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Unter dem umgekippten Boot am Strand herrschte ein Friede, den Nuara mit ihrem Kind für nichts in der Welt eingetauscht hätte. Sie hat sich hier versteckt, um nicht von der Küstenwache entdeckt zu werden. Die Schreie des Babys drohten sie und die Gruppe Flüchtlinge, die gemeinsam am Strand von Tanger auf das Boot des Schleppers warten, zu verraten - so kurz vor dem Ziel, der Festung Europa. Einer von ihnen ist der junge Asûs, der mit Verschmitztheit und Ironie die Geschichten seiner Schicksalsgenossen wiedergibt. Er erzählt aber auch, wie sie, vor Kälte und Angst zitternd, auf das Zeichen zum Aufbruch warten und wie sie versuchen, die Lichter am Horizont zu deuten - künden sie vom gelobten Land, oder sind sie eine Falle? Mit "Willkommen im Paradies" wird einer der wichtigsten Romane Mahi Binebines in einer überarbeiteten Übersetzung neu aufgelegt.
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Seitenzahl: 200
Erstmals 2003 unter dem Titel Kannibalen erschienen.Völlig neu bearbeitete Übersetzung.
Der Autor
Mahi Binebine, 1959 in Marrakesch geboren. Studium der Mathematik in Paris. Lehrer. Hinwendung zur Literatur und Malerei. Heute gilt er als bekanntester Maler Marokkos, seine Bilder hängen u.a. im New Yorker Guggenheim-Museum. Mahi Binebines schriftstellerisches Werk – er schrieb acht Romane – wurde in mehrere Sprachen übersetzt und u.a. mit dem Prix de l’Amitié Franco-Arabe ausgezeichnet. Nach Jahren in Frankreich und den USA lebt er seit 2002 wieder in Marrakesch. Im Lenos Verlag erschienen Die Engel von Sidi Moumen (2011) und Der Himmel gibt, der Himmel nimmt (2016). www.mahibinebine.com.
Die Übersetzerin
Patricia A. Hladschik, geboren 1966 in Bregenz. Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft und der Romanistik in Wien und Paris. Übersetzerin frankophoner Literatur aus dem Maghreb (Rachid Boudjedra, Mohammed Khaïr-Eddine). Langjährige Tätigkeit für Amnesty International, heute Koleiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte und Geschäftsführerin des Zentrums polis – Politik Lernen in der Schule. Sie lebt in Wien.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Titel der französischen Originalausgabe:
Cannibales
Copyright © 1999 by Librairie Arthème Fayard
E-Book-Ausgabe 2017
Copyright © der deutschen Übersetzung
2017 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Coverfoto: Laurin Schmid / SOS Méditerranée / Keystone
ISBN 978 3 85787 957 9
Für Agustin und Bâ titi,die dort, wo sie sind, ganz schön lachen werden.
In meinem Dorf hatten uns die Alten so manches Mal vom Meer erzählt, auf tausenderlei verschiedene Arten. Manche verglichen es mit der Unermesslichkeit des Himmels: eines Himmels aus Wasser, der über unendlichen, undurchdringlichen Wäldern schäumt, die von Gespenstern und wilden Ungeheuern bewohnt sind. Andere behaupteten, es sei noch riesiger als die Flüsse, Seen, Teiche und alle Bäche der Erde zusammen. Die Weisen vom grossen Platz indes waren sich in dieser Frage einig und versicherten, dass Gott dieses Wasser zurückhalte, um die Erde am Tag des Jüngsten Gerichts von ihren Sündern reinzuwaschen.
Es war Nacht. Eine dunkle, leicht dunstige Nacht. Versteckt hinter einem Felsen, hörten wir das Tosen der Wellen und den Wind. Murâd hatte gesagt, das Meer sei zurzeit ruhig. Wir hatten ihm geglaubt. Wir waren bereit, alles zu glauben, sofern man uns erlaubte zu gehen. So weit weg wie möglich. Für immer.
Ein schwarzer Schatten erhob sich neben dem Boot: Es war der Schlepper; seinen Namen kannten wir nicht. Wir begnügten uns damit, ihn in ängstlicher Ehrerbietung Chef zu nennen, so wie man einen Lehrer gerufen hätte, der seinen Stock schwingt, einen zwielichtigen Gendarmen mit grausamem Blick, einen Hexenmeister, der mit Schicksalen jongliert, jeden Menschen, in dessen Händen unsere Zukunft lag. Aus seiner tief ins Gesicht gezogenen Kapuze drang dann und wann ein seltsames Murren.
Ich wusste nicht, ob es Angst oder Kälte war, die Reda, meinen Cousin, schlottern liess. Beides vielleicht. Wir alle hatten Angst und froren, aber Reda schien es am schlimmsten erwischt zu haben. Bleich und angespannt, klammerte er sich an seine Adidas-Tasche und klapperte mit den Zähnen. Unentwegt. Kaum hatte er sich eine Zigarette angezündet, stürzte sich der Schatten auf ihn, entriss sie ihm und zerkratzte ihm dabei die Lippen. Reda muckte nicht auf. Er zitterte weiterhin, klapperte mit den Zähnen. Neben mir stillte Nuara ihr Baby. Unmöglich, an ihrem runden, ein wenig aufgedunsenen Gesicht das Alter abzulesen. Ihr Kopf, von festgeflochtenen Zöpfen bekrönt, bewegte sich im Rhythmus eines stummen Wiegenliedes. Aus ihrer Bluse hing eine schlaffe Brust. Ich betrachtete sie aufmerksam, liess die Spitze, die in den winzigen Mund geschoben war, nicht aus den Augen. Der Kleine, dessen Brüllen wir fürchteten, bearbeitete sie mit beiden Händchen. Der Schlepper hatte sich klar ausgedrückt: »Ein Ton, ein falscher Schritt, und wir enden alle im Loch!« Aber um welches Loch, um welchen Abgrund, grosse Götter, mochte es sich wohl handeln? Gab es ein tieferes, ein dunkleres als jenes, in das uns die Not getrieben hatte?
Unter uns befanden sich Kâssim Dschûdi, ein Algerier aus Blida, der zu einer Zeit Lehrer gewesen war, als in seinem Land noch Frieden herrschte, Pafadnam und Yarcé, zwei Malier, von denen man nur das Weisse der Augen sah, und Jûssuf, vorgeblich aus Marrakesch – sein stark ausgeprägter Akzent wies auf berberische Herkunft hin, aus dem Mittleren Atlas zweifellos. Die kleine Gruppe gab sich gelassen. Für den Riesen Pafadnam war es der dritte Ausreiseversuch. Hätte er uns das bloss nicht gesagt! Am Vorabend im Café hatte uns Murâd, der Kompagnon des Schleppers, dennoch versichert, das Überqueren der Strasse von Gibraltar sei nur eine Sache von wenigen Stunden. »Einmal durch die Badewanne!«, hatte er gescherzt.
Ich lachte; nicht so Reda, der uns, von schrecklichen Bauchschmerzen gequält, jede Viertelstunde verliess, um ebenso blass zurückzukehren, wie er gegangen war. Murâd, der mit seiner kleinen Statur, der Arroganz, der gepflegten Erscheinung und dem Galgenhumor an die Iberer in Tanger erinnerte, hatte uns gewarnt: »Wenn dieser Idiot seinen Dünnschiss nicht in den Griff kriegt, ist er raus.« Als er das hörte, wäre mein Cousin beinahe ohnmächtig geworden, und die Dinge verschlimmerten sich noch. Von ihm strömte plötzlich ein widerlicher Gestank aus, der die Tischgesellschaft die Flucht ergreifen liess. Die gesamte ausser mir, wohlgemerkt. Die Luft war stickig. Im Radio skandierte das Nationalorchester ein patriotisches Lied. Kif- und Tabakrauch paarten sich und hüllten die blaue Zimmerdecke in Nebel. Reda wagte nicht, sich zu bewegen. Er verharrte auf der Stuhlkante sitzend, die Hände an die Lehnen des Plastiksessels geklammert. Zunächst noch zaghaft, wurde das Murren unserer Tischnachbarn umso heftiger, je mehr sich der Gestank ausbreitete, und gipfelte schliesslich darin, den Kellner zu alarmieren, der herbeieilte, bereit zuzubeissen wie ein Tier, dessen Revier man beschmutzt hat. Er erfasste die Situation sofort und fing lauthals an zu schreien. Ich erhob mich mit geschwellter Brust, um seinen Beleidigungen ein Ende zu machen. Doch als ich bemerkte, dass ich ihm nur bis zu den Schultern reichte, mässigte ich meinen Protest: »Dieser junge Mann ist krank, mein Herr!« – »Ich bin nicht seine Mutter, Mistkerl!«, schimpfte er und packte Reda am Hemdkragen. Als ich versuchte, mich einzumischen, erhielt ich einen Kinnhaken, der mich einige Augenblicke ausser Gefecht setzte. Ich fand mich also damit ab, ihnen zu folgen. Auf der Terrasse hatte sich eine plötzliche Stille breitgemacht, aller Blicke waren auf uns gerichtet. Der Kellner des Cafés, dessen schrille Stimme in seltsamem Gegensatz zu seiner imposanten Statur stand, stiess Reda fluchend nach draussen. Eine feine Urinspur folgte ihnen. Jemand begann zu lachen. Dann ein Zweiter. Und eine Lachsalve brach los. Reda zeigte keine Reaktion; er schien anderswo zu sein, liess sich wie ein Müllsack wegräumen. Getragen vom Gelächter der Gäste, vollendete der Kellner seinen Bravourakt triumphierend mit einem kräftigen Fusstritt, der meinen Cousin in den Rinnstein beförderte.
Ich konnte Reda nicht am Boden sehen. Ich habe es nie ertragen. Schon als Kind hatten ihn alle im Dorf, bis hin zum schwächlichsten unserer Kameraden, gequält. Beim geringsten Streit lähmte ihn seine unheilbare Angst. Er kauerte sich zusammen, schützte sein Gesicht mit beiden Armen und wartete darauf, dass ich ihn erlöste. Ich habe ihn immer verteidigt. Das ist mich oft teuer zu stehen gekommen, aber ich habe es stets getan. Denn Reda ist von meinem Blut. Und so bückte ich mich auch jetzt vor dieser Terrasse, die von Faulenzern bevölkert wurde, von Schuhputzern, Zeitungsverkäufern, kleinen Gaunern, heruntergekommenen Beamten und anderen Nichtsnutzen, bückte mich und half »meinem Blut« auf. Ich wagte es nicht, diese Versammlung von Barbaren zu beschimpfen; in meiner Kehle jedoch köchelten Lästerungen, wie sie der Himmel selten zu hören bekommen hatte. Wenn sie auch nur einen Bruchteil des Hasses und der Verachtung wahrgenommen hätten, die in meinen Augen funkelten, hätten sie sofort aufgehört, zu lachen und mit dem Finger auf uns zu zeigen. Denn ein Mann aus dem Süden, wie ich einer bin, ist – wenn er erniedrigt wird – unberechenbar, zu allen Verrücktheiten fähig.
Reda taumelte ein wenig, stützte sich auf meine Schulter. Sein Kopf wackelte. Wir entfernten uns langsam. Leise. Ich hätte ihm erklären wollen, auf welch schreckliche Art ich vorhatte, mich zu rächen: Dieser Mistkerl wird nicht ungeschoren davonkommen, ich werde ihn kriegen, du wirst sehen; ich habe schon eine Idee … Ein Hinterhalt … In der Nacht … In einer dunklen, verwinkelten Gasse. Er wird nur noch Sterne sehen. Ich habe gut daran getan, mein Springmesser zu behalten; mein kleiner Bruder hätte es so gern gehabt! Beinahe hätte ich es ihm damals vor unserer Abreise überlassen. Der Schlingel war schon im Morgengrauen aufgestanden und stand da, vor dem staubigen Lastwagen, der uns, Reda und mich, in den Norden bringen sollte; er schaute mich mit seinen feuchten Augen an, ohne mich um etwas zu bitten, aber ich wusste, wie er es begehrte, dieses Messer … Du siehst, ich hatte recht, nicht nachzugeben. Es ist immer gut, sein Springmesser bei sich zu haben. Ich werde diesen Lump zur Ader lassen; er ist gross, aber ich werde ihn überraschen; ich werde ihm einen grossen Schmiss beibringen, damit er sich an mich erinnert. Das sind die Worte eines Sohnes des Tassaout. Das kannst du mir glauben …
So brütete ich über den blutrünstigen Plänen einer aufgeschobenen Rache. Reda erfuhr nie etwas davon. Er trottete mit hängenden Armen an meiner Seite, seine Tasche über die Schulter gehängt. Wir gingen zum öffentlichen Brunnen; ein wenig Körperpflege war dringend notwendig. Ich sage das nicht, um ihn schlechtzumachen, aber mein Cousin stank penetrant nach Aas. Die gebratenen Sardinen, die wir zu Mittag am Hafen in uns hineingestopft hatten, trugen sicherlich ihren Teil dazu bei. Ihr lächerlicher Preis hätte mich im Übrigen alarmieren müssen. Aber ich gab vor, nichts zu riechen. Die untergehende Sonne tauchte Mauern, Geschäfte, Tiere und Menschen in ihren Pfirsichglanz. Zum Brunnen war es nicht mehr sehr weit. Der Schwarm Rotznasen, die drumherum spielten, war nicht dazu angetan, mich zu beruhigen. Ich wusste, wozu diese Giftzwerge fähig waren, würden sie Reda dabei überraschen, wie er seine intimen Waschungen auf offener Strasse vollzog. Ich war mir der schrecklichen Wildheit bewusst, die dieses Gesindel befallen konnte. Als ich noch klein war, Gott möge mir vergeben, waren die Momente, in denen sich ein Bettler am öffentlichen Brunnen wusch, eine wahre Wonne für uns gewesen. Wir passten wie Katzen genau den Augenblick ab, in dem er seinen Hintern im Freien hatte, um unversehens aufzutauchen und ihm alles Elend dieser Welt anzutun. Wir stahlen sein Bündel oder auch sein Käppchen, oder aber wir zogen an seiner Kapuze, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das Schauspiel war zu lustig! Ihn so zu sehen – klitschnass, den Sirwal bis zu den Knien herabgezogen, unfähig, uns zu folgen, schäumend vor Wut, wetternd und fluchend – liess uns aufjauchzen. Wir wälzten uns auf dem Boden und lachten schallend. Wir klatschten in die Hände und stiessen Siegesschreie gen Himmel. Aber jetzt, in der übelriechenden Feuchtigkeit dieser Dämmerung, mit meinem bedauernswerten Cousin in seinem bedauernswerten Zustand, hatte ich zu allem Lust, nur nicht zum Lachen!
Wir setzten uns in die Nähe des Brunnens, ohne miteinander zu sprechen, ohne uns auch nur anzusehen, und der eine an den anderen gedrückt wie zwei verstörte Bettler, warteten wir geduldig, bis die Nacht hereingebrochen war.
»Was sind das für Lichter dort drüben?«, fragte Reda.
Eine Böe bespritzte uns mit feuchtem Sand, wir zuckten alle gleichzeitig zusammen.
»Das ist Spanien, nicht, das ist doch Spanien?«
Niemand war in der Stimmung, sich zu unterhalten.
»Murâd hat uns doch gesagt, in nebelfreien Nächten könne man …«
»Maul halten!«, knurrte der Schlepper.
»Wenn das Paradies so nahe wäre, wäre ich hingeschwommen, mein Kleiner«, murmelte der Algerier.
Sein Scherz wurde mit einem allgemeinen Lächeln aufgenommen.
Reda fühlte sich angespornt fortzufahren: »Was sind das dann für Lichter?«
»Feuerschiffe«, sagte der Algerier, ganz Veteran des Untergrunds.
Reda riss die Augen auf.
»Ein Feuerschiff ist ein schwimmender Leuchtturm, mein Kleiner. Eine wertvolle Orientierungshilfe für die Seeleute. Doch das Gebiet ist gefährlich.«
»Gefährlich?«
»Tödlich, manchmal. Die Schifffahrtspolizei treibt sich oft in dieser Gegend herum. Heimtückisch wie sie ist, kommt es vor, dass sie diese Boote imitiert, indem sie ihre eigenen Scheinwerfer zum Himmel richtet. Die unerfahrenen Schlepper lassen sich davon anziehen wie Insekten.«
Redas Zähne begannen neuerlich aufeinanderzuschlagen. Als die Farbe seines Gesichts ins Grünliche wechselte, fürchtete ich ein neuerliches Überborden des Darms.
Die mit Sand vermischte Gischt setzte ihre Angriffe fort und peitschte unsere Gesichter in regelmässigen Abständen. Der Fels, der uns Schutz bot, war nicht sehr hoch. Wir hätten einen anderen aussuchen sollen.
Ans Boot gelehnt, das umgedreht auf dem Sand lag, mit einem dreiteiligen, für die Umstände denkbar unpassenden Anzug bekleidet, erklärte der Algerier in ermutigendem Ton, dass ein erfahrener Schlepper sich niemals von diesen gefährlichen Fallen täuschen lasse. Und dass, dem äusseren Eindruck und seiner Gelassenheit nach zu urteilen, unser Herr Erlöser ein alter Seebär zu sein scheine: »Schaut, wie er den Himmel absucht, es besteht kein Zweifel, dass er die Sprache der Sterne kennt; glaubt mir, er ist unbestrittener Meister in der Kunst, die Nacht zu enträtseln. Um diesen Beruf ausüben zu können, muss man im Übrigen ein Künstler sein, meine Kinder, ein wahrer Künstler!«
Kâssim Dschûdi wusste, wovon er sprach, hatte er doch schon mehrere Versuche einer Überfahrt hinter sich. Sie wären auch sicherlich gelungen, wäre er nicht vom Pech verfolgt, wäre er nicht, wie die meisten seiner Landsleute, von den Göttern verflucht, er, der Überlebende des Massakers von Blida. Denn mit dem Unglück ist es wie mit den Zecken: Hat es sich erst einmal irgendwo festgebissen, ist es sehr schwierig, es wieder loszuwerden. Nichtsdestotrotz hatte sich dies in keiner Weise auf seine Sehnsucht nach der grossen Reise ausgewirkt. Aus seinen unzähligen Abenteuern war er jedes Mal unversehrt herausgekommen. Und diesmal, das war seine tiefste Überzeugung, würde er Glück haben …
In diesem Augenblick – niemand hatte damit gerechnet, denn es schien eingeschlafen zu sein – fing das Baby an zu brüllen. Und wie!
In meinem Dorf besitzen wir ein morsches Haus. Es besteht aus zwei möblierten Zimmern (Matten aus Halfagras, Schaffelle und Kissen), einem Stall, der eine magere Kuh, zwei Ziegen und eine alte Eselin beherbergt, schliesslich einem kleinen Hof, in dessen Mitte ein grosszügiger Brunnen thront, der mit Strohlehm eingefasst ist. Decken aus reiner Schurwolle, die von meiner Mutter gewebt wurden, dienen dort als Türen. Ich habe acht jüngere Brüder und Schwestern. Man kann also getrost sagen, dass ich mich, was Kindergebrüll betrifft, auskenne! Aber der durchdringende Schrei dieser Ausgeburt machte mich sprachlos: schrill, spitz, eine Sirene von beeindruckender Intensität für den Atem eines Säuglings. Der Schatten bewegte sich, stiess ein weiteres Knurren aus. Und Redas Zähne, kaum beruhigt, nahmen ihren Dienst wieder auf. Nuara versuchte vergeblich, ihren Sprössling zu beruhigen, wiegte ihn unermüdlich hin und her, sang mit zittriger Stimme ein Lied, das eher die Schreie des Kleinen anregte, als dass es ihn beruhigte.
Um uns herum war die Luft drückend. Angespannt erwarteten wir die Strafe des Schleppers. Sie würde zwangsläufig verhängt werden, und da sie von einem derartigen Widerling kam, wussten wir, sie würde fürchterlich sein. Aber sie liess auf sich warten, während das Gebrüll stärker wurde. Ich überwachte Reda, dessen Herz in dieser Nacht tausend Mal hätte aussetzen können. Der Algerier säuberte seine Nägel mit einem Schweizermesser. Ich hatte früher auch so eines besessen: das Geschenk eines Touristen, dem ich während einiger Tage als Führer gedient hatte.
Eine wunderbare Einsicht kam schliesslich von Yarcé, demjenigen der beiden Malier, der bislang nicht ein Wort von sich gegeben hatte. Er war ein kleiner Mann, schüchtern und zurückhaltend; seine Anwesenheit hatten wir beinahe vergessen, so zurückgezogen war er in seinen Winkel, dunkel und stumm, Schatten inmitten der Schatten der Nacht. »Schiebt es unter das Boot, und damit hat sich’s!«, zischte er, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Auf den ersten Blick erschien uns der Vorschlag fehl am Platz, schändlich und grausam; aber, recht bedacht, war er nicht so unvernünftig. Jûssuf unterstützte ihn sogar noch, indem er ausführte, dass das Baby unter dem Boot vor der Kälte und dieser Feuchtigkeit geschützt sei, die uns bis auf die Knochen durchdrang. Das Argument tat seine Wirkung. Wir wägten das Für und Wider ab, zögerten noch einen Augenblick. Als sich jedoch der Schlepper mit entschlossener Miene wieder dem Meer zuwandte, fanden wir die Idee bereits interessant, vernünftig und, alles in allem, unumgänglich.
Die junge Frau schüttelte zunächst den Kopf; sie umklammerte ihr Kind, versuchte erneut, ihm die Brust zu geben. Dann erhob sie sich langsam, richtete ihre Augen flehend auf die unseren – die gesenkt, aber unnachgiebig blieben – und begann, ohne ein Wort zu verlieren, loszurennen. Sie verschwand in der Dunkelheit. Oh, die Flucht währte nicht lange! Das Gebiet, in dem wir uns befanden, war weit ausserhalb der Stadt, verlassen und ohne Leben: feindliche Felsen, wirbelnder Sand, der melancholische Widerklang einiger Betrunkener, nachtschwärmende Möwen, die einem unsichtbaren Fischkutter folgten. Es war noch das Sicherste, in unserer Nähe zu bleiben. Nuara hatte das schnell begriffen. Deshalb kam sie bald darauf zu uns zurück, mit betretener Miene und gesenkter Stirn – und die Schreie ihres Sprösslings eilten ihr voraus.
»Ich werde meinen Kleinen nicht alleine darunter lassen«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Wenn ihr erlaubt, werde ich mich zu ihm legen.«
Sie kniete nieder, ihre zitternden Hände umklammerten das Kind so heftig, dass es beinahe erstickte.
»Eine weise Entscheidung!«, rief Jûssuf.
Unsere unruhigen Blicke hefteten sich auf den Schlepper, der sich verhielt, als bemerke er nichts. Er trug ein riesiges grünes Ölzeug mit einer Kapuze, die er sich wie eine Maske über sein Gesicht gezogen hatte und die ihm das Aussehen eines Wassergeistes verlieh. Seine zögernde Zustimmung sorgte für grosse Erleichterung unter uns. Im Chor ausgestossene Seufzer begrüssten den glücklichen Ausgang, und wir lobten aufs Neue Yarcés bemerkenswerten Vorschlag. Dieser hatte sich bereits wieder in seinen Winkel und seine Abwesenheit zurückgezogen.
Zu viert machten wir uns daran, das Boot hochzuheben. Es war schwer wie Blei. Mutter und Kind legten sich darunter, streckten sich auf einem Berg von Seilen aus, und wir liessen den Rumpf wieder herunter, darauf bedacht, die beiden nicht zu zerquetschen. Das Ergebnis zeigte sich unmittelbar, war nachgerade verblüffend: Das Baby war sofort still, und Nuara hörte auf, vor sich hinzuschluchzen. Sein versilbertes Gebiss entblössend, wandte sich der Schlepper dem Malier zu und machte ihm ein Zeichen mit dem Kopf. Zwar waren wir eifersüchtig, taten es ihm aber doch gleich. Es war das erste Mal, dass unser Herr Erlöser ein wenig menschliche Wärme zeigte. Im Verhältnis zur Bescheidenheit seiner Geste waren wir ihm übermässig dankbar, so als hätten wir wer weiss was Besonderes erhalten. Jûssuf trieb die Vertraulichkeit so weit, ihm die Hand zu reichen, doch der Schlepper schlug sie aus – schliesslich hatte alles seine Grenzen.
Was trug sich indessen unter der Barke zu? Kâssim Dschûdi, der für so ziemlich alles eine präzise Erklärung hatte, meinte, dass Mutter und Kind einfach zusammengebrochen seien und nun wie ein Murmeltier schliefen, wie es jeder von uns getan hätte. Nun, ich war in dieser Frage anderer Meinung, auch wenn der Algerier nicht wirklich unrecht hatte. Wir waren in einem Zustand derartiger Erschöpfung, dass wir in der Tat jederzeit unter den schwierigsten Umständen hätten einschlafen können. Nichtsdestoweniger rief dieses umgedrehte Boot auf dem Sand seltsame Gedanken in mir wach: Bilder ohne Anfang noch Ende, ein Aufmarsch von Hirngespinsten, deren ich mich nicht erwehren konnte. Ja, dieses Boot, das lebende Menschen barg, liess mich an einen grossen Sarg denken, an eine Schachtel ohne Boden, die sich zur Finsternis hin öffnet. Ich sah die Erde, schwanger mit einer stillenden Mutter, die ihren Sprössling umklammert. Leben und Tod in der Stille gleicher Einsamkeit vereint. Eine sandige Böe. Die Nacht als Komplizin. Die Mutter und ihr Baby im Trockenen, das Herz ruhig, aneinandergeschmiegt in der Dunkelheit dieses hohlen Bauchs, in dem man das Meer wie in einer Muschel rauschen hörte. Atmeten sie noch? Hatten sie von den ersten Anzeichen jenes Wohlgefühls gekostet, von dem mein Grossvater mir einst erzählt hatte? Diesem unaussprechlichen Frieden, der die Ufer der ewigen Nacht säumt? Was auch immer es war, stundenlang und bis zum ersten Bellen der Hunde nahm niemand mehr eine Bewegung wahr.
Zehn Stunden später. Wir waren noch immer am selben Ort, durchdrungen von Angst und Kälte, Trübsal blasend in salziger Feuchtigkeit, körperlich wie nervlich völlig erschöpft. Es war ein langer Tag gewesen, der Abend noch länger. Die Wogen schlugen ohne Unterlass gegen die Klippen und Wellenbrecher; ich spürte sie bis in meine Adern strömen. Reda döste an meiner Schulter, Mund offen, Kiefer im Ruhezustand. Der abflauende Wind hatte Pafadnam ermutigt, seinen Proviantkorb auszupacken: ein Gerstenbrot, schwarze Oliven und gebratener Fisch. Das duftete gut. Kâssim Dschûdi hatte seinerseits Tomatensalat, Hackfleischbällchen und eine Navelorange hervorgeholt. Yarcé einen Imbiss, dessen Zusammensetzung ich nicht ausmachen konnte. Jûssuf, Reda und ich hingegen, wir hatten in unserer Naivität gedacht, dass uns nichts Geringeres beschieden sein würde, als in Spanien zu Abend zu essen! »Ein Tapasgelage, mit Sangria begossen, im Herzen von Algeciras! So feiern wir eure Wiedergeburt!« Dies waren Murâds Worte gewesen, der nicht mit Superlativen gegeizt hatte, um uns die Nahrung jenseits des Meeres zu beschreiben, die unendliche Vielfalt von Gerichten, die man dort geniessen konnte: schmelzende Früchte, unbekannt im Land der Mauren, alle Sorten Gemüse, den Jahreszeiten zum Hohn, Fleisch, dessen Zartheit und Geschmack erlesen waren.
Murâd, der zehn Jahre in Paris gelebt hatte, wusste, wovon er sprach. Zehn lange Jahre des Glücks. Paris, du Schöne! Paris, du Mysteriöse! Paris, das in unseren Beduinenohren wie eine Verheissung des Paradieses erklang! Murâd war dreimal abgeschoben worden. Daraufhin war ihm im Café France, dem Hauptquartier der Anwärter auf eine illegale Ausreise, der erhabene Titel Verstossener Europäer verliehen worden. Eine mehr als verdiente Bezeichnung, die wir ihm zuerkennen mussten, sonst wurde er böse: »Murâd, der Verstossene Europäer!«, schrie er. »Ja, mein Herr, sag es, und lass dir jede dieser Silben auf der Zunge zergehen! Dreimal ausgewiesen, aus Frankreich und aus Europa!« Murâd hing am Prestige seines Titels ebenso wie an seinem vom Kif perlmuttfarben schimmernden Pfeifchen, nach dem wir alle schielten. Er beanspruchte diese stolze Würde laut und deutlich, ein wenig wie jene Würde, von der die Pilger nach ihrer Rückkehr aus Mekka erfüllt sind. Wir waren von der Vielfalt seiner Geschichten, seinen phantastischen Abenteuern und Liebesgrosstaten fasziniert. Klar, dass es ihm gelang, Schweigen in der Tischrunde durchzusetzen, wenn er uns von Frankreich erzählte. Von Paris vor allem. Und von diesem piekfeinen Restaurant in der Rue Mazarine, in dem er jahrelang gearbeitet hatte: »Chez Albert, Portugiesische Spezialitäten«, verhiess das Neonschild. Die Küche ging auf einen Hinterhof, wo sich im Erdgeschoss seine Einzimmerwohnung befand. Ein bezauberndes Appartement – oder eher eine studette, wie man in der französischen Hauptstadt so hübsch sagt –, das über jeglichen modernen Komfort verfügte: ein kuscheliges Bett, einen Schrank aus rotem Kiefernholz, einen Farbfernseher, eine Kochplatte, die auf dem Kühlschrank stand, ein Keramikwaschbecken, eine Dusche, deren Plastikvorhang sich mittels eines Reissverschlusses öffnen liess. Und das alles auf der unglaublichen Grundfläche von sechs Quadratmetern! Zwei mal drei Meter, wer bietet mehr? Aber was bedeutete das schon; hier, zwischen diesen Wänden mit Blumentapete, unter dieser rissigen Decke, von der eine nackte Glühbirne hing, vor diesem halbblinden Kellerfenster, ja, hier ruhten die besten seiner Erinnerungen.
Erinnerungen, ebenso illegal wie er selbst, Momo, der kleine Krauskopf aus dem Chez Albert. Begonnen hatte er als Tellerwäscher, elf Stunden täglich in einer nach Stockfisch stinkenden Küche. Teller, Gläser und Besteck ohne Ende. Murâd beklagte sich nie. Im Gegenteil, er war flink bei der Arbeit, und mit seinem Eifer konnten sich nur der Klang seines Gelächters und sein Übermut messen. Er ging García, dem fetten Gemüseschäler, dessen Finger von der Feuchtigkeit anschwollen, freiwillig ein wenig zur Hand. Dann kehrte er hier, putzte dort. Manchmal warf er einen Blick über die Durchreiche in den lärmenden und fröhlichen grossen Saal, wo Männer und Frauen jeglicher Couleur – von Heiterkeit überwältigt oder, trunken vom vinho verde,