Die einfachste Psychotherapie der Welt - Dr. Maggie Schauer - E-Book

Die einfachste Psychotherapie der Welt E-Book

Dr. Maggie Schauer

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine neue, fundierte und einfach anzuwendende Methode, um Trauma zu verstehen und aufzulösen. Wodurch entstehen Traumata? Die renommierte Psychotraumatologin Dr. Maggie Schauer weiß, wie viele Menschen in vermeintlich friedlichen Umgebungen traumatisiert werden: durch häusliche Gewalt, sexuelle und emotionale Übergriffe, anhaltende Ablehnung und Ausgrenzung, schwere Krankheiten oder andere schwierige Ereignisse, die sich im Leben häufen. Eltern, die ihre Kinder schlagen, haben meist selbst Gewalt erlebt. Frauen, die missbraucht wurden, fällt es schwer, Vertrauen in Bindungen zu entwickeln, und das wirkt sich auf Freunde und Familien aus. So mischen sich in vielen Leben stressreiche Ereignisse mit Traumata und Verlusterfahrungen, längst bevor Menschen Symptome entwickeln, bevor sie Hilfe brauchen oder Verursacher von Gewalt werden, weil sie selbst schon als Kind verletzt wurden. Maggie Schauer hat die «Narrative Expositionstherapie» entwickelt, eine pragmatische Form autobiografischen Erzählens, die auf den Alltag übertragbar ist und nachweislich hilft, Traumata aufzulösen. So kann jeder in seinem Alltag mit wirksamen Strategien kleine Schritte aus dem Kreislauf von Leid und Gewalt machen. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 368

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dr. Maggie Schauer

mit Nataly Bleuel

Die einfachste Psychotherapie der Welt

Wie wir die Ursache von Stress und Krankheit behandeln und den Kreislauf von Trauma und Gewalt durchbrechen

 

 

 

Über dieses Buch

Eine neue, fundierte und einfach anzuwendende Methode, um Trauma zu verstehen und aufzulösen.

 

Wodurch entstehen Traumata? Die renommierte Psychotraumatologin Dr. Maggie Schauer weiß, wie viele Menschen in vermeintlich friedlichen Umgebungen traumatisiert werden: durch häusliche Gewalt, sexuelle und emotionale Übergriffe, anhaltende Ablehnung und Ausgrenzung, schwere Krankheiten oder andere schwierige Ereignisse, die sich im Leben häufen. Eltern, die ihre Kinder schlagen, haben meist selbst Gewalt erlebt. Frauen, die missbraucht wurden, fällt es schwer, Vertrauen in Bindungen zu entwickeln, und das wirkt sich auf Freunde und Familien aus. So mischen sich in vielen Leben stressreiche Ereignisse mit Traumata und Verlusterfahrungen, längst bevor Menschen Symptome entwickeln, bevor sie Hilfe brauchen oder Verursacher von Gewalt werden, weil sie selbst schon als Kind verletzt wurden. Maggie Schauer hat die «Narrative Expositionstherapie» entwickelt, eine pragmatische Form autobiografischen Erzählens, die auf den Alltag übertragbar ist und nachweislich hilft, Traumata aufzulösen. So kann jeder in seinem Alltag mit wirksamen Strategien kleine Schritte aus dem Kreislauf von Leid und Gewalt machen.

Vita

PD Dr. Maggie Schauer ist eine der führenden Expertinnen in Deutschland für Traumabehandlung. Sie lehrt als Privatdozentin für Klinische Psychologie an der Universität Konstanz und war die Leiterin des Kompetenzzentrums «Psychotraumatologie», das am Zentrum für Psychiatrie Reichenau angesiedelt ist. Schauer ist Gründungsmitglied und ehemalige Präsidentin der NGO vivo international, die traumatischen Stress überwinden und verhindern hilft. Zusammen mit den Kollegen Thomas Elbert und Frank Neuner hat sie die Narrative Expositionstherapie NET entwickelt. Sie forscht und arbeitet vor allem mit mehrfach und komplex traumatisierten Menschen und ihren Helfern weltweit.

 

Nataly Bleuel hat als (Wissenschafts-)Journalistin für DIE ZEIT u. a. preisgekrönte Reportagen und Bücher über Gesundheit geschrieben und arbeitet auch auf Grundlage der Narrativen Expositionstherapie in ihrer Heilpraxis für Psychotherapie in Berlin.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024

Copyright © 2024 by RowohltVerlag GmbH, Hamburg

Copyright © 2024 by Maggie Schauer und Nataly Bleuel

Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01803-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Sein Unglück

ausatmen können

 

tief ausatmen

so dass man wieder

einatmen kann

 

Und vielleicht auch sein Unglück

sagen können

in Worten

in wirklichen Worten

die zusammenhängen

und Sinn haben

und die man selbst noch

verstehen kann

und die vielleicht sogar

irgendwer sonst versteht

oder verstehen könnte

 

Und weinen können

 

Das wäre schon

fast wieder

Glück

 

Erich Fried, «Aufhebung»

Trauma, Trigger und Tabu

«Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in sich zu tragen.»

Maya Angelou, Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt

Dieses Zitat der Schriftstellerin Maya Angelou drückt die tiefe emotionale Belastung aus, die vom Schweigen über verstörende Erfahrungen ausgeht. Der Schmerz des Festhaltens an nicht erzählten Geschichten kann ebenso überwältigend sein wie eine Berührung mit traumatischen Erinnerungen. Am Anfang dieses Buches soll deshalb eine Triggerwarnung stehen. Denn bevor wir beschreiben können, wie psychisches Leiden gelindert werden kann, müssen wir über traumatische Ereignisse und ihre Folgen sprechen. Wir wollen die Erzählungen der Menschen über ihre wahren Erfahrungen hören, sie in ihren Erzählungen begleiten und Zeugnis darüber ablegen. Wir wollen die Geschichten aufschreiben. Diese können bei manchen Leserinnen und Lesern, vor allem bei Betroffenen, schmerzhafte Erinnerungen auslösen. Wie im realen Leben haben wir es hier mit schrecklichen und bedrohlichen Erlebnissen zu tun, mit schweren seelischen Verletzungen ebenso wie mit scheinbar unbedeutenden Lebensereignissen. Auch um komplexe Traumatisierungen durch sexuelle Gewalt, Krieg, Misshandlung und deren Folgen für den Einzelnen und seine Gemeinschaft wird es auf den folgenden Seiten gehen. Heute wissen wir, dass es vor allem diese verschiedenen Arten von Traumatisierung sind, die Verwundung verursachen, Krankheit auslösen und Gewalt entfesseln.

Traumatisierungen sind keineswegs selten. Sie sind viel verbreiteter, als wir meinen. Insofern ist diese Triggerwarnung kein Stoppschild, sondern eine Ermutigung. Und eine tiefe Verbeugung vor all den Menschen, die bereits den Mut gefunden haben, die eigene Vermeidung und die kollektive Verdrängung, die wie ein Tabu wirkt, zu überwinden und sich ihrem Trauma zu nähern, um mehr Sinn und Frieden zu finden – inneren wie äußeren Frieden. Denn das ist möglich. Menschen haben unglaubliche Fähigkeiten zu heilen. Vor allem, wenn sie die richtige Unterstützung bekommen. Eine hilfreiche Behandlung folgt bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Wenn wir den Grund für das Leiden kennen, können wir die Person gezielt unterstützen. Eine besonders einfache und wirksame Psychotherapie ist die Narrative Expositionstherapie (NET), die in diesem Buch vorgestellt wird. Sie ist für alle Menschen, Betroffene und Therapeuten, in allen Kulturen geeignet, da sie auf einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit beruht: dem Erzählen und Zuhören. Und in der Narration von Lebensgeschichten selbst liegt eine ungeahnte Kraft. Ein Potenzial, das wir alle brauchen und mobilisieren müssen. Denn Trauma ist nicht das, was wir lange dachten. Trauma hat viele Gesichter. Und vor allem: Trauma geht uns alle an.

Die schwelende Pandemie – unerkannt und geleugnet

«Nicht nur Bakterien oder Viren können von Mensch zu Mensch übertragen werden, auch Traumata sollen ansteckend sein. Aktuellen Studien zufolge können Erkrankungen wie die Posttraumatische Belastungsstörung auf andere ‹überspringen› oder sogar vererbt werden.»

DocCheck – The European Social Medwork

Ganz normale Leben: Begegnungen mit Trauma

Täglich suchen unzählige Menschen Hilfe bei Ärzten und Psychotherapeuten, etwa weil sie in alltäglichen Situationen, beim Einkaufen, im Bus oder bei der Arbeit urplötzlich von Angst überwältigt werden. Ihr Herz beginnt zu hämmern und bedrohliche Gefühle dämmern an, manchmal begleitet von inneren Bildern. Die Betroffenen fühlen sich zutiefst hilflos. Das kann Jahre, Jahrzehnte oder sogar ein Leben lang so gehen, und die Umgebung ahnt nicht, wie schrecklich ein solcher Kontrollverlust ist. Die Betroffenen leiden unter einer Traumafolgestörung. Doch ein traumatischer Hintergrund wird bei diesen Menschen oft nicht vermutet.

Das Wort «Trauma» stammt vom altgriechischen Begriff τραῦμα, der «Wunde» bedeutet. Im medizinischen Kontext bezeichnet es die Schädigung eines Körperteils durch äußere Gewalteinwirkung. Psychologisch wird der Begriff Trauma verwendet, um eine seelische Verletzung zu beschreiben, die durch einschneidende und – wie es lange Zeit fälschlicherweise (!) hieß – nur durch außergewöhnlich belastende Ereignisse hervorgerufen wird. «Außergewöhnlich» sind schreckliche Naturkatastrophen, Großschadensereignisse oder extrem seltene, lebensbedrohliche Situationen. Wie das Attentat von Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 in einem riesigen Sattelschlepper über den Weihnachtsmarkt des Berliner Breitscheidplatzes gerast war, ganze Buden als Waffe vor sich herschiebend. Das Letzte, was die hilflose Frau, die dort gegen 20 Uhr erfasst wurde und zu Boden ging, noch sah, bevor sie das Bewusstsein verlor, waren das Gesicht und die Augen des Mannes in der Fahrerkabine. «Ich wollte ihm ins Gesicht sehen, um seine Absicht zu erkennen», erzählte sie mir später. Eine Absicht, die bei dem tunesischen Gewalttäter schon Jahrzehnte zuvor angelegt worden war. Er hatte in seiner Kindheit und Jugend viel Gewalt erfahren und auch selbst mehrfach und immer brutaler ausgeübt, bevor er den Tod von 13 Menschen verursachte.

Die Beine der jungen Mutter heilten langsam, Schmerzen hat sie nur noch selten. Doch ihre damals einjährige Tochter wurde verhaltensauffällig. Plötzlich getrennt von der Mama, die wochenlang in verschiedenen Kliniken lag, weinte das Kleinkind viel, schlief schlecht und zeigte bei genauerer Untersuchung ein gestörtes Bindungsverhalten.

Der Bundespräsident lud alle Überlebenden nach Schloss Bellevue ein, ein Zeichen der Verbundenheit von höchster Stelle. Soziale Unterstützung kann helfen, ein Trauma zu überwinden. Aber es gibt unzählige Nachbeben und Folgereaktionen, es bleiben tiefe Wunden beim Einzelnen und im Land. Dies gilt vor allem für die 56 Menschen, die damals vor der Gedächtniskirche verletzt wurden. Weil das Miterleben schlimmer Erfahrungen genauso traumatisierend sein kann wie eine direkte Verletzung. Noch Jahre und Jahrzehnte später leiden zufällige Zeugen und Hinterbliebene unter den Folgen traumatischer Ereignisse – und tragen diese Erfahrung in ihre Beziehungen mit Familienmitgliedern, Freunden, Arbeitskollegen.

Ein Firmenchef, der am Geburtstag seiner Frau zum Bummeln und Einkaufen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt gewesen war, gestand im Gespräch, dass er seither bei Stress am Fließband schneller wütend werde und auch schon Mitarbeiterinnen entlassen habe.

 

Sehr häufig entstehen Traumatisierungen aber auch durch verletzende Worte in der Kindheit, durch soziale Demütigung und Ausgrenzung, durch leise, schreckliche Gewalt, die im Dunkelfeld stattfindet, wie sexueller Missbrauch und emotionale Vernachlässigung, und durch die vielen bedrohlichen Momente von Hilflosigkeit und starker Angst. In westlichen Kulturen hat über ein Drittel der Menschen Erlebnisse in mehreren solcher Bereiche. Das ist ganz und gar nicht außerhalb des Gewohnten, und doch können sich Körper und Geist nicht daran gewöhnen. Vielmehr entwickeln sich unsägliche Folgen.

Um uns der Thematik zu nähern, müssen wir dabei stets zwei Aspekte im Auge behalten: Erstens sind wir alle schon mehr oder weniger mit Trauma in Berührung gekommen. Und zweitens sind traumatisierte Menschen in den meisten Fällen eher gefährdet als gefährlich.

 

Meine Großmutter war eine unerschrockene Frau. Während des Krieges wartete sie mit ihren drei kleinen Kindern jahrelang auf ihren Mann. Die Familie bangte, hoffte und versteckte sich mit einem Leiterwagen voller Einmachgläser in den Hügeln der Umgebung. Selbst einen gezielten Fliegerangriff auf die Lokomotive, die direkt hinter dem Gartenzaun der Familie ihre dampfende Kurve zog, überlebten alle gut. Meine Mutter, damals noch ein kleines Kind, konnte vom Balkon aus den Piloten im Cockpit aus nächster Nähe sehen. Trotz des Schocks blieb sie ein lebhaftes und aufgewecktes Mädchen. Sie war von Geschwistern und anderen Kindern umgeben, die das Kriegsende und die Besatzungszeit eher als Abenteuer erlebten. Sie bemerkte weder Panik noch Hilflosigkeit, denn die Kriegsgräuel kamen ihr danach nicht noch einmal zu nahe. Damals wurden die Kinder so oft es ging zu Verwandten aufs Land geschickt. Dort gab es genug zu essen, Natur, einen geregelten Tagesablauf und viele bodenständige, authentische Menschen, die wie Pflöcke in der Erde waren, an denen man sich festhalten konnte. Auch das beschreiben Lehrbücher als hilfreich für die psychische Gesundheit. Zudem konnte sich meine Mutter immer an den lieben Gott wenden und an die Kühe im Stall, denen sie Geschichten erzählte und vorsang.

Erst beim Tod eines Verwandten, deren liebstes Enkelkind sie war, wurde ihr mit einem Mal sehr unheimlich. Man schob sie mit ihrer Schleife im Haar nach vorne ans Sterbebett, der Sterbende hatte nach ihr verlangt. Aber das Kind verstand nicht, wie ein kleines Mädchen in der letzten Stunde so wichtig sein konnte. Unsere Mutter hat uns diese Geschichte später oft erzählt. Das Miterleben eines natürlichen Todes wird klinisch nicht als potenziell traumatisierend eingestuft; nur gewaltsame Morde oder der Anblick grotesk entstellter Leichen sind als schockierend gekennzeichnet. Doch als meine Mutter das Röcheln und die letzten Worte des Sterbenden hörte, fühlte sie sich überfordert. Mit einem Mal erkannte das Kind, was Tod bedeutet. Und dass es das war, was bei dem Fliegerangriff mir ihr hätte passieren können. Sie behielt das Entsetzen für sich. Und es war damals auch nicht üblich, mit den Kindern über solche Erlebnisse zu sprechen.

Als die Väter dann endlich aus den Gefangenschaften zurückkehrten und in ihren langen Drillichmänteln und mit Bärten auf die Kinder herabsahen, flüsterten die Buben und Mädchen ihren Müttern zu: «Schick den fremden Mann weg, Mutti!» Auch so begann, und beginnt, in vielen Familien der Weg in eine Traumageschichte.

 

Nach dem Krieg gab es «Choleriker». Das wusste jeder. Als Kind glaubte ich immer, das sei etwas Angeborenes. Erst später begriff ich, dass das keine Persönlichkeitseigenschaft ist, sondern eine schmerzliche Folge von Überwältigung. Und dass es nicht nur die Versehrten betraf, denen ein Arm oder ein Bein fehlte; die zogen sich oft zurück und suchten Erleichterung im Alkohol. Viel explosiver waren die nicht sichtbaren, die seelischen Verletzungen. Männer und Frauen konnten sehr gereizt und laut werden, wenn sie müde waren, wenn der Hunger Erinnerungen auslöste oder Bilder aus dem Krieg in ihnen aufstiegen. Man musste ihre Mimik, ihre Stimmungen schnell lesen, um zu wissen, wann es losging.

Im Erhebungsbogen unserer Konstanzer Traumaambulanz stehen zur Kindheit unter anderem die Fragen: «Gab es eine erwachsene Bezugsperson, die schwer zufriedenzustellen war?», «War einer der im Haushalt lebenden Erwachsenen reizbar und schnell wütend?» oder «Gab es in Ihrer Herkunftsfamilie Geheimnisse, über die geschwiegen wurde?» Diese ständige Angst, wenn etwas in der Luft liegt. Sie lässt unsere Stressachse – also den Austausch zwischen Hirn und Hormonsystem, der unsere körperlichen Funktionen reguliert – nicht zur Ruhe kommen. Alles verändert sich: Stimmung, Gefühle genauso wie Herz-Kreislauf, Verdauung oder selbst das Immunsystem. Wenn die Eltern nicht zur Ruhe kommen, können Kinder, die in ihrem Radius aufwachsen, das Gefühl von Anspannung nicht ablegen. Nicht umsonst wird Trauma genauer als «traumatischer Stress» bezeichnet.

 

Ein Kleinkind kann sich bereits an bis zu acht Personen binden. In der Psychologie gilt die Regel, dass eine einzige Person – eine real erreichbare, liebevolle Bezugsperson, deren Augenstern man ist – ausreicht, um psychisch gesund aus der Kindheit hervorzugehen.

Viele unserer Patientinnen jedoch berichten, dass sie als Kinder lieber allein waren. Dass sie sich unwohl fühlten, wenn die Erwachsenen im selben Raum waren oder sie ansahen. Entsprechend lauten weitere wichtige Fragen der Anamnese: «Konnten Sie sich wohlfühlen und entspannen, wenn Vater oder Mutter Ihnen körperlich nahe waren? Haben Ihre Eltern Sie liebevoll wahrgenommen?»

Kindheitserfahrungen – noch ganz andere als diese – spielen, wie wir später noch genauer sehen werden, bei Traumatisierung eine zentrale Rolle.

Kürzlich, bei einem Fachkongress, brach zu unser aller Entsetzen ein japanischer Wissenschaftler zusammen und wurde kurzfristig bewusstlos. Als er am Boden lag und ein anwesender Krankenpfleger, der schon in vielen Krisenlagen gearbeitet hatte, sich zusammen mit mir über den Mann beugte, stieg aus dessen Mund unverkennbar der süßliche Geruch einer Leberzirrhose auf – und Alkoholgeruch. Was in Wahrheit eine Traumafolge war. Am nächsten Tag erzählte mir der japanische Kollege, dass sein Vater ihn etwa ab dem Alter von zwei Jahren stundenlang auf der Terrasse des Wohnhauses ausgesetzt hatte, auch im Winter. Sosehr er auch an die Scheibe klopfte und bis zur Erschöpfung schrie, der Vater ließ sich nicht erweichen. Er fühlte sich von seinem eigenen Kind regelrecht verfolgt, weil es ständig seine Nähe suchte. Aber Kinder können nicht anders. Wenn der Junge seinem Vater nachlief, um mit ihm im selben Raum zu sein, nannte er ihn mit verächtlichem Blick ein «Schaf». Wie kann so etwas sein? Er selbst war sehr rigide erzogen worden, von Eltern, die keine körperliche Nähe duldeten. Ein schwaches Kind lehnte er innerlich ab und verstieß es. «Du bist so lästig»», sagte er oft zu ihm, «dich wird später niemand mögen.» Und so wurde Kokutō Shōchū, destilliert aus Zuckerrohr, später zum entlastenden Lebenselixier dieses Mannes, zu seinem schambesetzten Geheimnis. An jenem Kongresstag hatte er vergessen, dass er bereits ein anderes Medikament gegen seine chronischen Kopfschmerzen eingenommen hatte; die Wechselwirkung ließ ihn kollabieren. Über den Zusammenhang zwischen seinen Kindheitserfahrungen und seinem Alkoholkonsum hatte er noch nie nachgedacht.

Ein Kind begreift schnell, fremde Gefühle zu verarbeiten und sich entsprechend zu verhalten. Etwa dem Vater gute Gefühle zu machen, aus Angst und auch weil der sonst weggeht oder wieder verletzende Dinge sagt oder tut. Menschen, die früh lernen mussten, andere immer wieder zu spiegeln, also deren Gefühle zu erkennen und sich bis zur Selbstaufgabe in sie hineinzuversetzen, tun dies ihr ganzes Leben lang. Diese trainierte Fähigkeit, besonders sensibel auf die Bedürfnisse der Umwelt zu reagieren, können sie später beruflich nutzen, zum Beispiel als Hundetrainer, forensischer Profiler, Psychologe oder Trendscout mit sensiblem 360-Grad-Blick. Oder sie werden psychisch krank, haben plötzlich einen Burn-out. Und niemand ahnt, dass es das ständige Achten auf die Gefühle und Reaktionen anderer war, das sie jahrzehntelang belastet und erschöpft, letztlich krank gemacht hat.

 

Ich erinnere mich noch gut daran, dass in meiner Kindheit jeden Frühsommer der Wanderzirkus in unser Dorf kam. Die Zirkusleute hatten viele Kinder dabei, darunter ein blondes Mädchen mit langen ungekämmten Haaren und einer lauten Stimme, die ich zum ersten Mal hörte, als sie, acht Jahre alt, ihren Kopf durch die Tür unserer Klasse 2b steckte. Ihr freches Lächeln verschwand, als sie das Klassenzimmer betrat. Eine Woche lang würden sie und ihr kleiner Bruder mit uns zur Schule gehen, bis die Truppe wieder weiterzog. Die Kinder hatten Namen, die wir uns gar nicht erst zu merken versuchten, weil wir alle wussten, dass sie nur kurz da waren und keine Chance hatten, dem Unterricht zu folgen.

Es war nicht nur die Eingewöhnung in die Klasse, die das Lernen für sie so schwierig machte. Die beiden Kinder waren merkwürdig unkonzentriert. Der Junge rutschte auf dem Stuhl hin und her. Man sah ihm seine körperliche Unruhe an, und wir anderen konnten sie im Raum spüren. Das Mädchen wiederum, das äußerlich ganz ruhig wirkte, hatte eine bestimmte Schwäche. Sie konnte Dinge, die wir miteinander vergleichen mussten, zum Beispiel wenn wir Rechenaufgaben durchführten, nicht lange genug im Kopf behalten. Frau Sommer, unsere Lehrerin, machte mit uns ein Spiel. Sie nannte schnell hintereinander Zahlen, und wir sollten uns immer längere Reihen merken. Wir wetteiferten darum, wem es gelang, fünf-, sechs- oder siebenstellige Telefonnummern richtig wiederzugeben. Aber das Mädchen konnte nicht mithalten. Auch wenn wir «Ich packe meinen Koffer» spielten, konnte sie die Gegenstände bald nicht mehr richtig wiederholen. Nach Zahnbürste, Kopfkissen, Fußball und Rosinen war Schluss. Ihr Kurzzeit- und ihr Arbeitsgedächtnis machten nicht mit.

Die beiden Kinder waren so schmutzig, dass sie ihre T-Shirts ausziehen und sich waschen mussten, bevor sie sich zu uns in die Schulbank setzen durften. Die Lehrerin führte sie deshalb regelmäßig nach vorn auf das Podest zum Waschbecken neben der Tafel. Ohne Stillarbeit, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, starrten wir auf das, was sich uns bot. Das Mädchen stand mit dem Rücken zu uns, hob seinen Rock und schwang sein gebräuntes Bein ins Waschbecken, um die schwarzen Füße mit Seife und Bürste zu bearbeiten. Als ihr jüngerer Bruder seinen Pullover hochzog, wurde es mucksmäuschenstill im Klassenzimmer. Auf jedem Stück Kinderhaut, das zum Vorschein kam – auf dem Rücken, an den Armen, an den Beinen –, waren blaue, rote und zum Teil vergilbte Striemen von verschiedenen Prügelstrafen zu sehen. Der Kleine hatte in der Haut über den Rippen sogar ein kreisrundes, dunkles Loch. Damals wusste ich noch nicht, was das war, und konnte mir auf die Narbe keinen Reim machen. Erst viel später, als wir zusammen mit allen engagierten Berufsgruppen im Landkreis Konstanz das Babyforum gegründet hatten und Experten für Vorträge über die diversen Formen von Kindesmisshandlung einluden, lernte ich Fachbegriffe, mit denen die Spuren von Gewalt einzuordnen sind, inklusive Zigarettenstummel, die auf Kinderhaut ausgedrückt werden.

Unsere damalige Lehrerin schien die doppelte Demütigung der Kinder vor Publikum nicht zu bemerken. Sie ordnete das Waschen an, weil es ihr um die Keime und Kopfläuse ging, die die Fremden einschleppten. Wir Schüler schwiegen beklommen. Nur Paul und Stenzel in der ersten Reihe kicherten und legten ein Butterbrot aus, das sich der fremde Junge sofort schnappte. Auf diese Weise den Hunger zu stillen, erhöhte nur seine Scham, nicht aber seine Aufmerksamkeitsspanne.

Bea, meine blasse Banknachbarin mit den schwitzigen Handflächen und den Warzen an den Fingern, fing an zu stöhnen, wenn sie die Zirkuskinder sah. Weil sie wusste, dass diese, genau wie sie, in der Pause auf dem Schulhof gehänselt werden würden. Sie lief schon vor dem Gong im Gesicht rot an, wenn sie nur daran dachte. Als Erwachsene hielt Bea durch Rechthaberei und Kritik andere Menschen von sich fern – zur Sicherheit, um nicht mehr gemobbt zu werden.

Mein Freund Lukas, der zu Hause ebenfalls geschlagen wurde, sah die ganze Zeit nicht von seinem Pult auf. Als ich ihn 30 Jahre später bei einem Klassentreffen mit meinen Erinnerungen an das Geräusch des klatschenden Kochlöffels und seine gellenden Schreie im Hinterhof konfrontierte – ich war inzwischen Traumaforscherin geworden –, schaute er mich erstaunt an und sagte: «Also ehrlich, ich habe meine Mutter geliebt, und ich war wirklich ein sehr ungezogenes Kind, das die Strafen verdiente.» Das habe auch sein Vater gemeint; Kinder müssten weinen, dann würden sie besser schlafen. Lukas ist noch heute leise und freundlich. Nur sein Bluthochdruck, der schwer einzustellen ist, macht ihm zu schaffen, und für den Magen bekam er lange Zeit Rollkuren verordnet.

Obwohl es hieß, man solle nicht auf den Kopf schlagen, denn niemand wollte dumme Kinder, bekamen die meisten von uns hin und wieder eine Ohrfeige oder einen Schlag auf den Po, wenn wir nicht gehorchten. Bei manchen war es recht kräftig.

In der Klasse meiner Freundin blieben nur der Sohn des Chirurgen und die Tochter der Deutschlehrerin verschont. Im Arzthaushalt aber herrschte jahrelang eisiges Schweigen, weil der Herr Doktor fremdgegangen war und seine Frau ihn mit Nichtachtung bestrafte. Sie hatte wenig Kraft für ihre Kinder. Die jüngste Tochter ritzte sich, bis es blutete; sie bekam Narben und wurde schließlich zur Psychotherapie geschickt. Jahre später stellte meine Freundin mir den Bruder dieses Mädchens vor, der inzwischen selbst Arzt geworden war. Er erinnerte sich gut an die damalige Zeit und gestand mir, dass er nie eine eigene Familie gründen wollte, sondern lieber allein blieb.

 

Es ist schwierig, sich von der Vergangenheit zu lösen und sich gegen die Verantwortung zu wehren, die von früheren Generationen oder aus vergangenen eigenen Lebensereignissen übertragen wird. Viele unserer Reaktionen auf Situationen sind keine bewussten Entscheidungen. Auch wenn wir das immer meinen. Es gibt unendlich viele Motive, die von älteren Erfahrungen in unserer Lebensgeschichte gelenkt werden. Ein vorbeiziehender Duft in der Fußgängerzone kann den Tag beeinflussen und die Stimmung trüben, ohne dass wir dies bemerken, geschweige denn wissen, woher das plötzliche Gefühl kommt. Wir erkennen nicht bewusst, zu welcher Situation, zu welchem Menschen aus der Vergangenheit es gehört. Solche implizit verknüpften Erinnerungen werden uns nicht automatisch klar. Dazu bedarf es biografischer Arbeit. Unsere aus den Wahrnehmungen stammenden emotionalen Prägungen – Reaktionen auf bestimmte Reizkonstellationen der Umwelt – sind entscheidend, und wir nehmen sie dauerhaft in unser Verhaltensrepertoire auf, ohne uns das bewusst zu machen.

Was beim Thema Trauma auch auffällt: Wir suchen immer wieder, was uns vertraut ist. Auch das bekannte Unglück. Denn unser Gehirn ist so gebaut, dass wir immer wieder das suchen, was uns Gefühle gemacht hat. «Der Mörder kehrt an den Tatort zurück», heißt es. Er tut das, weil er dort physiologisch sehr aktiviert war, maximal angespannt, und starke Gefühle hatte. Da ist etwas Wichtiges passiert! So etwas merkt sich unser Gehirn. Kleine Kinder spielen Traumasituationen in einer Endlosschleife nach. Immer wieder, «bumm», knallt die Puppe mit dem Auto an den Baum. Wie damals beim Unfall. Täglich wiederholt sich das Trauma im Kinderzimmer. Eine monotone Verhaltensweise in zwanghafter Wiederholung, die sich von selbst nicht auflösen kann.

Menschen, die als Kinder durch Bezugspersonen traumatisiert wurden, wiederholen dieses emotionale Chaos und den Tumult auch in ihren erwachsenen Beziehungen und in der späteren Familie. Weil es ein bekanntes Leid ist und weil es starke Emotionen freilegt. Reenactment, also Reinszenierung, nennt das die klinische Fachsprache: ein für alle verstörendes, trauriges Theaterstück, das zwanghaft immer wieder aufgeführt wird. Diese Wiederholungen können absichtlich oder unbewusst sein und die Rückkehr an gefährliche Orte, an denen Übergriffe stattgefunden haben, oder die Suche nach Liebespartnern mit ähnlichen Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmalen wie in früheren Situationen umfassen.

Ein anderes Beispiel ist ein amerikanischer Vietnamveteran, der an die Universität zu Besuch kam. Er wollte lieber hinaus in den Psychiatriepark und in der Natur mit mir sprechen, anstatt in einem Raum. Der heute 75-Jährige begann zu erzählen, wie schwer es für ihn gewesen sei, nach seinem Einsatz ins zivile Leben zurückzukehren. Niemand habe ihn wirklich verstanden. Erleichterung fand er erst, als er sich eine eigene Parallelwelt aufbaute. Alle vier Wochen fuhr er für ein paar Tage in die Wildnis, wo er ganz für sich eine Blockhütte gemietet hatte. Dort, in seinem Versteck, verbarg er seine Schätze: ein altes M16-Gewehr, seine Stiefel, Konservendosen und Fotos von der Einheit, die er geführt hatte. Im Wald lebten seine Kameraden wieder auf, auch die Toten, die der harte Einsatz, der Kampf ums Überleben und die Solidarität zusammenschweißte wie nichts anderes auf der Welt. Sie hatten die Urwälder, die Spreng- und Stachelfallen, die Wespennester, die Minen, den Durst, die Erschöpfung, die Wut, die befreiende Aggression, ihre Mission und die Verzweiflung in dem Guerillakrieg gemeinsam erlebt. Und so aß er nun, Jahrzehnte später, einmal im Monat Dosenbohnen, baute an seinem Schießstand weiter und sah sich Filme und Bilder aus dem Vietnamkrieg an, die ihn nach wie vor intensiv emotional bewegen.

Ähnlich war es bei einem Logistiker, den ich während eines Einsatzes im Feld kennenlernte. Bei Missionen in Kriegsgebieten gibt es immer wieder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die sich für Psychotraumatologie interessieren und abends nach getaner Arbeit ihre eigenen Geschichten erzählen möchten. Dieser Familienvater mit einem Beruf zu Hause wollte gern mit mir sprechen, weil er geradezu süchtig nach Einsätzen in den Flüchtlingslagern dieser Welt war und sich möglichst in jedem Urlaub verpflichten ließ. Er konnte es sich selbst nicht erklären, aber das Lagerleben und die vielen Menschen, sogar die Latrinen zogen ihn magisch an. Es stellte sich heraus, dass er in einem Flüchtlingslager geboren worden war und sein erstes Lebensjahr in dieser Geräusch- und Geruchskulisse verbracht hatte.

 

Erst wenn wir die Zusammenhänge in unserem Leben verstehen, bekommen wir Lufthoheit über unser Erleben und Verhalten. Denn es ist schwer, uns zu schützen, wenn wir nicht wissen, was uns bestimmt. Um angenommen und geliebt zu werden, lassen wir viel mit uns machen und halten hin, für Zuneigung. So war es auch bei Malik.

Einer meiner Freunde in unserem Dorf war Emre, der hin und wieder in die Stadt fuhr, um mit seinem Freund Malik zu spielen. Dessen Vater hatte dort ein Café. Jeden Samstag kam Maliks Onkel in das Café, setzte sich in den privaten Nebenraum und schickte den kleinen Neffen mit einer Kopfbewegung zum Einkaufen, denn der erfolgreiche Mann war niemand, der einen Supermarkt betrat. Der Onkel trank seinen Tee und streichelte die Katze, die sich sofort auf den Rücken warf, um sich den Bauch kraulen zu lassen. Während er darauf wartete, dass Malik die Einkäufe im Laden nebenan erledigte, wollte er sich die Zeit vertreiben, und da er gebildet war, erzählte er Emre von der Welt und gab ihm Denksportaufgaben. Er lobte und tadelte ihn, Emre spürte seine Autorität und roch das teure Rasierwasser, und wenn Emre brav war, gab der Mann ihm Geld für Süßigkeiten, das er später mit Malik in der Bäckerei nebenan ausgeben konnte. Irgendwann kam der Junge mit den Einkäufen zurück. Sein Vater brachte diese nach hinten in einen kühleren Raum und kam nicht mehr zurück. Und dann sah Malik den Onkel an. Vielleicht hoffte er auf einen kleinen Aufschub und versuchte, sich sein Zögern und die Angst nicht anmerken zu lassen. Schließlich aber setzte der sich auf Geheiß des älteren Verwandten doch auf dessen Schoß. Der Onkel entspannte sich mit einem Stöhnen, lehnte sich zurück und begann, den Jungen an den Genitalien zu streicheln. Emre lief erschrocken weg. Als er ins Dorf zurückkam, erzählte er mir, dass der Onkel mit Malik «Doktor» spielen würde. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen. Kinder machen so etwas, aber so ein feiner Herr? Dieses Wissen behielten wir damals für uns. Malik jedoch fühlte sich sein Leben lang schuldig, als hätte er selbst den Anlass für die Übergriffe des Onkels gegeben. Tief in seinem Inneren sehnte er sich als Kind danach, gesehen zu werden, für jemanden wichtig zu sein. Mit seinem Körper hatte er etwas anzubieten, das den Onkel interessierte. So konnte er den wichtigen Erwachsenen für sich gewinnen. Das Eigentliche aber, bedingungslose Nähe und Wertschätzung, bekam er nicht. Der Missbrauch war giftig und heimlich und beeinträchtigte seine Sexualität, weil sein Körper nicht vergessen wollte. Als Erwachsener zog es Malik zu Männern, die ihn beschämten und erniedrigten. Er fügte ihnen Schmerzen zu und fand Lust darin. Malik suchte Therapie, weil er diese Art, in Beziehung zu sein, ändern wollte.

Solange Unbewusstes nicht bewusst gemacht wird, lenkt es unser Leben und wir nennen es Schicksal.[1]

Was macht Trauma so schädlich für Individuen und Gesellschaften?

Ein Säugling braucht feinfühlige Zuwendung, verlässliche Beruhigung und Geborgenheit und muss mindestens drei Stunden am Tag getragen und geschaukelt werden. Nur so können sich Hirnstrukturen und Emotionalität optimal entwickeln, und der Mensch hat eine gute Grundlage, um sich später im Leben sicher zu fühlen, seine Gefühle zu regulieren und stabile Beziehungen einzugehen. Über das erste Lebensjahr eines Kindes wissen wir oft nichts. Obwohl es Fragebögen gibt und wir Patienten in der Psychiatrie daraufhin untersuchen, beispielsweise mit dem Inventar zur Erfassung früher traumatischer Lebensereignisse, bleibt diese Zeit im Dunkeln; nur der Körper erinnert sich später an Berührungen, Gerüche und Geräusche zusammen mit Gefühlen. Mir wurde einmal eine Frau vorgestellt, die nicht operiert werden konnte, weil sie Angst hatte, das Krankenhaus zu betreten, allein schon wegen des Geruchs. Es war eine schwierige Situation, bis wir herausfanden, dass sie als Einjährige mehrere Monate in einer Kinderklinik verbracht hatte. Da hatte sich eine überdauernde Verbindung zwischen Geruch und Angst geschaffen.

Aber auch wenn Babys allein gelassen werden und über einen längeren Zeitraum niemand auf ihr wiederholtes Schreien reagiert, kann dies durch die ständige Ausschüttung von Stresshormonen nachhaltige Folgen haben. Ein Kleinkind kann sich noch nicht selbst beruhigen. Schlimmer noch, wenn zusätzlich Misshandlungen stattfinden. Laut UNICEF sind jährlich eine Milliarde Kinder und Jugendliche von physischer, sexueller oder psychischer Gewalt betroffen – das ist jedes zweite Kind. Und die Gewalt beginnt sehr früh im Leben. Daten aus 30 Ländern geben an, dass fast die Hälfte aller Kinder zwischen zwölf und 23 Monaten zu Hause körperlicher Bestrafung ausgesetzt ist, und eine ähnlich große Zahl erlebt verbale Gewalt.

Vernachlässigung, Schläge und Beschimpfungen führen zu Veränderungen in der Struktur und Funktion des kindlichen Gehirns, die notwendig sind, um sich an diese aversive Umgebung mit hohem Stress und Deprivation, d.h. seelischer Entbehrung und Isolation, anzupassen. Um für den Rest des Lebens gewappnet zu sein, Gefahren zu erkennen und das Aggressionspotenzial jederzeit mobilisieren zu können, wenn Gewalt, Verlust und Ablehnung drohen. Der Mensch kann dann zu einer übertriebenen Wachsamkeit gegenüber Bedrohungen, zu Misstrauen, Vorsicht im Kontakt und Gewaltbereitschaft neigen. Die eigentliche Dramatik liegt darin, dass die Betroffenen ihr wirkliches Potenzial nicht entfalten können; dass sie entscheidende Entwicklungsschritte nicht, oder nur verspätet, schaffen.

In vielen Nachkriegsgesellschaften, in ressourcenarmen Regionen und Ländern des globalen Südens werden die Haushalte von überforderten und belasteten Kindern geführt; die älteren Kinder ziehen die jüngeren Geschwister auf. Jugendliche aber brauchen selbst noch Erwachsene, die ihnen helfen, die sie beraten, die sie beruhigen. Amara, eine hochintelligente, junge Patientin, die nachts aus Albträumen erwacht, musste mit elf Jahren das kleine Schwesterchen, den Säugling der Familie versorgen. Ihre Mutter, die selbst als Kind vom «youth welfare office», dem Jugendamt, aus einer gewalttätigen Familie genommen worden war, war in verschiedenen Einrichtungen und Pflegefamilien aufgewachsen. Unter dem Einfluss von Ecstasy und Amphetaminen ging die Mutter immer wieder weg und kümmerte sich oft tagelang weder um das Wickeln noch um die Ernährung und Pflege ihres Babys, das eines Tages starb. Weltweit erleben Menschen staatliche Gewalt und Kriminalität auf der Straße oder in ihrem Wohnumfeld. In vielen Gesellschaften tritt zur häuslichen Gewalt die organisierte Gewalt hinzu. Diese kann durch kriminelle Banden, durch Täter unter Drogeneinfluss oder durch strafbare Aktivitäten ausgeübt werden und verstößt häufig gegen die Menschen- und Kinderrechtskonventionen. In solchen Gemeinschaften werden Menschen über Jahrzehnte traumatisiert, wie beispielsweise in Townships und Favelas.

Auch nehmen moderne Kriege zu, in denen sich Kämpfer und Rebellen unter die Zivilbevölkerung mischen und irreguläre Kampfeinheiten das Sagen haben. Dies wiederum schürt Aggressionen und Konflikte und führt zur Entwurzelung von Menschen, die versuchen, sozialer Benachteiligung und gescheiterten Staaten zu entkommen. Sie begeben sich auf den langen Weg von Flucht und Migration. Dadurch entsteht ein Markt für Menschenhändler und Menschenschmuggler. Eine schreckliche Quelle von Traumatisierung.

Ob in ihrem Heimatland, auf der Flucht oder in Auffanglagern: Unzählige Kinder wachsen in einem unsicheren sozialen Umfeld auf, das von Stress und Unberechenbarkeit geprägt ist. Noch vor 20 Jahren gab es 60 Millionen Menschen «on the run». Das UN-Hochkommissariat zählt inzwischen über 110 Millionen Geflüchtete und Vertriebene. Sie leben in Angst vor Gewalt jeglicher Art, sei es von Banden, Soldaten, Familienmitgliedern oder Nachbarn. Das Trauma ist für sie alltäglich und hat gravierende Folgen. Körperlich und psychisch wird es für sie dann immer schwieriger, sich in einen neuen Kontext zu integrieren oder in der Schule, beruflich und sozial zu funktionieren.

Wir Menschen sind so gebaut, dass wir uns sehr genau merken, was bedrohliche Situationen sind. Denn wir wollen (über-)leben. Und je häufiger wir bedrohliche Situationen überleben, desto mehr und desto häufiger können Reize der Gegenwart das Bedrohungsgefühl der Vergangenheit in unsere Gegenwart ziehen. Das bedeutet, dass die traumatischen Ereignisse als eigentliche Auslöser zwar in der Vergangenheit liegen, sich aber wie gegenwärtig anfühlen. Auch in den Verknüpfungen der Erfahrungen im Gehirn ist der Schrecken nicht vorbei, da das Bedrohungsgefühl durch Hinweisreize wieder ausgelöst wird. Sinnliche Erinnerungen wie Bilder, Gerüche, Geräusche, Empfindungen und Körpergefühle aus den traumatischen Szenen drängen sich oft unkontrollierbar auf. Für die betroffene Person macht es keinen Unterschied, dass es diese «Realität» gar nicht mehr gibt, denn sie erlebt die Vergangenheit im Jetzt. Beispielsweise kann sie sich vom Partner zurückgewiesen fühlen, weil dieser ihr die gleichen Gefühle macht wie die Eltern. «Das Vergangene ist niemals tot. Es ist nicht einmal vergangen», schrieb William Faulkner. Das ist, was für traumatisierte Menschen gilt.

Eine traumatische Vergangenheit kann zu scheinbar sinnloser Angst, plötzlicher Wut oder auch Taubheit führen – und schon ist der Mensch nicht mehr im gegenwärtigen Bezug zu seiner Umwelt. Der Organismus versucht als Folge des Traumas zu reagieren, indem er sich vom Körper und von der Wahrnehmung der Situation abspaltet, «dissoziiert» oder gar ohnmächtig wird. Nach entsprechenden traumatischen Erfahrungen kann es jedem von uns so ergehen, und nach hinreichend vielen solchen Erfahrungen wird es jedem von uns so ergehen. Ohne Ausnahme. Spätestens nach zwei Dutzend traumatischer Lebenserfahrungen, vor allem, wenn sie wiederholt auftreten, bricht jeder Mensch psychisch, entwickelt eine manifeste Störung und kann sich selbst nicht mehr heilen. Viele schon viel früher.

In der Geschichte der Menschheit gab es schon immer Traumata. Es wird vermutet, dass in der Steinzeit ein Drittel der Männer durch andere Männer getötet wurde. Anhaltender traumatisierender Stress aber verändert unsere Verarbeitungsprozesse und bildet ungünstige Gedächtnisstrukturen. Dies lässt sich mit Bildgebung anhand von Hirn-Scans zeigen. Die Evolution optimiert unsere Anpassung, um angemessen auf bedrohliche Situationen zu reagieren. Gefährliche Umwelten und traumatisierte erwachsene Bezugspersonen können die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes derart beeinflussen, dass die psychologische Funktionsfähigkeit beeinträchtigt wird, was später zu massiven Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung führt. Vor allem in einer Gesellschaft, die hohe schulische und berufliche Anforderungen stellt und entspanntes und wohlüberlegtes Verhalten erwartet. Gestresste Menschen aber sind unter Druck. Sie schlafen schlechter, reagieren impulsiver und fühlen sich schneller angegriffen. Dies liegt daran, dass sie immer wachsam und auf der Hut sind, was ihre Konzentration beeinträchtigt. Sie fühlen sich dann ohne solche Hilfsmittel wie Alkohol, Überessen, risikoreichen und exzessiven Sport oder Beruhigungsmittel einfach nicht wohl in ihrer Haut.

Bedrohungen für Psyche, Leib, Leben und die biologische Fitness (siehe THL-Fragebogen im Anhang) wie etwa bei einer Vergewaltigung oder Gewalt gegen die eigene Gruppe oder Verwandtschaft bewirken nicht nur bei den Betroffenen psychische Probleme, sondern bedingen auch bei nachfolgenden Generationen Vulnerabilitäten, also das erhöhte Risiko, psychische oder körperliche Krankheiten und Verhaltensprobleme zu entwickeln, wie die Forschung heute eindrücklich zeigt. Auf der Basis einer Metaanalyse[2] mit immerhin 253719 Teilnehmern berichteten Kollegen aus dem Vereinigten Königreich von einem erhöhten Risiko für alle (!) untersuchten gesundheitlichen Folgen von Krebs bis zu Herz-Kreislauf-Problemen. Besonders galt dies für psychische Störungen bei Personen mit negativen Kindheitserfahrungen im Vergleich zu Menschen ohne solche belastenden Erlebnisse.

 

Kommen wir damit zu einem Aspekt, der überraschen mag, denn wir sind es nicht gewohnt, so zu denken: Trauma kann ansteckend sein wie eine Epidemie. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und traumatisierte Menschen können Trauma an andere weitergeben. Großvater und Großmutter an die Tochter oder den Sohn, diese an die eigenen Kinder und wiederum an deren Kinder. Nachkommen von Eltern, die in ihrer eigenen Kindheit Misshandlungserfahrungen gemacht haben, zeigen ein erhöhtes Risiko, selbst vernachlässigt und misshandelt zu werden.

Trauma hat vor allem aber auch in sozialen Kontakten eine spürbare und schädliche Auswirkung. Die Dauer des Kontakts und die Nähe zu einem Überträger sind auch bei dieser Form von Epidemie entscheidend. Manche Betroffene, vor allem wenn sie selbst massiv ungünstige Kindheitsbedingungen erlebt haben, könnte man als «Spreader» bezeichnen, denn sie verteilen in hohem Maße Gewalt, negative Emotionen und Stress im Alltagskontakt, auch über (latente) Aggression und Impulsivität. Da vortraumatisierte Menschen vor allem in ihrer Jugend risikobereiter und gewaltbereiter sind als andere (die das Glück hatten, in einer friedlichen und sicheren Umgebung aufzuwachsen, in der Erwachsene ihnen geholfen haben, ihre Gefühle zu regulieren und sich selbst zu verstehen), geraten sie häufig in die Fänge organisierter Gewalt und werden für kriminelle Aktivitäten ausgenutzt. Heute können wir «Infektionsketten» erkennen, doch in der Bevölkerung gibt es kein Wissen über die Eindämmung der Folgen und keine Schutzmaßnahmen, obwohl die Forschung längst praktische Vorschläge gemacht hat.

Traumainformationen werden aber nicht erst durch die Begegnung mit traumatisierenden Menschen weitergegeben, sondern bereits früher. Kindheitstraumata beginnen nicht in der Kindheit, sondern lange vor der Geburt; und sie enden nicht am Ende unseres Lebens, sondern lange nach unserem Tod. Wir alle sind Teil dieses Geschehens. Niemand lebt allein.

So konnte gezeigt werden, dass sich Traumata bereits im Mutterleib auswirken,[3] gerade bei jenen Schwangeren, die in Kontexten von Armut und Stress leben. Im 20. Jahrhundert gab es immer wieder Hungerperioden. Weite Teile Europas erlebten 1944 einen Hungerwinter, und auch in den Nachkriegsjahren war die Nahrung oft knapp; in China kämpften viele von 1959 bis 1961 mit extremer Mangelernährung; und in Biafra kam es während des nigerianischen Bürgerkriegs von 1967 bis 1970 zu großer Unterernährung. Forscher fanden bei Menschen, deren Mütter mit ihnen in den Hungerjahren schwanger gewesen waren, jeweils ein massiv erhöhtes Risiko für Diabetes, vor allem Typ-2-Diabetes.[4] Demnach hatten die Föten, deren Mütter unter Mangelernährung litten, Strategien entwickelt, die eine Fortsetzung der Mangelernährung nach der Geburt voraussetzen, um die Überlebenschance zu maximieren. Wenn sie dann, entgegen der «Erwartung», mit normaler Ernährung konfrontiert wurden, führte dies mitunter zu Problemen, etwa mit den insulinproduzierenden Zellen (Betazellen) der Bauchspeicheldrüse. Immerhin entwickelt sich etwa die Hälfte aller Betazellen eines Erwachsenen im ersten Lebensjahr. Es scheint, als wäre der Verlauf unserer Lebensbahn schon sehr früh vorskizziert.

Aber nicht nur die Ernährung spielt eine Rolle für das spätere Leben des heutigen Kindes im Mutterleib. Was sind die Risikofaktoren in der Schwangerschaft, die später möglicherweise zu erhöhten psychiatrischen Anfälligkeiten (Morbidität) und Funktionseinschränkungen führen? Die meisten sind ganz und gar nicht selten, wie ein Überblick über die wissenschaftlich identifizierten Faktoren zeigt (vgl. KINDEX-Interview im Anhang): eigene belastende Kindheitserfahrungen der werdenden Eltern, jugendliches Alter der Schwangeren, Partnerschaftskonflikte und Beziehungsgewalt in der bestehenden Schwangerschaft, Migration(-shintergrund), alleinerziehende Mutter/mangelnde soziale Unterstützung, Armut, erschwerte Bindung an das Kind im Mutterleib, Stressbelastung (subjektiv empfunden), Substanzkonsum und Drogen (etwa Rauchen, Alkohol), psychische (Vor-)Erkrankungen der Schwangeren und körperliche Probleme/Somatisierung (als Ausdruck psychischer Probleme). All diese Situationen haben mit Stress, Mehrfachbelastung und oft fehlender Unterstützung zu tun, und sie weisen auf zurückliegende Traumata hin. Außerdem bleibt die Umgebung für Mutter und Kind nach der Geburt meist dieselbe. Die Stressoren und Bedrohungen sind dann immer noch da.

Vor allem sozioökonomische Faktoren (Bildung, Beruf, Einkommen) spielen bei Traumata eine Rolle. Ein niedriger sozioökonomischer Status, also soziale Benachteiligung, ist ein Hauptrisiko für Gewalterfahrungen, für emotionale Misshandlungen, für «broken homes» und letztlich für psychische Erkrankungen. Auch in Deutschland ist die Armutsquote im letzten Jahrzehnt weiter angestiegen. Der finanzielle Abstand der Haushalte unterhalb der Armutsgrenze hat sich um ein Drittel vergrößert; Studien sehen darin eine Gefahr für die Demokratie.[5] Immer mehr Menschen erleben den Stress der Armut, der Unruhe und Gewaltbereitschaft in die Wohnungen bringt, bereits dann, wenn sie beengt wohnen, wenn also eine Person weniger als ein halbes Zimmer zur Verfügung hat.

Früher und anhaltender Stress, dem Kinder ausgesetzt sind, ist, wie bereits erwähnt, ein wichtiger Risikofaktor für späteren Drogen- und Alkoholmissbrauch. Das ist so bei der Laborversuchsmaus genau wie beim Menschen. Beim Menschen lässt sich dieser Zusammenhang feststellen, und im Tierexperiment lässt er sich ursächlich beweisen. Insbesondere hat sich gezeigt, dass eine gestörte oder beeinträchtigte mütterliche Fürsorge oder die Trennung von der Mutter, Angstkonditionierung, chronischer Stress, aber auch Suchtmittel das Verhalten der nachfolgenden Generationen beeinflussen.

Zunächst möchte man vermuten, dass es das gestörte Verhalten der betroffenen Tiere ist, das dasjenige der nachfolgenden Generationen direkt beeinflusst. Dem ist auch so. Es lässt sich jedoch darüber hinaus zeigen, dass transgenerationale Vulnerabilität und Anfälligkeit – und tatsächlich auch das Gegenteil, also Resilienz und Widerstandskraft – selbst dann auftreten, wenn die Tierkinder nicht von der eigenen Mutter aufgezogen wurden oder die Mutter den Vater aufgrund künstlicher Befruchtung gar nicht kennenlernen konnte. Die Prägung im Mutterleib kann als eine Form der Vererbung jenseits der Keimbahn interpretiert werden, da der Lebensstil und die Umwelt der Eltern die Molekularbiologie der Nachkommen nachhaltig beeinflussen.

 

Das Erleben traumatischer Stressoren, insbesondere in frühen Lebensjahren, sind somit die «Bausteine» für Psychopathologie und Substanzmissbrauch mit Folgen, die über das Individuum hinausgehen und sich auf die Familie, die Gesellschaft und die nächste Generation erstrecken. Im Wesentlichen gilt: Individuelle Traumata summieren sich zu immer größeren Traumata innerhalb der Gesellschaft.

Mit unserer Arbeitsgruppe und mit Kolleginnen haben wir Untersuchungen in Nachkriegsgesellschaften in verschiedensten Ländern der Welt durchgeführt, mit dem erschütternden Ergebnis, dass zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Menschen unter dem Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden.

 

Und noch etwas ist zu berücksichtigen, wenn es um die gesellschaftliche Dimension von Trauma geht: Viele Frauen und Männer bleiben ohne Unterstützung, bevor sie selbst Eltern werden. «Die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion aber sagt das Risiko einer Psychopathologie über die gesamte Lebensspanne voraus», fand der renommierte Traumaforscher Martin Teicher von der Harvard Medical School. Doch trotz ihrer Kindheits- und Jugenderlebnisse haben Eltern mit Traumaerfahrungen oft keine Chance auf eine gezielte Behandlung. Sie ahnen nicht einmal, wie wichtig es wäre, etwas von dem Stress abzutragen, bevor er sich auf sie und ihre Nachkommen auswirkt. Denn Ängstlichkeit, Reizbarkeit und aggressiveres Verhalten in der Erziehung beeinträchtigen das Kind. Dabei kann es zu chronischen, niederschwelligen Entzündungsprozessen kommen, begleitet von einer Anreicherung freier Radikale, also chemisch aggressiver Moleküle im Körper.[6] Vor allem zwei Faktoren im Verhalten solcher Eltern wirken sich absichtslos und ahnungslos in problematischer Weise auf den Nachwuchs aus: inkonsistentes Erziehungsverhalten, das heißt impulsives und schlecht vorhersehbares Verhalten, sowie wenig einfühlsames bzw. gewalttätiges Handeln. Dies lässt die Stressachse der Kinder nicht zur Ruhe kommen.

Dauerbelastung und Vermeidung führen in sehr vielen Fällen – wir sprechen von Milliarden Menschen weltweit, die unter ständiger Bedrohung ihrer Existenz und Unversehrtheit leben – zu noch mehr Stress, Leid und Verzweiflung für sie selbst und ihre Kinder. Die wenigsten wissen, dass dies auch die Ursache für schwere Störungen und all jene Krankheiten sein kann, die wir als «Zivilisationskrankheiten» bezeichnen. Und die wenigsten erkennen, dass traumatische Stressoren weltweit mehr als zwei Dutzend Kriege am Laufen halten.

 

Sieht man sich diese Fakten in der Gesamtschau an, so müssen wir von einer Pandemie der Gewalt sprechen, deren Intensität eine Mental Health Crisis[7] ungeahnten Ausmaßes antreibt; eine wachsende Krise der psychischen Gesundheit – noch befeuert von ökologischen Bedrohungen und sozialen Medien.[8] Beides hat zusätzlich Traumapotenzial. Das Problem der Traumatisierung ist in Zahl und Dimension um ein Vielfaches größer, als wir bisher wahrhaben wollten, und es überfordert unsere Gesundheitssysteme.

Im Bereich des Mental Health tut sich global eine Kluft auf, da die meisten Menschen, die eine psychische Behandlung oder Unterstützung benötigen, keinen Zugang zu effektiver Psychotherapie haben. Dies gilt insbesondere in humanitären Krisensituationen, in Fluchtländern mit überlasteten Gesundheitssystemen, wenn die Armut so wie auch in Deutschland ansteigt, und in Regionen mit niedrigem und mittlerem Einkommen, in denen es an psychosozialen Fachkräften mangelt.

Wollte man diese Krise mit den bei uns üblichen teuren und aufwendigen Therapiemethoden in den Griff bekommen, würde man kläglich scheitern.[9]