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Jaschin erzählt die Geschichte seines Lebens - und wie er es beendete. Inspiriert von der Geschichte um die Attentäter von Casablanca vom 16. Mai 2003, hat Mahi Binebine einen Roman über marokkanische Jugendliche geschrieben, die von Islamisten zu einem Selbstmordanschlag in einem Luxushotel verführt werden. Jaschin wächst mit acht Brüdern in Sidi Moumen auf, einer Barackensiedlung vor den Toren Casablancas. Den Tag verbringt er mit den »Etoiles«, seinen Freunden im örtlichen Fußballklub. Die Jugendlichen schlagen sich mit allerlei Gelegenheitsarbeiten durch: Sie durchwühlen die Abfallberge und verkaufen das Brauchbare, putzen Schuhe von Touristen, stehlen auch mal und prügeln sich. Der Fußball ist einer der wenigen Lichtblicke in ihrem Leben. In dieser Lage kommt Abu Subair gerade recht: Er unterstützt die Jungen mit Geld und Jobs. Sie freunden sich mit ihm an und lauschen seinen Einflüsterungen. Abu Subair verheißt ihnen das Paradies, dessen Pforte ganz nahe sei - was hätten sie denn schon zu verlieren? Angesichts von Armut und Gewalt, von unerfüllten Träumen, von Enttäuschungen, Wut und Trauer hat der Fanatismus der bärtigen Extremisten leichtes Spiel. Mahi Binebines Roman ist gut recherchiert, voller Tragik aber auch reich an Humor. Er wurde unter dem Titel »Les Chevaux de Dieu« verfilmt.
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Seitenzahl: 183
Der Autor
Mahi Binebine, geboren 1959 in Marrakesch (Marokko). Studium der Mathematik in Paris. Lehrer. Hinwendung zur Literatur und Malerei. Heute gilt er als bekanntester Maler Marokkos, seine Bilder hängen u.a. im New Yorker Guggenheim-Museum. Sein schriftstellerisches Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt und u.a. mit dem Prix de l’Amitié Franco-Arabe ausgezeichnet. Nach Jahren in Frankreich und den USA lebt Mahi Binebine seit 2002 wieder in Marrakesch.
Die Übersetzerin
Regula Renschler, geboren 1935 in Zürich. Studium der Romanistik und der modernen Geschichte in Zürich. Tätigkeit als Auslandredaktorin bei verschiedenen Tageszeitungen, während zehn Jahren als Sekretärin der Erklärung von Bern und ab 1985 als Redaktorin bei Schweizer Radio DRS. Übersetzte u.a. Weder arm noch ohnmächtig von Axelle Kabou, Deutschlands Himmel von Yvette Z’Graggen sowie Die Erfahrung der Welt und Blätter von unterwegs von Nicolas Bouvier.
Titel der französischen Originalausgabe:
Les Étoiles de Sidi Moumen
Copyright © 2010 by Flammarion, Paris
E-Book-Ausgabe 2015
Copyright © der deutschen Übersetzung
2011 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Hauptmann & Kompanie, Zürich, Dominic Wilhelm
Coverfoto: David Sacks / Taxi / Getty Images
www.lenos.ch
ISBN 978 3 85787 905 0
Für Claude Durand
Ein Spaziergänger könnte an unserem Quartier entlanggehen, ohne seiner Existenz gewahr zu werden. Eine hohe Stampflehmmauer trennt es vom Boulevard, wo der ununterbrochene Verkehrsfluss einen Höllenlärm macht. In dieser Mauer gab es schmale Öffnungen, Schiessscharten gleich, durch die man die andere Welt beobachten konnte. Als ich ein Kind war, bestand unser Lieblingssport darin, Becher voller Urin auf die wohlhabenden Bürger zu schütten und uns dabei mucksmäuschenstill zu verhalten, während jene fluchend und schimpfend zum Himmel hochsahen. Mein Bruder Hâmid war unser Chef. Er verfehlte nur selten sein Opfer. Reglos sahen wir seinem Treiben zu und platzten dann schier vor Lachen, nachdem die goldgelbe Brühe ihr Ziel erreicht hatte. Wir frohlockten und rollten uns im Staub wie junge Hunde. Eines Tages wurde ich am Kopf von einem Stein getroffen, den ein wütendes Opfer nach mir geschleudert hatte. Seither bin ich nicht mehr ganz richtig im Kopf. Wenigstens denken das alle um mich herum, und mir hat man es, seit ich klein bin, immer wieder versichert. Ich habe mich schliesslich damit abgefunden und mit der Zeit gemerkt, dass die Sache auch ihr Gutes hat. Wegen dieses Handicaps wurden mir nämlich alle meine Streiche mehr oder weniger verziehen. Dennoch bin ich nicht dümmer als andere. Beim Fussball bin ich der beste Torhüter unseres Bidonvilles, das ist unbestritten. Mein Idol hiess Jaschin. Der berühmte Jaschin. Ich habe ihn nie spielen gesehen, aber es kursieren unendlich viele Geschichten über ihn … Die einen behaupten, er hätte einen von einer Krupp-Kanone abgeschossenen Ball abwehren können. Andere, dass sein Körper den Gesetzen der Schwerkraft nicht unterlag. Man munkelte sogar, sein vorzeitiger Tod sei auf ein Komplott internationaler Spieler zurückzuführen, die er durch sein Können blossgestellt hatte. Wie dem auch sei, ich wollte Jaschin sein und kein anderer. Ich habe sogar seinen Namen angenommen. Jamma gefiel das gar nicht, aber da ich auf den Namen nicht mehr reagierte, dem zu Ehren vor unserer Hütte ein Lamm geschlachtet worden war, fand sie sich schliesslich damit ab. Lediglich mein Vater, der schon immer alt und eigensinnig gewesen war, beharrte auf dem archaisch klingenden Namen Mûh. Mit einem solchen Namen bringt man es nicht weit. Übrigens habe ich mich nicht lange auf Erden aufgehalten, da dort nicht viel los war. Und ich möchte an dieser Stelle betonen: Ich bereue es keineswegs, dass ich mit dem Leben Schluss gemacht habe. Ich verspüre nicht das geringste Bedauern, wenn ich auf die achtzehn Jahre Einerlei zurückblicke, die mir zu leben vergönnt waren. In den Tagen unmittelbar nach meinem Tod wäre es mir allerdings schwergefallen, die Galettes mit ranziger Butter, die Honigkuchen oder den gewürzten Kaffee meiner Mutter zurückzuweisen. Aber diese irdischen Gelüste sind nach und nach verschwunden, und schliesslich wurde sogar die Erinnerung daran in meiner neuen Befindlichkeit als Geistwesen ausgelöscht. Wenn es doch manchmal, in Augenblicken der Schwäche, vorkommt, dass ich an Jamma denke, wie sie voller Zärtlichkeit meine Haare nach Läusen absuchte, dann sage ich mir: He, Jaschin, dein Kopf ist in tausend Stücke zerborsten. Wo sollen sich denn da Läuse einnisten, wenn du doch gar keine Haare mehr hast? Nein, ich bin es zufrieden, dass ich das Wellblech, die Kälte, die stinkenden Abwässer und den ganzen Mief los bin, die meine Kindheit begleitet haben. Ich kann euch den Ort, an dem ich mich jetzt befinde, nicht beschreiben, denn ich weiss selbst nicht, wo ich bin. Ich kann nur sagen, dass ich zu einem Wesen geworden bin, das ich eine Bewusstheit nennen würde – um es in der Sprache der da unten auszudrücken –, das heisst das harmonische Ergebnis einer Myriade glasklarer Gedanken. Nicht jener unausgegorenen, armseligen, die meine kurze Existenz begleitet haben, sondern Gedanken voller unendlicher, irisierender, fast blendender Facetten.
Lange vor der Demokratisierung der Parabolantennen schmückten die Dächer unserer Cité einfallsreiche Konstruktionen aus Couscousschüsseln, die den Empfang ausländischer Programme ermöglichten. Zwar waren die Bilder unscharf, sozusagen verschlüsselt, aber man erriet doch schemenhafte Konturen, und der Ton stimmte ungefähr. Wenn wir Fussball sehen wollten, stellten wir spanische und portugiesische Sender ein, Pornographie lieferten die deutschen (wobei sich dank der miserablen Qualität der Bilder das Animalische in Erotik verwandelte), und die arabischen Kanäle versorgten uns mit unserer täglichen Dosis israelisch-palästinensischer Konflikt und den Missetaten des räuberischen Westens. Da Farbfernsehen für die Mehrheit der Untertanen Seiner Majestät unerreichbar blieb, klebten wir farbige Plastikfolie auf den Bildschirm: drei horizontale Streifen, der oberste tiefblau, um einen schönen Himmel vorzutäuschen, der mittlere mattgelb und der unterste grasgrün. Das Ergebnis war ein unscharfes Geflimmer unter der mehrfarbigen, oft zerkratzten und schmutzigen Plastikfolie. Und weil mein Vater schwerhörig war, drehten wir die Lautstärke so weit hoch, dass wir stets gezwungen waren, dasselbe Programm wie die Nachbarn zu verfolgen, damit kein Durcheinander entstand. Dennoch versammelte sich Gross und Klein jeden Abend um das magische Guckloch, das uns schamlos das Affentheater der Welt offenbarte.
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