Ich mag dich - du nervst mich! - Jürg Frick - E-Book

Ich mag dich - du nervst mich! E-Book

Jürg Frick

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Beschreibung

Die Rolle von Geschwistern in der Entwicklung eines Menschen wird oft unterschätzt. Der Psychologe Jürg Frick beleuchtet dieses spannende Thema von verschiedenen Seiten: • Welche Rolle spielen Geschwisterkonstellationen und -positionen? • Wie und warum entstehen Eifersucht und Rivalität? • Wie nehmen Eltern Einfluss auf das Verhältnis von Geschwistern? • Warum können Geschwisterbeziehungen entwicklungsfördernd oder -hemmend sein? • Was bringt es, sich mit den eigenen Geschwisterbeziehungen auseinanderzusetzen? Dem Autor geht es aber auch um Möglichkeiten zur Neugestaltung von Geschwisterbeziehungen sowie um Langzeitauswirkungen in Partnerschaft oder Beruf. Fragebögen zur -Reflexion der eigenen Geschwistererfahrung runden das Buch ab. Für die fünfte Auflage wurde der Inhalt überarbeitet und auf Basis der neuesten Studien, wie etwa zur Bevorzugung/Benachteiligung von Geschwistern und zu Geschwisterkonstellationen, aktualisiert.

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Jürg Frick

Ich mag dich – du nervst mich!

Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben

5., überarbeitete Auflage

Mit einem Geleitwort von Franz Petermann

Ich mag dich – du nervst mich!

Jürg Frick

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:

Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Björn Rasch, Freiburg i. Üe.; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Martina Zemp, Wien

Prof. Dr. phil. Jürg Frick, emeritiert

(Pädagogische Hochschule Zürich)

Psychologische Beratung – Seminare – Kurse

Rietlirain 44

8713 Uerikon

Schweiz

E-Mail: [email protected]

www.juergfrick.ch

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Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: Getty Images/Westend61

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen

Illustrationen (Innenteil): Hans Winkler, Cammin

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Format: EPUB

5., überarbeitete Auflage 2024

© 2004/2006/2009 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

© 2015/2024 Hogrefe AG, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96313-6)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76313-2)

ISBN 978-3-456-86313-9

https://doi.org/10.1024/86313-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Vorwort zur 5. Auflage

1 Einleitung und Einführung: Die Entdeckung der Geschwister

Einleitung

Geschwister – ein (immer noch) vernachlässigter Faktor?

Zur individuellen Bedeutung von Geschwistern

Die allmähliche Entdeckung von Geschwistern

Kurze Beispiele aus der Literatur

Geschwister und Anamnese

2 Rollen, Nischen, Konstellationseffekte und individuelle Deutungsmuster

Einleitung

Geschwisterkonstellation und persönlichkeitsabhängige Verarbeitung

Identische oder individuelle Umwelt, gemeinsame (geteilte) oder nichtgemeinsame (nichtgeteilte) Umwelt?

Das älteste Kind

Das zweitgeborene Kind

Mittlere und spätere Kinder

Das jüngste Kind

Kinder ohne Geschwister (Einzelkinder)

Andere Positionen, Konstellationen und Faktoren

Die Bedeutung der „tendenziösen Wahrnehmung“ und die „Grundmeinungen“

Geschwister und Sprache

Nischen, Geschwisterrollen und Komplementärrollen

3 Wichtige Einflussfaktoren auf Geschwisterbeziehungen

Absolutes Alter der Familienmitglieder

Altersdifferenz zwischen den Geschwistern

Geschwisterzahl, Familiengröße

Geschwisterzusammensetzung

Geburtsrangplatz

Wohnort, soziokulturelles und sozioökonomisches Umfeld, Religion

Individuelles Verhältnis der Eltern zu den einzelnen Geschwistern

Bevorzugung und Benachteiligung durch Eltern bzw. Elternteile

Partnerersatz und Parentifizierung

Erziehungsstil der Eltern

Bindungsmuster

Partnerbeziehung der Eltern

Körperbau

Fantasien und Erwartungen der Eltern vom einzelnen Kind

Geschwistersituation/Geschwisterbeziehung und Geschwisterposition der Eltern

Außerfamiliäre Bezugspersonen

Freunde der Geschwister, Peers

Charakter/Persönlichkeit und besondere Merkmale der Geschwister

Kritische Lebensereignisse

Krankheiten, Behinderung und Tod von Geschwistern

Alkohol und Drogen

Weitere moderierende und protektive Faktoren

4 Geschwister und ihre Bedeutung füreinander

Ein reichhaltiges Beziehungsfeld

Horizontal-symmetrische Beziehungserfahrungen

Modelle, Vorbilder, Identifikationsobjekte, Abgrenzungsobjekte

Ein bisschen Über-Ich: Geschwister als Fortsetzer und Stellvertreter elterlicher Erziehungstätigkeit

Geschwister als Erziehende

Rival*innen

Freund*innen, Helfer*innen, Vertraute, Trostspender*innen

Verbündete

Zärtlichkeitsbedürfnisse, Liebesobjekte und erotische Objekte

Beziehungspartner*innen

Projektionsfiguren, Objekte der Verschiebung von Feindseligkeit und Aggression

Loyalität

Empathie

Helfer*innen bei der Bewältigung von wichtigen Entwicklungsaufgaben

Gegenmodelle

Spiegel des eigenen Verhaltens

Geschwister und Berufswahl

Vielfältige Sozialisationsprozesse zwischen Geschwistern

Einige Gemeinsamkeiten von Geschwisterbeziehungen

Geschwister als Überlebenshelfer*innen

Der Verlust eines Geschwisters und mögliche Auswirkungen

Der Verlust eines Geschwisters durch Suizid

5 Bevorzugung, Benachteiligung und Rivalität

Eifersucht – und die zentrale Rolle der Eltern

Unbewusste Vorlieben und Abneigungen der Eltern

Geschwisterübertragungen

Die Passung Kind-Eltern

Unbewusste Selbst- und Wunschbilder und Delegation

Wahrnehmungsverzerrung

Vor- und Nachteile von Bevorzugungen

Folgen für die benachteiligten Kinder

Gründe für die Ablehnung von Kindern

Zwei weitere Rivalitätsaspekte

Rivalitätspalette

Gesellschaftlich-kulturelle Einflüsse

Benachteiligte begabte Schwestern berühmter Männer

Worüber streiten Geschwister?

„Streittypen“ in rivalisierenden Auseinandersetzungen zwischen Geschwistern

Erben und Erbstreit unter Geschwistern

Die konstruktive Seite von Rivalität

Entwicklungsförderndes Einwirken und Verhalten von Eltern bei Streit, Eifersucht und Rivalität

Das elterliche Erziehungsverhalten in der Erinnerung erwachsener Geschwister

Der elterliche Umgang mit Geschwistern (mit Fragebogen)

6 Fallgeschichten aus unterschiedlichen Perspektiven

Die Perspektive jüngerer Geschwister

Die Perspektive ältester Geschwister

Die Perspektive mittlerer Geschwister

7 Die Freud-Adler-Kontroverse auf dem Hintergrund ihrer persönlichen Geschwisterproblematik

Freud und Adler: Nicht nur zwei unterschiedliche Charaktere

Die Geschwisterkonstellation bei Sigmund Freud und Adlers „Abfall“

Die Geschwisterkonstellation bei Alfred Adler

8 Geschwister und Geschlecht

Geschwister gleichen Geschlechts am Beispiel von Zwillingen

Geschwister unterschiedlichen Geschlechts

Drei Fallbeispiele

Weitere Aspekte

9 Geschwisterbeziehungen zwischen Nähe-Intimität und Distanz-Feindschaft

Grundmuster emotionaler Beziehungen von Geschwistern (Beziehungsmodi)

Identifikationsmodi und Vergleichsprozesse von Geschwistern

Welche Faktoren führen zu nahen oder distanzierten Geschwisterbeziehungen?

10 Geschwisterübertragungen im Erwachsenenalter und ihre möglichen Folgen

Einleitung

Geschwister und Partnerwahl

Einflüsse der Eltern

Neuinszenierungen und Projektionen

Das Ausleben ungelöster eigener Anteile

Zu viel Verantwortung

Geschwisterdynamiken in beruflichen Teams und Therapiegruppen

Denkanstöße für Lehrpersonen und Ausbildner*innen

Was nützt die Beschäftigung mit der eigenen Geschwistersituation?

11 Möglichkeiten und Grenzen neuer Geschwisterbeziehungen im Erwachsenenalter

Der Auszug des Bruders

Die Bedeutung eingeübter Rollenmuster

Hilfreiche Voraussetzungen für neue Geschwisterbeziehungen

12 Persönliche Reflexionen über eigene Geschwistererfahrungen

Was können Geschwister für die persönliche Entwicklung bedeuten? 26 kurze Beispiele

Umgang mit dem anderen Geschlecht und Vorbildfunktion

Abgrenzung, Sturheit und Nachahmung

Eine gewisse Rastlosigkeit

Schneller erwachsen werden und sich wehren können

Durchsetzungsvermögen und Übung im Umgang mit Männern

„Helfersyndrom“

Selbständigkeit und starker Wille

Beschützen lassen – und sich durchsetzen können!

Verantwortung übernehmen

Verantwortung übernehmen und teilen können

Verantwortung und Selbständigkeit

Katalysator für eigenen Einsatz … und Selbstbewusstsein

Eine eigene Position sowie Haushaltfertigkeiten entwickeln

Mütterliche Fähigkeiten, Abgrenzung und Schweigen bei Auseinandersetzungen

Dominanz und Führungsfähigkeiten – aber auch Großzügigkeit!

Interessen vertreten und durchsetzen – und einen Berufswunsch entwickeln

Mangelndes Durchsetzungsvermögen und eine gute Vermittlerin

Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein

Vorbild, Wegbereiter, Streittrainerin, Sicherheit und Vertrauen

Identifikation und Vorbild, Loslösung und Verantwortung

Formulieren und Reden üben vs. erwählt sein und bewundern

Wichtige Einsichten für den Erzieher*innen-Beruf

Der gemeinsame Weg

Zum Schluss die ganze Palette: Geschwister als Vorbilder, Abgrenzungsobjekt, Helfer, Spielgefährte, Ventil, Liebesobjekt und Förderer des Selbstbewusstseins

13 Anhang für die Praxis: Fragebogen und Familienkonstellationsschema

Vorbemerkungen

Fragebogen A

Fragebogen B

Fragebogen C

Fragebogen D

Fragebogen E

Darstellungen von Familienkonstellationen

Individualpsychologische Ansätze

Systemische und testpsychologische Ansätze

Das Familienkonstellationsschema (FKS)

Die Entwicklung einer Familienkonstellation

Familienkonstellation von Familie Zürcher

Literaturverzeichnis

Verwendete Literatur

Autobiografische Darstellungen von Geschwisterbeziehungen

Empfehlenswerte Romane und Erzählungen zu Geschwisterbeziehungen

Eine Auswahl empfehlenswerter Kinderbücher zum Thema Geschwister

Empfehlenswerte Filme zu Geschwisterbeziehungen

Internetadressen

Sachwortverzeichnis

Über den Autor

|11|Geleitwort

Schon der Titel des vorliegenden Buches „Ich mag dich – du nervst mich!“ verdeutlicht die Widersprüchlichkeit vieler Geschwisterbeziehungen. Dieses Spannungsfeld ergibt sich aus der Art dieser Beziehung, die nicht „künstlich“ hergestellt werden muss, sondern naturgemäß besteht, da man in sie hinein geboren wird. Geschwisterbeziehungen kann man zwar „ausblenden“, aber nicht auflösen – sie bleiben lebenslang bestehen. Häufig werden Geschwisterbeziehungen erst durch einschneidende Lebensereignisse (z. B. Auszug aus der elterlichen Wohnung, Tod eines Elternteils) oder markante Entwicklungsaufgaben (z. B. Erlernen eines Berufes, Gründung einer eigenen Familie) neu gestaltet. Da Geschwisterbeziehungen früh im Lebenslauf entstehen, emotional und sozial besonders bedeutsam sind, beeinflussen sie alle in der Folge entstehenden privaten und beruflichen Kontakte und Beziehungen.

Jürg Frick weist völlig zu Recht darauf hin, dass das Thema „Geschwisterbeziehung“ und entsprechend problembeladene Entwicklungen (z. B. Eifersucht, Geschwisterrivalität) bislang weder von Entwicklungspsychologen noch von Klinischen Kinderpsychologen angemessen beachtet und bearbeitet wurde. Das Buch stellt wichtige „Befunde“ und „Konzepte“ zusammen. Wissenslücken schließt Jürg Frick durch instruktive Fallbeispiele, die sehr sensibel die Problematik und Entwicklungspotenziale von Geschwisterbeziehungen illustrieren.

Geschwisterbeziehungen tragen über den sozialen Vergleich der Geschwister untereinander entscheidend zur Identitätsbildung von Kindern bei. Über einen solchen innerfamiliären Wettbewerb bilden sich soziale Rollen, Interessen und Hobbys heraus. Für die sozial-emotionale Entwicklung eines Kindes sind die Grunddimensionen „Bindung“ und „Autonomie“ besonders bedeutsam. Die Geschwisterloyalität bildet einen bislang wenig beachteten Schutzfaktor, der in der Lage ist, ungünstige Elterneinflüsse abzupuffern. Unstrittig ist auch, dass über die Ausgestaltung der Geschwisterkonstellation bestimmte Interaktionsmuster „sozial“ vererbt werden, das heißt sich auf soziale Beziehungen im Beruf und im privaten Alltag auswirken. Jürg Frick illustriert dies am prominenten Beispiel der Familienkonstellation von Alfred Adler und Sigmund Freud und ihrer problematischen beruflichen Zusammenarbeit in den Gründerzeiten der Tiefen- und Individualpsychologie.

|12|Das Buch von Jürg Frick beschreibt vielfältige Geschwisterkonstellationen differenziert; er geht dabei auch auf „biologische Sonderfälle“ (z. B. Stief- und Zwillingsgeschwister) ein. Auch Geschwister in besonderen Lebenslagen (z. B. Geschwister Behinderter und chronisch Kranker) sind dankenswerterweise Gegenstand dieses Buches.

Die Lektüre des vorliegenden Buches ist zumindest in fünffacher Weise gewinnbringend:

1)

Es gibt Anregungen, wie man aus der Elternperspektive Entwicklungspotenziale von Geschwisterbeziehungen Nutzen und Risiken problemstarker Geschwisterbeziehungen erkennen oder verringern kann.

2)

Die fallbezogene Darstellung der Entwicklung der Geschwisterbeziehung in verschiedenen Lebensabschnitten gibt Aufschluss darüber, dass manche Fehlentwicklungen in den Bereich des Normalen gehören.

3)

Die Beschreibung besonders problematischer Geschwisterbeziehungen gibt Hinweise, ob professionelle Hilfe nötig ist.

4)

Unter dem Aspekt der Selbsthilfe liefert das Buch Hinweise und Hilfen (z. B. anhand von Selbsteinschätzbogen), welche Aspekte der eigenen Beziehungsgestaltung zu überdenken und gegebenenfalls gemeinsam mit Familienangehörigen zu verändern sind.

5)

Das Buch bietet vielfältige Anregungen für die eigene Lebens- und Beziehungsgestaltung.

Ich wünsche dem vorliegenden Buch, dass es weiterhin viele Leser findet und dass es auf diesem Wege gelingen möge, auf die Risiken und Entwicklungspotenziale der Geschwisterbeziehung aufmerksam zu machen.

Bremen, im Oktober 2008

Franz Petermann †

|13|Vorwort zur 5. Auflage

In dieses Buch fließen langjährige Erfahrungen zur Geschwisterthematik aus psychologischen Beratungen und Kursen, aus Vorlesungen und Seminaren sowie aus Supervisionsgruppen mit Lehrkräften ein. Ergänzend habe ich mich gleichzeitig etwa ebenso lange mit der dazu allmählich umfangreicher werdenden Fachliteratur auseinandergesetzt.

An einem Buch sind letztlich immer viele Personen – nicht nur der Autor – beteiligt. In diesem Falle ist der Verfasser verschiedenen Personen zum Dank verpflichtet, die das Manuskript kritisch durchgelesen und dazu wichtige Anregungen, Kommentare und Hinweise gegeben haben.

Mein Dank geht auch an die zahlreichen Studierenden meiner Vorlesungen und Seminare sowie an weitere Teilnehmende meiner Geschwisterseminare, die mir ihre Beiträge zur Verfügung gestellt und so zu einer besseren Veranschaulichung der verschiedenen Themen des Textes Wesentliches beigetragen haben.

Alle geschilderten Fallbeispiele stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus meinen Erfahrungen in Beratung, Lehre und Kurstätigkeit sowie aus Studien- und Semesterarbeiten von meinen Studierenden. In allen Fallbeispielen wurden die Namen ausgewechselt und in einigen wenigen Fällen geringfügige Details verändert, um die Betroffenen zu schützen.

Die Zeichnungen stammen von Lorena (6;7), die mir eine ganze Auswahl aus ihrer „Geschwistersammlung“ spontan zur Verfügung stellte; die treffenden Zeichnungen hat Hans Winkler erstellt.

Für die vorliegende 5. Auflage habe ich das ganze Buch erneut einer kritischen Lektüre unterzogen und – wo nötig – korrigiert, aktualisiert und mit verschiedenen Ergänzungen versehen.

Ich hoffe, dass Sie als Leserin oder als Leser1 aus der Lektüre und den vielen Beispielen Anregungen und Denkanstöße für sich finden sowie daraus fruchtbare, positive Einsichten entwickeln. Über Ihr Echo, Ihre Eindrücke, Ihre Anregungen sowie konkrete Verbesserungsvorschläge würde ich mich freuen.

1

In diesem Buch wird auf eine gendergerechte Sprache geachtet, dennoch soll der Text gut lesbar bleiben. Aus diesem Grund werden nicht immer beide Geschlechterformen genannt oder das Gender-Sternchen gesetzt. Es sind jedoch immer Frauen, Männer und nicht binäre Personen gemeint.

|15|1  Einleitung und Einführung: Die Entdeckung der Geschwister

Einleitung

Wer an Geschwister denkt, sieht vielleicht eine Kindheitsszene am Familientisch mit dem Bruder, erinnert sich an ein Geburtstagsgeschenk, das die ältere Schwester kürzlich zugeschickt hat, an einen schon lange zurückliegenden heftigen Streit über das – aus persönlicher Perspektive natürlich ungerechtfertigte! – längere Aufbleiben der kleineren Schwester, an die geschwisterlichen Erlebnisse, die sich vor den Eltern so vortrefflich verheimlichen ließen, an lebhafte Auseinandersetzungen mit den Eltern über die Ausgangszeiten mit und ohne brüderliche Begleitung oder an gemeinsame tolle Ferien am Meer mit den beiden Brüdern im eigenen Zelt. Wahrscheinlich würden die meisten dann bald nach ein paar weiteren Erinnerungen ins Nachdenken kommen: Welche Rolle spiel(t)en meine Geschwister eigentlich für mein Leben – und welchen Einfluss habe ich auf sie ausgeübt? Was bedeuten wir einander? Was wäre ich ohne sie? Den meisten Menschen fällt spontan mehr ein, wenn man sie nach ihrer Partnerschaft, ihrem Beruf oder ihren Freunden fragt. Für Erwachsene treten die Beziehungserfahrungen mit den Geschwistern gewöhnlich in den Hintergrund.

Geschwisterbeziehungen reichen – außer für die ältesten Kinder – in die ersten vorsprachlichen Tage der Kindheit zurück und sind die dauerhaftesten Bindungen im Leben eines Menschen: Eltern sterben, Freunde verschwinden, Intimbeziehungen lösen sich auf – aber Geschwister bleiben einem Menschen meistens lebenslänglich erhalten, rechtlich wie emotional, auch wenn unter Umständen die Kontakte auf ein Minimum beschränkt oder gar abgebrochen wurden. Man kann, um Watzlawick (Watzlawick, Beavin & Jackson, 2000) zu variieren, nicht eine Nichtbeziehung zu Geschwistern haben. Gemeinsame Herkunft und Entwicklungsgeschichte bilden ein unauflösbares Band. Unzählige Erlebnisse, Gefühle, Reaktionsmuster und sogar charakterprägende Erfahrungen sind mit Geschwistern verbunden, auch wenn ein erheblicher Teil davon vergessen, verdrängt oder gar verleugnet werden kann.

Geschwister haben eine lange und einzigartige gemeinsame Geschichte: Was tragen Geschwisterbeziehungen zur Identitätsbildung bei, wie beeinflussen sich Geschwister, wie wirken sich frühe Abhängigkeiten zwischen Geschwistern, emo|16|tionale Nähe und Distanz aus? Unsere Denk- und Gefühlswelt, die individuelle Art, Beziehungen zu gestalten, das Verhalten im schulischen und beruflichen Alltag, die Wahl der Liebespartnerin/des Liebespartners und des Freundeskreises, ja sogar die Wahl des Berufs und der Interessengebiete, der Vorlieben, Abneigungen und Einstellungen hängen – wie Veith (2000, S. 4) treffend meint –, in einem viel größeren Umfang mit unseren ersten Beziehungspersonen nach den Eltern, den Geschwistern, zusammen, als viele Menschen annehmen. Welchen Platz ein Mensch in seiner Familie einnimmt, hat großen Einfluss darauf, wie er sich später anderen Menschen und der Welt gegenüber verhält. Der jahrelang erworbene und entwickelte Schatz von Einstellungen, Gefühlen, Erfahrungen, Denkmustern und Handlungsstrategien mit Geschwistern wird schließlich zum Grundmuster für den Umgang mit der Welt auch außerhalb der Familie. Die Familie mit Eltern und Geschwistern ist für das Kind die erste soziale Gruppe, das erste langjährige Trainingsfeld für zwischenmenschliche Beziehungen.

Die Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern und seine Beziehung zu/m Geschwister(n) müssen als zwei gleichwertige wie eigenständige Beziehungsarten verstanden werden: Eltern-Kind-Beziehungen und Geschwister-Geschwister-Beziehungen laufen von Anfang an nebeneinander und sind gleichwertig – nicht gleichartig! Obwohl quantitative Angaben für Wirkungsaussagen alleine nicht genügen, sind die Zahlen der Babywatcher doch erstaunlich: So haben Einjährige mit Geschwistern ungefähr gleich viel Umgang wie mit der Mutter, aber im Alter von drei bis fünf Jahren verbringen Kinder im Durchschnitt dann schon doppelt so viel Zeit mit ihren Geschwistern wie mit der Mutter (vgl. Sohni, 2011, S. 25)! Geschwisterbeziehungen sind, ebenso wie Eltern-Kind-Beziehungen, grundlegende Primärbeziehungen für jeden Menschen und tragen als wichtige Sozialisationsfaktoren zur grundlegenden Persönlichkeitsentwicklung bei. Und: Es sind nicht nur Beziehungs-, sondern auch Erziehungserfahrungen. Nicht nur Eltern erziehen ihre Kinder, auch die Geschwister erziehen sich untereinander – wie sie natürlich auch ihre Eltern erziehen! Geschwistererziehungserfahrungen und Geschwistereinflüsse sind wichtige zukünftige Forschungsfelder. Die Erfahrungen mit unseren Geschwistern in der Kindheit bilden die Basis für unseren Umgang mit Nähe und Vertrautheit, mit Konkurrenz und Ablehnung, mit Konflikten und Versöhnung. Die Geschwisterbeziehung ist in der überwiegenden Zahl der Fälle die dauerhafteste Beziehung im Leben – und sie ist unser intensivstes wie frühestes Lernfeld im Umgang mit ambivalenten Gefühlen wie Liebe, Hass, Freude und Trauer. Geschwister erleben in diesen wichtigen Jahren in unzähligen Interaktionen Loyalität, Hilfsbereitschaft, Beschützen und Beschütztwerden, aber auch Konflikte, Dominanz und Rivalität.

Die Bedeutung von Geschwistern lässt sich noch von einer weiteren Seite beleuchten. Jeder Mensch steht ein Leben lang vor zwei zentralen Aufgaben: Einerseits müs|17|sen wir eigenständige Personen werden, indem wir uns aus anfänglich äußerst intensiven Bindungen lösen und weiterentwickeln sowie eine eigenständige Rolle finden (Individuation und Identität), daneben stehen wir als soziale Wesen vor der ebenso wichtigen Aufgabe, vielfältige und befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, Bindungen zu lösen, neue aufzubauen und zu pflegen (Sozialisation und Integration). Sowohl Individuations- wie Bindungsprozesse werden maßgeblich von familiären Erfahrungen, konkret von Eltern-Kind- und Kind-Kind-Beziehungen (primär: Geschwister-Geschwister-Interaktionen) geprägt. Eltern wie Geschwister bieten hierfür über Jahre ein vielfältiges Übungs- und Lernfeld, das so jedem Heranwachsenden schließlich erlaubt, einen eigenen Stil zu finden.

Geschwister – ein (immer noch) vernachlässigter Faktor?

Kasten (1993a, S. 9) hat darauf hingewiesen, dass sich in unserem Kulturkreis zahlreiche gesetzliche wie religiöse Vorschriften und Rituale für die Bereiche Ehepartner-Beziehung und Eltern-Kind-Beziehung (z. B. Eheschließung, Scheidung, Taufe, Konfirmation, Firmung) finden, im Bereich der Geschwisterbeziehung aber nichts Analoges existiert. Dieses Desinteresse von Staat und Kirche an der Geschwisterbeziehung war viele Jahrzehnte auch charakteristisch für die Wissenschaft. In der Geschichte der Psychologie – und hier besonders auch in der Entwicklungspsychologie – wurde der Einfluss von Geschwistern auf die psychische Entwicklung des Menschen lange Zeit vergessen, vernachlässigt oder als gering eingestuft. Sigmund Freud beispielsweise maß den Geschwistern keinen sehr großen Einfluss bei. Stattdessen konzentrierte er sein Augenmerk fast ausschließlich auf die Beziehung zwischen Kind und Eltern. Dabei liefert gerade der erstgeborene Freud ein prominentes Beispiel für den bedeutenden Einfluss von Geschwisterkonstellationen auf die Entwicklung eines Menschen (mehr dazu in Kap. 7). Auch das psychoanalytische Schrifttum nach Freud behandelt die Thematik von Geschwisterbeziehungen meistens nur am Rande.

In den psychoanalytisch und bindungspsychologisch orientierten Entwicklungstheorien, die ganz die Mutter-Kind-Beziehung ins Zentrum stell(t)en (z. B. Spitz, Bowlby, Ainsworth, Klein, Kagan u. a.) blieb das Thema Geschwister bis vor kurzem am Rande. Wenn familiäre Einflüsse thematisiert wurden, beschäftigten sich die meisten theoretischen Konzepte überwiegend mit Mutter-Vater-Kind-Triaden. Vereinzelt wurden zwar Geschwister gelegentlich thematisiert, so etwa von Winnicott, der Geschwister als „Übergangsobjekte“ bei der allmählichen Loslösung von der Mutter sah, oder in der feinfühligen Beobachtungsstudie von Esther Savioz (1968), die anhand von zwölf Geschwisterpaaren die Entwicklung der Geschwisterbeziehung in den ersten zwei Lebensjahren näher beleuchtete, oder schon früh in den |18|angelsächsischen Ländern2, besonders in den USA; aber sonst schienen Geschwister nicht von erwähnenswerter Bedeutung zu sein.

Bis in die 1970er Jahre – eine Ausnahme im deutschsprachigen Sprachraum bildet Toman (ab 1959 ff.; Toman, 1987) – wurde dieses Thema zumindest im europäischen Raum weiterhin eher als nebensächlich betrachtet. In der psychoanalytischen Familienforschung hat sich nun diesbezüglich erfreulicherweise ein Wandel vollzogen (vgl. z. B. Sohni, 1999, 2004; Bourguignon, 1999; Adam-Lauterbach, 2013).

Ich möchte die angeführte Vernachlässigung der Geschwisterthematik nachfolgend kurz an einigen wenigen Beispielen darlegen. In den meisten auch neueren entwicklungspsychologischen Standardwerken und Lehrbüchern fehlt das Thema Geschwister bis heute völlig oder wird nur kurz, ja marginal angesprochen. Im 882 Seiten umfassenden entwicklungspsychologischen Standardwerk von Schneider und Lindenberger (2012) wird die Bedeutung von Geschwistern für die Entwicklung immerhin bejaht, aber auf nur zwei Seiten reduziert! Aber auch das umfangreiche, fast 1000-seitige amerikanische Standardlehrbuch zur Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter von Siegler, DeLoache und Eisenberg (2005) behandelt das Thema nur auf drei allgemeinen Seiten und wenigen zusätzlichen Hinweisen. Schon erstaunlich!

Auch ein Blick in Lehrbücher für Psychotherapie zeigt, dass Geschwister noch zu wenig vorkommen und selten – wenn überhaupt – in Behandlungen als wichtige Faktoren gewürdigt werden. Eine Ausnahme bilden Adler und die Systemtheoretiker*innen. Damit präsentieren sich fast sämtliche bedeutsamen Theorien der Persönlichkeitsentwicklung als ausschließlich elternzentriert – zwar mit Einbezug der weiteren Umwelt, aber ohne eine Berücksichtigung der Geschwister. In einzelnen Beschreibungen findet man gelegentlich vielleicht noch Geschichten um Geschwisterrivalität, um Eifersucht des Erstgeborenen auf das nachfolgende Geschwister. Die Möglichkeit einer längerfristigen geschwisterlichen Einflussnahme und Bedeutung für die Klient*innen auf ihr weiteres Leben wird aber noch viel zu wenig in Betracht gezogen. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Lehrprogrammen von psychotherapeutischen Ausbildungsinstitutionen: Die meisten Kandidat*innen lernen wenig oder gar nichts über Geschwister-Einflüsse und wenn, dann gelten sie häufig als mehr oder weniger unbedeutend – der Fokus liegt immer noch zu stark bzw. zu einseitig auf den Eltern-Kind-Beziehungen.

Erst in jüngster Zeit scheint sich das nun doch (endlich!) zu ändern, so etwa in der Ausbildung in psychoanalytischer Paar- und Familientherapie (vgl. Sohni, 2004). Wie neu das für Psychotherapeut*innen offenbar vielfach noch ist (!), belegt die folgende Aussage von Sohni (2004, S. 97): „Nach meiner Erfahrung wird für viele Psy|19|chotherapeut*innen im Lauf ihrer Ausbildung erstmals in einer Familienselbsterfahrungsgruppe evident, dass sich ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener in seiner Entwicklung beziehungsweise in seinem Gewordensein wesentlich im Beziehungskontext seiner Geschwister erschließt.“ (kursive Hervorhebung von J. F.) Einige Jahre später wird Sohni (2011, S. 130) noch deutlicher, wenn er nun kurz und bündig feststellt: „Es geht um mehr Geschwistererfahrungen in der Psychotherapie und in der therapeutischen Ausbildung.“

Erst in neuerer Zeit wird dieses einseitige Bild erfreulicherweise zunehmend korrigiert. Zwar wird in den USA schon länger an Geschwisterbeziehungen geforscht, aber das Thema Geschwister scheint – zwar etwas verspätet – nun doch auch im deutschsprachigen Raum anzukommen: Ein Beleg dafür wäre u. a. die 18. Internationale Bindungskonferenz in Ulm 2019 zum Thema „Bindung und Geschwister“ mit Referent*innen auch aus dem deutschsprachigen Raum (vgl. Brisch, 2020).

Zur individuellen Bedeutung von Geschwistern

Ich möchte in diesem Buch an verschiedenen Beispielen zeigen, wie groß der Einfluss von Geschwistern sein kann. Dabei habe ich nicht den Anspruch, die ganze Vielfalt der Geschwisterbeziehungen vollumfänglich zu behandeln oder gar einen vollständigen Abriss zur Geschwisterbindung vorzulegen. Viele weitere Themen wie etwa die Geschwisterbeziehungen in anderen Kulturen, die speziellen Aspekte bei Stief- und Halbgeschwistern oder von Geschwistern in Adoptiv- und Pflegefamilien oder Behinderte und ihre Geschwister können hier nicht erörtert werden. Interessierte Leser*innen finden etwa bei Kasten (1993a, 1993b, 1995), Bank und Kahn (1994), Lüscher (1997) sowie Winkelheide und Knees (2003) sowie bei Achilles (2002), Haberthür (2005) und Grünzinger (2005) dazu relevante Informationen. Auch Beispiele aus der Mythologie und Märchenwelt, wo wir unzählige, gerade auch positive Beispiele für Geschwisterbeziehungen finden – erwähnt seien hier nur „Brüderchen und Schwesterchen“ oder „Hänsel und Gretel“ – müssen hier weggelassen werden. Petri (1994) liefert interessierten Leser*innen dazu eine repräsentative Auswahl sowie anregende Interpretationen.

Stattdessen möchte ich in diesem Buch vielmehr nur einige aus meiner Sicht zentrale, mich besonders faszinierende Themen auswählen und mit Beispielen näher beleuchten. Was ich Leser*innen mit dem vorliegenden Buch also anbiete, ist nur ein Ausschnitt aus der unendlichen Fülle unterschiedlicher Geschwisterbeziehungen und ihrer individuellen Bedeutung. Besonders die individuell-subjektive Deutung des Individuums steht immer wieder im Zentrum der Erörterungen dieses Buches und zieht sich quasi als roter Faden durch die Kapitel. Mich faszinieren besonders die folgenden Fragen:

|20|Was bedeutet es in dieser konkreten Familie mit diesen Eltern und unter diesen Bedingungen als ältestes, zweitgeborenes, mittleres, jüngstes oder Einzelkind aufzuwachsen? Wie interpretieren Kinder und Jugendliche ihre persönliche familiäre Konstellation, ihre Stellung und Rolle darin – und wie handeln sie daraus?

Man könnte – im Gegensatz zur eher hierarchischen Sozialisierung im Eltern-Kind-Prozess – im Geschwisterkontext auch von einer „Horizontalsozialisierung“ (Ley, 2001) sprechen. Geschwister bedeuten tiefe Gefühle von Nähe, Verbundenheit, Liebe, Vertrautheit und Kooperation, aber auch ebenso starke Emotionen wie Eifersucht, Ablehnung, Entfremdung, Hass und Konkurrenz. Das vielleicht hervorstechendste Merkmal der Geschwisterbeziehung ist ihre Ambivalenz. Tucholsky (1923) hat dies ebenso treffend wie pointiert formuliert: „Die Familie weiß alles, mißbilligt es aber grundsätzlich. Andere wilde Indianerstämme leben entweder auf den Kriegsfüßen oder rauchen eine Friedenszigarre: die Familie kann gleichzeitig beides.“ Geschwister bedeuten sowohl Chancen wie Risiken. Wo das Positive deutlich überwiegt, entsteht eine wertvolle, häufig lebenslange emotionale wie kognitive Ressource für alle Beteiligten.

Die allmähliche Entdeckung von Geschwistern

Es ist schon erstaunlich, dass Psycholog*innen die von Geburt an engen Beziehungsmuster zwischen Kind und Bezugspersonen differenziert und ausgiebig beobachtet, beleuchtet und beschrieben, die aber fast ebenso früh sich konstituierende und letztlich unkündbare Geschwister-Geschwister-Beziehung, die elementare und tiefe Gefühle wie Freude, Liebe, Verbundenheit, Neid, Rivalität oder Hass ermöglicht, als wenig oder nicht relevant beurteilt haben. Alfred Adler, ein zeitweiliger Mitstreiter (und bald darauf Konkurrent) von Freud, der später die Individualpsychologie begründete, kann als Vater der Geschwisterforschung bezeichnet werden, da er als erster Psychologe begann, sich ausführlicher schon ab Mitte der 1920er Jahre mit den Geschwisterpositionen und deren Einfluss zu beschäftigen.3 Herzka (Felder & Herzka, 2000, S. 16) würdigt Adlers Beitrag zur Geschwisterbeziehung sogar als Meilenstein in der Entwicklung der Kinderpsychiatrie. Der Adler-Schüler Dreikurs hielt einige Jahre später, 1933, lapidar fest: „Man kann ganz einfach kein Kind unabhängig von seinen Geschwistern verstehen.“ (Dreikurs, 1981, S. 88)

|21|Ein eher heilpädagogisch orientierter Autor, Karl König (1974), hat sich in den 1950er Jahren mit dem Zusammenhang von sozialen Fähigkeiten und Geburtsrangplatz näher beschäftigt: Aufgrund einer Untersuchung von 150 Personen stellt er die – allerdings fragwürdige! – These auf, dass soziale Fähigkeiten mit einem bestimmten Geburtsrangplatz korrelieren.

Erst allmählich wird von immer mehr Fachleuten (an)erkannt, dass nicht nur Eltern, sondern auch die Geschwister für unsere Individualentwicklung von enormer Bedeutung sind. Besonders die Peer-Forschung in der Entwicklungspsychologie und in der Soziologie gewichtet heute den Gleichaltrigen-Einfluss (horizontale Ebene) zumindest ab der frühen Jugendzeit ungleich größer als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dabei beschäftigt sich die Sozialisationsforschung schon länger mit der Thematik: Im Handbuch von Hurrelmann und Ilich (1982, S. 407) wird in einem separaten Kapitel betont, dass „neben Mutter und Vater bei der Sozialisation […] natürlich auch die in der Familie vorhandenen Geschwister eine hervorragende Rolle spielen“. Auch im aktuellen Forschungsgeschehen in der Familienpsychologie „herrscht Übereinstimmung dahingehend, dass Geschwister eine herausragende Rolle im Lebenslauf spielen. Ihre Beziehung zueinander ist einzigartiger Natur.“ (Hofer, Wild & Noack, 2002, S. 192–193) Und etwas weiter heißt es bei denselben Autoren: „Neben Eltern und Peers haben sie [die Geschwister – Anm. J. F.] eine wichtige Funktion als Sozialisationsagenten, weil Geschwister im täglichen Zusammenleben sich gegenseitig anregen und lernen, sich zu verstehen und auseinanderzusetzen.“ (Hofer, Wild & Noack, 2002, S. 193)

Die Geschwisterpsychologie-Forschung scheint hier nun langsam nachzuziehen, zu Recht, denn die Identität eines Menschen baut sich aus einer Vielzahl von Identifikationen auf. Dazu stehen – zum Glück! – nicht nur die Eltern zur Verfügung, sondern auch schon sehr früh die Geschwister.

Diese langjährige Vernachlässigung – oder in Freuds Worten Verdrängung? – der Geschwisterthematik ist auffallend und sachlich nicht gerechtfertigt. Erfreulicherweise hat nun in den letzten Jahren auch die Zahl der Monografien dazu eindeutig zugenommen (hier eine kleine Auswahl: Forer & Still, 1991; Kasten, 1993a, 1993b, 1994, 1995, 2001; Klagsbrun, 1993; Petri, 1994; Martensen-Larsen & Sørrig, 1995; Dunn & Plomin, 1996; Lüscher, 1997; Schmid, 1997; Sulloway, 1997; Veith, 2000; Ley, 2001; Sohni, 2004, 2011; Rufo, 2004; Kreuzer, 2016; Brisch, 2020; Brock, 2020). Die Zeitschrift für Individualpsychologie hat sogar ein ganzes Themenheft der Geschwisterbeziehung gewidmet (Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie e. V., 1995). Auch die Psychoanalytiker*innen haben einen umfangreichen Themenband dem Thema Geschwister gewidmet (Bohleber, 2017).

Leider tragen krasse Simplifizierungen, wie etwa bei Leman (1994, 1995) wenig zur sachlichen Erhellung der Thematik bei. So gibt beispielsweise Leman (1995, S. 82) u. a. „Tipps“ in Form einer Eheglückstabelle, welche Geschwisterkonstellationen für eine Paarbeziehung günstig oder ungünstig ausfallen und bei |22|Forer und Still (1991, S. 103) erfahren wir, dass Inhaber*innen von Schönheitssalons meistens als zweite Kinder geboren wurden! Rufo (2004) proklamiert gar einen idealen Altersabstand von Geschwistern, der sechs bis sieben Jahre betragen soll! Die englische Psychologin Linda Blair (2012) liefert Leser*innen gleich eine umfangreiche Anschauung von unhaltbar vereinfachenden Aussagen, von denen ich nur wenige aufführen möchte. So sind „Erstgeborene immer fürsorglich“ (S. 34) und „schneller gestresst als andere Menschen, bitten eher um psychologische Hilfe“ (als andere Geschwisterkinder J. F., S. 36), Sandwichkinder hingegen „sind kooperativ … und geborene (! J. F.) Diplomaten“ (S. 40). Allerdings geben – angeblich – „Menschen aus der Sandwichposition schnell nach“ (S. 71). Als Vorzug der Sandwichkinder fasst Blair zusammen: „Besonders gute Leistungen in nicht-akademischen Bereichen“ (S. 84). Simplifizierendes Denken offenbart auch die folgende Behauptung: „Einzelkinder denken logisch und strategisch“ (S. 125), „zeigen einen starken Hang zum Perfektionismus“ (S. 129) und „kommen mit Unwägbarkeiten schlecht zurecht“ (S. 130). Die Autorin bietet sogar in jedem der vier ausführlichen Kapitel über die wichtigsten Positionen in der Geschwisterreihe Hinweise für die optimale Partnerwahl: So sind „Sandwichkinder gute Partner für Erstgeborene“ (S. 40), ja „Partner von Sandwichkindern haben Glück!“ (S. 69), andererseits werden „die meisten Jüngsten am meisten glücklich mit einem Ältesten, der ihnen das Organisieren abnimmt“ (S. 101), und „auch mittlere Kinder sind für Jüngere eine gute Partie“. (S. 101). Ich erspare den Leser*innen die Hinweise von Blair zu den „richtigen Berufen“ für Älteste, Mittlere, Jüngste oder Einzelkinder. Kurz und bündig: Solche und ähnliche Behauptungen entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage.

In den letzten Jahren sind weitere Studien veröffentlicht worden, die definitive Einflüsse einer bestimmten Geschwisterkonstellation auf Verhaltensweisen der Kinder zu belegen versuchen. Ich führe hier als eines von zwei ausgewählten Beispielen die breit angelegte amerikanische Studie von Breining, Doyle, Figlio, Karbownik und Roth (2020) an, die zum Schluss kommen, dass in Familien mit zwei oder mehr Kindern zweitgeborene Knaben mehr Disziplinprobleme in der Schule und erhöhte Kriminalitätsraten aufweisen. Als Erklärung führen sie die höhere Zuwendung der Eltern (Zeitinvestition) auf. Auch hier stellen sich natürlich mehrere kritische Fragen: Muss elterliche Zuwendung zwangsläufig immer positiv sein? Welche weiteren Faktoren könnten hier auch noch eine Rolle spielen und wurden hier nicht berücksichtigt bzw. übersehen?

In einer anderen Studie erfahren wir, wie jüngere Geschwister weniger angesehene Studienfächer wählen: Danach würden Erstgeborene mit höherer Wahrscheinlichkeit renommierte Fächer wie Medizin oder Ingenieurwesen als Jüngere studieren, die sich eher für Kunst, Journalismus oder Lehramt entscheiden (Barclay, Hällsten & Myrskylä, 2017). Auch hier wird die (höhere) elterliche zeitliche Investition bei Erstgeborenen als Hauptgrund aufgeführt – reicht das wirklich als Erklärung?

|23|Das Buch von Ernst und Angst (1983) beinhaltet die Überprüfung einer größeren Zahl von Arbeiten der Fachliteratur zwischen 1946 und 1980 zum Thema Geschwisterreihe und löste eine beträchtliche Diskussion über die Schlussfolgerungen des Autorenpaares aus: Dieses behauptete nämlich, dass sich eine signifikante Bedeutung der Stellung in der Geschwisterreihe für die Entwicklung des Individuums nicht habe beweisen lassen, d. h. dass z. B. Geburtsrangplatz und Position in der Geschwisterreihe keinen bedeutenden und nachhaltigen Effekt auf die Individualentwicklung ausüben. Diese allgemeine Aussage lässt sich allerdings durch viele Einzelbeispiele entkräften, wie ich noch zeigen werde. Trotzdem liegt Sulloway (1997, S. 94) mit seiner verallgemeinernden These falsch: „Allen Einwänden zum Trotz zeigt die Literatur über die Geburtenfolge konsistente Verhaltenstrends. Eine tiefergehende Analyse führt sogar zu noch einem eindeutigeren Ergebnis: Die Arbeiten bestätigen den Einfluss der Geburtenfolge durchgehend.“ Neuere Studien konnten dies widerlegen, etwa, dass es einen Zusammenhang zwischen der Geburtenreihenfolge und der individuellen Risikobereitschaft gibt (z. B. Lejarraga, Frey, Schnitzlein & Hertwig, 2019).

Ernst und Angst (1983) ist darin zuzustimmen, dass zwischen strukturellen Geschwistervariablen wie etwa Geburtsrangplatz, Altersabstand, Geschlecht und Persönlichkeitseigenschaften von Geschwistern keine pauschalen, verabsolutierenden Aussagen möglich sind, sich also etwa aus einer bestimmten Geschwisterposition wissenschaftlich nicht eine zwingende Rolle in der Familie ableiten lässt. Kurz und bündig drückt das Sohni (2004, S. 31) mit folgenden Worten aus: „Die Ergebnisse der Forschung über Geschwisterkonstellationen sind für den Einzelfall wertlos.“ Der Weg der Forschung muss weg von einer blinden Berechnung von Korrelationen zwischen Strukturvariablen hin zur Erfassung von Prozessen und Wechselwirkungen zwischen dynamischen Einflussgrößen. Das zeigt aber nur, wie wichtig sorgfältige Einzelfallstudien sind, die wichtige individuelle Hinweise für Beratung und Therapie sowie zum Verständnis der Menschen liefern können.

Existierende Konstellationseffekte lassen sich – so die Erfahrungen vieler psychotherapeutisch tätiger Kolleg*innen wie auch meine eigene Erfahrung – in konkreten Einzelfällen und Situationen durchaus finden, die von ausschließlich wissenschaftstheoretisch oder mit statistischen Korrelationsverfahren operierenden Autor*innen übersehen werden, weil in einer Literaturübersicht Konstellationseffekte von Einzelfällen leicht verschwinden können. Auch andere Autoren, so etwa Langenmayr (in Kasten, 2001, S. 88–89) betonen, dass die zukünftige Forschung sich stärker damit beschäftigen sollte, wie die einzelnen Kinder ihre Position in der Geschwisterreihe erleben. Bis vor kurzem haben sich die Forscher*innen mehr auf die „objektive“ Umgebung konzentriert und nicht auf das subjektive Erleben und Deuten der Umwelteinflüsse des Individuums (vgl. dazu mehr in Kap. 2).

Kinder engagieren sich aber vom ersten Lebenstag an aktiv in ihrem Umfeld: Die moderne Entwicklungspsychologie ist von der Vorstellung abgekommen, dass das |24|Kind lediglich ein passiver Behälter für Einflüsse der Umwelt sei (Prägemodell). Seit Adler und Piaget wissen wir, dass Kinder sich aktiv ihre eigenen Welten erschaffen, sich ihnen anpassen (Akkommodation) oder sie umgestalten (Assimilation), verändern. Auch die systemische Psychologie betont die einmalige Stellung jedes Individuums innerhalb der familiären Beziehungsnetze sowie im Gesamtsystem Familie. Es geht also letztlich darum,„die familiäre Mikrowelt jedes einzelnen Kindes zu analysieren“ (Dunn & Plomin, 1996, S. 192). Diesem individuellen Erleben des einzelnen Geschwisters ist deshalb für das Verständnis der Ausbildung von überdauernden Persönlichkeitsmerkmalen ein zentraler Stellenwert beizumessen. Ich werde in diesem Buch an verschiedenen Einzelfall-Beispielen den individuellen Einfluss der Geschwister auf die Entwicklung eines Menschen darstellen.

Sulloway (1997) sieht die unterschiedliche Geschwisterposition als eine Kette verschiedener Nischen mit unterschiedlichen Ausgangspunkten und Möglichkeiten, die jeweils von einem Individuum besetzt sind. Sulloway betont dabei zu Recht, dass jedes Familienmitglied die gleichen Ereignisse auf seine eigene persönliche Weise erlebe. Ich werde darauf im nächsten Kapitel ausführlich eingehen.

Interessanterweise scheinen in der Betriebspsychologie bzw. der Managementlehre tiefenpsychologische und hier speziell individualpsychologische Erkenntnisse zur Geschwisterpsychologie schon etwas länger Einzug gehalten zu haben: Das Autorenduo Hugo-Becker und Becker (2022) behandelt in seinem schon in der 4. Auflage erschienenen Handbuch des psychologischen Konfliktmanagements ausführlich psychologische Aspekte zu Rollen und Geschwisterpositionen und deren Einfluss auf das spätere Verhalten im beruflichen Alltag.

Wer an einer neueren, psychoanalytisch orientierten empirischen Studie interessiert ist, die über den Einzelfall hinaus der klinischen Bedeutung der Geschwisterdynamik und deren Auswirkungen insbesondere im Erwachsenenalter nachgeht, findet im Buch von Adam-Lauterbach (2013) Anregungen und Beispiele. Sie zeigt in ihrer Studie u.a, wie Geschwistererfahrungen oftmals einen Anteil an psychischen Erkrankungen haben können – ein Thema, das leider immer noch zu wenig Beachtung in der klinischen und beraterischen Praxis findet.

Kurze Beispiele aus der Literatur

In Literatur und Literaturwissenschaft beschäftigen sich Autor*innen schon länger und ausgiebiger mit der Geschwisterthematik. So sei an dieser Stelle nur auf den Sammelband von Franzen und Penth (1992) verwiesen, der die Vielfalt von Geschwisterbeziehungen an literarischen (so z. B. Heinrich und Thomas Mann), autobiografischen und erzählerischen Beispielen (u. a. Gebrüder Grimm, „Brüderchen und Schwesterchen“) dargestellt. Das Literaten-Paar Mann bietet besonders ein|25|drückliche Beispiele für eine lebenslange und ambivalente Beziehung, eine wiederholt aufflackernde Hassliebe. Im Rahmen dieser Einleitung müssen einige kurze Andeutungen genügen. Der jahrelange Schlagabtausch zeigt sich etwa im Vorwurf des jüngeren Thomas an den älteren Heinrich, er müsse „aus Furcht vor den Leiden des Müßiggangs ein schlechtes Buch nach dem anderen schreiben“4, mit dem Professor Unrat würde er ein auf schnelle Wirkung zielendes, „amüsantes und leichtfertiges Zeug“5 veröffentlichen. Heinrich reagiert auf den offenkundigen Angriff subtiler: Er bezeichnet Thomas als „großen Streber wider besseres Wissen“6 Sogar die Darstellung der Sexualität in Heinrichs Roman „Jagd nach Liebe“ wird zum Streitpunkt in der Bruder-Beziehung: Thomas wirft Heinrich eine vollständig sittliche Unbekümmertheit vor, die Darstellung eines ermüdenden fortwährenden Fleischgeruches!7 Der Bruderzwist wird über Jahre im Briefwechsel der beiden Schriftsteller fortgeführt. Dabei geht es nicht nur um unterschiedliche Auffassungen über Kunst, Literatur, Ästhetik und Politik, die Darstellung der Erotik und des Sozialen, sondern immer wieder auch um den Erfolg und die Wirkung als Schriftsteller im brüderlichen Wettstreit, ja um erbitterte Konkurrenz, sich gegen den anderen zu behaupten. Heinrich schrieb in den ersten Jahren leichter, flüssiger, veröffentlichte mehr und schien anfangs der Erfolgreichere zu werden. Thomas aber wollte ihn überbieten – was ihm schließlich bezüglich des Erfolges eindeutig gelang: Sein Ruhm wuchs, er erhielt 1929 den Nobelpreis für Literatur, während Heinrich zunehmend im Schatten seines berühmten Bruders stand und schließlich im Exil in den USA auch nicht mehr an die früheren erfolgreichen Jahre in Deutschland anknüpfen konnte und zudem schließlich auch mit großen finanziellen Problemen zu kämpfen hatte. Das Land seines Exils und dessen Kultur blieben Heinrich fremd, sein Bruder Thomas musste ihn, den in den USA Erfolglosen und zunehmend Vereinsamten – widerwillig – finanziell unterstützen, er wurde so vom Bruder abhängig: demütigend für einen früher erfolgreichen, nun rund 70-jährigen Schriftsteller, der zudem noch seine Frau Nelly durch einen Suizid (1944) verloren hatte.

Vor allem Thomas Mann hegte – neben zeitweise etwas milderen – immer wieder starke ablehnende brüderliche Gefühle. Schon in den Buddenbrooks (1901) von Thomas Mann heißt es: „Ich bin geworden, wie ich bin (…), weil ich nicht enden wollte wie du“ (zit. nach Koopmann, 2005, S. 72–73). In einem Brief an die Publizistin und Erzählerin Ida Boy-Ed vom 14.2.1917 schreibt er u. a.: „Seit Jahr und Tag leben wir in feindlicher Entfremdung“ (zit. nach Kesting, 2003, S. 57). Dies sollte trotz gelegentlicher gegenseitiger Annäherung über weite Strecken der Normalzu|26|stand des Bruderverhältnisses bis zum Tode von Heinrich 1950 bleiben. Während des Ersten Weltkrieges brach der Kontakt zwischen den Brüdern zeitweilig ab, ab 1922 begann wieder eine vorsichtige Annäherung; herzlich wurde der Kontakt offenbar aber nie. In einem der wenigen erhaltenen Briefe – allerdings nur ein nicht abgeschickter Entwurf – Heinrichs an Thomas (30.12.1917) kommen trotz aller Ambivalenz deutliche Versöhnungszeichen zum Ausdruck: „Dein ganzes Werk ist von mir begleitet worden mit dem besten Willen, es zu verstehen und mitzufühlen. Die Gegnerschaft deines Geistes kannte ich von jeher, und wenn Deine extreme Stellungnahme im Krieg (Anm. d. Autors: Thomas war deutsch-national positioniert, Heinrich lehnte die Teilnahme Deutschlands am Krieg ab und war eher kommunistisch orientiert) Dich selbst verwundert hat, für mich war sie vorauszusehen. Dieses Wissen hat mich nicht gehindert, Dein Werk oftmals zu lieben, noch öfter in es einzudringen, wiederholt es öffentlich zu rühmen oder zu verteidigen, und Dich, wenn Du an Dir zweifeltest, zu trösten wie einen jüngeren Bruder. Bekam ich von dem allen fast nichts zurück, ich habe es mich nicht verdriessen lassen. Ich wusste, um sicher zu stehen, brauchtest du die Selbstbeschränkung, sogar die Abwehr des Anderen, (…) und so habe ich auch Deine Angriffe (…) noch immer ohne grosse Mühe verwunden.“ (zitiert nach Kesting, 2003, S. 60–61)

Thomas schien über Jahre mehr unter der Bruder-Beziehung gelitten zu haben als Heinrich. In einem Brief an Ida Boy-Ed vom 17.3.1917 gestand Thomas, dass das Bruderproblem das eigentliche, „das schwerste Problem“ seines Lebens sei (zitiert nach Koopmann, 2005, S. 13), während Heinrich einmal bekannte: „Du warst mir in jedem Augenblick des Lebens der Nächste“ (a. a. O., S. 13). Allerdings machten Thomas’ Erfolge dem Älteren auch zu schaffen, wurde er doch über die Jahre bezüglich Erfolg und Ansehen vom jüngeren Bruder eindeutig überholt und in den Schatten gestellt.

Trotz oder wegen der ambivalenten, häufig negativen Beziehung der Brüder Mann: Beide haben sich durch und in ihren Werken sehr stark gegenseitig beeinflusst. Die Brüder antworten sich darin unablässig, direkter und indirekter, in Familienromanen, Erzählungen, Essays, autobiografischen Texten, Briefen und Briefentwürfen – vieles wäre ohne den Bruder auf beiden Seiten wohl nicht entstanden. Einige Texte sind sogar aufeinander bezogen bzw. direkte Antworten auf die Werke des anderen. Zwei Beispiele: Der Zola-Essay Heinrichs (1915) löste einen Bruderzwist aus und veranlasste Thomas, die Betrachtungen eines Unpolitischen (abgeschlossen 1918) zu schreiben, und Thomas Manns letzter Roman Felix Krull (begonnen 1910, abgeschlossen 1954) liest sich stellenweise auch als eine einzige ausführliche Antwort auf Heinrichs Manns Roman Schlaraffenland (1900). Das fast 600 Seiten umfassende Buch diente unter anderem zur ausführlichen Rechtfertigung und Abgrenzung (nicht nur, aber besonders auch gegenüber Heinrich) seiner politischen Haltung, die Thomas später allerdings doch teilweise revidierte.

|27|Wer sich weiter in das Gebrüder-Mann-Thema vertiefen möchte, sei auf den umfangreichen Sammelband der Briefe von 1900–1949 (Wysling, 1968) sowie auf die vorzügliche Zusammenstellung dieses langjährigen Bruderzwistes von Kesting (2003) und besonders auf die hervorragende, detailreiche Geschwisterstudie von Koopmann (2005) über die beiden Brüder verwiesen.

Auch am Beispiel von Armand und François Arouet (Voltaire) lassen sich Spuren eines jahrelangen Geschwisterkonfliktes finden: Voltaire lehnte den religiösen Fanatismus seines älteren Bruders ab und verewigte ihn in seinem Stück Le Dépositaire (1772): In einer Szene des Stücks führen zwei Brüder einen Dialog. Der ältere Bruder wird als ein ernsthafter Tor dargestellt, der den ausgefallenen Plan gefasst hat, ein vollkommener Mensch zu werden. Der jüngere dagegen lebt, um zu gefallen und Gefälligkeiten einzuheimsen; er ist zwar etwas wild, dafür aber außerordentlich liebenswürdig, ehrbar sowie überall beliebt (vgl. dazu Sulloway, 1997, S. 110). Der biografische Bezug ist unübersehbar.

Schließlich ist auch das Brüderpaar Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) nicht nur bekannt geworden als Begründer der Germanistik als Wissenschaft, als Herausgeber von Kinder- und Hausmärchen und vieler altdeutscher Literaturtexte wie Wörterbücher, sondern auch als eine lebenslängliche außergewöhnliche Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die erst mit dem Tod des Jüngeren zu einem Ende gelangte. Vielleicht ist es nicht zufällig, dass uns in den Märchen der Gebrüder Grimm Geschwisterpaare begegnen, die sich gegenseitig unterstützen, so etwa in „Hänsel und Gretel“ oder in „Brüderchen und Schwesterchen“. Für viele weitere Beispiele in der Literatur sei auf Kreuzer (2016, S. 25–31) verwiesen.

Geschwister und Anamnese

Besonders bei vertiefteren Beratungen, Therapien sowie schulpsychologischen Abklärungen sollten die Geschwisterbeziehungen – wegen ihrer Bedeutung – einen festen Platz in einer sorgfältigen Anamnese einnehmen. Geschwisterkonstellationseffekte können uns wichtige Hinweise auf mögliche Ursachen familiärer oder individueller Konflikte geben, vergleichsweise so, wie der Blutdruck einer von zahlreichen Faktoren ist, die dem Arzt mögliche Hinweise auf körperliche Krankheit oder Gesundheit gibt. Ich halte dabei die Aufarbeitung und Klärung einiger grundlegender Punkte für unerlässlich, die in der nachfolgendenTabelle 1-1 aufgeführt werden.

|28|Tabelle 1-1:  Grundfragen der Geschwisterkonstellation

Formelle Geschwisterkonstellation (Reihenfolge und Altersabstände der Geschwister)

Einzelne Rollen und Nischen der Geschwister (informelle Geschwisterkonstellation)

Geschwister und Geschlecht (z. B. Rollenzuschreibungen)

Beziehungen und Zugang der Klient*innen zu den einzelnen Geschwistern

Beziehungen von Mutter und Vater zu den einzelnen Geschwistern, ihre individuellen Erwartungen und Reaktionen sowie eventuelle Präferenzen

Weitere wichtige einflussreiche Personen

Individuelle, subjektiv-persönliche Wahrnehmung der eigenen Geschwistersituation sowie der einzelnen Geschwister

Geschwisterprojektionen im Erwachsenenalter in den Bereichen Beruf, Partnerschaft, Freundschaften.

Auch in Supervisionen oder Intervisionsgruppen sollte die Geschwisterthematik nicht außer Acht gelassen werden: In Team-Konflikten können ungeklärte Geschwisterbeziehungen eine manchmal nicht unerhebliche Rolle spielen. Ausführlichere Anregungen und konkrete Fragen dazu für Beratung, Abklärung und Therapie finden der Fachmann/die Fachfrau sowie weitere Interessierte im Anhang. Wenn sich Psycholog*innen mit Hilfe einer erweiterten Geschwisterbeziehungs-Anamnese dem individuellen Einzelfall zuwenden und seine spezifische Einzelsituation zu analysieren versuchen, werden vermehrt wichtige Erkenntnisse und Schlüsse zur Psychologie der Geschwisterdynamik zutage treten.

Das Buch ist so konzipiert, dass eine gewinnbringende Lektüre nicht der Reihe nach erfolgen muss; einige Kapitel wecken je nach Leser*in vermutlich mehr, andere weniger Interesse. Sinnvoll erscheint mir allerdings, das Kapitel 2 als Basis für die weitere Entdeckungsreise ins Land der Geschwister zu nehmen, weil ich hier grundlegende Erkenntnisse zur individuellen Dynamik der Geschwisterbeziehung sowie zentrale Aspekte zu Geschwisterkonstellationen darstelle. Das Buch soll auch gerade durch die vielen Beispiele Leser*innen anregen, sich über ihre eigenen Geschwisterbeziehungen klarer zu werden sowie Chancen und Potenziale solcher Beziehungen besser zu verstehen.

2

Als Beispiele seien hier stellvertretend für viele erwähnt: Stewart (1962; McArthur (1956).

3

vgl. z. B. Adler (1973b)

4

Thomas Mann im 7. Notizbuch. Zitiert nach Franzen und Penth (1992, S. 147)

5

Thomas Mann im 7. Notizbuch. Zitiert nach Franzen und Penth (1992, S. 147)

6

Thomas Mann im 7. Notizbuch. Zitiert nach Franzen und Penth (1992, S. 147)

7

Thomas Mann im 7. Notizbuch. Zitiert nach Franzen und Penth (1992, S. 148)

|29|2  Rollen, Nischen, Konstellationseffekte und individuelle Deutungsmuster

Einleitung

Können bestimmte Geschwisterkonstellationen in der Familie für die Entwicklung jedes einzelnen Kindes eine Rolle spielen? Gibt es etwa bestimmte Verhaltens- und Erlebenstendenzen bei Erst- oder Letztgeborenen? Wie und welche Rollen und Nischen bilden sich wann, warum und unter welchen Umständen heraus? Von welchen Faktoren hängen Rollenkonstellierungen weiter ab? Lassen sich individuelle Konstellationseffekte beobachten? Welche Rolle spielt dabei die individuelle subjektive Interpretation jedes einzelnen Kindes in der Familie? Dazu hält Seelmann schon 1927 (!) kurz und treffend fest: „Jedes Kind findet in seiner Familie innerhalb der Reihe der Geschwister von Grund auf andere Bedingungen und Möglichkeiten für seine Entwicklung.“ (Seelmann, 1927, S. 27)

Die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes ist ein längerer und komplexer Vorgang, an dem viele Faktoren und Variablen beteiligt sind: die Eltern (oder Elternteile) oder andere Erwachsene als primäre und in den ersten Lebensjahren wichtigste Bezugspersonen, die Lehrpersonen, Verwandte und Bekannte, Nachbarn, Freunde der Eltern und der Kinder, das soziale und kulturelle Umfeld und |30|natürlich das Kind selber mit seiner individuellen Art zu reagieren, Einflüsse wahrzunehmen und spezifisch zu deuten und zu verarbeiten. Selbstverständlich spielen auch biologische Faktoren, z. B. eine körperliche Behinderung oder eine Krankheit eine wichtige Rolle. Die uralte Streitfrage, wie viele Persönlichkeitsmerkmale erblich, also genetisch bestimmt sind und zu welchem Prozentsatz die Umwelt eine Rolle spielt, ist bis heute umstritten, da sämtliche biologisch bedingte Anlagen und Dispositionen immer und von Anfang an den Umwelteinflüssen ausgesetzt sind und zusätzlich vom Individuum schon sehr früh in seiner unverwechselbaren Art verarbeitet werden; die Entwicklungsfaktoren Umwelt (exogener Faktor), Anlage/Dispositionen (endogener Faktor) und Individuum (individuelle subjektive Verarbeitung/Deutung) stehen in einer permanenten Interaktion und lassen sich vermutlich in Bezug auf die Persönlichkeitsmerkmale nie wissenschaftlich einwandfrei trennen.8 Zudem sind sich die Forscher*innen heute darin einig, dass wenige Aspekte des menschlichen Verhaltens ein genetisch vorherbestimmtes Muster zeigen; auch biologisch bedingte Antriebe des Menschen werden kulturell geprägt, überformt. Verglichen mit anderen Arten haben Menschen bemerkenswert „offene“ genetische Programme9. Deshalb haben sich seit längerem die beiden Begriffe Genotyp (angeborene Ausstattung des Menschen) und Phänotyp(die Summe aller beobachtbaren Merkmale eines Individuums, die sich als Ergebnis der Interaktion des Genotyps mit der Umwelt entwickelt haben) etabliert. Dem Genotyp können wir nie in reiner Form begegnen, denn auch ein kleines Kind ist nach wenigen Lebenstagen ein Phänotyp, da es schon von seiner Umwelt beeinflusst wurde und selber seine Entwicklung vom ersten Tag an individuell-spezifisch beeinflusst. Neueste molekularbiologische Forschungen zeigen zudem, dass sogar unsere Gene von Beziehungen und Lebensstilen beeinflusst, ja gesteuert werden (Bauer, 2002), also sogar die Mehrzahl der Gene in ihren Aktivitäten wie Wirkungen maßgebend Umweltreizen und psychischen Prozessen unterworfen sind.

Ein heranwachsendes Kind ist keinen prägenderen Einflüssen ausgesetzt als denen seiner Familie. Zumindest in den ersten acht bis zehn Lebensjahren übt die Familie einen größeren Einfluss auf die Kinder aus als jede andere Gruppe, Organisation oder Institution. Schulen, Vereine, Freunde und Berufstätigkeit wirken alle erst später auf das Leben ein, nach den frühen Jahren, die so prägend – aber nicht determinierend – sind und in denen die grundlegenden Züge der Persönlichkeit eines jeden Menschen geformt werden.

|31|Häufig vernachlässigt, manchmal aber auch vereinfacht und überinterpretiert wie etwa bei Leman (1994) oder Toman (1987), bleibt im Familiensystem als wichtiger Einflussfaktor die Geschwisterposition, genauer: die individuelle und subjektiv empfundene Geschwisterkonstellation. Wie im einleitenden Kapitel erwähnt, maß schon Adler (1973b [1927]) der Familienkonstellation für die Persönlichkeitsentwicklung eine wichtige Rolle zu. Die Berücksichtigung der Stellung in der Geschwisterreihe wird von Adler als wichtige Hilfe für das Verständnis des individuellen Lebensstils eines Menschen gezählt. Es ist offenkundig, dass die unausweichlichen und dauernden Interaktionen mit den Geschwistern eine grundlegende Erfahrungsebene bilden, auf der die Kinder durch teilnehmende Interaktionen ihre lebensstiltypischen Beziehungsmuster lernen, einüben und verfestigen (vgl. Brunner, Kausen & Titze, 1985). Klagsbrun (1993) geht hier noch einen Schritt weiter, wenn sie betont, dass sogar die tiefere und ursprünglichere Grundlage der Identität von Geschwistern in der Geschwisterreihenfolge mit den dazugehörigen Rollen liege. Auf dieser Basis, so Klagsbrun, entwickelt sich das früheste Bild der eigenen Person in der Beziehung zwischen Eltern und Geschwistern und später auch zu Menschen außerhalb der Familie. Wir werden im Folgenden darauf näher eingehen und Beispiele dazu kennen lernen. Sicher bestehen wichtige Verbindungen zwischen der Identitätsentwicklung eines Menschen und seiner erlebten Geschwisterkonstellation: Unzählige geschwisterliche Erfahrungen bilden einen Schatz von Gefühlen, Verhaltens- und Denkmustern, die zur individuellen Ich-Identität, zur Sozial-Identität, zur Geschlechts-Identität wie zur Berufsidentität einen wichtigen, wenn auch häufig unbewussten, übersehenen Einfluss ausüben. Ich möchte hier aber nochmals ausdrücklich betonen, dass die Geschwisterkonstellation zwar einen wichtigen, aber eben nur einen von mehreren Hauptfaktoren für die Persönlichkeitsentwicklung darstellt, und dass diese verschiedenen Faktoren einander aufheben oder verstärken können. Es existieren zweifellos Konstellationseffekte, deren Aussagewert aber durch eine einseitig mechanistische Sichtweise stark eingeschränkt wird, da sie das komplexe Geflecht und die Dynamik familiärer Beziehungen zu wenig berücksichtigt: Aus einer geburtsbedingten Position in der Familie lassen sich nicht mit Sicherheit und ausschließlich bestimmte Verarbeitungsmodi und Verhaltensweisen ableiten, wie es beispielsweise König (1974, S. 15, 27–29, 79) tut, der in Bezug auf das soziale Verhalten feste Zuordnungen vornimmt: Der Erstgeborene sei ein traditionsgebundener Mensch, der zweite ein In-sich-Ruhender, ein Freier, Ungebundener, der dritte ein Seltsamer, Fremder, oft Außenseiter, der sich abgeschnitten und minderwertig fühle. Die folgenden Geschwister (4., 5. usw.) würden dann wieder die Verhaltensweisen der Plätze 1, 2 usw. einnehmen. Jeder Geburtsplatz hätte, so König, die ihm zugewiesene Aufgabe! Die Geschwisterkonstellation prägt zwar immer die kindliche Psyche mit, aber – glücklicherweise! – nicht nach einem fest vorgegebenen Schema.

|32|Geschwisterkonstellation und persönlichkeitsabhängige Verarbeitung

„Jedes Kind in der Familienkonstellation benimmt sich so, wie es seine Stellung innerhalb der Familie auffasst.“

(Dreikurs & Soltz, 1989, S. 32)

Jedes Kind hat eine ganz bestimmte, individuelle Geschwisterposition, Geschwistersituation und damit Konstellation: Es kann Einzelkind sein, es kann ältestes Kind neben einem oder mehreren jüngeren Geschwistern sein, es kann jüngstes Kind sein mit einem oder mehreren älteren Geschwistern, oder es kann eine Mittelstellung zwischen älteren und jüngeren Geschwistern einnehmen. Ein Geschwister kann eine Behinderung aufweisen, erkranken, sterben – oder nach der Trennung von Mutter und Vater stößt u. U. eine neue Mutter/ein neuer Vater mit eigenen Kindern oder ohne Kinder zur Familie (Fortsetzungsfamilie). Dabei können Mutter und Vater oder auch nur ein Elternteil vorhanden sein. Ferner findet ein einziger Junge unter lauter Mädchen oder ein einziges Mädchen unter mehreren Jungen eine wiederum andere Situation vor, die zusätzlich von Geschlechtsrollen-Bildern der Eltern beeinflusst wird. Zudem schafft jedes neue Kind in einer Familie wieder eine neue Ausgangssituation für alle im Familiensystem beteiligten Personen. Das ist mit ein Grund, warum alle Familienkonstellations-Theorien mit Vorsicht zu genießen sind, die unzulässige Vereinfachungen und Generalisierungen enthalten und so dem individuellen Einzelfall nicht gerecht werden.

Keine Geschwisterposition kann generell als günstiger oder nachteiliger eingestuft werden, jede Konstellation birgt immer je nach individueller Situation Vor- und Nachteile, Möglichkeiten, Potenziale, Herausforderungen, Gefahren, Probleme und fördert entsprechend den Umständen und Gegebenheiten besondere Fähigkeiten und Einstellungen. Es gibt zwar Tendenzen und Trends, aber es gilt immer zu beachten, dass zwischen Familienmitgliedern dynamische Beziehungen bestehen. Die Geschwisterposition stellt immer nur einen Faktor dar und umfasst so nur Teile des komplexen Beziehungsmusters zwischen Geschwistern. Die Beziehung zu den Eltern, abweichende biografische Lebensverläufe und einschneidende Lebensereignisse, die jedes Geschwisterkind anders betreffen und beeinflussen, verändern sowohl die Geschwistersituation jedes einzelnen Kindes wie seine individuelle subjektive Wahrnehmung, also die Perspektive des Kindes. Systemische, interaktionistische und perspektivische Entwicklungskonzepte müssen daher in den Vordergrund für Erklärungsansätze treten. Trotzdem kann allgemein gesagt werden, dass die Situation, die ein Kind unter den Geschwistern bzw. in der Familie erlebt, zum (meistens unbewussten) Modell für das spätere Leben werden kann. Jede Situation und Position birgt viele mögliche |33|Chancen und Gefahren für die Entwicklung in sich, die – das hängt auch von Umgang und Reaktion der Eltern ab – positiv oder negativ zum Ausdruck kommen können. Schließlich werden die individuelle Geschwisterposition und die innerfamiliären Bedingungen von den einzelnen Kindern unterschiedlich erlebt und verarbeitet.

Für alle folgenden Ausführungen gilt also: Es gibt keine wissenschaftlich begründbaren einfachen und pauschalisierenden Eins-zu-eins-Verknüpfungen oder Zuordnungen bzw. vulgär-psychologische Aussagen wie „Die Jüngsten sind immer die Verwöhnten“ oder „Der Älteste ist konservativ oder rechthaberisch“. Zwischen dem Geburtsrangplatz und Persönlichkeitseigenschaften bestehen keine einfachen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Für die Entwicklung der Persönlichkeit ist weniger die Geschwisterposition an sich als feststehender, kausaler Faktor von Bedeutung. Vielmehr wirken sich die mit einer bestimmten Geschwisterposition verbundenen vielfältigen Einflüsse ganz individuell auf alle Beteiligten aus. Diese Einflüsse können individuell-biografische, soziale, sozioökonomische, politische, kulturelle, religiöse usw. sein. Die Rolle als Ältester – als Beispiel – bedeutet in jeder einzelnen Familie etwas anderes, und der kulturelle Kontext spielt ebenfalls eine beträchtliche Rolle. Jede Konstellation ist einmalig. So nimmt beispielsweise ein erstgeborener Knabe in einer schwerreichen europäischen Adelsdynastie als Thronfolger und Haupterbe eine andere Stellung ein als in einer sozial unterprivilegierten Ein-Eltern-Familie, wo dieser Knabe als Ältester mit seiner geschiedenen Mutter und den Geschwistern, später noch mit dem neuen Partner der Mutter und dessen Kindern in engsten räumlichen und finanziellen Verhältnissen zusammenlebt. Auch die schon erwähnten kulturellen Aspekte (Bewertungen von Rollen, Erwartungen an einzelne Rollen) sowie familiäre Werte und Erziehungsstile sind entscheidende Einflussgrößen. Ausschlaggebend bleibt immer, wie das Kind seine gesamte familiäre, soziale und individuelle (auch geschlechtsspezifische) Situation erlebt, deutet und welche Schlüsse es daraus zieht (autogene Faktoren). Das gilt ebenso für die Einschätzung der Wirkung unzähliger Umweltfaktoren: Auch die Schicht- oder Konfessionszugehörigkeit kann sich auf Kinder ein und derselben Familie erstaunlich unterschiedlich auswirken, je nach Persönlichkeit (Deutungsmuster), Alter, besonderer Situation jedes Geschwisters usw.

Die ganz persönliche Perspektive des Kindes, seine individuelle Verarbeitungsweise ist der Schlüssel zum Verständnis seines Strebens, Fühlens, Denkens und Handelns: Die (subjektive) Erfahrung ist der wirksame und entscheidende Faktor für die Entwicklung, nicht die (objektive) Umweltsituation oder das Ereignis. Das Kind ist vom ersten Lebenstag an ein aktives Wesen, das seine Eindrücke auswählt, ordnet, verarbeitet, umgestaltet, interpretiert. Tendenzen oder „Gesetze“ der Familienkonstellation richten sich deshalb immer nach den Nuancen des Einzelfalles: Jedes Kind findet einmalige und unwiederholbare Gegebenheiten vor und reagiert auf diese in individueller, nie sicher voraussagbarer Weise.

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Trotz all dieser Einschränkungen kann festgehalten werden, dass bestimmte Konstellationen entsprechende Verhaltensmöglichkeiten zumindest nahelegen oder wahrscheinlicher machen. Ein älteres Kind hat – besonders bei einem Abstand von mehreren Jahren – einen natürlichen Vorsprung in körperlicher und kognitiver Hinsicht, der bei größerem Altersabstand besonders ausgeprägt zum Ausdruck kommt; diese Überlegenheit schwächt sich erst mit der Zeit ab. Dies ermöglicht dem älteren Kind eher die Rolle des Großen, Stärkeren, Verantwortlichen, Ideen Vorgebenden zu spielen – und das wiederum legt dem Jüngeren tendenziell bestimmte komplementäre Reaktionsmuster nahe. Ältere Kinder treten deshalb gehäuft als Lehrende, seltener als Lernende im geschwisterlichen Beziehungskontext auf, und ihr körperlich-kognitiver Vorsprung – besonders bei mehreren Jahren Altersdifferenz – ermöglicht ihnen so eher Rollen als Erklärende, Helfende, Bestimmende, Korrigierende oder Betreuende einzunehmen. Entsprechend ahmen jüngere Geschwister ihre älteren Brüder und Schwestern häufiger nach als umgekehrt. Mit einem wachsenden Altersabstand wird das Älteste eher als Modell akzeptiert, ein geringer Altersabstand (ein bis drei Jahre) führt tendenziell gehäufter zu ambivalenten Verhaltensweisen und zu Konkurrenz (vgl. dazu auch die Kap. 5 und 9). Die nachfolgenden Erläuterungen und Beispiele beschreiben zwar mögliche – und häufige – Tendenzen und Fälle, es lassen sich aber immer Varianten finden, bei denen der Verlauf eben nicht so ist. Schon Adler hat darauf hingewiesen, indem er den – eine absolute Kausalität verneinenden – Satz geprägt hat: „Es kann alles auch anders sein.“ Der Leser/die Leserin wird bei genauerem Nachforschen vielleicht Beispiele aus dem eigenen persönlichen Bekanntenkreis finden, die sich fast lückenlos in die Ausführungen einordnen las|35|sen, und es wird andere Fälle geben, die durch bestimmte Umstände zu gegenläufigen Tendenzen als beschrieben geführt haben. Es erweist sich also als schwierig, allgemein gültige Aussagen mit empirischen Fakten und Zahlen zu untermauern; feste Zuordnungen zwischen Charaktereigenschaften und einer bestimmten Position in der Geschwisterfolge beispielsweise sind nicht möglich (Rohrer, Eglott & Schmukle, 2015; Damian & Roberts, 2015), wie das noch ein Pionier der Geschwisterpsychologie, Alfred Adler (1973a), postuliert hatte. Auch eine groß angelegte Studie mit Daten von über 11 000 Proband*innen kommt zum Schluss, dass andere Faktoren wie die Größe der Familie oder der sozioökonomische Hintergrund der Eltern einen größeren Einfluss auf die Entwicklung des Menschen haben als seine Geschwisterposition. Trotzdem hält die Studie fest: Unsere Geschwister und der Platz, den wir unter ihnen einnehmen, beeinflussen bestimmte Lebensentscheidungen und formen unsere Persönlichkeit, aber nicht systematisch und eindeutig voraussagbar – und es finden sich kaum Einflüsse der Geburtsfolge auf die Intelligenzentwicklung oder auf die Persönlichkeitseigenschaft „Offenheit“ (Botzet, Rohrer & Arslan, 2021).

Trotz dieser Einschränkung lassen sich gewisse Erlebnisweisen und Verhaltensmuster gehäuft mit einer bestimmten Geschwisterposition beobachten (vgl. z. B. Adler, 1973b; Sulloway, 1997). Die Geschwisterposition (älteres vs. jüngeres Kind) zeigt also einen Einfluss auf die Status- und Machtunterschiede, ältere betreuen und dominieren tendenziell und bei größerem Altersabstand ihre jüngeren Geschwister, während diese häufiger Bewunderung (ebenfalls bei deutlichem Altersabstand) (vgl. Abb. 2-1) und Nachahmung zeigen. Ein geringer Altersabstand, das zeigen viele Untersuchungen, führt zu mehr Streitigkeiten und Rivalitäten10. Ebenso scheinen sich größere Altersabstände positiv auf die Qualität der Geschwisterbeziehung auszuwirken. Bestimmte Geschwisterpositionen und -konstellationen erhöhen also die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines bestimmten Merkmals, determinieren sie aber nie, da noch weitere gewichtige Einflüsse zu berücksichtigen sind. So spielen z. B. der Aktivitätsgrad des Kindes (Temperament) und die individuelle Beziehung der Elternteile zu jedem einzelnen Kind eine wichtige Rolle. Es kann nicht genug betont werden, dass jeder Elternteil zu jedem einzelnen Kind eine ganz individuelle, unverwechselbare und persönliche Beziehung, ein individuelles Beziehungsmuster, aufbaut und pflegt. Auch (meistens unbewusste) Rollenzuweisungen und Erwartungen sowie Projektionen der Eltern spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle. So kann bei einem ältesten Kind ein Rollenwechsel stattfinden, wenn beispielsweise der Vater oder die Mutter dieses Kind aus irgendwelchen Gründen ablehnt oder nicht mag, das zweite Kind aber bevorzugt und als das in jeder Beziehung bessere betrachtet. Geschwisterpositionen sind immer eingebettet in ein hochkomplexes Beziehungsfeld mit den Beteiligten – und dieses Beziehungsfeld kann sich im Laufe |36|der Jahre durch verschiedenste Ereignisse wie Trennung der Eltern, Geschwisterkrankheit oder -tod, Arbeitswechsel oder -verlust der Eltern, Wegzug, Emigration u. v. a. m. verändern. Schon Philosophen wie Heraklit (etwa 540–480 v. u. Z.) haben betont, das Leben sei wie ein Fluss, und es sei unmöglich, zweimal in denselben Fluss zu steigen: Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu. Dieses Bild scheint mir treffend und lässt sich exakt auf die Beziehungsthematik von Geschwistern übertragen: Jedes Kind wächst in eine neue, ganz individuelle, einzigartige Familiensituation hinein, die sich von derjenigen eines älteren oder jüngeren Geschwisters in vielfacher Hinsicht unterscheidet. Die Geschwistersituation und -position prägt zwar immer die kindliche Psyche mit, aber nicht nach einem fest vorgegebenen Schema. Ich werde in diesem Kapitel – etwas später – einige ausgewählte Geschwisterpositionen und ihre häufigen Rollen näher beschreiben, vorerst aber noch auf die Umwelten der Geschwister näher eingehen.

Abbildung 2-1:  Bewunderung des älteren Geschwisters. (Zeichnung: Lorena, 6; 7.)

Identische oder individuelle Umwelt, gemeinsame (geteilte) oder nichtgemeinsame (nichtgeteilte) Umwelt?

Verhaltensgenetiker untersuchen seit Jahren die Gründe für Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei Geschwistern, besonders bei eineiigen und zweieiigen Zwillingen. Geschwister haben die Hälfte der variablen Gene gemeinsam, was sich u. a. in äußeren Merkmalen wie Körperbau, Gesichtszüge, Haarfarbe usw. zeigt. Zudem |37|leben sie – allerdings nur scheinbar – in derselben Familie, haben dieselben Eltern, wohnen in denselben Räumen, leben in der gleichen Wohnumgebung und Nachbarschaft. Scheinbar, weil Befunde der Verhaltensgenetiker zeigen, dass Kinder, die in derselben Familie aufwachsen, im psychischen Bereich nicht sehr ähnlich sind, ja sogar zwei Kinder der gleichen Familie mindestens so verschieden sein können wie Paare von zufällig aus der Population ausgewählten Kindern. In den Worten von Dunn und Plomin (1996, S. 27): „Verglichen mit IQ-Differenzen zwischen zufällig ausgewählten Individuen unterscheiden sich Geschwister mit anderen Worten eher, als dass sie sich ähnelten.“ Die Geschwisterkorrelationen sind bei allen Persönlichkeitseigenschaften sehr niedrig.

Die Studie von Dunn und Plomin (1996) kommt zum ähnlichen und zentralen Schluss wie viele andere psychologische Untersuchungen: Geschwister derselben Familie erleben ihre häusliche Umgebung in vielen Punkten verschieden. Das betonen auch Petermann, Niebank und Scheithauer (2004). Jedes Kind trifft bei seiner Geburt auf eine andere Familienkonstellation, nimmt in der Familie eine ganz spezifische, einzigartige Stellung ein, bewegt sich in wechselnden Beziehungsfeldern und wächst so in einem unverwechselbaren eigenen psychischen Universum auf (vgl. Ley, 2001, S. 39). Kinder erleben in einer Familie also etwas pointiert formuliert keine gemeinsame Umwelt. Viele der entscheidenden Umweltfaktoren – so etwa Alter, Größe, Status, Haltung und Erziehungsstil der Eltern innerhalb einer Familie – nehmen für jedes einzelne Kind einer Geschwistergruppe eine jeweils eigene, individuelle Ausprägung an. Anstelle der Erforschung der Umwelteinflüsse