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Der renommierte Hirnforscher Stefan Kölsch liefert das erste Buch, dass die Bedeutung und Gefahren des Unterbewussten für unsere Gesundheit ergründet ‒ auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft, für jedermann verständlich und mit vielen Beispielen. Die meisten Prozesse im Gehirn finden unbewusst statt. Blitzschnell und automatisch erkennt unser Unterbewusstes Gefahren oder auch Belohnungen, oft sogar lange, bevor wir eine entsprechende Situation bewusst erkennen. Leider aber macht dieses unbewusste Denken immer wieder die gleichen Fehler: Es vereinfacht Zahlen und Wahrscheinlichkeiten, überschätzt den Wert von Dingen, die wir besitzen, bemerkt Makel bei anderen schneller als bei uns selbst und ändert Erinnerungen kurzerhand aufgrund neuer Informationen. Zudem ist das "unterbewusste" Denksystem auch ein Gefühlssystem – und so führen unterbewusste Denkfehler zu "Gefühlsfehlern". Sie sind verantwortlich dafür, dass wir in negativen Gedankenschleifen kreisen, mit anderen in (selbst-) zerstörerische Konflikte geraten und in ungesunde Stimmungen verfallen. In seinem neuen Buch enthüllt Stefan Kölsch diesen natürlich vorgegebenen, aber oft überhandnehmenden und daher fatalen Mechanismus, und zeigt, wie wir dem Teufelskreis der "Bad Vibrations" entkommen können.
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Das Buch
Schnelle, aber fatale Entscheidungen. Ruinöse Fehleinschätzungen. Krankmachende Grübeleien und sinnlose Konflikte … Oft genug entstammt so etwas den Tiefen unserer Psyche. Der renommierte Hirnforscher und Bestsellerautor Stefan Kölsch ergründet erstmals die Bedeutung und die Gefahren des Unterbewussten für unser Leben – auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft, für jedermann verständlich und mit vielen Beispielen.
Mit dem neuen Konzept »Medi-Working«, durch das wir unseren Alltag und unser Tagesgeschäft in eine Meditation umwandeln können.
Der Autor
STEFAN KÖLSCH, geboren 1968 in Wichita Falls (Texas), schloss zunächst ein Geigenstudium ab und erwarb anschließend Diplome in Psychologie und Soziologie, bevor er am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig promoviert wurde. Er arbeitete an der Harvard University sowie im Exzellenzcluster »Languages of Emotion« der FU Berlin und folgte 2015 einem Ruf auf eine Professur an die renommierte Universität Bergen in Norwegen. Sein Buch Good Vibrations wurde ein Bestseller.
Prof. Stefan Kölsch
Die dunkle Seite
des Gehirns
Wie wir unser Unterbewusstes überlisten und negative Gedankenschleifen ausschalten
Ullstein extra
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ISBN 978-3-8437-2793-8
© 2022 by Ullstein Buchverlage GmbH
Illustrationen im Innenteil: Olga Kölsch
Lektorat: Gudrun Jänisch
Umschlaggestaltung und -abbildung: www.buerosued.de
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für meine Kinder
Vorwort
»Das Unterbewusste« – jeder hat schon mal davon gehört, und jeder hat auch eins. Aber was ist es und was macht es? Ist es etwas Böses im Menschen oder will es unser Überleben sichern? Sind wir ihm hilflos ausgeliefert oder können wir es überlisten? Welche Geheimnisse verbirgt es?
Das Unterbewusste erzeugt seine eigenen Gedanken und seine eigenen Gefühle. Es drängt uns dazu, Dinge zu tun, die es für vorteilhaft hält, und Dinge zu lassen, vor denen es sich fürchtet. Das Unterbewusste hat sich im Laufe der Evolution für ein Leben im Urwald entwickelt. Dafür ist es perfekt und überlebenswichtig. In unserem modernen Leben mit Kühlschrank, Büro und Smartphone beeinflusst es uns jedoch oft entgegen unseren ureigenen Interessen. Nun wird das Unterbewusste zur dunklen Seite des Gehirns und legt uns Fallstricke.
Wenn im Urwald ein gefährliches Raubtier aus dem Busch hervorspringt, übernimmt das Unterbewusste blitzschnell das Kommando über das gesamte Gehirn. Heutzutage macht es uns durch diese Funktion blind – mit Sorgen, Ärger oder Feindschaft. Wir sind dann wie gefangen in negativen Gefühlen oder negativen Gedankenschleifen, unser Blutdruck steigt, und wir übersehen offensichtliche Lösungen. Im Urwald sorgt das Unterbewusste auch dafür, dass eine Beute nicht wieder fallen gelassen wird. Heutzutage führt der damit einhergehende Verlust-Frust zu Habgier, und unsere Schränke quellen über, weil wir uns nur schwer von Dingen trennen können.
Wir werden sehen, dass sich solche unterbewussten Funktionen Millionen von Jahren vor der Entstehung des Menschen bei den damals lebenden Tieren entwickelt haben. Deswegen sind sie tief in unseren Gehirnen verwurzelt. Zusätzlich haben sich im Unterbewusstsein des Menschen weitere faszinierende Funktionen herausgebildet. Menschen orientieren sich beispielsweise unterbewusst an den Regeln und Bräuchen ihres Stammes. Unser Unterbewusstes will, dass wir dazugehören und vom Rest der Gruppe akzeptiert werden. Deswegen drängt es uns dazu, uns so zu verhalten, so zu denken und sogar so zu fühlen wie die anderen. Es sorgt auch dafür, dass unsere Sicht der Welt mit derjenigen unserer Gruppe übereinstimmt, und zwar unabhängig davon, ob diese Sicht der Wirklichkeit entspricht. Dafür hat das Unterbewusste sogar einen eigenen Wirklichkeitsfilter. Diesen kann es geschlossen halten, und dann erliegt man allen möglichen irrationalen Vorstellungen und Illusionen. Wir können dies bei Menschen erkennen, die auf Verschwörungstheorien reinfallen, auf Propaganda oder auf Populisten.
Sie werden außerdem erfahren, dass unser Unterbewusstes auch ein Persönlichkeitssystem ist. In unserer frühen Kindheit hat es Bindungsstile zu unseren wichtigsten Bezugspersonen entwickelt. Diese frühkindlichen Bindungsstile beeinflussen lebenslang unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Unsere unterbewussten Bindungsstile hängen außerdem mit etlichen Persönlichkeitseigenschaften zusammen, etwa damit, wie wir mit Ärger oder Stress umgehen, wie perfektionistisch wir sind, wie empathisch, wie selbstbewusst, ja sogar wie schmerzempfindlich wir sind.
Erst die unterbewussten Funktionen des Menschen haben die Entstehung moderner Zivilisationen ermöglicht. Gleichzeitig erschwert das Unterbewusste dem Menschen jedoch fortwährend das Leben in diesen Zivilisationen. Es führt uns mit Fehleinschätzungen und irrationalen Vorstellungen aufs Glatteis und wird zum Zündstoff von Konflikten. Wenn etwa andere nicht »normal« sind, also nicht mit unserer Gruppe übereinstimmen, oder wenn andere gar als Gefahr für die eigene Gruppe wahrgenommen werden, erzeugt das Unterbewusste Feindseligkeit. Dies kann zu Ausgrenzung führen, Hetze im Internet oder gar zu terroristischen Anschlägen, Kriegen und Genozid.
Glücklicherweise sind wir dem Unterbewussten nicht hilflos ausgeliefert. Ich werde Ihnen in diesem Buch verraten, wie man unterbewusste Vorgänge erkennen und sein eigenes Unterbewusstes überlisten kann. Zum Glück geht dies meist mit verblüffend einfachen Tricks. Einer der einfachsten und effektivsten davon ist, sich in einem Satz zu sagen, was gerade eigentlich das Problem ist, und in einem weiteren, was man bewusst will. Negative Gedankenschleifen kann man dadurch ausschalten, dass man sich deutlich sagt: »Aha, das sind Gedankenschleifen. Nun konzentriere ich mich aber wieder auf das, was ich gerade tun wollte.« Um ein Ziel zu erreichen, hilft es enorm, sich in einem Satz zu sagen, was überhaupt das Ziel ist. Bei Ängsten hilft es mehr als alles andere, sich bewusst in einem Satz zu sagen, was einen ängstigt. Durch solche Tricks können wir unsere negativen Gedanken und Emotionen kontrollieren, bevor sie uns kontrollieren. Dies zu schaffen gehört zu den größten persönlichen Erfolgen, die man im Leben erzielen kann.
Auch im Zusammenleben mit anderen können wir das Unterbewusste überlisten. Es wirkt zum Beispiel bei einem Streit oft Wunder, wenn man herausfindet, was der anderen Person eigentlich wichtig ist, und deren Sichtweise so wiedergibt, dass sie zustimmt. Wenn man der anderen Person dann auch noch sagt, dass man sie versteht und erkennt, was ihr wichtig ist, ist die Lösung des Konflikts meist bereits sehr nahe.
Zum Glück sind Probleme und Lebenskrisen tatsächlich meist nur halb so schlimm, wie sie uns scheinen, denn unser Unterbewusstes macht Probleme größer, als sie tatsächlich sind. Ebenso lässt unser Unterbewusstes die großen persönlichen Aufgaben des Lebens oft monströs und Furcht einflößend erscheinen – dabei können sie häufig mit kleinen, harmlosen Schritten bewältigt werden.
Die dunkle Seite des eigenen Gehirns zu verstehen ist die beste Methode, um die dunkle Seite des Gehirns eines anderen Menschen zu verstehen. Dafür bietet dieses Buch einen umfassenden Einblick und eine Anleitung mit vielen praktischen Tipps. Diese sollen auch helfen, die eigene Gesundheit und das eigene Wohlbefinden zu fördern. Die stärksten Heilkräfte hat nämlich unser eigener Körper. Oft genug blockieren unterbewusste Gedanken und Stimmungen genau diese Heilkräfte. Unser Hormonhaushalt gerät dann aus dem Gleichgewicht, innere Organe werden fehlgesteuert oder überlastet, und wir werden krank, oft ohne dass ein Arzt die genaue Ursache dafür erkennen kann, etwa bei immer wiederkehrenden Schmerzen.
Die unterbewussten Vorgänge, die ich in diesem Buch darstelle, haben Hirnforscher in den letzten zwei Jahrzehnten in bahnbrechenden Experimenten beleuchtet. Diese Experimente enthüllen, dass sich das Unterbewusste in einem speziellen Teil des Gehirns befindet, nämlich im sogenannten »Orbitofrontalhirn« – hinter der Stirn über den Augen thront es im Kopf. Besonders deutlich kann man dies bei Patienten erkennen, bei denen das Orbitofrontalhirn geschädigt ist, denn bei diesen ändern sich die Funktionen des Unterbewussten. Die aufregendsten und aufschlussreichsten dieser Experimente habe ich allgemein verständlich dargestellt.
Mein Interesse am Unterbewussten und am Orbitofrontalhirn geht lange Zeit zurück. In meinem Soziologie-Studium Mitte der 1990er-Jahre suchten meine Professoren die Gesellschaft anhand von Theorien zu erklären, denen zufolge Menschen Entscheidungen rational treffen und dann entsprechend handeln. Ich habe damals einige dieser Professoren in den Seminaren mit meinen Bemerkungen genervt, dass Menschen stark von irrationalen Überlegungen beeinflusst seien und die Soziologie daher andere Modelle brauche. Heute wissen wir, dass Menschen Handlungen oft auf Grundlage irrationaler Bewertungen treffen – für die Forschungen dazu wurden mittlerweile Nobelpreise vergeben. Wenn viele Menschen die gleichen irrationalen Entscheidungen treffen, kann dies gesellschaftliche Auswirkungen haben wie etwa Reformstau, oder auch ökonomische Auswirkungen – von Hamsterkäufen bis zum Konkurs ganzer Wirtschaftszweige.
Etwa gleichzeitig mit meinem Soziologie-Diplom erwarb ich auch mein Psychologie-Diplom, und direkt danach hatte ich das Glück, eine Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Kognitive Neurowissenschaft in Leipzig beginnen zu können. Bei meiner ersten Hirnstudie untersuchte ich, wie Musik im Gehirn verarbeitet wird, und fand, dass plötzlich auftauchende unerwartete Harmonien starke Aktivität im Orbitofrontalhirn auslösten, dem Sitz des Unterbewussten. Dies zeigte, dass dieses aktiv wird, wenn Vorhersagen enttäuscht werden. Als junger Postdoktorand an der Harvard Medical School konnte ich solche Aktivität im Orbitofrontalhirn in einem ähnlichen Experiment erneut nachweisen und weiter erforschen. Seitdem beschäftige ich mich mit diesem Teil des Gehirns. In vielen meiner Experimente zu Emotionen, Bewertungen, Gedankenschleifen oder Vorhersagen beobachtete ich immer wieder Aktivität im Orbitofrontalhirn.
Zu meiner Zeit als Doktorand, in den frühen 2000er-Jahren, war erst wenig über das Orbitofrontalhirn bekannt. Heute wissen wir viel mehr darüber – genug, um wissenschaftlich stichhaltige Aussagen treffen zu können, die ich hiermit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Ich werde Ihnen in diesem Buch einen umfassenden, tiefen Einblick in unterbewusste Vorgänge im Gehirn geben, gemeinsam mit vielen Vorschlägen dazu, wie wir den Fallstricken, welche wir uns selbst unterbewusst immer wieder legen, leichter entgehen können. Dies soll dazu beitragen, ein ganz neues, wissenschaftlich fundiertes Verständnis des menschlichen Unterbewussten zu schaffen.
Gibt es ein »Unterbewusstes«? Wenn ja, warum grüßt es uns nie?
Der unterbewusste Autopilot – wohin fliegt er uns?
Jeder kennt es: Wenn wir uns nicht wirklich auf etwas konzentrieren, fangen unsere Gedanken an zu schweifen – das geschieht beim Pendeln zur Arbeit, während der Hausarbeit oder beim Duschen. Manchmal sind die umherschweifenden Gedanken positiv – wir erinnern uns vielleicht an etwas Schönes, oder uns kommt eine gute Idee. Oft jedoch funkt etwas dazwischen – es ist unser düsteres Unterbewusstes.1 Es spielt uns Inhalte ein, die negativ sind. Unsere Gedanken kreisen dann um etwas, das uns emotional stresst – beispielsweise etwas, das uns einmal sehr ärgerte, enttäuschte oder frustrierte, wie eine Trennung oder ein Streit. Obwohl ein Ereignis längst erledigt ist, wiederkäuen wir Gedanken darüber, wie unfair etwas war, was wir hätten sagen sollen oder tun können. Oft malt sich das Unterbewusste auch Rache oder Vergeltung aus. Oder es lässt die Gedanken um etwas kreisen, worüber wir uns Sorgen machen oder vor dem wir Angst haben. Bei einigen Menschen kreisen die Gedanken darum, wie wertlos oder unfähig sie sich fühlen – etwa als Elternteil, als Partner oder überhaupt als Mensch.
Im Jahre 2010 befragten die Psychologen Matthew Killingsworth und Daniel Gilbert von der Harvard University Tausende von Testpersonen über eine Smartphone-App. Zu zufälligen Tageszeiten meldete sich die App und fragte die Personen, ob sie mit ihren Gedanken bei der Tätigkeit waren, mit der sie momentan beschäftigt waren, und wie glücklich sie sich gerade fühlten.2 Die Forscher wollten damit herausfinden, wie oft Personen ihre Gedanken schweifen lassen und ob die Gedanken dabei eher angenehm oder unangenehm sind. Die Forscher machten eine überraschende Entdeckung: In fast der Hälfte der Fälle ließen die Personen ihre Gedanken schweifen. Bei der Arbeit, beim Einkaufen, Ausruhen, Lesen, Essen – egal bei welcher Tätigkeit – gaben die Personen an, dass ihre Gedanken schweiften. Nur beim Sex schweiften die Gedanken kaum.
Die Forscher bekamen außerdem noch ein weiteres faszinierendes Ergebnis: Sobald die Gedanken schweiften, fühlten sich die Personen im Schnitt unglücklicher, als wenn sie sich auf ihre Tätigkeit konzentrierten. Wenn die Personen sich auf etwas konzentrierten, empfanden sie ihre Gedanken eher als angenehm – verblüffenderweise selbst dann, wenn sie die Tätigkeit an sich gar nicht besonders mochten. Ließen sie ihre Gedanken jedoch schweifen, waren diese meist unangenehm oder bestenfalls neutral. Selbst wenn die Personen mit einer Tätigkeit beschäftigt waren, die sie eigentlich mochten, machte das Gedankenschweifen sie dabei oft unglücklich. Gelegentlich gaben die Personen zwar an, die Gedanken beim Gedankenschweifen seien positiv, jedoch fühlten sie sich dabei nicht glücklicher, als wenn die Gedanken nicht schweiften. Studien anderer Forscher kamen zu ähnlichen Ergebnissen: Menschen lassen im Durchschnitt circa in der Hälfte ihrer Lebenszeit die Gedanken schweifen, und in einem erheblichen Teil dieser Zeit kreisen die Gedanken um negative Dinge.
Erstaunlich, wie viel unserer kostbaren Lebenszeit wir also mit negativen Gedankenschleifen aus dem Fenster werfen. Jeder, der unsere Zeit derart verschwenden würde, wäre sofort unser ärgster Feind.
Wenn wir uns nicht bewusst auf unsere Tätigkeit konzentrieren, geraten wir leicht in eine Art unterbewussten Autopilot-Modus. Wir sind dann oft unglücklicher als in Situationen, in denen wir uns auf eine Aufgabe konzentrieren bzw. in denen wir unsere Aufmerksamkeit und unsere Gedanken bewusst steuern. Negative Gedanken kreisen im unterbewussten Autopilot-Modus wieder und wieder um etwas, das uns emotional belastet. Wir geraten dann schnell in einen Teufelskreis: Die negativen Gedankenschleifen vermiesen unsere Stimmung, und eine miese Stimmung ruft wiederum negative Gedankenschleifen hervor. Von daher steigern solche »Bad Vibrations« nicht gerade unsere Lebensqualität.
Negative Gedankenschleifen können sogar ungesund werden: Sie treten zum Beispiel bei Patienten mit Depression oder Angststörungen auf (in der Fachsprache wird das fortwährende Wiederkäuen von Gedanken Rumination genannt). Bei einer Depression sind zudem biochemische Vorgänge aktiv, die das Wachstum von Krebstumoren begünstigen, die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen fördern und die Kommunikation des Immunsystems durcheinanderbringen. Zum Beispiel produzieren Zellen des Immunsystems die gleichen Botenstoffe wie bei einer Entzündung. Diese Botenstoffe werden im Gehirn registriert und rufen dort dieselben Reaktionen hervor wie bei einer echten Entzündung.3
Sich unglücklich zu fühlen macht den Körper also krank. Daher ist es für die Gesundheit wichtig, negative Gedankenschleifen auszuschalten.
Im unterbewussten Autopilot-Modus werden bestimmte Hirnstrukturen aktiv, die ich das Autopilot-Netzwerk nenne (der wissenschaftliche Fachbegriff ist Default Mode Network). Dieses Netzwerk wurde in den letzten Jahren zu einem der meistuntersuchten Forschungsgegenstände der Hirnforschung. Experimente dazu werden auf ganz einfache Weise durchgeführt: Testpersonen liegen für mehrere Minuten ohne besondere Aufgabe im Hirnscanner. Den meisten wird dabei rasch langweilig und sie fangen an, ihre Gedanken schweifen zu lassen. Ihnen kommen spontane Gedanken, die sie nicht bewusst lenken und die weder zweckbestimmt noch zielgerichtet sind. Genau bei solchen Gedanken ist das Autopilot-Netzwerk aktiv. Ein Teil dieses Netzwerks ist der Orbitofrontalkortex, unser Unterbewusstes. Es erzeugt Gedanken über Dinge, die uns emotional beschäftigen – und gibt leider negativen Dingen Vorrang vor positiven.
Meine Arbeitsgruppe führte Experimente durch, bei denen wir Gedankenschleifen durch Musik beeinflussten. Die Testpersonen hörten für einige Minuten Musik, die entweder fröhlich oder traurig klang. Die Testpersonen hatten keine weitere Aufgabe, und so schweiften ihre Gedanken beim Musikhören bald umher. Bei fröhlich klingender Musik waren die Gedanken der Testpersonen positiver und drehten sich etwa um gemeinsames Tanzen und Feiern. Bei traurig klingender Musik kreisten die Gedanken hingegen oft um Trennung und Liebeskummer. Im Hirnscanner entdeckten wir, dass der Orbitofrontalkortex (das Unterbewusste) die spontanen Gedanken dahingehend beeinflusste, dass sie positiver oder negativer wurden.4 Unser Unterbewusstes hat also Einfluss darauf, ob unsere Gedanken sich eher um positive oder negative Dinge drehen. Wenn die Stimmung um uns herum unerfreulich ist, wie etwa bei traurig klingender Musik, erzeugt unser Unterbewusstes eher unerfreuliche Gedankenschleifen.
Wir fanden außerdem heraus, dass das Autopilot-Netzwerk bei negativen Gedankenschleifen das Schmerz-System im Gehirn aktiviert. So werden unterbewusste negative Gedanken schmerzhaft, und wir fühlen uns unglücklich. Fortdauernde negative Gedanken und Stimmungen können sogar zu chronischen Schmerzen führen. Patienten mit Depression, bei denen das Autopilot-Netzwerk einschließlich des Unterbewussten besonders aktiv ist, haben oft auch Schmerzprobleme. Eine Aufhellung der Stimmung bei diesen Patienten reduziert diese Schmerzen.
Das unterbewusste Erzeugen negativer Gedankenschleifen ist wie eine schlechte Angewohnheit. Zum Glück können wir die giftigen Gedankenschleifen bewusst kontrollieren und ausschalten. Dafür müssen wir bei Gedankenschleifen unserem Unterbewussten das Steuer aus der Hand nehmen und bewusst unsere Gedanken lenken. Besonders wirkungsvoll sind hierbei folgende Schritte:
•Der erste Schritt besteht darin, die negativen Gedankenschleifen überhaupt zu erkennen. Sobald Sie sie bemerken, können Sie Ihr Unterbewusstes grüßen und sich bewusst sagen »Aha, das sind Gedankenschleifen.« Freuen Sie sich darüber, dass Sie die unterbewussten Gedankenschleifen diesmal bemerkt haben – jede positive Regung wird Ihnen bei den nächsten Schritten helfen.
•Im zweiten Schritt sagen Sie sich: »Es ist normal, Gedankenschleifen zu haben. Dafür brauche ich mich nicht zu schämen. Jetzt lenke ich jedoch meine Gedanken auf etwas, das mir nützt.« Dann leiten Sie Ihre Gedanken bewusst auf etwas Positives oder Konstruktives, oder Sie konzentrieren sich einfach auf das, mit dem Sie gerade beschäftigt sind.
•Dritter Schritt: Achten Sie darauf, dass Sie nicht in die Gedankenschleifen zurückfallen. Bleiben Sie bei positiven oder konstruktiven Gedanken oder konzentrieren Sie sich auf Ihre momentane Tätigkeit. Behalten Sie das Gedanken-Steuer bewusst in der Hand, denn sobald Sie es aus der Hand geben, übernimmt Ihr unterbewusster Autopilot das Steuer und führt Sie zurück zum Grübeln, Brüten und Gedankenwiederkäuen.
Negative Gedankenschleifen abzuschalten gehört mit zu den größten Erfolgen, die wir im Leben erzielen können. Wenn wir gestresst sind, scheint uns dies schwierig. Je öfter wir diese Schritte jedoch üben, desto leichter gelingt es. Um negative Gedankenschleifen zu unterbinden, sind Techniken wie Meditation, Yoga und Achtsamkeitsübungen entwickelt worden (siehe dazu auch Kapitel Medi-Working). Falls Sie trotz der genannten Schritte Schwierigkeiten mit Gedankenschleifen haben, kann zum Beispiel ein Yoga-Kurs helfen.
Besonders gut gelingt das Ausschalten negativer Gedankenschleifen mit positiv klingender Musik, weil sie emotionale Sogwirkungen unterbricht. Es fällt dann leichter, sich schnell auf Positives zu konzentrieren, wodurch das Unterbewusste wieder abkühlt. Man kann einfach damit anfangen, sich auf die Musik zu konzentrieren (auf diese Weise kann man übrigens sogar lästige Ohrwürmer ausschalten). Darüber hinaus kann Musik bewirken, dass unsere Gedanken im unterbewussten Autopilot-Modus positiver sind. Selbst wenn positiv klingende Musik nur im Hintergrund spielt, werden unsere Gedanken positiver.
Gedankenschleifen tauchen wie aus dem Nichts auf und versauern uns oft das Leben. Natürlich können Gefühle auch als Reaktion auf konkrete Anlässe entstehen. Sind diese Anlässe unerfreulich, setzt die dunkle Seite unseres Gehirns rasch eine unterbewusste Höllenspirale in Gang und erzeugt negative Sogwirkungen. Darum geht es im nächsten Abschnitt.
Höllenspiralen und Sogwirkungen
Wer kennt das nicht: Man steht auf dem Bahnsteig und wartet auf den Zug. Dann kommt die Ansage, dass der Zug eine Verspätung hat. Noch bevor wir überhaupt angefangen haben, bewusst die möglichen Folgen abzusehen und einzuschätzen, bewertet unser Unterbewusstes blitzschnell (und ungefragt) die Situation und stuft die Verspätung als Katastrophe ein. Sofort erzeugt es die ersten Ärgerimpulse im Gehirn und bereitet das Ankurbeln einer emotionalen Höllenspirale vor.
Als Reaktion darauf haben wir nun zwei Möglichkeiten: Entweder wir lassen dem negativen Emotions-Impuls freien Lauf – das ist leicht und bequem. Wir brauchen lediglich dem unterbewussten Autopiloten das Steuer zu überlassen. Oder wir nehmen bewusst Einfluss auf die Emotion: mit Vernunft, Geduld, Gelassenheit und idealerweise mit Humor. Dies ist jedoch oft mühselig, denn wir müssen extra unsere Intelligenz dafür bemühen.
Wenn wir über unsere Gefühle sprechen, meinen wir häufig, dass diese keinem bewussten Einfluss unterliegen, sondern wir ihnen machtlos ausgeliefert sind. Das ist ein Irrtum. Auch wenn diese Sichtweise für einige neu ist: Die Ursache eines Gefühls liegt nie einfach in einem Ereignis oder bei einem Objekt, sondern in unserem Gehirn. Der Beweis dafür ist, dass genau das gleiche Objekt bzw. Ereignis in unterschiedlichen Situationen zu unterschiedlichen Empfindungen führt. Schöne Geigentöne entzücken mich im Konzert, zermürben mich jedoch, wenn der Nachbar sie in der Nacht spielt. Sogar Schmerzen werden je nach Situation unterschiedlich stark empfunden. Gefühle kommen uns vor wie etwas, das ausgelöst wird und in uns auftaucht, ohne dass wir weiteren Einfluss darauf hätten. Wir lernen von klein auf, dass auf bestimmte Ereignisse bestimmte Gefühle folgen, und halten diese Ereignisse dann irrigerweise für die Ursache dieser Gefühle (dieser Fehlschluss wird in der Philosophie Post hoc ergo propter hoc genannt). In den meisten Fällen sind es jedoch unsere unbewussten Bewertungen, die die negativen Emotionen hervorrufen, nicht die Ereignisse selbst. Deswegen sind es im Alltagsleben meist unsere negativen Emotionen, die uns unglücklich und krank machen, und nicht die Umstände, die uns gerade nicht passen.
Wenn wir zum Beispiel auf dem Bahnsteig dem negativen Emotionsimpuls freien Lauf lassen, setzt unser Unterbewusstes eine emotionale Höllenspirale in Gang: Ärgert sich unser Unterbewusstes über irgendetwas, fragt es zum Beispiel sogleich, wer denn Schuld an dem Ärgernis hat. Vorzugsweise ist das jemand anderes, in diesem Fall »die blöde Bahn«. Damit ärgern wir uns also über das Ereignis selbst und über den Schuldigen, womit wir den Ärger schon einmal verdoppelt haben. Ärger plus Ärger ergibt psychologisch gesehen immer noch Ärger, das heißt, das Ärgern bereitet für neues Ärgern vor und wird für weiteres Ärgern wieder verwertet. Nun kann ich zusätzlich mit den Zähnen knirschen, weil dies ja nicht das erste Mal ist, sondern »schon wieder!« passiert. Manchmal ärgern wir uns auch darüber, dass diese Malaise bestimmt zurückgeht auf Arglist oder Unfähigkeit eines anderen. Bei den Ärger-Profis kommen nun die ersten Rachegedanken hoch. Außerdem kann ich mich noch darüber ärgern, dass ich mich überhaupt ärgere – der Fantasie des Unterbewussten sind hier keine Grenzen gesetzt. Unsere Emotionen drehen sich nun in einer Höllenspirale, in der das Unterbewusste unser Ärgern fortwährend recycelt. Dieser Mechanismus lässt sich auf jede negative Emotion des Unterbewussten übertragen: auf Trauer, Sorgen, Feindseligkeit, Hassen usw. Höllenspiralen werden leicht zur unterbewussten Gewohnheit, und so können auch diese negativen Emotionen zu einer Gewohnheit werden.
Die emotionalen Höllenspiralen gehen mit Sogwirkungen einher: Das Unterbewusste zieht nun alle Vorgänge im Gehirn in seinen Bann. Wir denken nur noch Gedanken, die zum negativen Gefühl passen, und fühlen uns nur zu Handlungen motiviert, die unserer negativen Gefühlslage entsprechen. Unsere negativen Emotionen ziehen auch negative Bewertungen an, selbst wenn diese irrational und irrtümlich sind. Wir können uns nicht mehr an positive Dinge erinnern und nehmen nur noch Dinge wahr, die zu unserer negativen Emotion passen. Deswegen machen uns negative Emotionen gleichsam blind. Wenn Sie sich gerade sehr über eine Person ärgern, probieren Sie einmal, sich an eine positive Eigenschaft dieser Person zu erinnern …
Das bisher Gesagte gilt natürlich nicht nur für Emotionen, sondern auch für negative Gedankenschleifen: Auch bei ihnen erzeugt das Unterbewusste Sogwirkungen, die unsere Aufmerksamkeit in den Bann nehmen – so machen uns auch negative Gedankenschleifen blind (daher: Achtung im Straßenverkehr …).
Hirnphysiologisch können wir den starken Einfluss des Unterbewussten auf die Aufmerksamkeit sowie auf das Gedächtnis daran erkennen, dass bei Patienten mit Schädigung bestimmter Regionen des Orbitofrontalkortex (dem Sitz des Unterbewussten) die Aufmerksamkeit oder das Gedächtnis gestört sind.5
Unser Unterbewusstes erzeugt emotionale Sogwirkungen mit einer Kraft, Überzeugung und Beharrlichkeit, von der sich unser bewusstes Denken oft eine Scheibe abschneiden könnte. Durch Sogwirkungen entstehen bei negativen Emotionen anhaltende negative Stimmungen, die es wiederum erschweren, diese Sogwirkungen abzuschalten. In einer deprimierten Stimmung ist es schwierig, Positives an der eigenen Person zu erkennen, sich an glückliche Ereignisse zu erinnern oder aus dem Bett zu steigen. Eine typische Äußerung, die eine starke unterbewusste Sogwirkung widerspiegelt, ist: »Ich kann an nichts anderes mehr denken.« In den meisten Fällen sind solche Aussagen jedoch Irrtümer (ansonsten sollte ein Arzt aufgesucht werden). Für Situationen, in denen wir unter emotionalen Sogwirkungen stehen, kann es helfen, sich einen allzeit leicht verfügbaren Zettel vorzubereiten, auf dem eigene Stärken aufgelistet sind, einige glückliche Erinnerungen und vielleicht ein paar aufmunternde Musikstücke. Ich habe solch einen Zettel im Portemonnaie.
Der Psychiater Darin Dougherty von der Harvard University bat Testpersonen, sich im Hirnscanner ein Ereignis ihres Lebens in Erinnerung zu rufen, bei denen sie sich besonders geärgert hatten. In ihren lebhaften Erinnerungen an das Erlebnis sahen sie Bilder und hörten Stimmen, wobei der Ärger von damals bald wieder in ihnen hochkochte. In den Messungen der Hirnaktivität entdeckte Dougherty, dass dabei die Aktivität im Orbitofrontalkortex anschwoll (sowie in weiteren Hirnstrukturen).6
Andere Experimente zeigen zudem: Wenn sich Testpersonen während der Untersuchung im Hirnscanner über andere ärgern, weil sie sich hintergangen, betrogen oder unfair behandelt fühlen, wird der Orbitofrontalkortex aktiv. Bekommen Testpersonen dann die Möglichkeit, die anderen zu bestrafen, etwa durch finanzielle Einbußen oder soziale Ausgrenzung, wird der Orbitofrontalkortex ebenfalls aktiv.7 Unser Unterbewusstes erzeugt Ärger und gleich auch noch die Lust auf Bestrafung.
In einer unterbewussten Höllenspirale erwarten wir, dass das, was wir für die Ursache der gerade vorliegenden negativen Emotionen halten, gefälligst aufzuhören hat, anstatt dafür zu sorgen, dass unsere negativen Emotionen aufhören. Wir erwarten auch, dass jeder andere diese Ursache gefälligst genauso wichtig nimmt wie wir. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt, sich zu wünschen, dass die Person, über die man sich ärgert, aus der Welt verschwindet – anstatt die eigenen negativen Emotionen aus der Welt zu schaffen. Wie ein kleines Kind hält unser Unterbewusstes die Höllenspirale so lange auf Touren, bis es bekommt, was es will. Oder bis es abgelenkt wird. Wenn ein Mann am Zuggleis steht, mag er sich zwar gerade über die Verspätung schwarzärgern – taucht jedoch eine Frau auf und fragt ihn charmant, ob er wisse, wo sie vielleicht einen Kaffee bekommen könne, ist sein Unterbewusstes auf einmal vollauf mit der neuen Situation beschäftigt …
Lenkt uns aber keine charmante Person ab, müssen wir unser Unterbewusstes eben selbst ablenken. Es ist normal, dass bestimmte Ereignisse reflexartig vom Unterbewussten als negativ bewertet werden und negative Emotionen hervorrufen. Es liegt jedoch an uns, dafür zu sorgen, dass diese nicht zu negativen Stimmungen werden. Dafür können wir auf einen der etabliertesten Befunde der klinischen Psychologie zurückgreifen: Das wirksamste Mittel gegen negative Emotionen und den Stress, den sie mit sich bringen, ist bewusste, konstruktive geistige Aktivität.
Nehmen wir zur Illustration wieder den Umgang mit Ärger.
•Der erste (und wichtigste) Schritt ist, die negative Emotion überhaupt erst einmal bewusst zu erkennen und zu benennen – sich also zum Beispiel ganz einfach zu sagen: »Oha, ich merke, dass ich mich gerade ärgere, jetzt ist es Zeit, mich wieder abzuregen.« So schalten wir der unterbewussten Ärger-Reaktion bewusste geistige Aktivität hinzu. Wenn einem Steine in den Weg gelegt werden, ist es normal, einen Ärgerimpuls zu spüren. Wichtig ist, diesen möglichst schnell zu erkennen und angemessen zu reagieren: mit Geduld, Vernunft, Gelassenheit und vielleicht gar mit Humor. Wie lange haben Sie beim letzten Mal gebraucht, bis Sie bewusst erkannt haben, dass Sie sich ärgern? Schaffen Sie es beim nächsten Mal schneller?
•Im zweiten Schritt achten wir darauf, »cool zu bleiben« – mit drei Maßnahmen: durchatmen, entspannen, fließen lassen. In diesem Moment ist Geduld ein Zeichen innerer Stärke und Zorn ein Zeichen innerer Schwäche. Bedenken Sie, dass allein die Tatsache, Ärger zu empfinden, längst nicht bedeutet, dass etwas auch in Wahrheit ärgerlich ist. Es ist die eigene Sicht der Dinge, die etwas für einen ärgerlich macht. Nutzen Sie den Emotions-Impuls als Energie-Schub und überlegen Sie mit kühlem Kopf, ob bzw. wie das Problem gelöst werden kann (gegebenenfalls müssen Sie erst mal schnell eine Übergangslösung finden und zu einem späteren Zeitpunkt an einer langfristigen Lösung arbeiten). Es hilft zudem, zu realisieren, dass es stets gesünder ist, seinen Ärger zu beseitigen und nicht die Person, die den Ärger hervorgerufen hat. Kommen wir zurück auf das Beispiel mit der Zugverspätung: Sosehr jemand auch vor Ärger mit dem Fuß aufstampfen mag – seine Aufregung wird rein gar nichts an der Verspätung ändern. Sie wird auch nichts an zukünftigen Verspätungen ändern. Wenn jemand etwas ändern will, kann er später mit kühlem Kopf eine kurze Beschwerde schreiben. Wichtiger ist jetzt: durchatmen, entspannen, fließen lassen.
•Dann der dritte Schritt: Einen positiven Aspekt der Situation finden. Zum Beispiel hätte die Situation auch schlimmer kommen können, oder vielleicht bleibt uns nun irgendein künftiges Ärgernis erspart. So schalten wir der unbewussten negativen Bewertung eine bewusste positive Bewertung hinzu. Besonders hilfreich ist, einen lustigen Aspekt der Situation zu finden. (Ich sehe beispielsweise lustig aus, wenn ich mich ärgere – gucken Sie doch ebenfalls einmal in den Spiegel, wenn Sie sich so richtig ärgern …) Wenden Sie sich danach wieder einer Sache zu, die Sie tatsächlich tun wollen – und konzentrieren Sie sich darauf.
•Schließlich der vierte Schritt – für viele die größte Herausforderung: Die Sache abhaken und nicht mehr daran denken. Dies bedeutet: Der Sache keine Aufmerksamkeit mehr schenken und die unterbewusste Höllenspirale abschalten. Betreiben Sie sozusagen »mentales Entrümpeln«. Was geschehen ist, ist geschehen. Nun können Sie vielleicht etwas dazu beitragen, dass es in Zukunft anders wird. Zum Beispiel können Sie sich bei Ärger fortan auf die Dinge konzentrieren, die Ihnen wichtig sind und die Sie Ihren Zielen näher bringen, statt die Gedanken um den Anlass des Ärgers kreisen zu lassen, Groll zu hegen oder Rachegedanken mit sich herumzutragen. Ansonsten ermöglichen wir ausgerechnet einer Person, die uns Nachteile bringt, mietfrei in unserem Kopf zu wohnen. Im Gegenteil: Wenn Sie sich über eine Person geärgert haben, wünschen Sie der Person Glück und Wohlbefinden wie jedem anderen Menschen auch – denn dies ist gesünder für Sie!
Diese vier Schritte können auf die meisten anderen ungesunden Gefühle und Stimmungen übertragen werden – Feindseligkeit, Mutlosigkeit, depressive Verstimmung usw. (siehe auch Kapitel Notfallhilfe bei negativen Emotionen bzw. Stimmungen). Bei vielen Menschen sind Höllenspiralen und Sogwirkungen zu unterbewussten Angewohnheiten geworden. Mit diesen Schritten können wir sie abschalten und in allen Lebenslagen eine unerschütterliche Gemütsruhe bewahren. Dies fördert unsere Gesundheit und stärkt unsere psychische Widerstandskraft. Ähnlich wie beim Abschalten negativer Gedankenschleifen erzielen wir hiermit jedes Mal, wenn wir diese vier Schritte meistern, einen der größten persönlichen Erfolge, die man im Leben erzielen kann. Mit Musik geht es übrigens noch leichter: Positiv klingende Musik anschalten, einige Momente mit den Fuß- und Fingerspitzen im Takt dazu tippen und dann den genannten vier Schritten folgen.
Die dunkle Seite unseres Gehirns kann uns das Leben freilich auch ohne negativen Anlass verdüstern. Ich hatte einst für unser Loft ein genau eingepasstes, edles Eichenholz-Regal gezimmert, mit gefrästen Nuten und Sockelleisten. Der Arbeitsaufwand war am Ende erheblich größer, als anfangs angenommen. Als ich nach wochenlanger Arbeit endlich fertig war und das funkelnagelneue Regal frisch geölt in seiner ganzen Pracht im Loft thronte, ärgerte ich mich erst einmal völlig entnervt darüber, wie schrecklich lange diese irrsinnige Aktion gedauert hatte. Im Angesicht des erfreulichen Anlasses erzeugte mein reizendes Unterbewusstes also »Bad Vibrations« und zog meinen Erfolg in erhebliche Mitleidenschaft. Anlässe dafür findet unser Unterbewusstes stets leicht: Es entdeckt ein Haar in der Suppe, etwas dauert zu lange, oder es fehlt irgendeine Kleinigkeit, welche die Situation jetzt noch besser machen würde und die uns nun leider zu unserem Glück fehlt …
Woher ich weiß, dass solche Bewertungen unterbewusst sind? Nun, niemand ärgert sich mit bewusstem Vorsatz oder macht sich absichtlich Kummer. Niemand möchte bewusst Glück vermeiden und stattdessen lieber leiden. Negative Emotionen und »Bad Vibrations« können also nicht aus unserem Bewusstsein kommen. Dadurch, dass wir unterbewusste Bewertungen bewusst beeinflussen, können wir unsere Emotionen regulieren und dafür sorgen, dass sie nicht zu längeren negativen Stimmungen werden. Negative Stimmungen sind ungesund und lassen uns vorschnell altern. Daher ist es für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden wichtig, dass wir unsere negativen Gefühle kontrollieren, statt von ihnen kontrolliert zu werden.
Länger leben mit »Good Vibrations«
Der schädliche Einfluss negativer Emotionen auf unsere Gesundheit ist in der Medizin lange Zeit stark unterschätzt worden. Was schätzen Sie, wie viel Lebenszeit uns negative Emotionen kosten? Die Psychologin Deborah Danner untersuchte dies anhand der Lebensgeschichten von Nonnen. Im Jahre 1930 ordnete die Oberin der School Sisters of Notre Dame an, dass jede neue Nonne ihrer Kongregation vor Ablegen ihres Gelübdes eine Seite über die eigene Lebensgeschichte einzureichen habe. Hunderte von Nonnen schrieben daraufhin in den folgenden Jahren ihre Lebensgeschichte auf, sie waren im Durchschnitt 22 Jahre alt.
Sieben Jahrzehnte später analysierte Danner 180 dieser Lebensgeschichten. Sie zählte, wie viele positive bzw. negative Erlebnisse beschrieben wurden und wie viele positive und negative Emotionswörter dafür benutzt wurden. Danner interessierte sich dafür, ob das Sterbealter der Nonnen, die besonders viele positive Erlebnisse beschrieben hatten, sich vom Sterbealter derjenigen unterschied, die besonders wenige positive Erlebnisse beschrieben hatten. Mögliche Unterschiede konnten nicht an den äußeren Lebensbedingungen liegen, denn diese waren für alle Nonnen sehr ähnlich. Auch ihre Lebensweisen waren fast gleich: Die Nonnen aßen gemeinsam, hatten ähnliche Tagesabläufe und konsumierten weder Alkohol noch Zigaretten. Deborah Danner fand, dass die Nonnen, die im Alter von Anfang 20 besonders viele positive Erlebnisse beschrieben hatten, deutlich länger lebten als diejenigen, die nur wenige positive Erlebnisse beschrieben. Was schätzen Sie, wie viel Jahre länger diese Nonnen lebten? Die Antwort: im Durchschnitt zehn Jahre.8 Jede Minute negative Emotionen aus der dunklen Seite unseres Gehirns verkürzt unsere Lebenszeit, wenn wir den »Bad Vibrations« nicht bewusst entgegenwirken. Wir sind gesünder und leben länger, wenn wir lernen, die emotionalen Höllenspiralen zu durchbrechen und negative Gedankenschleifen sowie emotionale Sogwirkungen auszuschalten.
Um die positiven Seiten des Lebens zu sehen und negative Gedanken in positive umzuwandeln, hilft es, sich in ganzen Sätzen positive Dinge zu sagen. Probieren Sie einmal, sich bewusst ein Dutzend Dinge zu vergegenwärtigen, die in erfreulicher Weise mit Ihrer Person, Ihrem Leben, Ihrer derzeitigen Situation und Ihrem derzeitigen Befinden zu tun haben. Das können Stärken von Ihnen sein, willkommene Aspekte Ihrer Gesundheit, von Beruf, Freundschaften oder Partnerschaft, Ihres derzeitigen Körperempfindens usw. Fangen Sie die Sätze beispielsweise an mit »Ich freue mich, dass …«, »Wow, ist es ein Glück, dass …«, »Bin ich froh, dass …«, »Wie schön, dass …«, »Mensch, ist es angenehm, dass …«, »Ich habe so ein Glück gehabt, dass …«. Vielen Menschen hilft es mehr, wenn sie sich diese Sätze laut vorsagen, als sie nur innerlich zu denken, oder wenn sie sich die Sätze aufschreiben. (Besonders gut funktioniert diese Übung übrigens, wenn Sie dabei Musik hören, die ermutigend und fröhlich klingt.) Teilen Sie den einen oder anderen Satz später charmant mit Menschen, die Ihnen nahestehen.
Solche Sätze sind wie ein an das Leben gerichtetes Gebet, und dies zu sprechen oder zu schreiben kann eine spirituelle Erfahrung sein. »Spirituell« ist hier als Harmonie-Empfinden gemeint, also weder religiös noch esoterisch, sondern als die Erfahrung, Teil eines größeren, sinnvollen Ganzen zu sein, das in seiner Mächtigkeit über unser Fassungsvermögen hinausgeht (in einigen Religionen als »Gott« bezeichnet). Wir haben das Empfinden, dass es Sinn ergibt, wenn wir uns als Teile dieses größeren Ganzen so engagieren, dass wir und andere glücklich werden.
Diese einfache Übung regelmäßig zu praktizieren, etwa täglich, fördert Gesundheit und Wohlbefinden. Im Gehirn entstehen dabei neue Nervenbahnen, die helfen, die positiven Dinge im Leben zu erkennen sowie negative Gedanken und Emotionen schneller zu bemerken und zu beenden. In der Fachsprache heißt diese Fähigkeit Resilienz. Sie schützt vor Lebenszeit verkürzenden Verzweiflungskrankheiten wie Depression und hilft, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende gesundheitliche Beeinträchtigungen zu überstehen.
Unbewusste und unterbewusste Emotionen
Emotionen entstehen unbewusst und unterbewusst. Wo liegt da der Unterschied? Die vom Unterbewussten erzeugten Emotionen machen nur einen Teil unserer Emotionen aus. Die restlichen Emotionen entstehen in drei anderen Gefühls-Systemen. Zusammen mit dem Unterbewussten gibt es also vier Gefühls-Systeme im Gehirn (in Abbildung 1 illustriert). Diese Gefühls-Systeme erzeugen unterschiedliche Arten von Emotionen, Stimmungen und Bedürfnissen.9 (Wissenschaftlich bezeichne ich diese Gefühls-Systeme als »Affektsysteme«.)
Das Unterbewusste ist eines dieser Systeme, es befindet sich im »Orbitofrontalkortex«. Ich habe bereits beschrieben, wie es negative Gedankenschleifen, Höllenspiralen und Sogwirkungen mitsamt den damit verbundenen Emotionen und Stimmungen erzeugt. Zum Glück gibt es jedoch auch noch die drei anderen Gefühls-Systeme im Gehirn. Ich werde diese kurz darstellen, damit wir besser zwischen unterbewussten Emotionen und unbewussten Emotionen unterscheiden können (ausführlicher habe ich diese Systeme in meinem Buch GoodVibrations beschrieben).
Abbildung 1: Das Quartett der Affektsysteme im Gehirn: das Unterbewusste im Orbitofrontalkortex, das Glücks-System in der Hippocampus-Formation, das Spaß-, Schmerz- und Schmacht-System im Zwischenhirn und das Vitalisierungs-System im Hirnstamm.
•Das Vitalisierungs-System im Hirnstamm aktiviert oder beruhigt uns und ist wie ein Wellness-Center im Gehirn, in dem wir Belebung und Regeneration finden. Es beherbergt die Steuerzentrale für das vegetative Nervensystem (auch »autonomes Nervensystem« genannt). Das vegetative Nervensystem kann die Körperorgane aktivieren oder beruhigen – etwa pocht unser Herz, oder uns stehen die Haare zu Berge. Das Vitalisierungs-System beeinflusst zudem Konzentration, Aufmerksamkeit und Wachheit im Gehirn. Wenn uns das Vitalisierungs-System aktiviert, fühlen wir uns »frisch«, »mutig« oder auch »erschreckt«. Deaktivierung führt zu Empfindungen wie »ruhig«, »entspannt« oder auch »ermattet«. Das Unterbewusste kann das Vitalisierungs-System beeinflussen: Regt sich das Unterbewusste über etwas auf, etwa über eine Zugverspätung, funkt es ans Vitalisierungs-System, welches dann den Körper aktiviert. Wenn das Unterbewusste bei einer entmutigenden oder depressiven Stimmung Sogwirkungen produziert, erzeugt das Vitalisierungs-System Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit und Lustlosigkeit. Auch bewusst können wir das Vitalisierungs-System beeinflussen: Wenn wir langsam und tief ein- und ausatmen, wird unser Herzschlag langsamer, unsere Muskeln entkrampfen sich, und dies beruhigt uns sogleich körperlich. Wollen wir uns hingegen motivieren oder Energie tanken, können wir ermutigend klingende Musik hören.
•Das Spaß-, Schmerz- und Schmacht-System im Zwischenhirn erzeugt Spaßgefühle, wenn dem Körper etwas Wohltuendes widerfährt. Nimmt der Körper Schaden, erzeugt es Schmerzen. Fehlt dem Körper etwas, erzeugt es Verlangen (»Schmacht«). Dieses System registriert auch das Zusammenspiel der inneren Körperfunktionen und steuert es über Hormone und das vegetative Nervensystem (dies wird »homöostatische Aktivität« genannt). Zum Beispiel registriert dieses System den Glukosespiegel im Blut – ist dieser abgesunken, meldet es Hunger. Wird der Hunger gestillt, erzeugt es Gefühle von Lust, Vergnügen und Befriedigung. Dabei wird auch der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, eine Art Treibstoff des Spaßsystems. Das Unterbewusste arbeitet eng mit dem Spaß-, Schmerz- und Schmacht-System zusammen: Wenn das Unterbewusste gestresst ist, versetzt es über das Spaß-, Schmerz- und Schmacht-System den Körper in Alarmbereitschaft. Dieses gibt dann Hormone in die Blutbahn ab, die den Blutdruck steigern und die Verfügbarkeit von Glukose im Blut erhöhen. Wenn das Unterbewusste Verluste registriert, aktiviert es das Schmerz-System, und wenn es seinen Willen bekommt, aktiviert es das Spaß-System. Wir können von den emotionalen Effekten des Spaß-, Schmerz- und Schmacht-Systems profitieren, indem wir uns regelmäßig Spaß und Vergnügen gönnen – selbst wenn wir meinen, dass wir es gerade nicht verdient hätten. Wir können zum Beispiel etwas essen, das richtig lecker und gesund ist, Schönheit genießen oder vielleicht Musik machen. Dies hält unsere Spaß- und Dopamin-Schaltkreise in Gang, was unserer Gesundheit wohltut und das Gehirn jung hält.
•Das Glücks-System in der Hippocampus-Formation beherbergt die Seele im Gehirn. Wenn wir andere Menschen kennenlernen, ermuntert uns dieses System, uns anderen zu nähern und uns ihnen gegenüber zu öffnen, sodass soziale Bindungen entstehen können. Wenn wir Gemeinschaft erleben, erzeugt es bindungsbezogene Emotionen wie Sympathie, Vertrauen, Freude, Liebe. Beim Erleben dieser Emotionen werden wir glücklich. Bei Eltern schwillt der Hippocampus nach der Geburt eines Kindes an; bei Menschen, die chronisch unglücklich sind, schrumpft sein Volumen, er reagiert dann nur noch schwach auf Erfreuliches (etwa bei Patienten mit Depression oder mit schweren chronischen Erkrankungen). Beim Verlust sozialer Bindungen erzeugt der Hippocampus Gefühle von Trauer und Unglück. Das Unterbewusste sorgt bei Gefahren, Stress, negativen Emotionen oder negativen Gedankenschleifen dafür, dass die Aktivität im Glücks-System heruntergefahren wird. Wenn wir bewusst Gemeinschaft suchen und uns an ihr erfreuen, können wir von den emotionalen Effekten des Glücks-Systems profitieren. Zum Beispiel können wir Kontakt zu einem Freund bzw. einer Freundin aufnehmen, jemandem helfen, mit einer anderen Person mitfühlen, mit anderen spielen, tanzen oder Musik machen, eine uns nahestehende Person umarmen oder einer uns nahestehenden Person mitteilen, dass wir sie mögen.
Das Unterbewusste ist also eines von vier Gefühls-Systemen im Gehirn – es erzeugt sozusagen nur ein Viertel unserer Emotionen, die anderen drei Viertel stammen aus den anderen Gefühls-Systemen. Die unterbewusst erzeugten Emotionen machen so gesehen lediglich einen Teil aller Emotionen aus. Sobald wir bemerken, dass uns Gefühle aus dem Unterbewussten das Leben vergällen, können wir uns daher bewusst der wohltuenden Früchte anderer Gefühls-Systeme bedienen.
Werden die Gefühls-Systeme aktiv, kurbeln sie eine Reihe weiterer Vorgänge an. Dazu gehört die automatische Anregung oder Beruhigung des Körpers. Wenn der Zug verspätet ist und wir uns anfangen zu ärgern, steigt der Puls und der Blutdruck, Schweiß bricht aus, der Körper spannt sich an. Wenn wir uns hingegen geborgen fühlen und uns entspannen, kommt der Körper zur Ruhe und regeneriert.
Außerdem erzeugen die Gefühls-Systeme Motivationen, die wir als »Wollen« erleben. Solche Motivationen werden über das motorische System organisiert: Wenn wir uns bedroht fühlen, wollen wir weglaufen, wird auf einer Party mitreißende Musik gespielt, wollen wir uns dem Pulk anschließen und mittanzen.
Die Gefühls-Systeme schalten auch den automatischen Ausdruck von Gefühlen an: Wenn wir uns über etwas ärgern, schauen wir düster; wenn wir uns freuen, klingt unsere Stimme heller; wenn wir Angst haben, führen Körperdüfte zu dicker Luft. Das unbewusste Äußern von Emotionen verläuft derart automatisch, dass wir es unmöglich bewusst völlig kontrollieren können. Professionelle Pokerspieler tragen oft Sonnenbrillen – ein kurzes Zucken des Augenlides könnte dem Gegner verraten, dass man gerade blufft.
Zudem werden bei Emotionen unsere Aufmerksamkeit sowie unser Gedächtnis aktiviert – ich kann mich etwa an belastende Zugverspätungen und coole Partys erinnern. Und schließlich entsteht bei einer Emotion ein Gefühl bzw. eine Empfindung, d. h. die eigentliche Wahrnehmung der Emotion. Beispielsweise fühlt man sich ärgerlich. Wenn man es dagegen schafft, seinen Ärger zu regulieren, fühlt man sich hoffentlich bald wieder unbeschwert, locker und fröhlich.
Eine Emotion ist also vergleichbar mit einem Menü, das aus unterschiedlichen Gängen besteht: ein Auslöser als Vorspeise, als Hauptgericht die Aktivität in den Affektsystemen; körperliche Reaktionen und Motivationen sind die Beilagen, begleitend als Getränke der Ausdruck von Emotionen sowie die Steuerung von Aufmerksamkeit und Gedächtnis, als Dessert schließlich die Empfindung (siehe Abbildung 2). Die Erzeugung von Emotionen geschieht zwar unbewusst, wir können jedoch das Menü einer Emotion und dessen Zubereitung bewusst kontrollieren – wir sind der Restaurantchef. Wir können also glücklicherweise Emotionen bewusst wahrnehmen und bewusst Einfluss nehmen auf all die unbewussten Vorgänge, die an unseren Emotionen beteiligt sind und die nur zu einem Teil unterbewusst stattfinden. Sprich, wir sind negativen Empfindungen und Stimmungen niemals hilflos ausgeliefert, auch wenn es uns oft so scheinen mag.
Abbildung 2: Zu einer Emotion gehören mehrere Bestandteile, die wir uns vorstellen können wie die Gänge eines Menüs. Wir können bewusst darauf Einfluss nehmen.
Wer ist der Chef im Gehirn?
Ich habe bereits dargestellt, dass wir bei negativen Emotionen leicht irrtümlicherweise meinen, widrige Umstände seien die Ursachen. Tatsächlich liegt ihre Ursache in unserem Gehirn, und oft in der dunklen Seite unseres Gehirns, dem Unterbewussten. Es kommt jedoch noch dicker: Wir meinen, dass unser Wille und unsere Pläne meist unserem Bewusstsein entspringen würden. Dies ist ebenfalls ein Irrtum, denn es verhält sich genau umgekehrt: Meist ist das, was wir bewusst als unseren Willen empfinden, unser unterbewusstes Wollen. Ohne dass wir es merken, befindet sich der Regisseur unseres Lebens oft auf der dunklen Seite des Gehirns.
Aber fangen wir von vorne an: Wenn in unserem Gehirn die Motivation erzeugt wird, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen, empfinden wir dies als »wollen«. Wir wollen ein Glas Wasser trinken, einen guten Freund herzen, vor einem Elektroscooter wegspringen oder Hausarbeit erledigen. Motivationen werden bewusst oder unbewusst erzeugt, deswegen gibt es zwei fundamental unterschiedliche Arten des Willens: einen bewussten und einen unbewussten Willen. (Was ich hier als »unbewussten Willen« bezeichne, wird in der Philosophie oft als »Wollen« bezeichnet.) Der bewusste Wille ist derjenige, der auf bewussten, rationalen Entscheidungen beruht und das Umsetzen dieser Entscheidungen zum Ziel hat. Zum Beispiel ist es für die langfristige Lebensplanung eines Studenten bzw. einer Studentin wichtig, die Prüfungen zu bestehen. Dies motiviert dazu, morgens aufzustehen, zur Uni zu fahren und zur geplanten Zeit mit dem Lernen zu beginnen. (Wenn man bewusst das Steuer in der Hand hat, kann man sogar der Verlockung widerstehen, anfangs erst noch im Internet zu surfen oder auf WhatsApp zu chatten …) Wir können uns bewusst zu etwas motivieren, indem wir einen Sinn darin sehen. Wir geben uns dann einer sinnvollen Tätigkeit hin, um ein sinnvolles Ziel zu erreichen, die Tätigkeit macht uns Freude, und wir fühlen uns erfüllt.
Was indes ist der »unbewusste Wille«? Dieser wird von den vier Gefühls-Systemen im Gehirn erzeugt. Wie bereits beschrieben, gehört zum Menü jeder Emotion eine Motivation mit Handlungsimpulsen (siehe noch einmal Abbildung 2). Diese Motivation wird in der Emotionspsychologie auch »Handlungstendenz« genannt. Sie ist der unbewusst erzeugte, emotionale Wille, den wir meist bewusst empfinden. Wir erleben also emotionale Handlungsimpulse als Willen (bzw. als Drang oder Lust), und zwar als spontanen, gelegentlich schwer zu kontrollierenden Willen. Als ich vor einigen Jahren für einige Tage gefastet hatte, konnte ich beim Spazierengehen den nächsten Kebab-Laden schon von Weitem riechen, viel intensiver als sonst. Das Spaß-, Schmerz- und Schmacht-System in meinem Gehirn erzeugte einen extrem starken Willen, dem Geruch zu folgen und mir in dem Kebab-Laden etwas zu essen zu besorgen. (Zum Glück konnte ich dem widerstehen, indem ich schnell einen großen Bogen um den Laden machte und mich bemühte, an etwas anderes als Kebab zu denken …)
Auch das Vitalisierungs-System erzeugt unbewussten Willen. Wenn es morgens das Gehirn aktiviert, wollen wir aufstehen und uns bewegen; wenn es abends das Gehirn deaktiviert, wollen wir uns hinlegen und schlafen. Sind wir krank, deaktiviert das Vitalisierungs-System Gehirn und Körper, und wir wollen ruhen. Das Glücks-System hingegen erzeugt das Bedürfnis nach menschlicher Bindung und Gemeinschaft. Es erzeugt den Willen, die Nähe anderer Menschen zu suchen und uns an gemeinschaftlichen Aktivitäten der Gruppe zu beteiligen. Bei Eltern erzeugt es die Motivation, die Kinder zu versorgen. Dieses System erzeugt auch das Bedürfnis nach Warmherzigkeit und Mitgefühl. Wenn wir etwa jemanden in Not sehen, erzeugt es die Motivation zu helfen.
Welche Art Wille erzeugt nun aber das Unterbewusste? Es erzeugt zum Beispiel Höllenspiralen und Sogwirkungen, und an deren Stärke können wir erkennen, welch großer Dickkopf unser Unterbewusstes sein kann. Allerdings kann der unterbewusste Wille auch viel dezenter sein; in den letzten Jahrzehnten haben einige spektakuläre Experimente aus der Hirnforschung diesen höchst unauffälligen unterbewussten Willen enthüllt.
Die aufsehenerregendste dieser Studien leitete John-Dylan Haynes, einer der derzeit führenden Neurowissenschaftler in Deutschland. (Diese Studie führte er übrigens zu der Zeit durch, in der wir beide je eine selbstständige Nachwuchsgruppe am Max-Planck-Institut in Leipzig leiteten.) In dieser Studie wurde Hirnaktivität mittels Magnetresonanztomografie gemessen (MRT). Während die Testpersonen im Hirnscanner lagen, sollten sie nichts weiter tun, als einfach spontan, entweder mit dem linken oder dem rechten Zeigefinger, einen Knopf zu drücken – zu einem beliebigen Zeitpunkt, und zwar sobald sie den Willen hatten, dies zu tun. Sie konnten also frei entscheiden, wann sie einen Knopf drückten und ob sie den linken oder den rechten Knopf drückten. Im Schnitt taten sie dies alle 20 Sekunden, insgesamt dauerte das Experiment eine knappe Stunde.
Die folgsamen Testpersonen waren im Glauben, sie würden aufgrund ihres freien Willens die Tasten drücken. (Sie können es ja selbst einmal ausprobieren!) Der aufregende Befund dieser Studie war jedoch: Die Hirnsignale traten bereits auf, bevor eine Testperson sich dazu entschieden hatte, eine Taste zu drücken. Raten Sie einmal, wie lange vor einem Tastendruck diese Hirnsignale auftraten? Circa acht bis zehn Sekunden vorher, also lange bevor eine Testperson sich überhaupt »bewusst« zu einem Tastendruck entschieden hatte. Diese Hirnsignale waren so deutlich, dass man anhand von ihnen acht bis zehn Sekunden vor einem Tastendruck voraussagen konnte, ob die Person als Nächstes die linke oder die rechte Taste drücken würde.10 Am frühesten konnten die Tastendrücke anhand von Hirnsignalen aus dem Unterbewussten (dem Orbitofrontalkortex) vorhergesagt werden sowie aus einer direkt daran angrenzenden Hirnregion des Frontalkortex.
Diese Daten offenbaren einen sensationellen Sachverhalt: Die Hirnaktivität, welche in diesem Experiment einer spontanen Bewegung vorausging, machte sich zuerst im Unterbewussten bemerkbar, dann erst wurde der Person ihre Entscheidung, eine Taste zu drücken, tatsächlich bewusst und von ihr als Wille erlebt.
Das Unterbewusste erzeugt also Handlungsimpulse, die zu Handlungen führen können, von denen wir meinen, wir hätten sie aufgrund bewussten Wollens ausgeführt. Wir halten unseren unterbewussten Willen, ohne ihn lange zu hinterfragen, für unseren bewussten Willen. Im Alltag treffen wir ständig unterbewusst Entscheidungen, und zwar, bevor sie uns überhaupt bewusst sind, und dennoch bilden wir uns dann ein, sie ganz bewusst getroffen zu haben. Wir gehen etwa zum Kühlschrank, klicken im Internet auf den »Kaufen«-Button oder verdaddeln Zeit mit unwichtigen Dingen. Der unterbewusste Autopilot hat das Steuer in der Hand und trifft für uns Entscheidungen, die wir für unseren bewussten Willen halten. Zählen Sie einmal bis zehn und vergegenwärtigen Sie sich, wie weit wir mit unserem eingebildeten bewussten Willen unserem Unterbewussten hinterherhängen. Zehn Sekunden, bevor Sie am Konferenztisch zu den Keksen greifen, hat Ihr Unterbewusstes bereits entschieden, dass es einen Keks nehmen will, und angefangen, die Motorimpulse dafür vorzubereiten. Wir tun etwas und meinen, es sei unser bewusster Plan gewesen; tatsächlich jedoch war es der Plan unseres Unterbewussten. Deswegen müssen wir wissen, wie das Unterbewusste funktioniert und was dessen Pläne sind.
Bewusst können wir frei entscheiden
Das Unterbewusste kann also Impulse erzeugen, welche Entscheidungen vorbereiten und umsetzen – anschließend nehmen wir diese unterbewussten Entscheidungen dann als bewusst und gewollt wahr. Wäre dies nicht die perfekte Entschuldigung für jedes Fehlverhalten?
Leider nein, denn bei einer solchen Entschuldigung würden wir das unterbewusste Wollen mit unserem bewussten Willen verwechseln – wir hielten das unbewusste Wollen dann irrtümlicherweise bereits für unseren bewussten Willen. Dabei würden wir also vernachlässigen, dass wir außer unserem bewussten Willen eben auch noch einen unbewussten Willen haben. Unter diesem Gesichtspunkt bricht die Entschuldigung zusammen, denn wir können stets trotz unbewussten Willens auch selbst das Steuer in die Hand nehmen und bewusst gewollte Entscheidungen treffen. Normalerweise tun wir dies jedoch nicht, weil es zeitraubend und anstrengend ist.
Selbst namhafte Neurowissenschaftler wie Robert Sapolsky, Wolfgang Singer und Gerhard Roth oder die Psychologen Steven Pinker und Wolfgang Prinz haben nicht erkannt, dass es außer dem bewussten Willen auch noch einen unbewussten Willen gibt, und daher irrtümlich angenommen, dass aller bewusster Wille aus dem Unbewussten stamme. Aus den Ergebnissen von Experimenten wie dem oben beschriebenen von John-Dylan Haynes haben sie den Schluss gezogen, Willensfreiheit sei »eine Illusion« (sie meinen, es gäbe keinen freien Willen, da unser bewusster Wille erzeugt würde, bevor er uns überhaupt bewusst werde). Dieser Schluss ist jedoch ein Irrtum, was wir erkennen können, wenn wir zwischen bewusstem und unbewusstem Willen unterscheiden, und dann folgendes Gedankenexperiment durchführen: Nehmen wir an, wir hätten einen Apparat, der unsere unterbewussten Hirnsignale lesen kann, und uns dann mitteilt, wenn unser Unterbewusstes den Willen für eine Handlung erzeugt – zum Beispiel den Willen, die linke oder rechte Taste zu drücken. Sobald der Apparat dies misst, sendet er uns ein Signal. Wir hätten dann einige Sekunden Zeit, um bewusst zu entscheiden, ob wir tatsächlich diese Taste drücken wollen oder nicht, wären also in der Lage, aufgrund einer bewussten, freien Entscheidung eine andere Taste zu drücken als diejenige, für die das Unterbewusste zuvor Handlungsimpulse erzeugt hat. Dieses Gedankenexperiment enthüllt: Der bewusste Wille hat eine Vetofunktion, die einem Individuum ermöglicht, bei unbewusst aufkommenden Handlungsimpulsen auch anders entscheiden zu können. Wir können lernen, unsere unterbewussten Handlungsimpulse zu erkennen, bevor wir sie ausführen – selbst ohne einen Apparat, der die unterbewussten Gedanken misst. Ich kann am Konferenztisch den unbewussten Griff nach den Keksen erkennen, bevor ich den Keks in der Hand halte, und mich dann anders entscheiden. Eine weitere Chance habe ich, wenn ich den Keks zum Mund führe (dann kann ich ihn immer noch weglegen), und die letzte Chance habe ich, bevor ich den Keks runterschlucke …
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