entwicklungsprozess akzeptieren soll. Vor dem Hintergrund der Entwicklungspsychopathologie muss man viele Befunde (z. B. die Ergebnisse der Anlage-Umwelt-Debatte) differenzierter bewerten. Diese Sichtweise trägt dazu bei, günstige und problematische Entwicklungsbedingungen frühzeitig zu erkennen und die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen angemessen umzugestalten.

Die entwicklungsorientierte Sichtweise hilft uns auch dabei, besser zu begreifen, wann Kinder, Jugendliche und Erwachsene scheitern, wann sie Probleme noch gut bewältigen, wann man aus Grenzerfahrungen im Kontext der Problembewältigung psychisch robuster (resilienter) wird. Viele Erfolge und Misserfolge in der Schule und im Beruf kann man auf der Basis dieser Sichtweise neu bewerten. Häufig gelingt es auch – unter Heranziehung gesicherter Erkenntnisse aus der Klinischen Kinderpsychologie – die Beratung und Therapie von Kindern und ihren Familien zu verbessern. In diesem Kontext werden aus den Fallbeispielen und theoretischen Materialien dieses Buches verschiedene Zielgruppen sehr profitieren. Die prägnanten Darstellungen ermöglichen einen gelungenen Zugang zu diesem komplexen Problemgebiet.

Bremen, im Februar 2011

Franz Petermann

Vorwort

Menschsein lässt sich wohl am treffendsten mit dem Begriff «sich entwickeln» umschreiben: Wir kommen als mehr oder weniger doch recht hilflose Wesen auf die Welt, bringen zwar einige Reflexe, verschiedene erstaunliche Kompetenzen sowie vor allem eine enorme Lernbereitschaft und -fähigkeit mit; dennoch müssen wir das meiste für das Leben Notwendige in einem lange Jahre andauernden Prozess erwerben, lernen, vertiefen, trainieren, modifizieren. Was treibt uns dazu an? Dazu hilft uns im günstigen Fall eine angemessene Umgebung (liebevolle Eltern usw.) und eine gute biologische Basis (mehr dazu in Kap. 2).

Das Thema Entwicklung beschäftigt alle Menschen im Laufe ihres Lebens immer wieder, besonders wohl nach oder in Krisen. Warum entwickeln sich die einen Menschen in diese, andere in eine gänzlich andere Richtung? Was treibt sie an? Welche Ziele, Motive verfolgen sie? Von welchen Bedürfnissen werden sie gesteuert? Einige Gründe (und Hintergründe) sollen in den verschiedenen Kapiteln ausgeleuchtet werden. Die Ausführungen sollen dazu beitragen, die eigene Entwicklung und/ oder die Entwicklung anderer Menschen besser verstehen zu können und – wenn von beiden Seiten gewünscht – zu unterstützen sowie zu beeinflussen.

Mit dem Thema, was Menschen in ihrer Entwicklung antreibt, was sie beeinflusst, beschäftige ich mich seit vielen Jahren, besonders als langjähriger Dozent und Seminarleiter für Entwicklungspsychologie in der früheren seminaristischen LehrerInnenbildung in der Schweiz sowie seit 2002 an der Pädagogischen Hochschule Zürich, seit den 1990er-Jahren zusätzlich auch als psychologischer Berater. Zudem bin ich seit Jahren als Berater von Lehrkräften im Schulfeld mit den verschiedenen Facetten von Entwicklung – der Entwicklung von SchülerInnen wie von Lehrkräften – vertraut. Aus all den erwähnten Wirkungsfeldern fließen in dieses Buch wissenschaftliche Erkenntnisse, Beratungs- und Supervisionserfahrungen, ausgewählte und veränderte Vorlesungs- und Seminarunterlagen sowie veranschaulichende Texte von Studierenden und Berufsleuten zum Thema Entwicklung ein.

An einem Buch sind letztlich immer sehr viele Menschen auf verschiedenen Ebenen beteiligt. Ich möchte an dieser Stelle namentlich folgenden Personen meinen Dank aussprechen: Kathrin Frick, Therese Prochinig, Jürg Rüedi sowie Michael Ricklin haben verschiedene Teile des Manuskripts kritisch durchgelesen und dazu wichtige Anregungen, Kommentare und Hinweise gegeben, die zur Klärung und Verbesserung dieses Buches geführt haben. Trotzdem trägt natürlich der Verfasser die Verantwortung für den ganzen Text mit allen verbliebenen Unzulänglichkeiten und allfälligen Fehlern. Die erfrischenden und anregenden Cartoons stammen von meinem Kollegen Donat Bräm, ebenfalls Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich sowie begabter Zeichner. Danken möchte ich auch allen Menschen, die mich in meiner eigenen beruflichen wie privaten Entwicklung in irgendeiner positiven Art und Weise unterstützt und somit meine Antriebskräfte gestärkt haben! Ein spezielles Dankeschön geht ferner an Franz Petermann für sein freundliches Geleitwort.

Mein Dank geht schließlich auch an angehende und amtierende Lehrkräfte meiner diversen Lehrveranstaltungen, Seminare und Weiterbildungskurse sowie an verschiedene Lehrpersonen, die mir aus Studienarbeiten und Beratungen im Laufe vieler Jahre für dieses Buch auch anschauliche schriftliche Texte und Aufsätze zur Verfügung gestellt haben. Für die drei farbigen Bilder (Kap. 12) danke ich ebenfalls einer ehemaligen Studentin ganz herzlich.

Monika Eginger und Gaby Burgermeister vom Verlag Hans Huber unterstützten mich wie gewohnt auf optimale Weise; Gaby Burgermeister lektorierte das Manuskript sorgfältig und redigierte die hilfreichen Sach- und Personenregister.

In allen Fallbeispielen wurden die Namen ausgewechselt und in einigen wenigen Fällen zudem geringfügige Details verändert, um die Betroffenen zu schützen.

Ich hoffe, dass Sie als Leserin oder als Leser aus der Lektüre und den Beispielen positive Anregungen und Denkanstöße für sich finden sowie daraus fruchtbare, positive Einsichten entwickeln: um die eigene oder die Entwicklung anderer Menschen besser verstehen zu können, die eigenen Antriebskräfte zu erkennen und positiv zu beeinflussen.

Jedes Kapitel schließt mit einem Kasten, der weiterführende Fragen sowie Denkanstöße zur weiteren Vertiefung enthält; Literaturhinweise zu Büchern, die verschiedene Aspekte des Themas weiter verfolgen oder ergänzen, runden die einzelnen Kapitel ab.

Ich freue mich auf Rückmeldungen, eigene Beispiele, Verbesserungsvorschläge, Fragen usw.

Zürich, Februar 2011

Jürg Frick

1 Einführung

«Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben.»

(leicht verändert nach Sören Kierkegaard)

Im vorliegenden Buch möchte ich einige mir persönlich besonders wichtige Themen der Psychologie – nicht nur der Entwicklungspsychologie, sondern auch der klinischen oder pädagogischen Psychologie –, die mit der menschlichen Entwicklung zu tun haben, beispielhaft und konkret in abgeschlossenen Kapiteln darstellen. Aus der Fülle von Möglichkeiten wähle ich bewusst einige Schwerpunkte von Entwicklungsprozessen und -themen aus – es wären natürlich noch viele weitere möglich – und versuche, sie verständlich und anschaulich darzustellen. Dabei mussten natürlich viele weitere spannende Themen, die den Menschen antreiben oder die zu seiner Entwicklung beitragen, weggelassen werden: Allerdings liegen etwa zu Neid, Hass, Wut, Aggression, Freude und Lust schon verschiedene empfehlenswerte psychologische Bücher vor, und zur Rolle und Bedeutung von Geschwistern kann ich interessierte Leserinnen und Leser auf ein anderes Buch von mir verweisen.1 Mit jeder Auswahl wird selbstverständlich zugleich immer eine Abwahl getroffen – Leben wie Schreiben bedeuten immer, eine kleine Auswahl vorzunehmen. Das ist gut so! Ob dies hier gelungen ist, mögen die Leserinnen und Leser entscheiden.

Alle Themen stehen in einem engen Bezug zu meinen eigenen Erfahrungen in Lehre und Beratung. Ein besonderes Anliegen sind mir die Anschaulichkeit, Verständlichkeit, Konkretheit sowie die Möglichkeit, eigene Bezüge und weiterführende Gedanken zu entwickeln, Anregungen weiter zu verfolgen.

Das Buch soll dazu beitragen, mehr Verständnis für die komplexen, individuellen Wege, die Menschen im Laufe ihres Lebens einschlagen, und für die vielfältigen Antriebskräfte, die sie bewegen, zu wecken sowie Verständnis für ihre Umwege wie auch Abwege zu fördern: Das Leben verläuft nie geradlinig, problemlos – zum Glück!

Zum Aufbau dieses Buches

In jedem Kapitel werden ausgewählte Aspekte (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit!) zum Thema erörtert, wo möglich mit konkreten Beispielen, Cartoons, kurzen oder ausführlicheren Texten, Aufsätzen oder einem Interview veranschaulicht. Am Ende eines jeden Kapitels finden sich ein Kasten «Fragen und Denkanstöße», der zur weiteren persönlichen Vertiefung mit der Thematik einlädt, sowie spezifische Hinweise zur weiterführenden Lektüre.

Nachfolgend zur schnellen Orientierung eine kurze Übersicht:

In

Kapitel 2

stehen verschiedene Auffassungen und Modelle (oder Typen) von Entwicklung im Zentrum: Es ist von entscheidender Bedeutung, von welchen Annahmen Menschen über ihre oder die Entwicklung anderer Personen ausgehen – das wird unter anderem an zwei ziemlich gegensätzlichen Bespielen erörtert.

Das

3. Kapitel

behandelt in einem ersten Teil die drei wesentlichen Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung, beschreibt ihre komplexe Interaktion und belegt an zwei kurzen Aufsätzen von Kindern beispielhaft die rasante grafomotorische und kognitive Entwicklung in diesem Altersabschnitt. Wichtige Grundbedürfnisse oder Lebensmotive stellen wichtige treibende Kräfte der bio-psychosozialen Entwicklung des Menschen dar und werden hier näher beschrieben. Anhand des anschaulichen Prioritätenmodells von Schottky und Schoenaker lassen sich Vor- und Nachteile von Verhaltenstendenzen sowie deren Entwicklungswege besser verstehen und einordnen. Sie erhalten als LeserIn und MitdenkerIn Anregungen, eigene Prioritätensetzungen (oder von anderen Personen) zu reflektieren. Zudem zeige ich an einem erweiterten Modell der 28 Lebensstiltypen mögliche Vor- und Nachteile von solchen Grundorientierungen des Menschen. Ein anschauliches zusammenfassendes Modell der Persönlichkeitsentwicklung rundet das Kapitel ab.

Das sogenannte «Entwicklungspfadmodell» im

4. Kapitel

lehrt uns, Entwicklungsverläufe in verschiedenen Abschnitten als veränderbar, in alle Richtungen offen, zu verstehen: Frühe ungünstige beziehungsweise günstige Entwicklungen müssen nicht a priori den weiteren Verlauf in die gleiche Richtung vorantreiben. Am Beispiel zweier Schwestern soll dies unter anderem näher veranschaulicht werden.

Wer jüngere Kinder beobachtet, stellt rasch fest: Diese möchten groß und stark sein. Warum eigentlich? Diese Frage wird aus verschiedenen psychologischen Perspektiven (Individualpsychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Selbstwirksamkeitspsychologie usw.) im

5. Kapitel

beleuchtet, beschrieben und begründet.

Ängste gehören zur Grundausstattung des Menschen. Warum Ängste wichtig sind, in welchen vielfältigen Formen sie in den verschiedenen Alters- und Entwicklungsabschnitten zum Ausdruck kommen (und meistens auch wieder verschwinden), wann sie für Heranwachsende (und Eltern) zum echten Problem werden – und was sich dagegen alles tun lässt, wird in

Kapitel 6

besprochen. Schließlich darf auch eine ausführliche Auflistung möglicher Auslöser oder Ursachen sowie eine Darstellung erziehungsbedingter Einflussfaktoren für die Entstehung von Ängsten nicht fehlen: Ängste entwickeln sich vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen! Wie konstruktiv der Umgang mit Ängsten sein kann, demonstrieren der kleine Francesco und – im Rückblick – eine Studentin in zwei separaten Texten.

Kapitel 7

widmet sich dem Übergang Kindergarten-Schule: Der Schuleintritt, bei dem verschiedenste Faktoren, Personen und Akteure beteiligt sind, wird hier als psychologische Herausforderung an das Kind verstanden. Angst, Zweifel, aber auch Freude und Hoffnung wechseln sich in individueller Ausprägung in den Kindern ab. Ein transkribiertes längeres Interview mit Kommentar veranschaulicht die vielfältigen Anforderungen und Entwicklungsaufgaben, aber auch die gegensätzlichen Gefühle in dieser wichtigen Übergangszeit. Kurze Erinnerungstexte von Drittklässlern an ihre ersten Schultage ergänzen und belegen die abschließende kurze Zusammenfassung einer Studie über das Wohlbefinden in der ersten Schulwoche.

Der Darstellung der enormen Bedeutung von Peers und Freunden für die Heranwachsenden ist das

Kapitel 8

gewidmet: Wie entwickeln und differenzieren sich Freundschaftsbegriffe und Freundschaften, was unterscheidet sie zum Beispiel im Vorschul- und im Oberstufenbereich? Was gewinnt man alles durch Freunde? Kann elterliches Verhalten Freundschaftsbeziehungen fördern oder stören – und gibt es Möglichkeiten für Lehrkräfte in der Schule? Die Darstellung der acht wichtigsten Freundschaftsfaktoren rundet das Kapitel ab.

Das

9. Kapitel

beschreibt die allgemeinen sowie spezifischen Entwicklungsaufgaben von Heranwachsenden. Wie und welche Konflikte dabei auftreten und worüber sich Jugendliche in dieser Zeit besonders Gedanken machen, wie sie selber das Erwachsensein definieren, welche Gefühle sie beschäftigen: Dies erfahren Sie unter anderem anhand verschiedener kurzer Aussagen sowie anhand von zwei ausführlicheren Aufsätzen von Jugendlichen. Im letzten Teil werden verschiedene – günstige und weniger günstige – Bewältigungsstrategien (Coping-Strategien) vorgestellt und kurz erörtert.

Kapitel 10

widmet sich dem Thema Selbstkonzept: Wie entwickelt sich dieses, welche Bereiche des Selbstkonzepts haben ForscherInnen entdeckt und welche Bedeutung haben positiv oder negativ gefärbte Selbstkonzepte für die weitere Entwicklung? Eine 14-jährige Jugendliche beschreibt anschließend ihre eigenen Selbstkonzeptanteile – differenziert und durchaus selbstkritisch! Kurze Hinweise über innere Stimmen als Ausdruck des Selbstkonzepts und zur möglichen Veränderung des Selbstkonzepts beschließen das Kapitel.

Die Entwicklung eines jeden Menschen wird immer von Risiko- und Schutzfaktoren beeinflusst, der Weg des Lebens ist letztlich immer auch eine Interaktion von Risiko und Resilienz. Beide Aspekte kommen in

Kapitel 11

zur Sprache, besonders aber die Schutzfaktoren: Neben wichtigen Risikofaktoren wird gezeigt, dass wir genau genommen von Resilienzen (statt von Resilienz) sprechen müssten und diese auch in der anschließenden Zusammenstellung von wichtigen Schutzfaktoren berücksichtigen sollten. Neben den wichtigen unbestreitbaren Chancen des Resilienzkonzepts dürfen auf der anderen Seite mögliche Gefahren (und Missbräuche) nicht verschwiegen werden.

Das

12. Kapitel

möchte zeigen, welche Zeichen und Warnsignale auf eine erhöhte Suizidgefahr bei Jugendlichen hindeuten können. Anschauungsmaterial für die Not wie auch die noch übrig gebliebene Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben belegen drei farbige Bilder einer Oberstufenschülerin sowie verschiedene Texte (Gedicht, Aufsatz, Abschiedsbrief). Die aufgeführten Merkpunkte zur Krisenintervention können dazu beitragen, Jugendliche in dieser schwierigen psychischen Situation besser zu verstehen, zu begleiten oder allenfalls auch zu unterstützen.

Was ist eigentlich Souveränität, wie wird man souveräner? Das Interview erläutert, was souveräne Menschen auszeichnet, wie sich das im Alltag ausdrückt, was Souveränität bei anderen auslöst – und woraus sich diese Fähigkeit speist, wie sie sich entwickelt, wie sie allenfalls gefördert werden kann. Diese und weitere Fragen (und Antworten darauf) stehen im Zentrum des Interviews in

Kapitel 13

.

Im Interview im

14. Kapitel

erfahren Interessierte, was Selbstvertrauen genau ist, wie es wirkt, warum es für das Leben wichtig ist, wie es entsteht, wie es gestärkt – aber auch wodurch es geschädigt werden kann.

Wer nicht gelernt hat, adäquat nein zu sagen, kommt im Leben letztlich zu kurz: die Kunst des Neinsagens, die Gründe, warum viele Menschen das Nein zu sehr scheuen und was sie damit verpassen, ja verlieren, steht im Zentrum des Interviews in

Kapitel 15

.

Am Schluss offeriere ich Ihnen elf – aus meiner Sicht – hilfreiche Punkte zum Neinsagen.

Ausgehend von Erkenntnissen der Psychologie und der Philosophie biete ich im

16. Kapitel

den LeserInnen ein vielfältiges ABC des Lebens an: bedenkenswerte und – so hoffe ich – nützliche kurze Aussagen, die zum Nachdenken einladen und die für eine günstige Entwicklung und für Lebensfreude wichtig sein können.

Aphorismen und Sprüche vermögen unter günstigen Umständen Entwicklungsschritte im Leben eines Menschen zu initiieren oder zu unterstützen:

Kapitel 17

enthält dazu 85 kurze mögliche Belege zu unterschiedlichsten Themen wie etwa «Menschenkenntnis», «der übersehene Preis des Hasses», «Eitelkeiten», «Der wirkliche Gewinner», «Wo setze ich den Schwerpunkt?», «Genau hinschauen», «Die Wirkung der Nörgler» oder «Die Wahrheit des Pessimisten».

Anhang A

soll allen interessierten Laien, aber auch Fachpersonen die Möglichkeit bieten, sich mit den 28 «Lebensstiltypen» des

3.Kapitels

noch genauer und vertiefter auseinanderzusetzen sowie eigenen Lebensstilelementen mit ihren Vor- und Nachteilen auf die Spur zu kommen. Vielleicht möchte die eine oder andere Leserin, der eine oder andere Leser daraufhin bei sich etwas verändern?

Mit einem anschaulichen und einfachen Modell, dem «persönlichen Entwicklungspanorama», das wir an der Pädagogischen Hochschule Zürich in einer veränderten Form seit Jahren mit Erfolg mit jungen Lehrkräften einsetzen, kann in

Anhang B

das eigene Leben als Entwicklung verstanden und in eine grafische Darstellung gebracht werden. Dank gezielten Fragen und Hinweisen zu wichtigen Entwicklungsaspekten gelingt es, eigenen wichtigen Themen auf die Spur zu kommen, sie aus einer anderen Perspektive zu entdecken und zu überdenken, vielleicht auch neu zu gewichten.

Der kleine Entwicklungsfragebogen in

Anhang C

ergänzt und vertieft die Auseinandersetzung mit der eigenen persönlichen Entwicklung.

Wer sich mit einem bestimmten Thema noch etwas weiter auseinandersetzen möchte, findet in den jeweiligen Literaturhinweisen am Ende der einzelnen Kapitel sowie im Literaturverzeichnis am Schluss des Buches verschiedene Hinweise auf weiterführende und vertiefende Fachliteratur.

Das Buch ist so konzipiert, dass eine gewinnbringende Lektüre nicht der Reihe nach erfolgen muss, als LeserIn können Sie sich nach Lust und Laune auch nur einzelne Kapitel zu Gemüte führen. Trotzdem empfiehlt es sich, das 3.Kapitel («Was treibt den Menschen an?») vorgängig zu lesen, weil es wesentliche Grundlagen für die weiteren Themen enthält.

Angesichts der Breite des Themas «Entwicklung» können aus meiner Sicht Menschen verschiedenster Berufsgruppen und Interessenfelder im vorliegenden Buch Anregungen finden; namentlich aufgeführt seien hier:

Personen, die an Entwicklungen von Menschen generell interessiert sind

LeserInnen, die ihre eigene Entwicklung, ihre Antriebskräfte besser verstehen – und daraus vielleicht auch Konsequenzen ziehen – möchten

LeserInnen, die Entwicklungswege anderer Menschen – Heranwachsende wie auch Erwachsene – besser verstehen möchten und sie vielleicht auch in irgendeiner Form unterstützen oder beeinflussen möchten

Lehrpersonen aller Stufen

SpielgruppenleiterInnen und KleinkinderzieherInnen

PsychologInnen und PsychotherapeutInnen

SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen

Ärzte, Pflegefachpersonen und weitere Angehörige von Heil-, Pflegeund Medizinalberufen

PatientInnen, KlientInnen, Hilfesuchende, die mit psychologischen BeraterInnen oder PsychotherapeutInnen und anderen Angehörigen helfender Berufe zu tun haben, kurz: Menschen, die irgendeine Form von Beratung, Unterstützung oder Therapie beanspruchen

Eltern und andere Erziehende

speziell an Entwicklungsproblemen interessierte ZeitgenossInnen.

Das vorliegende Buch soll also Menschen ansprechen, die an der Entwicklung von Menschen, vorliegenden Schwierigkeiten, Klippen, Hindernissen und an möglichen günstigen Lebenswegen und -haltungen interessiert sind. Aus dieser Perspektive kann man dieses Buch durchaus (auch) als Unterstützung verstehen, die Anregungen zum besseren Verständnis von Mitmenschen oder sich selber (Selbsterkenntnis) zur Verfügung stellt. Ob diese Versprechen eingelöst werden, mögen die LeserInnen entscheiden. Die Lektüre und Auseinandersetzung mit einem Buch ersetzt allerdings nie, das sei hier unmissverständlich festgehalten, eine allfällige Beratung oder Therapie.

Schließlich soll das Buch auch durch die verschiedenen Beispiele und Denkanstöße LeserInnen anregen, sich über ihre eigenen Entwicklungswege und Antriebskräfte klarer zu werden sowie Chancen und Potenziale neuer Sichtweisen und Haltungen besser zu erkennen und zunehmend auch anzuwenden. Das Leben ist eine offene Veranstaltung: Der Mensch entwickelt und verändert sich bis zu seinem letzten Atemzug! Leben heißt sich entwickeln.

2 Wie wirken und wie beeinflussen uns Entwicklungsmodelle?

Die ersten Menschen konnten auch nicht lesen und schreiben. Warum sollen das die Tiere nicht auch noch lernen? (Antje, 8 Jahre)2

Zur Einführung: Acht Auffassungen über Entwicklung

Alle Personen, auch schon Kinder, schaffen sich, ob bewusst oder unbewusst, im Laufe ihres Werdegangs eine persönliche Vorstellung über die Entwicklung des Menschen – sogar auch über die Tiere, wie das obige Beispiel anschaulich zeigt! –, und zwar sowohl über ihre eigene wie auch über diejenige der Menschen und der Menschheit als Ganzes. Viele dieser Vorstellungen oder Bilder sind ihren ErzeugerInnen und TrägerInnen nicht oder nur teilweise bewusst. Wir sprechen deshalb auch von impliziten (unausgesprochenen, unbewussten) und expliziten (ausgesprochenen, bewussten) Entwicklungsvorstellungen. In den folgenden Aussagen drücken sich ganz unterschiedliche Auffassungen von Erwachsenen aus – und zwar sowohl über die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen als auch über die Bedeutung der Erziehungseinflüsse.

Dem Menschen wächst der Verstand ebenso wie ihm die Haare wachsen, und er bekommt Gedanken und Sprache ebenso, wie er Zähne bekommt. (Ludwig Gurlitt, Reformpädagoge, 1855–1931)3Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren. (John Watson, Zoologe und Psychologe, 1878–1958)4Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen lassen und nur sehen, dass die umgebenden Verhältnisse die Arbeit der Natur unterstützen, das ist Erziehung. (Ellen Key, Reformpädagogin, 1849–1926)5Erziehung vermag alles. […] Die Erziehung macht uns zu dem, was wir sind. (Claude Adrien Helvétius, Philosoph, 1715–1771)6Ich darf wohl sagen, dass von zehn Menschen, denen wir begegnen, neun das, was sie sind, gut oder böse, nützlich oder unnütz, durch ihre Erziehung sind. Sie ist es, welche die großen Unterschiede unter den Menschen schafft. Die kleinen oder nahezu unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr bedeutende und dauernde Folgen: Es ist wie mit den Quellen mancher Flüsse, wo ein behutsames Anlegen der Hand die lenksamen Wasser in Kanäle leitet, die ihnen einen ganz anders gerichteten Lauf geben. […] Ich stelle mir vor, dass der kindliche Geist wie das Wasser ebenso leicht in diese oder jene Richtung gelenkt werden kann. (John Locke, Philosoph, 1632–1704)7Es ist ausgemacht, dass die schlechte Erziehung der Frauen viel mehr Unheil anrichtet als die der Männer. (François Fénelon, Philosoph, 1651–1715)8In Wirklichkeit sind Kinder von Natur aus weder gut noch schlecht. Mit Reflexen und ein paar Instinkten kommen sie auf die Welt. Unter dem Einfluss der Umgebung bilden sich Gewohnheiten, die entweder gesund oder krank sind. (Bertrand Russell, Philosoph und Mathematiker, 1872–1970)9Die Menschen sind, was die Umstände aus ihnen machen, doch werden sie, was sie aus den Umständen machen. (Manès Sperber)10

Welche dieser Aussagen sprechen Sie an, welche lehnen Sie ab? Warum? Wie erklären Sie sich das? Die Antwort hat mit Ihrem Menschenbild, Ihren Auffassungen von Entwicklung sowie Ihrer eigenen persönlichen Lebensgeschichte zu tun.

Haupt-Typen von Entwicklungsmodellen

Die obigen Aussagen lassen sich letztlich mehr oder weniger einem bestimmten Typus eines Entwicklungsmodells (vgl. Tab. 2-1) zuordnen oder sind Mischungen: Einige der Aussagen betonen stärker endogene Faktoren wie Biologie und Genetik, andere legen das Gewicht vor allem auf die Umwelterfahrungen (exogener Faktor) oder auf die Selbstgestaltung des Individuums (autogener Faktor). Immer sind damit letztlich auch Einschätzungen, ja Wertungen verbunden, wie die Behauptung von Fénelon (6.) dies deutlich zum Ausdruck bringt: Mädchen seien als schwache Lebewesen gefährdeter für negative Einflüsse als Jungen! Nur nebenbei: Erst um 1845 konnte in Deutschland die allgemeine Schulund Unterrichtspflicht auch für Mädchen eingeführt werden, in Preußen wurde 1908 die Zulassung zum Abitur und zum Studium für Mädchen auch gesetzlich verankert, 1920 die Habilitationsmöglichkeit für Frauen an deutschen Universitäten eingeführt (Kleinau/Opitz 1996 b) – und in der Schweiz wurde das Frauenstimmrecht sogar erst 1971 (!) eingeführt: Diese vier Beispiele zeigen, wie Entwicklungsvorstellungen – hier über das weibliche Geschlecht – weitreichende Folgen auch auf die Bildungsmöglichkeiten und -angebote ausüb(t)en! Die Positionen 2. und 4. belegen einen extremen pädagogischen und Entwicklungsoptimismus, die Position 5. betont ebenfalls – in etwas geringerer Ausprägung – den Umweltfaktor. Die Aussagen von Russell und Sperber (7. und 8.) verbinden sozusagen zwei Modelle: Sie sprechen den Umweltfaktoren eine sehr bedeutsame Rolle zu (Umwelttheorie), lassen dem einzelnen Menschen aber einen großen Spielraum, eine Entwicklung sowie Verantwortung mit vielen Möglichkeiten offen (Selbstgestaltungstheorie). Der Biologie vertrauen und gute Rahmenbedingungen schaffen (Position 3., teilweise auch 1.) betont vor allem Ellen Key.

Tabelle 2-1: Vier Haupt-Typen von Entwicklungsmodellen

Dispositions- oder endogenistische Modelle (biologisch-reifungstheoretische Ansätze): Entwicklung als weitgehende natürliche Entfaltung eines biogenetisch angelegten Planes. Der Einfluss der Umwelt ist gering (Modell der Pflanze).Umwelt- oder exogenistische Modelle (behavioristische Ansätze): Der Mensch und seine Entwicklung sind weitgehend oder fast ausschließlich durch äußere Reize/Einflüsse bestimmt, kontrollierbar, manipulierbar (Modell der Milieutheorie: Aufklärung, Locke, Watson, Behaviorismus).Interaktionsmodelle: Mensch und Umwelt bilden ein (bio-psychosoziales) Gesamtsystem, in dem die Aktivitäten und Veränderungen sowie Beeinflussungen beider Teile miteinander untrennbar verschränkt sind (auch ökopsychologische Modelle: Bronfenbrenner 1981).Selbstgestaltungstheorien (handlungstheoretische, konstruktivistische Ansätze): Der Mensch beeinflusst und gestaltet seine eigene Entwicklung weitgehend durch ziel- und zukunftorientiertes Handeln (z. B. Piaget 1985, teilweise auch Frankl 1985).

Entwicklungsmodelle wie Entwicklungstheorien sind nicht in einem Neutrum, quasi im luftleeren Raum entstanden. Das gilt ebenfalls für wissenschaftliche Theorien: Obwohl diese strengen Kriterien unterworfen sind, liegen auch ihnen letztlich immer identifizierbare Menschenbilder zugrunde, und sie werden in konkreten Gesellschaften mit bestimmten kulturellen und politischen Rahmenbedingungen geschaffen und wirken wiederum auf diese zurück, wie wir das etwas später an Beispielen erkennen werden. Diese Aussage ist besonders auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil das Menschenbild erstens in einem hohen Ausmaß bestimmt, worauf die Theorie ihr Augenmerk richtet, weil zweitens darin schon Interpretationstendenzen angelegt sind, und drittens bestimmt das Menschenbild schon zumindest teilweise voraus, was – Schwerpunkt, Ziel – mit einer bestimmten Theorie untersucht und geleistet werden kann und soll (Flammer 2009): Damit sind wir wieder bei Interessen und Absichten. Dazu gleich mehr.

In der umfangreichen Darstellung von Flammer (2009) werden rund 16 Haupt-Entwicklungstheorien vorgestellt. Noch stärker vereinfacht lassen sich in der Tabelle 2-1 vier Hauptmodelle (oder Typen) psychischer Entwicklung zusammenfassend darstellen.

Ich lasse hier weitere Entwicklungsmodelle wie etwa jenes der humanistischen Psychologie (Maslow 2002/1943, Rogers 1977) oder ausschließlich neurobiologisch basierte Konzepte weg. Entwicklung kann überdies auch als Fertigkeitsleistung eines Individuums (Fischer 1980), als Sozialisation (Wygotski 1977/1934) als Problemlöseprozess, als Pendeln zwischen Assimilation und Akkomodation (Piaget 1988/1926), als kompensatorischer Prozess zur Überwindung eigener Unzulänglichkeiten (Adler 1973 e/1912) oder als ein Weg der Beobachtung (Rogoff 2003) verstanden werden. Alle diese (und weitere) Theorien beleuchten Teilaspekte, liefern wichtige Bausteine und Hinweise, die für eine umfassende Entwicklungstheorie berücksichtigt werden können.

Wir könnten, salopp ausgedrückt, Folgendes festhalten: Lege mir deine Entwicklungsvorstellungen oder dein Entwicklungsmodell dar, und ich sage dir, wie du dich und andere siehst und behandelst! So wie Menschen im Sinne von Watzlawick und Kollegen (2000) nicht nicht kommunizieren können, so können sie ebenso wenig keine Theorie zur menschlichen Entwicklung haben: Sie gehen immer, bewusst, halbbewusst oder unbewusst, von bestimmten Annahmen aus und leben mehr oder weniger gemäß diesen Leitlinien – und beeinflussen damit ebenso ihre eigene Entwicklung wie andere Personen. Diese Theorien können der Realität angemessener sein – oder eben nicht. Trotzdem zeigen sie immer Folgen! Zwei Beispiele sollen das im Folgenden belegen.

Das erste Beispiel dokumentiert die verheerenden Folgen eines extrem ausgeprägten endogenetisch-biologistischen Entwicklungsmodells auf Schule, Gesellschaft und Politik; im zweiten Beispiel finden sich stark ressourcenorientierte und umweltbetonte Ansätze im Grundverständnis wieder.

Wenn arme und schwarze Kinder von Natur aus dümmer sind11

Der seinerzeit berühmte (und später berüchtigte) amerikanische Psychologe Cyril Burt (1883–1971) arbeitete zeitweilig als Chefpsychologe der Londoner Schulen und engagierte sich als beamteter Psychologe des London County Council (1913–1932), Schüler in Rangfolgen einzuordnen. Zudem war er von 1924 bis 1931 Professor für Pädagogische Psychologie am London Day Training College (Institut für Pädagogik) der University of London und von 1931 bis 1951 Professor für Psychologie am University College London. Seine Forschungen über Vererbung und seine Überzeugungen flossen in die Schulstruktur Englands ein (z. B. Zuweisung zu Sonderschulen). Für seine Leistungen wurde er 1946 sogar geadelt. Burt forschte vor allem zur Erblichkeit der Intelligenz und zu Persönlichkeitsmerkmalen, nutzte dazu die Zwillingsforschung und legte dar, dass die Intelligenzquotienten eineiiger Zwillinge stärker korrelierten als bei zweieiigen. Aus weiteren Untersuchungen folgerte er, dass sich Intelligenz zu mindestens 85% vererbe, während das Milieu nur geringen Einfluss auf die Intelligenz ausübe. Burt ging von der fixen Idee aus, dass angeborene Dummheit die Hauptursache der Armut sei. Sein Fazit: Da Arbeiterkinder aufgrund ihrer genetischen Ausstattung für den Besuch von höheren Schulen ungeeignet sind, soll das Schulsystem vor allem die intelligenten Kinder fördern und kein Geld für wenig(er) begabte verschwenden. Für ihn stellte die Einkommensverteilung in England ein exaktes Abbild der Verteilung von ererbten Fähigkeiten dar. Diese Auffassung zeitigte verheerende Folgen: Burt gewann als Regierungsberater großen Einfluss auf das Schulsystem, denn mit der 1944 beschlossenen Aufteilung der Schulen in drei qualitativ unterschiedliche Modelle wurden diese Einschätzungen sozusagen staatlich zementiert und Förderprogramme für ärmere Kinder als nutzlos erachtet. Außerdem forschte er zu Persönlichkeitsfaktoren, Milieueinflüssen auf das Verhalten und zu Kriminellen. Für seine Verdienste um die pädagogische Psychologie und das englische Bildungssystem erhielt er 1971 den Thorndike-Preis der American Psychological Association (APA). Burt starb im selben Jahr als hoch geachteter Wissenschaftler. Bald darauf kamen allerdings erhebliche Zweifel an seinen Daten auf, die schließlich zu folgendem ernüchterndem Schluss führten: Burt hatte seine Daten gefälscht sowie zwei nicht existierende Mitarbeiterinnen schlichtweg erfunden, seine Originalarbeiten waren nicht mehr auffindbar und nachprüfbar.12 Sein Beispiel zeigt, wie ein Mensch mit einer A-priori-Überzeugung beginnt und dann unter Umständen sogar als Wissenschaftler nicht zurückschreckt, mit allen Mitteln seine aus heutiger Sicht rassistischen Vorstellungen zu verbreiten. Sein Menschenbild zeigte sich schon früh: So befürchtete er 1909, dass «unbegründete Humanitätsduselei und Menschenfreundlichkeit unter Umständen die natürliche Ausmerzung schlechten Blutes aufhebt.»13

Trotzdem importierten andere Psychologen wie Arthur R. Jensen (*1923) Burts Gedankengut in die USA und behaupteten, dass schwarze Kinder über eine geringere Intelligenz verfügten als weiße – eben infolge der Vererbung. Ferner stellte Jensen in verschiedenen Artikeln (1969) und Büchern (1972) die These auf, dass kompensatorische Erziehung zwecks Steigerung des IQ zwar in geringem Maß möglich sei, aber letztlich eine Geldverschwendung darstelle. Arbeiterkinder und Schwarze hätten eben von Natur aus einen niedrigeren IQ. Fast nicht zu glauben: Im Jahre 2003 (!) erhielt Jensen den angesehenen Kistler-Preis, der nach dem schweizerisch-amerikanischen Physiker, Erfinder und Philanthropen Walter P. Kistler benannt ist und seit 1999 jährlich vergeben wird, um wichtige Beiträge «zum Verständnis der Verbindung von menschlicher Vererbung und menschlicher Gesellschaft» auszuzeichnen. Jensen wurde neben einem Preisgeld von 100 000 US-Dollar auch eine 200 Gramm schwere Goldmedaille verliehen. Auch Jensens Entwicklungsmodell stützte jahrelang konservative und rassistische Schulpolitiker in ihren Vorurteilen – zum Nachteil der schwarzen und minderbemittelten Schülerinnen und Schüler.

Das von 1911 bis 1994 herrschende rassistische Apartheid-Regime Südafrikas hat im Übrigen sein politisches sowie sein Schul- und Bildungssystem ganz ähnlich gerechtfertigt. Die Folgen: Getrennte Wohngebiete in jeder Stadt, jedem Dorf, separierte Schulsysteme und entsprechend unterschiedlich qualifizierte Lehrer sowie ein ausschließlich den privilegierten Weißen vorbehaltendes Wahlrecht (= Große Apartheid). Der Alltag der Kleinen Apartheid beinhaltete die rassische Trennung im Dienstleistungsbereich wie auch etwa das Verbot des Betretens von öffentlichen Parks für Schwarze, separate Abteile in öffentlichen Verkehrsmitteln oder getrennte Schulen. Regelungen und Verbote zur Trennung wurden durch unmissverständliche Schilder signalisiert: So hatten Krankenhäuser, Postgebäude, Rathäuser, Banken und Toiletten meist zwei durch Schilder gekennzeichnete Eingänge. Grundlage für das Ganze bildeten ein Menschenbild und ein daraus abgeleitetes Entwicklungsmodell, das von der natürlichen genetischen Ungleichheit der Menschen – und damit bio-psychosozialer Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen – ausgeht.

Unterstützen statt aufgeben: Der «Märtplatz»

Ein sozusagen konträres Beispiel zu Burts negativer Sichtweise zur Bildbarkeit einer bestimmten Population bietet uns der Schweizer Pädagoge Jürg Jegge. Das Erstlingswerk «Dummheit ist lernbar» (1976) des damaligen Kleinklassenlehrers und Autors und späteren Begründers des «Märtplatzes» wurde zu einem Bestseller und ist ein wichtiger Denkanstoß für eine ressourcenorientierte Pädagogik ohne Zwänge. Bis heute ist Jegge ein vehementer Kritiker des Schulsystems geblieben, dem er vorwirft, alle Kinder über einen Leisten zu schlagen und den Finger zu stark auf ihre Schwächen zu legen. Er vertritt als grundlegende These, dass Ausbildungsprogramme dem Menschen und seinen individuellen Stärken angepasst werden sollen und nicht umgekehrt. Seit 1985 leitet er in Rorbas, in der Nähe des Flughafens Zürich, die Stiftung «Märtplatz» (Marktplatz), eine berufliche Eingliederungs- und Ausbildungsstätte für junge Menschen mit «Startschwierigkeiten» aus der ganzen Schweiz. Hier absolvieren rund 27 sogenannte «schwierige» junge Menschen ohne viele Vorschriften ihre Berufslehren. Neun verschiedene Werkstätten stehen zur Verfügung. Ein großer Vorteil des «Märtplatzes» besteht darin, dass nicht unter Zeitdruck und wirtschaftlichem Profitstress gearbeitet werden muss. Das erlaubt es den LehrmeisterInnen, sich ausschließlicher, individueller und intensiver mit den einzelnen Lernenden auseinanderzusetzen. Nach einigen kleinen Anpassungen sieht die Struktur noch heute gleich aus. Der «Märtplatz» arbeitet intensiv mit der Schweizerischen Invaliden-Versicherung und verschiedenen Jugendstaatsanwaltschaften zusammen. Trotzdem ist die Stiftung bei einem Umsatz von rund 3,2 Millionen Franken im Jahr auf jährlich etwa 10 % des Umsatzes in Form von Spenden angewiesen, die Finanzierung also nicht definitiv gesichert.

Das Menschen- und Entwicklungskonzept von Jegge kommt im folgenden Text – einer Zusammenfassung eines Interviews mit Katrin Hafner im Tages-Anzeiger (18. September 2009, leicht gekürzt und redigiert von J. F.) – treffend zum Ausdruck:

Ich würde also [dem Lernenden] möglichst genau seine Lernerfolge beschreiben und damit schließlich aufzuzeigen versuchen, was das Kind kann. Man sollte für den einzelnen Menschen ein Gleis durch diese Welt finden und dabei Umwege in Kauf nehmen. Heute gibt es mehr Möglichkeiten denn je, einen Berufsabschluss zu machen. Nur leider wissen oft nicht einmal die Lehrmeister oder die Leute vom Berufsbildungsamt davon. Wir [die Gesellschaft – J. F.] haben das Vertrauen verloren. Es geht um den Glauben, dass das Leben in seinem eigenen Tempo wächst – und nicht per se schadhaft ist, sodass man es möglichst früh flicken müsste. […] Lassen wir doch das Kind wieder Kind sein, lassen wir ihm Zeit, statt die kleinste vermeintliche Abweichung als abnormal abzustempeln und es umso heftiger auf Effizienz zu trimmen. Wichtig ist, das Individuum für sich zu betrachten. Die sogenannte gesunde Konkurrenz ist gesund für das obere Drittel der Gesellschaft. Der Rest leidet darunter, wird entmutigt und verzweifelt gefördert.

Der «Märtplatz» lässt sich ungefähr wie folgt in unser Entwicklungsschema einordnen: Seine Leiter gehen von einer positiven Grundvoraussetzung (Jegge 2009 b) des Individuums, einem positiven Menschenbild aus (der Mensch will und kann lernen und ist auf gelingende Beziehungen angelegt), das viele (bisher unerschlossene oder verschüttete) Ressourcen, Kräfte und Möglichkeiten in sich hat (positive endogene Kräfte). Mit optimaler Unterstützung durch die Umgebung (wichtiger exogener Faktor) und genügend Zeit kann der Mensch in den meisten Fällen seine Möglichkeiten und Wege schließlich finden (Selbstgestaltungsfaktor). Oder in den Worten Jegges:

Ich bin jetzt seit über vierzig Jahren beruflich unterwegs und ich bin mehr denn je überzeugt: Die meisten «unterdurchschnittlichen Leistungen» sind ganz normale Begabungen und Fähigkeiten, die nie ausreichend Zeit bekamen, sich zu entwickeln.

(Jegge 2009 b)

14

Und weiter:

Wir versuchen so konsequent wie möglich der Vielfalt unserer jungen Menschen, ihrer Geschichte, ihrer Herkunft, ihren unterschiedlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Begabungen und Interessen Rechnung zu tragen.

(Jegge 2009 b)15

Wer wie der «Märtplatz» von solchen Voraussetzungen ausgeht, der traut den Heranwachsenden etwas – genauer: viel – zu und ermutigt sie dementsprechend! Die bisherigen Erfolge der AbsolventInnen geben den «Märtplatz»-Leitungspersonen Recht. Die Abbruchquote ist tief, die Integrationszahl erfreulich hoch: Rund 50 % der ehemaligen TeilnehmerInnen, die häufig mit massiven psychischen und sozialen Problemen (Depression, Schizophrenie, Drogen) in den «Märtplatz» gekommen sind, leben heute ohne jede Unterstützung durch die öffentliche Hand; weitere 35 % nehmen mit einer Teilzeitarbeit am Erwerbsleben teil (Jegge 2009 b).

Der Vergleich der zwei Beispiele (Burt/Jensen vs. «Märtplatz»/Jegge) zeigt in aller Deutlichkeit: Das zugrunde liegende Menschenbild schafft ganz unterschiedliche Auffassungen und Entwicklungskonzepte und zeitigt je nach gesellschaftlichen und politischen Umständen und Rahmenbedingungen entsprechende Wirkungen.

Fragen und Denkanstöße

Was denken Sie zu den acht Auffassungen von Entwicklung am Anfang dieses Kapitels? Warum denken Sie so?Welche Annahmen liegen Ihrem Entwicklungsmodelle zugrunde? Wie sind Sie zu diesem Modell gekommen? Wer und was hat Sie beeinflusst?Wie würden Sie Ihr Entwicklungsmodell bezeichnen? Möchten Sie dieses Modell eventuell überprüfen, hinterfragen oder gar verändern?Zu welchem Haupt-Typ von Entwicklungsmodellen (vgl. Tabelle 2-1) neigen Sie persönlich? Wie erklären Sie sich diese Bevorzugung? Welche Vor- und Nachteile erkennen Sie dabei?Wie sehen Entwicklungsmodelle von anderen Menschen aus (PartnerIn, Freunde, Bekannte, BerufskollegInnen usw.)? Was könnten Sie daraus lernen?Wie wirkt das «Märtplatz»-Projekt auf Sie? Warum ist das so? Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Literaturhinweise

Baumgart, Franzjörg (Hrsg.) (2001): Entwicklungs- und Lerntheorien. Erläuterungen, Texte, Arbeitsaufgaben. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Bronfenbrenner, Urie (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta.

Chorover, Stephan L. (1985): Die Zurichtung des Menschen. Von der Verhaltenssteuerung durch die Wissenschaft. Frankfurt: Fischer.

Flammer, August (2009): Entwicklungstheorien. Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung. 4. Auflage. Bern: Verlag Hans Huber.

Gould, Stephen Jay (1983): Der falsch vermessene Mensch. Basel: Birkhäuser.

Hobmair, Hermann (1997) (Hrsg.): Psychologie. Köln: Stam.

Jegge, Jürg (2009 a): «Lassen wir das Kind wieder Kind sein». Interview mit Katrin Hafner im Tages-Anzeiger vom 18. September 2009.

Jegge, Jürg (2009 b): Fit und fertig. Gegen das Kaputtsparen von Menschen und für eine offene Zukunft. Zürich: Limmat.

Keller, Heidi (Hrsg.) (1998): Entwicklungspsychologie. Bern: Verlag Hans Huber.

Merz, Fritz (1993): Macht oder Ohnmacht des Erziehers. Von pädagogischen Optimisten, Pessimisten, Realisten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Oerter, Rolf; Montada, Leo (2008) (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. 6. Auflage. München: Beltz PVU.

Petermann, Franz; Niebank, Kay; Scheithauer, Herbert (2004): Entwicklungswissenschaft. Entwicklungspsychologie, Genetik, Neuropsychologie. Berlin: Springer.

Sieland, Bernhard (2000): Hast Du heute schon gelebt? Impulse zur Selbstentwicklung. Lüneburg: Edition Erlebnispädagogik.

3 Was treibt den Menschen an?

Einleitung

Verschiedene Auffassungen über die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit sowie ihre Antriebskräfte bildeten über Jahrhunderte einen teilweise heftigen Streitpunkt in der Theologie, der Philosophie, der Pädagogik und später der Psychologie. Die aktuelle Entwicklungswissenschaft lehnt extreme Auffassungen sowohl reifungstheoretischer Herkunft (unveränderbare angeborene Persönlichkeitsmerkmale) wie reine Umwelttheorien (der Mensch als leeres, zu beschreibendes Blatt) ab (vgl. dazu auch Kap. 2). Im Vordergrund steht heute das sogenannte interaktionistische Modell16, das ich anschließend mit Aspekten der Selbstgestaltungstheorie17 verknüpfen und anreichern möchte – dazu gleich mehr.

Ein Modell der Persönlichkeit: Entwicklungsfaktoren 18

Was treibt den Menschen an? Es sind dies zum einen Entwicklungsfaktoren. Nach Hobmair (1997) sind Entwicklungsfaktoren verschiedene Bedingungen, die Entwicklung(en) auslösen und in Gang halten. Alle Bedingungen, die Entwicklung(en) verursachen, lassen sich letztlich zusammengefasst drei Gruppen von Faktoren zuordnen. Es sind dies:

die endogenen Faktoren (d. h. von «innen» verursacht, aus den Anlagen entstanden)

die exogenen Faktoren (d. h. von «außen» verursacht, aus Umwelteinflüssen entstanden)

die autogenen Faktoren (d. h. von «sich selbst» verursacht, aus eigener Kraft des Individuums entstanden. Es bedeutet die Fähigkeit des Individuums zur Selbststeuerung).

Endogene Faktoren

Eine normale bio-psychosoziale Entwicklung kann nur zustande kommen, wenn bestimmte genetische Bedingungen erfüllt sind (Hobmair 1997). Eine Schädigung oder gar Zerstörung des genetischen Materials verunmöglicht Entwicklung oder hemmt das Entwicklungsgeschehen leicht bis schwer (individuell-genetische Anlagen), wie wir das etwa bei behinderten Kindern deutlich erkennen können (z. B. angeborene Tauboder Blindheit, Herzkrankheiten usw.). Mit «endogenen Faktoren werden die bei der Geburt vorhandenen, innerhalb des Organismus liegenden Kräfte bezeichnet, die Entwicklungsprozesse auslösen und Entwicklung in Gang halten» (Hobmair 1997, S. 199). Endogene Faktoren bewirken zudem, dass bestimmte Veränderungen tendenziell in einer bestimmten Reihenfolge ablaufen (strukturelle Reifung): Jedes Kind sitzt beispielsweise zuerst, bevor es stehen kann, lallt, bevor es einzelne Wörter spricht. Endogene Faktoren schaffen zudem zu jeweils bestimmten Zeitpunkten optimale Lernbedingungen für die Entstehung von bestimmten Verhaltensweisen (z. B. beim Spracherwerb). Es handelt sich also um bestimmte, relativ begrenzte Zeitabschnitte in der Entwicklung, in denen spezifische Verhaltensweisen erworben werden können (sensible Phasen).

Allerdings ist die sogenannte neuronale Plastizität des Gehirns, also die Fähigkeit, z. B. auch bei Beeinträchtigungen durch Krankheiten, Behinderungen oder Unfälle andere Gehirnareale zu aktivieren, viel größer, als die Forschung das noch vor wenigen Jahren angenommen hat (vgl. Petermann et al. 2004).

Zudem zeigen die Fortschritte der Molekularbiologie, dass die Gene keineswegs so dominante und starre Gebilde sind, wie lange Zeit angenommen wurde: Sie reagieren vielmehr auf verschiedenste, auch kleinste Reize der Umwelt. An vielen Stellen im Erbgut haben ForscherInnen molekulare Schalter entdeckt, die wie Scharniere zwischen der Innen- und der Außenwelt arbeiten. So wissen wir heute, dass Gefühle, Beziehungen, Nahrungsstoffe und Umweltgifte sowie der Lebensstil die Arbeitsweise der Gene dauerhaft verändern können, die Gene also chemisch verändern und sie auf diese Weise an- und abschalten (vgl. Blech 2010 a und b)19: Der Lebensstil des Menschen steuert die Gene mit und entscheidet in erheblichem Ausmaß mit, welche seelischen und körperlichen Eigenschaften entstehen – und welche nicht. Nach Blech (2010 b) kann der persönliche Lebensstil die Aktivität von mehr als 500 Genen verändern: Erfahrungen aktivieren oder deaktivieren bestimmte Gene. Körperliche Aktivität, aber auch zwischenmenschliche Beziehungen sowie soziale Faktoren prägen und steuern teilweise sozusagen das Erbgut, das also weniger als bisher angenommen Entwicklungen festlegt: neue und faszinierende Erkenntnisse!

Um eine Vorstellung von den erstaunlichen Möglichkeiten des menschlichen Gehirns als quasi neuronale Basis für die bio-psychosoziale Entwicklung des Menschen zu bekommen, führe ich im Folgenden nur einige Zahlen und Beispiele20 an:

Ein Neugeborenes besitzt rund 100 Milliarden Nervenzellen, die noch klein und wenig vernetzt sind. Ein Neuron kann bis zu 20 000 Kontakte mit anderen Nervenzellen herstellen. Würden die Verbindungsstücke sämtlicher Neuronen aneinandergereiht, ergäbe das eine Kette von rund 180 000 Kilometern!

In den ersten drei Lebensjahren findet eine rasante Zunahme der Synapsenbildung (Synapse = Kontakt-, Umschaltstelle zwischen Nervenfortsätzen), der Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen (mit 1000 bis 10 000 Synapsen pro Nervenzelle) statt.

Bei einem zweijährigen Kind beträgt die durchschnittliche Synapsenzahl wie bei einem Erwachsenen etwa 100 Billionen (1 Billion = 1000 Milliarden!).

Mit drei Jahren steigt die Synapsenzahl auf rund 200 Billionen. Das Gehirn eines dreijährigen Kindes ist doppelt so aktiv wie dasjenige eines Erwachsenen, aber die neuronale Geschwindigkeit ist geringer. So nimmt die neuronale Geschwindigkeit zwischen Geburt und Adoleszenz etwa um das Sechzehnfache zu! Die Ausbildung von doppelt so vielen Synapsen wie letztlich benötigt werden ist ein Zeichen für die enorme Plastizität des Gehirns!

Zwischen dem Alter von zehn Jahren und dem Jugendalter wird die Synapsenzahl auf jene der Erwachsenenzahl reduziert.

Der Energieverbrauch des Gehirns beträgt beim Erwachsenen rund 18 %, beim Kleinkind rund 50 %!

Die Gehirnentwicklung bei Kindern heißt: Nicht gebrauchte Synapsen werden abgebaut, und benötigte Bahnen zu Neuronen werden intensiviert. Die Umwelterfahrungen bestimmen weitgehend die Struktur des Gehirns, wiederholte Eindrücke, Wahrnehmungen und Erfahrungen verstärken bestimmte Bahnen und festigen diese.

Etwa ab dem Alter von zehn Jahren gilt: Use it or lose it! Je vielfältiger und breiter die in der Kindheit ausgeprägte Struktur des Gehirns ist, desto mehr Bereiche gibt es, in denen das Kind Fortschritte machen kann.

Beispiele für endogene Faktoren sind: körperliche Gestalt, Körpergröße, Dispositionen, Temperament, Trisomie 21, Augen- und Haarfarbe, Vulnerabilität (Verletzlichkeit). Allerdings unterliegen auch diese Faktoren wie schon oben erwähnt einem (unterschiedlich) großen Einfluss von autogenen und exogenen Faktoren: Alle Faktoren beeinflussen einander permanent. So wird etwa die Körpergröße ebenso durch die Ernährung und den Lebensstil des Individuums bestimmt wie durch die Gene.

Exogene Faktoren

Umwelteinflüsse bilden eine wesentliche Grundlage – für eine gesunde Entwicklung wie auch für Entwicklungsstörungen (z. B. Sprachstörungen) oder andere psychische Störungen (z. B. Depressionen). Als exogene Faktoren werden alle Einflüsse auf das Individuum bezeichnet, die außerhalb des Individuums, also in der Umwelt liegen, und die Entwicklungsprozesse auslösen bzw. die Entwicklung in Gang halten – sie sind sozusagen die Schrittmacher der Entwicklung. Exogene Faktoren spielen als Hemmer (Beispiel: negativer Einfluss eines brutalen, unberechenbaren Vaters) oder Förderer (Beispiel: positiver Einfluss einer liebevoll-ermutigenden Mutter) bei der Selbststeuerung des Individuums eine wichtige Rolle.

Beispiele für exogene Faktoren sind: Eltern, Geschwister, Nachbarn, Verwandte, Freunde, Lehrkräfte und die Schule, Peers, Kultur, Medien, Migration, Ernährung usw.

Autogene Faktoren

Jedes Kind setzt sich von Geburt an aktiv mit seiner Umwelt auseinander, es erforscht von sich aus unablässig seine Umgebung. Als ein nicht nur reaktives, sondern besonders aktives Wesen (Konstruktivismus)21 führt der Mensch selber bestimmte Entwicklungsprozesse herbei und nimmt somit starken Einfluss auf seine Entwicklung (Hobmair 1997): Wir bezeichnen das als Selbststeuerung. Autogene Faktoren dienen der Befriedigung von Bedürfnissen, der schöpferischen Expansion – z. B. Neugierdeverhalten – und der Anpassung an vorgegebene Lebensbedingungen, der Einflussnahme auf diese Umweltbedingungen und deren Veränderung.

Autogene Faktoren sind auch verantwortlich für die Herstellung eines Gleichgewichtszustandes. Gerät das Individuum in ein Ungleichgewicht, so wird es von sich aus aktiv, um dieses zu beseitigen. Autogene Faktoren können zudem, wie erwähnt, die Wirkung endogener und exogener Faktoren verstärken oder auch beeinträchtigen, sie können die eigene Entwicklung sowohl hemmen (z. B. via selbstschädigendes Verhalten: Drogenkonsum) als auch fördern (z. B. dank kompensatorischer Funktionen: Ein Blinder lernt differenzierter, Geräusche zu unterscheiden und zu klassifizieren, als ein normal Sehender).

Beispiele für autogene Faktoren sowie analoge Begriffe sind: Individuelle a) bewusste Selbststeuerung (Arbeitshaltung, Motivationen, Lebensziele, Lebenspläne) und b) unbewusste dynamische Prozesse (individuelle subjektive Verarbeitung, Lebensziele). Viele autogene Faktoren sind Menschen also nicht bewusst, andere schon.

Ein Beispiel22

Die gehörlose Helene Jarmer (38), vertritt seit 2009 als Abgeordnete der Grünen im österreichischen Parlament die Anliegen behinderter Menschen. Jarmer verlor im Alter von zwei Jahren durch einen Unfall das Gehör. Ihre Entwicklung lässt sich als interessantes Beispiel für die Interaktion von endogenen, exogenen und autogenen Faktoren verstehen: Ansonsten organisch gesund, aktiv, offen und temperamentvoll, erhielt sie schon sehr früh eine optimale elterliche Unterstützung. Beide Elternteile sind selber gehörlos, selbstständig, erfolgreich im Beruf (Bildhauer, Modedesignerin), wurden früh zu ihren Vorbildern – und sie haben ihr ein starkes, überzeugendes Modell vorgelebt, so dass sie sich selber bald gesagt hat: Warum soll ich es denn nicht schaffen? Der nachhaltig wirkende ermutigende Einfluss der Eltern zeigte sich auch in der wiederholten Äußerung des Vaters: «Komm, du schaffst das! Du musst ein Ziel im Auge behalten und ignorieren, was die Leute sagen.» So erkämpfte sie sich schließlich einen Platz in der Mittelschule, war die erste Gehörlose, die in Wien studierte und ist heute Abgeordnete im österreichischen Parlament. Ihr Motto: Gehörlose können alles – außer hören. Jarmer ist ein Beispiel dafür, wie eine erhebliche organische Schwäche (endogener Faktor mit exogener Verursachung: Unfall) unter günstigen Umständen (exogene Faktoren) und dank einer großen Beharrlichkeit, mit enormem Einsatz und ausgeprägter Motivation (autogener Faktor: Selbststeuerung) kompensiert und ein gelingendes Leben trotz oder vielleicht sogar gerade wegen einer Behinderung möglich wird!

Die moderne Entwicklungswissenschaft fasst Entwicklung (vgl. Petermann et al. 2004) – wie im obigen Beispiel kurz angedeutet – als einen äußerst komplexen, fortschreitenden multikausalen Prozess von Wechselwirkungen zwischen den unzähligen Umwelteinflüssen (Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrpersonen, soziale, gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse), den individuell-genetischen Anlagen (z. B. körperliche Gestalt, Geschlecht, allfällige Organschwächen), der strukturellen Reife (Altersreife) und – häufig übersehen – der individuellen Selbststeuerung (bewusste Selbststeuerung wie Motivation, unbewusste dynamische Prozesse wie Leitbilder, Ziele) auf. Nochmals: Die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit wird also von drei Hauptursachen ausgelöst und in Gang gehalten: den exogenen Umwelteinflüssen, den endogenen Anlagen und Dispositionen sowie den autogenen Strebungen (individuell-subjektive Selbstverarbeitung). Umwelt, Anlage und aktive Selbststeuerung des Individuums bedingen und beeinflussen sich damit wechselseitig und permanent, stehen in einem dauernden interaktiven Prozess: So sind beispielsweise die Intelligenzentwicklung oder die