Die Enkel der Echse, Teil 1 und Teil 2 - Désirée von Trotha - E-Book

Die Enkel der Echse, Teil 1 und Teil 2 E-Book

Désirée von Trotha

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Beschreibung

"Wandern bei euch in Deutschland auch Schweine durch die Landschaft?" - "Bei uns gibt es überall Zäune. Es ist verboten Tiere frei herumlaufen zu lassen." - "Wie kann man denn Tieren das Wandern verbieten?" Die Kultur hat keine Beine. Es ist der Mensch, der sie auf seinem Rücken tragen muss. Und welcher Schatz ginge der Menschheit verloren, wenn die Kultur der Tuareg verschwinden würde. Aus sehr persönlicher Sicht berichtet die Autorin über die ersten Jahre ihrer Begegnung mit Tuaregnomaden am Rande der südlichen Sahara und gibt einen Ausblick auf den Stand der Dinge 2012. Die erweiterte Neuauflage als eBook enthält viele hochauflösende Bilder, die die gedruckten Fassung nicht enthielt. Über die Autorin: Désirée v. Trotha, geboren 1961 in Augsburg, studierte Grafik-Design in München, dann Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. 1989/90 DAAD-Stipendium für das Royal College of Art, Film Department in London. Seit 1991 jeweils rund sechsmonatiger Aufenthalt pro Jahr in der südlichen Sahara in den Tuareggebieten Algeriens, Nigers und Malis, sowie im Norden des Tschads. Über ihre Begegnungen mit den Tuareg entstanden nach "Die Enkel der Echse" neben einigen Reportagen die Bildbände "Heiße Sonne, Kalter Mond" und "Wo sich Himmel und Erde berühren". 2011 drehte Désirée von Trotha im Norden Malis den Dokumentarfilm "Woodstock in Timbuktu - Die Kunst des Widerstands". Pressestimme zu "Die Enkel der Echse": "Seit den Lettres persanes bietet der verblüffte Blick von außen Anlaß zur Erheiterung. Ein literarischer Topos - Désirée von Trotha spielt ihn ironisch durch..." SZ / Feuilleton, Bettina Ehrhardt

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Seitenzahl: 377

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Impressum

Erweiterte Neuausgabe Mai 2013©CINDIGObook, der Buchverlagder CINDIGOfilm GmbH, München & Berlin

ePub basiert auf Druck ISBN 978-3-944251-02-8Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Christine PaxmannFotos: Désirée von TrothaFoto Seite 306: Bettina EhrhardtLektorat: Heike Pöhlmann und Ulrike TöllnerSatz & Gestaltung: Philip Joens

Druck: freiburger grafische betriebe GmbH & Co KG

Made in GermanyISBN 978-3-944251-14-1

Mehr über unsere Filme, Musik und Bücher:www.cindigo.de

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Désirée v. Trotha

Die Enkel der Echse

Lebensbilder aus dem Land der Tuareg

Widmung

Afrikas Völker sind heiter, vielsprachig, lebensfreudig. Jedoch der Stil ihrer seelischen Ausdrucksfülle ist ernst und herb, heute wie in weit zurückreichender Zeit. Dieser Stil muss einmal entstanden, geboren sein und dann in seiner Eigenart verharrt haben! Es liegt der Zauber rätselhaft weit zurückliegender Geburt in ihm. Sollte es möglich sein, der Geistigkeit so fernen Geschehens nahe zu kommen?

Leo Frobenius

Sandkörner im Auge der Zeit

Wir existieren!

Wir leben in der Wüste!

Wir sind keine Legende!

Abdallah Ag Oumbadougou

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«Geduld und Humor sind zwei Kamele, mit denn du durch jede Wüste kommst», Sprichwort der Kel Tamaschek

Sandkörner im Auge der Zeit. Vor gut zwei Jahrzehnten reichte mir eine fremde Kultur die Hand. Ich ergriff sie, halte sie fest und werde von ihr fest gehalten.

Mein Buch «Die Enkel der Echse», das 1998 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, erzählt vom Noma­dendasein in der nigrischen Sahara und von anfangs rät­s­elhaften Begegnungen mit den Tuareg, die sich selbst Kel Tamaschek nennen. Es erzählt von allmählich wachsenden Freundschaften, einer Fülle von manch­­mal abenteuerlichen und häufig bewegenden Er­lebnissen und gibt Einblick in eine faszinierende Kultur, die mich von Anfang an in ihren Bann gezogen hat.

Nach über zwanzig Jahren Pendlerleben zwischen der größten Wüste der Welt und München haben sich Freundschaften verfestigt, eine neue Generation wuchs heran, und gemeinsam durchlebten wir dramatische, globale Umwälzungen, die uns alle betreffen – ob in Afrika oder Europa.

Diese erweiterte Neuauflage spinnt die Fäden von damals weiter, berichtet wie es meinen Freundinnen und Freunden ergangen ist. Das letzte Kapitel «Herr­scher und Beherrschte», in dem die historischen und politischen Entwicklungen aufgezeichnet werden, wur­de vertieft und auf den neuesten Stand gebracht.

Die Kultur der Kel Tamaschek ist vom Untergang bedroht. Um auf die dramatische Lage aufmerksam zu machen, habe ich im Jahr 2011 beim «Festival au Désert» – ein von den Nomaden organisiertes internationales Musikereignis in der Sahara – meinen ersten Kino-Dokumentarfilm «Woodstock in Timbuktu – die Kunst des Widerstands», gedreht. Im Film geht es um die Musik der Kel Tamaschek, die in jüngster Zeit Erfolge feierte und Grammys gewann; um Musiker und Poeten, die Macht der Frauen, Kamelhirten, Ex-Rebellen, Drogenschmuggler und die drohende Gefahr durch militante Salafisten. Ihre Lieder, in denen besungen wird, wie schlimm vieles war, wie hart es noch ist und wie schön alles werden soll, zeugen von sozialem und politischem Engagement, leisten Widerstand.

Die Kel Tamaschek sehen sich enormen Bedrohun­gen ausgesetzt: Rebellionen, internationalen Rohstoff­kon­zernen, Menschen-, Waf­fen- und Drogenschmuggel, mafiösen Geflechten, Kidnapping, militanten Salafisten, al-Qaida …

In der Heimat meiner Freundinnen und Freunde ist nichts mehr wie es war, als mein Buch «Die Enkel der Echse» vor fünfzehn Jahren in Deutschland veröffentlicht wurde. Ihre Sahara befindet sich in Aufruhr. Die Nomaden scheinen zwischen alle Fronten geraten.

In Algerien werden sie in die Ecke gedrängt; ein massiver Zuzug von Soldaten und Bürgern von der Mit­telmeerküste in den Süden hält an. Die Sahara-Region wurde für den Tourismus gesperrt. Die Arbeits­losigkeit steigt dramatisch. Unruhe macht sich breit.

In Libyen haben die Nomaden nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes ihren Platz unter der neuen Regie­rung noch nicht gefunden.

Aus dem Norden Malis suchten seit Jahresbeginn 2012 zehntausende Kel Tamaschek Exil in den Nach­barstaaten. Anfangs, um den bewaffneten Aus­ein­andersetzungen während der Machtübernahme der Region durch militante Salafisten zu entgehen; später flohen sie vor den rigiden Scharia-Gesetzen der Gotteskrieger und einer drohenden Hungersnot; heute fliehen sie vor ethnischen Übergriffen der malischen Armee und angegliederter Milizen. Alle sehnen sich nach einem baldigen Ende des Krieges in der Heimat, der Anfang des Jahres, auf einen Hilferuf des malischen Interimspräsidenten hin, mit einer Intervention der fran­­­zösischen Armee im Norden Malis auch international an Bedeutung gewonnen hat.

In der Republik Niger befürchtet man ein Über­greifen des benachbarten Konflikts.

Die Hoffnung auf Frieden und Sicherheit schmilzt; neue Ängste machen sich breit. Das Nomadenland, wo Sonne, Mond und Sterne wie eh und je ihren Lauf fortsetzen, ist in Teilen zu einem gewalttätigen und unsicheren Ort geworden, den Europäer nicht mehr wie einst bereisen können.

Die seligen Zeiten, in denen ich meine Kreise ungestört vom Aïr-Gebirge und den ausgedehnten Ebenen im Norden der Republik Niger über das Plateau des Tassili-n-Ajjers und die hohen Felsen des Ahaggars im Süden Algeriens bis zu den hellen Sandbergen in der Region von Timbuktu ziehen konnte, sind erst einmal dahin. Doch gerade jetzt, wo Vieles so schlimm ist, scheint es drängender denn je, Mut zu schöpfen und an bessere Zeiten zu erinnern, den Zauber des Anfangs wieder anklingen zu lassen.

Vor über zwanzig Jahren nahmen mich offenherzige Männer und Frauen in ihrer Mitte auf und boten mir ihre Freundschaft an. Ich trank mit ihnen bitteren Tee auf Dünenkämmen, lernte ein wenig ihre Sprache, lernte ihre Art zu denken, lernte das Reiten auf Kamelen und lernte, warum sich die Männer verschleiern, nicht aber die Frauen. Wir wurden Freunde.

Die Kultur hat keine Beine, sagt man. Es ist der Mensch, der sie auf seinem Rücken tragen muss. Und welcher Schatz ginge der Menschheit verloren, wenn die Kultur der Kel Tamaschek für immer verschwinden würde.

«Die Enkel der Echse» erzählt vom Zauber meiner ersten Begegnung mit den Kel Tamaschek und von jener Verbundenheit, die mit langjährigen Freundschaften ent­­steht; vielleicht auch in der Hoffnung, dass dadurch die Rücken derer, die diese reiche Kultur ein Stück mittragen können, fester und breiter werden.

Lange Reihen staubiger Toyotas parken in einem weiten Tal auf einem Teppich aus feinem Sand. Hier und da stehen mächtige Akazien und im Osten runde Felsen – fette Kröten ohne Gesicht.

Überall lagern Menschengruppen. Männer, Frau­en und Kinder schlürfen Tee. Der Himmel ist wolkenlos und sehr blau. Gesattelte Kamele liegen faul in der nachlassenden Sonnenhitze. In der Fer­ne schreit ein einsamer Esel nach einer Braut.

Junge Mäd­chen bilden sitzend einen Kreis. Das Abendlicht taucht den Sand um sie herum in kräftiges Orange. Die Mädchen klatschen. Das tende entfaltet langsam seinen Klang. Dumpfer Rhythmus entsteht. Leise und sanft beginnt der Gesang und lockt die Reiter zum Tanz. Sie warten paarweise in einiger Entfer­nung.

Der Gesang nimmt an Lautstärke zu. Weitere Stimmen fallen ein: «Was mir gefällt sind Männer, Kamele, Waffen, aufwühlende Gedichte und Feste bis zum Sonnenaufgang. Lauft, lauft hochmütige, edle Ka­mele und auch ihr jungen Tiere mit den kraftvollen Schritten. Die Stimme aus meinem Radio beinhaltet niemals solche Leidenschaft. Doch wir sind nur Sandkörner im Auge der Zeit.»

Plötzlich preschen jeweils zwei Reiter in ausgestrecktem Galopp heran, direkt auf die Singenden zu und in letzter Sekunde an ihnen vorbei. Lautes Trällern empfängt die Mutigsten, deren Kamele die mit Indigo gefärbten Körpertücher der Mädchen mit den Füßen fast berühren.

Einige Reiter umrunden den Kreis, tanzen mit ihren Tieren zum Takt der Musik. Wieder Trällern. Verschämte Blickwechsel. Vielleicht eine Ermunterung zu mehr. Das ewige Spiel der Begehrlichkeit zwischen den Geschlechtern nimmt seinen Lauf. In diesem Teil der Wüste gehorcht es strengen Regeln, die auch später im Schutz der Dunkelheit nur sehr selten gebrochen werden …

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Afra im Tassili-n-Ajjer, Algerien

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Atakor im Ahaggar, Algerien

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Tamesna-Ebene, Niger

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Eröffnungszeremonie des «Festival au Désert», Timbuktu im Januar 2011

Der Weg nach Süden

Die Europäer halten bis heute an ihrem Mythos von den Männern der Wüste fest. Sie haben sich ein Bild geschaffen und nähren damit ihre Phantasie. Man könnte sagen, dass sie die Kel Tamaschek unter denselben Bedingungen wie vom Aussterben bedrohte Tierarten schützen wollen, um ihren Traum von uns weiterzuträumen. Aber wir lebenden Kel Tamaschek sind als Menschen für unsere Familien und die Zukunft unserer Kinder verantwortlich. Wir müssen der Realität ins Auge sehen. Wir müssen uns anpassen. Und wir müssen vor allem unsere Würde bewahren.

Hawad

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«Es ist besser auf allen Vieren zu laufen als zu rennen»,Sprichwort der Kel Tamaschek

Der Weg nach Süden. Zweiundzwanzig Jahre und zahlose Reisen liegen zwischen meiner ersten Ankunft in der alten Handelsstadt Agadez in Afrika und meinem letzten Abschied 2013. Dort wurde ich von einer großen Tama­schek-Familie nach und nach als ältere Schwester aufgenommen. Plötzlich hatte ich ein eigenes Haus und mit der Zeit übertrug man mir einen Teil der Ver­ant­wortung dafür, nach We­gen zu suchen, wie die Familie mit ihren Traditionen in der Moderne bestehen kann.

Agadez ist die Hauptstadt der Kel Tamaschek des Aïr und der Regierungssitz ihres Sultans. Die Stadt liegt in der Republik Niger am Südrand des Aïr-Gebirges und westlich der Ténéré, der unbarmherzigsten Wüste der Welt. In wasserarmen Jahren bestimmt die Sahara mit Sand und Geröll das Umland, während sich der Sahel nach guten Regenzeiten sein Terrain mit blühenden Akazien und grünen Weiden weit über Agadez hinaus bis zu 300 Kilometern nordwärts zurückerobert.

Anfangs fuhr ich von Deutschland aus mit dem Auto quer durch die Sahara Richtung Süden. Später nahm ich das Flugzeug nach Niamey, der Hauptstadt der Republik Niger, und legte die tausend Kilometer nach Norden bis Agadez im Bus oder Auto zurück.

Aus weiter Ferne zeichnet sich der hohe Turm der Moschee ab; und auch zahlreiche Mobilfunkma­sten, die als spitze Nadeln in den Himmel ragen. Niedrige Lehmhäuser mit flachen Dä­chern und von hohen Hof­mauern umgeben, verteilen sich weit auf einer großen Sandebene, die von kräftigen Akazien und olivgrünen Büschen unterbrochen wird. Im Norden schimmern die hohen Berge des Aïr. An die in den letzten Jahren rasant wachsende Stadt grenzen halbrunde Bast­hütten der Kel Tamaschek. Im Osten liegen kleine Gär­ten mit Dattelpalmen, in denen Obst, Gemüse und Getreide wächst. Im weiten Westen erstrecken sich die Weideflächen der Nomaden ­– Kamele, Schafe und Ziegen bewegen sich frei in der Landschaft. Kein Zaun versperrt ihnen den Weg.

Ein afrikanischer Freund fragte mich einmal, welcher Zauber von diesen Menschen ausgehe, diesen Menschen, die von Kopf bis Fuß verhüllt kaum einen Zentimeter Haut zeigen, in der Öffentlichkeit weder lachen noch weinen und überaus beherrscht erscheinen – dass ich ihnen einen Großteil meiner Zeit zugestehe. Was mich an den Kel Tamaschek, insbesondere den Schmieden aus Agadez fasziniert, ist schwer in Worte zu fassen:

Sind es die verhaltenen, eleganten Bewegungen der Männer in ihren metallischblau glänzenden weiten Gewändern? Sind es ihre dunklen Augen, neben Händen und Füßen das einzig sichtbare Stück Körper, die einen manchmal herablassend, überheblich und gelangweilt mustern? Sind es die lässigen Reiter auf weißen Kamelen ohne viel Gepäck, die von irgendwo nach irgendwo unterwegs sind? Sind es die bemerkenswerten Frauen, die sehr aufrecht, immer langsam durch den Sahel oder die Stadt schlendern? Sind es ihre klaren offenen Gesichter, die mit Kohle geschwärzten Augen und die mit Indigo gedunkelten Lippen? Sind es die Momente, in denen sie in den Tanz versunken Minuten lang ihre Haltung vergessen? Sind es die heiligen Männer, die gelassen den Koran rezitieren oder für ihre Mitmenschen beschützende Zeremonien abhalten und Amulette herstellen? Sind es die verschmitzten Schmiede, die aus rohen Silberquadern vollkommene Formen schaffen? Sind es die meist jungen und zornigen Rebellen, die den Kampf um ihr kulturelles Erbe der Resignation vorziehen? Ist es die starke Trennung zwischen Frauen- und Männerwelt, die von großzügigem, gegenseitigem Respekt geprägt ist? Ist es der liebevolle, wenn auch strenge Umgang der Erwachsenen mit den Kindern? Sind es diese Kinder, die darauf hoffen, durch meine merkwürdigen europäischen Angewohnheiten unterhalten zu werden und mir stolz ihre Welt zeigen? Ist es der Zauber weitläufiger Familien, in denen jeder einzelne von Geburt an wie in einem Spinnennetz durch feine und klare Verhaltensregeln mit den anderen verwoben ist? Sind es die vielen unglaublichen Geschichten, seltsamen Fabeln, bewegenden Gedichte oder kniffligen Rätsel, die an den heißen Nachmittagen erzählt, rezitiert und gestellt werden? Ist es ein einfaches Picknick in Gesellschaft von Nomaden, Ziegen und Kamelen im Sand? Ist es das bunte, quirlige Leben in der alten Handelsstadt Agadez, einem Schmelztiegel verschiedenster Völker? Ist es die unglaubliche Land­schaft des Aïr-Gebirges, einem der ältesten Ent­ste­hungs­räume menschlicher Kulturen? Sind es die stillen Nächte unter dem unendlichen Sternenhimmel? Ist es die Ewigkeit der Wüste, die den Menschen frei atmen lässt? Ist es die große Schmiedefamilie, die mich aufgenommen und als Teil in ihr Gefüge eingepasst hat? Oder ist es einfach nur Freundschaft, die ganz allmählich entstanden ist?

Ich denke, es ist all das und noch viel mehr. Davon werde ich zu erzählen versuchen. «Bismillah – möge Gott mich begleiten», wie die Kel Tamaschek meiner Familie vor jeder Reise murmeln.

Die Sahara ist die Heimat ungezählter Geister. Sie sind überall, gute und böse, nachts schlägt ihre Stunde. Man darf sie nie berühren. «Wenn du sie kennst, kannst du mit ihnen leben. Aber du musst immer auf der Hut sein. Selbst die guten wollen dich verführen. Kennst du sie nicht, kann das sehr schnell deinen Tod bedeuten», warnte mich ein angesehener marabout, der unlängst einem lästigen Geist die rechte Hand mit dem Schwert abgeschlagen hatte. Der heilige Mann ist keineswegs verrückt oder senil, sondern steht als oberster Hirte einer großen Familie verantwortungsvoll mitten im Leben. Realitäten mögen verschieden sein, aber nur wer versucht zu sehen, kann vielleicht irgendwann einmal ein wenig erkennen.

Manchmal nehmen die lästigen Geister jedoch eine sehr menschliche Gestalt an. Im Dezember 1994 wurde ich in der nigrischen Grenzstation Assamakka fast eine Woche festgehalten. Mein Pass war eingezogen worden. Ohne Militärkonvoi durfte niemand den Ort verlassen. Angeblich zum Schutz vor den Tamaschek-Rebellen, aber wahrscheinlich um die Konvoigebühr zu rechtfertigen. Während dieser Wartezeit im Nichts als einzige Frau unter zweihundert Schmugglern, Soldaten und fünf europäischen Reisenden habe ich begriffen, was Geduld bedeutet. Vielleicht habe ich da gelernt, von Tag zu Tag zu leben und die Zeit zu vergessen.

Seit drei Tagen ist der Konvoi überfällig. Angeblich wartet er in Arlit auf einen Lastwagen mit Marlboros aus Nigeria. Ich sitze angelehnt an einer Lehmwand nahe der Grenzstation. Vor mir ein weites Panorama. Im Westen ein Ziehbrunnen umgeben von mächtigen Akazien, dahinter die Kaserne mit ihren verfallenen Baracken und drei rostige Sanitätscontainer. Richtung Norden schließen sich zwei kleine, viereckige Häuschen von Zoll und Polizei an. Davor liegt ein vom Sand halb zugewehtes ausgebranntes Buswrack. Dann freie Sicht auf einen Streifen Wüste, in dem sich Reisende nähern oder entfernen. Im Osten wird er von den Bast- und Lehmhütten des Dorfes begrenzt. Alles ist mit feinem, beigem Staub überzogen. Neben uns sechs Europäern hat ein Händler seinen Tisch aufgestellt. Er versorgt alle mit Getränken und einem Gebäck, dessen Konsistenz sehr an Spanplatten erinnert.

Jede Bewegung an der Grenze wird beobachtet. Immer wieder kommen Toyotas an oder entfernen sich mit hoher Geschwindigkeit. Es sind Schmuggler aus Mali und Algerien, die weder kontrolliert noch an­ge­halten werden. Ab und zu hebt ein Uniformierter die Hand zum lässigen Gruß. Ein strahlend weißer Mercedes S-Klasse erscheint wie ein Trugbild in der Ferne. Er nähert sich langsam. «Vielleicht ist es irgendein Präsident, der einen Putsch überlebt hat?» Zoll und Polizei blasen zum Angriff. Plötzlich bleibt der Mercedes im Tiefsand stecken. Drei Männer steigen aus und schieben. Niemand hilft. Nach dreißig Minuten erreichen sie die Grenze und verschwinden im vertrauten Gewühl von Uniformen und Schleppern. Wa-Benzi – dieses neue Volk ist in ganz Afrika entstanden. Wa-Benzi heißen die Herrschenden, die ihren Reichtum auf Kosten anderer erwerben und sich nach dem Motto «Mein Mercedes ist größer als deiner» Lichtjahre von ihren Mitmenschen entfernen.

Vor der Kaserne wird in der prallen Sonne exerziert. Der Sand schluckt alle Geräusche. Hackenschlagen als Stummfilm. Der Polizeichef setzt sich zu uns und beginnt ein Gespräch über traditionelle chinesische Heilmethoden. Seine Stimmung schwankt zwischen aufgesetzter Heiterkeit und blankem Zynismus. Ein Sol­dat entfernt ihm mit einer rostigen Klinge die Kopf­haare. Der kahle Schädel unterstreicht seine Ambi­tio­nen, macht ihn zum Prototyp eines Potentaten. Wir reden über Schweizer Banken. Der Polizeichef beendet das Gespräch: «Eines ist sicher, in der Schweiz gibt es keine Diebe.»

An der Grenze tauchen zwei große Lastwagen auf, überladen mit Tieren, Gepäck und Passagieren. In­nerhalb von Minuten wird aus der leeren Sandfläche ein belebter Platz, dem sich nun auch Schafe und Ziegen langsam nähern.

Etwa zweihundert Menschen klettern die Seiten­wände der Lastwagen hinunter. Arme Teufel! Männer, die nach Algerien ausreisen wollen. Aus allen Ländern der ehemals französischen Kolonien. Französisch – die einzige Sprache, die sie mühsam verbindet. Tausende von Kilometern sind sie unterwegs. Nur zerrissene Kleider am Leib und manchmal eine kleine Tasche in der Hand. So viele Geschichten. Anstrengung und Schmerz stehen in ihren Gesichtern geschrieben. Sie strömen zur Grenzstation und werden von Zoll und Polizei streng in Empfang genommen. Nach einem undurchsichtigen System müssen sie in vier Schlangen auf Abfertigung warten. Hart demonstrieren die Männer in Uniform ihre Macht, dieselben, die kurz zuvor lächelnd von ihren Familien erzählten. Was in den dunklen Baracken vorgeht, soll niemand wissen. Die Opfer für den Weg in den goldenen Westen sind groß.

Das Warten wird zur Droge. Alle Muskeln sind erschlafft. Die kleinste Anstrengung ist ein Abenteuer. Das Auge nimmt die Umgebung mit großer Ver­zö­gerung wahr. Zeit spielt keine Rolle mehr. Stun­den und Sekunden sind austauschbare Größen. Kann Zeit vergehen? Kann man Zeit haben? Kann man Zeit stehlen? Läuft Zeit davon? Wahrnehmung reduziert sich auf einzelne Aspekte. Situationen zerfallen in Puzzleteile. Es gibt kein Telefon, das die Phantasie unterbrechen könnte. Über allem steht die vage Hoffnung auf den Konvoi.

Irgendwann ist der Konvoi da und ich erhalte meinen Pass zurück. Es ist merkwürdig, wie die eigene Identität an dieses Stück Papier gekoppelt ist. Das Gefühl, sich im rechtsfreien Raum zu bewegen, tritt schnell in den Hintergrund.

Ich glaube, dass der winzige Teil Afrikas, den ich kenne, meine Rückkehr erwartet. Nie wieder, oder immer wieder. Dazwischen liegt nichts. Es gibt kein Vielleicht. Nur ja oder nein. Und Wunder.

Die Sahara, die ich so häufig langsam durchquert habe, fordert die Auseinandersetzung mit sich selbst. Es lauert eine launische, unbestechliche Weite, die für uns Europäer kaum vorstellbar ist. Einfach nur nichts. Vielleicht faszinierend. Nüchtern betrachtet ist dieses Nichts immer und unbedingt feindlich. Dort fühle ich mich sehr klein, zugleich aber seltsam geborgen. Bei jeder Reise etwas mehr. Ob Gott in der Wüste sein Gästezimmer bereithält? Manche Nomaden behaupten das. Wie oft denke ich an diese Momente im Nichts. Nur Ruhe und ein ferner Horizont. Keine Straße, die einem ihren Willen aufzwingen könnte. Nur Sand, Geröll und hohe Felsen.

Kleine Zeichen zeugen von Leben. Die feste Spur eines unbeugsamen Käfers, der knorrige Stamm einer einsamen Akazie, das satte Grün einer unverhofften Weide. Warum hier, wo selbst hohe Berge von Wind und Sonne langsam abgeschliffen und plötzlich gesprengt werden? Die Erosion erschafft seit Jahrtausenden wundersame Wesen: glattgefegte Hänge, zernagte Kanten, runzelige Buckel, flache bunte Steinfelder und weich gewellte Hügel. Manchmal schimmert ein tiefblauer See mit süßem Wasser wie ein Wunder im Sand oder Fels. Wasser, das aus dem Inneren der Erde kraftvoll nach oben drängt. Wasser, das vor unendlichen Jahren auf unsere Vorfahren hinabgeregnet war. Wasser, das der Wüste vollendete Schönheit verleiht. «Aman iman – Wasser ist Leben», sagen die Kel Tamaschek voller Respekt und man antwortet: «Ach assouder – Milch ist Nahrung.»

Im Juli 1996 bringen die Nächte kaum Abkühlung. Es ist Sommer, und die Sonne kennt kein Erbarmen. Nach dem Verlassen des letzten Stücks Teerstraße vor der algerischen Grenze kommt ein Sandsturm auf. Dreihundert Kilometer Wüste liegen vor uns. Ob der alte Peugeot die Strecke unbeschädigt überstehen wird? Der Sturm wartet hier jedes Mal auf mich. Nur ein einziges Mal blieb er aus. Bald ist die Luft voller Sand, der durch jede Ritze bis tief in die Lungen dringt. Schlechte Sicht. Ein vertrautes Gefühl. Unser Freund, der algerische Gendarmeriechef Abdelmalek, will uns gegen Mittag mit seinem schnellen Toyota einholen. Wir haben versprochen, den Balisen zu folgen, grauen Betonpfählen, die als Wegweiser Kilometer um Kilometer die Landschaft zerschneiden. Sie verlaufen gerade nach Süden. Doch viele sind verwittert und umgefallen. Manchmal stehen alte Autoreifen aufgerichtet und mit Steinen beschwert an ihrer Stelle. Der Sturm verhindert eine zuverlässige Orientierung. Die Sonne ist nicht zu sehen. Wir folgen den Spuren der schweren Lastwagen. Abrupt biegen sie Richtung Westen ab. «Wir haben Abdelmalek versprochen den Balisen zu folgen!» Murrend nimmt mein deutscher Reisebegleiter den ausgeschilderten Weg. Steine und Geröll. «Da siehst du, warum die Piste einen Umweg macht. Die Fahrer folgen dem weichen Sand, der sie später wieder zu den Balisen führt.»

Zu allem Überfluss bleiben wir, während dumpfe Mittagshitze brät, im kochenden Sand stecken. Wenigstens hat der Sturm nachgelassen. Die Luft flirrt diesig und hell, zeigt die Wüste als impressionistisches Gemälde ohne Tiefe. Gnadenlose harte Sonne auf ihrem höchsten Stand. Die Kleidung klebt binnen Sekunden auf der Haut. Weiße Salzränder zeichnen darauf bizarre Muster. Die Hitze lähmt jede Bewegung. Weit über fünfzig Grad. Vier Liter Wasser verschlingt ein aus dem Sand geschaufelter Reifen. Lieber liegenbleiben, nicht denken und schlafen.

Die Laouni-Düne schimmert schwach in der Ferne. Sie ist keine echte Düne, sondern ein großer schwarzer Fels, um den viel Geröll verteilt liegt und an dessen Rändern sich ewig Flugsand ansammelt, ein Nadelöhr, das damals jeder passieren musste, der die offizielle Strecke zur nigrischen Grenze fuhr. Heute ist die Gefahr gebannt, der algerische Staat ließ eine breite Teerstraße um die Laouni-Düne herum bauen, die den Reisenden bequem nach Süden führt. Nur die ausgebrannten und vom Sand abgeschliffene Autowracks entlang des Wegs erinnern an die Vergangenheit, als eine winzige Fehlentscheidung des Chauffeurs die Fahrt abrupt beenden konnte.

Plötzlich ertönt ein unüberhörbares Motorgeräusch über das gleichmäßige Brausen des Windes hinweg. Abdelmalek nähert sich schnell, neben ihm sitzen zwei verängstigte bleiche Gestalten in Zivil, junge Rekruten aus dem Norden. Sie betrachten uns verwundert und bleiben stur im Wagen. Unser Freund steigt aus. Er bietet uns kaltes Wasser an, die köstlichste Erfrischung. Eine pralle Gerba aus Ziegenfell hängt am Außenspiegel seines Wagens gekühlt durch Verdunstung. Das Wasser in unseren Plastikkanistern ist heiß. Abdelmalek verabschiedet sich: «Ich erwarte euch heute Abend. Wenn ihr nicht kommt, schicke ich eine Patrouille aus.» – «Warte bis morgen früh. Vielleicht schlafen wir in der Wüste.» – «Aber nur bis 10 Uhr.» Sein Toyota heult auf. Er passiert die Düne in fünf Minuten. Wir brauchen anderthalb Stunden.

Uns begleitet das Heulen des Sturmes, der an Stär­ke zunimmt. Die Millionen vom Boden aufgewirbelten Sandkörner scheinen meine Haut Millimeter um Millimeter abzutragen. Ich kann kaum atmen, während wir eine Menge Geröll aus dem Weg räumen müssen. Mein fest um den Kopf gewickeltes Turbantuch hilft wenig. Der Ostwind ist so stark, dass er die Füße vom Boden wegzieht. Im Zickzack bahnt sich der treue Peu­geot seinen Weg. Endlich sind drei Kilometer geschafft, die magische Balise bei Kilometer 106 bestätigt den Erfolg.

Ein Mann steht in der Ferne, hinter ihm eine Frau und zwei Kinder. Heftig zerrt der Wind an ihren zerrissenen Gewändern und zerfranst ihre Silhouetten. Alle vier winken verzweifelt. Wir sollen anhalten. Die Tamaschek-Familie wohnt schon lange im Nichts. Als Unterkunft dient ihr das verrostete Chassis eines Renault V. Es steht hundert Kilometer vom nächsten Brun­nen entfernt. Spenden der Vorbeifahrenden ermöglichen das Überleben. Niemand wird in der Wüste eine Bitte um Hilfe ausschlagen, wie schnell könnte man selbst auf Hilfe angewiesen sein.

Diese Familie wahrte ihre Würde wahrscheinlich besser als die vielen hundert Kel Tamaschek, Flücht­linge aus Mali und Niger, die damals in einem ummauerten Lager nahe der Grenze lebten. Frauen, Kinder und alte Männer auf der Flucht vor Hunger und Krieg warteten zur Untätigkeit verdammt auf Frieden. Sie fühlten sich staatenlos. Die wenigen jungen Männer waren im Grenzschmuggel zwischen Mali, Algerien und Niger oder als Rebellen aktiv. Jeder hundertste Bewohner des afrikanischen Kontinents ist ein Flüchtling, sie machen mehr als die Hälfte aller Heimatlosen der Erde aus. Armut, Hungersnot, Dürre, Desertifikation, Tyrannei, Revolution, Rivalitäten zwischen ethnischen Gruppen und Krieg setzen die Menschen in Bewegung.

Mit Einbruch der Nacht ist das Gewitter da. Plötzlich und ohne Vorwarnung, maßlos und heftig, dunkel und laut. Ockerfarbener Staub färbt die Tropfen und verweht jede Sicht. Alles Licht verlässt die Erde. Der Tag weicht der Dunkelheit, schnell und ohne Vor­an­kündigung. Wir müssen die Fahrt unterbrechen. Was für eine Nacht – Hitze, Nässe, Sand und das anhaltende Pfeifen des Windes. Kurzer, unruhiger Schlaf verkürzt das einsame Warten auf Wetterbesserung.

Ein wundersam stiller Morgen bricht an. Kein Ge­räusch stört das atemberaubende Schweigen. Frü­hes, durchsichtiges Licht taucht die Umgebung in weiche Farben. Ein heller, zarter Punkt erscheint in der Ferne. Sanft steigt die Sonne auf. Zu schnell verwischt ihre Kraft, die eben noch klare Kontur. Die ewige Hitze fällt wieder herab. Wir fahren stur Richtung Süden. Der Sturm hat sämtliche Spuren verdeckt. Neu angeordnet schimmert gelber Sand, jungfräulich, unberührt. Unser Auto hinterlässt den ersten Streifen, der den Westen vom Osten trennt. Wer wird ihm folgen?

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«Die Kamelstute jault, das Kamelfohlen singt»,Sprichwort der Kel Tamaschek

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«Unsere Erde hat nur eine Sonne»,Sprichwort der Kel Tamaschek

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«Geduld ist ein Weg voller Gold und Hoffnung»,Sprichwort der Kel Tamaschek

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«Entfernt eure Zelte und bringt eure Herzenzueinander», Sprichwort der Kel Tamaschek

Elhadji

Als die Erde in der Erkenntnis der Menschheit noch nicht rund war, stahl ein armer Schmied einem edlen Kel Tamaschek das Kamel. Darauf­hin verwandelte Gott diesen, um ihn zu bestrafen, in eine Echse.

Legende der Kel Tamaschek

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Elhadji, Agadez im Februar 2007

Elhadji. Der 10. Dezember ist ein besonderes Datum. An diesem Tag traf ich Elhadji zum ersten Mal, und am gleichen Tag fünf Jahre später starb mein Vater. Es ist merkwürdig, wie das Schicksal manchmal mit Daten spielt, einem zuerst ein wunderbares Geschenk anbietet, um dann später die Bezahlung einzufordern. Fast als suchte es einen Ausgleich zwischen Trauer und Glück, die Harmonie zwischen zwei Polen, den Zustand der Ausgewogenheit. So wie der traditionelle afrikanische Heiler die Krankheit als Zeichen einer Dissonanz mit der Umwelt versteht und bemüht ist, diese an der Wurzel zu beseitigen, den wahren Grund für die äußeren Symptome der Krankheit zu finden.

Anfang Dezember 1991 erreichte eine überanstrengte Filmcrew mit fünf Jeeps und einem kaputten Unimog die Stadt Agadez. Als Regieassistentin war ich ein Teil dieser verwirrten und zerstrittenen vierzehnköpfigen Horde. Unser Regisseur und Produzent, dem wir diese Reise verdankten, hatte sich auf den dreitausend Kilometern Fahrt in einen hemmungslosen Egoisten verwandelt. Vielleicht jedoch hatte ihm die Sahara nur einige dünne Häutchen Zivilisation abgestreift und einen Menschen freigelegt, der auch zuvor nie an andere gedacht hatte und keine Verantwortung übernehmen wollte.

Vierzig lange Tage hatten wir die große Wüste von Tunesien aus über Algerien bis in den Niger durchquert, immer auf der Suche nach Bildern und Geschichten. Agadez war während der letzten siebenhundert Kilo­meter zu einem magischen Begriff geworden. Die Farb­losig­keit des sozialistischen Algeriens hatte sich schwer auf unsere Stimmung gelegt.

Inzwischen liebe ich dieses Land, habe auf meh­­re­ren Reisen immer und überall unendliche Gast­freundschaft genossen, neue Freunde gewonnen und beginne die Gesetzmäßigkeit der Zurückhaltung von Farbe und Form nach außen hin zu verstehen. Under­statement für den Fremden. Gold und Samt für den Freund, der Zutritt zur Innenwelt, dem Haus erhält.

Damals jedoch blieben wir Fremde und brannten darauf, die Grenze zur Republik Niger zu überschreiten und in Agadez anzukommen. Dort sollte es so Banales, aber heiß Ersehntes wie Bananen geben. Agadez, das war für uns das Zauberwort für die Erlösung von allen Strapazen. Endlich sollte ich die Stadt sehen, die der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth am 10. Oktober 1850 als erster Europäer betrat: «Nur durch Zufall hat diese Stadt bei den Europäern nie so starkes und romantisches Interesse erweckt wie ihre Schwesterstadt Timbuktu», schrieb er damals.

Wir wurden nicht enttäuscht. Le Pilier lockte, ein bemerkenswertes italienisches Restaurant weit weg vom Michelin. Dafür leuchtete Nacht für Nacht der unglaubliche Sternenhimmel über dem offenen Innenhof. Die Erinnerungen an Algerien verblassten. Draußen warteten Prostituierte aus Ghana. Sie sind inzwischen verschwunden. Die schlechte Sicherheitslage hat ihnen das Geschäft verdorben. Kaum ein Tourist verirrt sich noch in die Stadt, kein Kunde, der schnelles Geld bedeutet und erst recht kein weißer Mann, der den geheimen Wunsch nach sozialer Sicherheit durch Heirat nähren könnte. Die schwitzenden Prinzen bleiben aus.

Im Jahr 1991 war ich ständig auf der Flucht vor un­ermüdlich phantasievollen Händlern. Einen Blick zu ris­kieren, hieß lange Diskussionen heraufzubeschwö­ren. Warum war ich hier, wenn ich nichts kaufen wollte? Weiße Haut muss Geld haben. Die «erste» Welt ist reich. Kinder kannten nur ein französisches Wort und schrien es ununterbrochen: «Cadeau, cadeau … Ge­schenk, Geschenk …»

Einmal entkam ich mit knapper Not Booboo, einem Zwei-Meter-Mann, der am Vortag fünf Touristen ein traditionelles Entenessen für hundert Euro angedreht hatte. Ein guter Bauarbeiter im Niger verdient pro Tag etwa drei Euro. Die halbe Ente war eine ganze Ratte. Bis heute sitzt Booboo ab und an im Gefängnis. Manchmal dauert es keinen Monat, bis er erneut bei einer Gaunerei erwischt wird. Er ist ungeheuer vielseitig und einfallsreich. Nur die Ware ist immer gestohlen, wertlos oder existiert überhaupt nicht.

Am 10. Dezember packte mich, als ich einen Mo­ment unaufmerksam war, ein kleiner, staubiger Junge bei der Hand und versicherte mir seine Freundschaft: «Madame, echter Silberschmuck?» Ich war erschöpft und neugierig und ließ mich mitziehen. Wir landeten vor einem staubigen Lehmhaus in der Nähe des grossen Marktes. Ein handgemaltes Holzschild – Bi­joutier Artisan – hing über dem Eingang. Der Junge klopfte, die Tür aus Wellblech öffnete sich. Ein älterer Herr mit blauem Turban und weinroten Ledersandalen gab dem Jungen ein paar Münzen. Die Tür wurde geschlossen. Ich war in der Falle, allein mit dem Kel Tamaschek Mohamed. Notgedrungen folgte ich ihm durch die dunkle Werkstatt, in der sechs Schmiede hinter einem gleichmäßig zischenden Blasebalg arbeiteten, in einen kleinen Innenhof. Ein beeindruckendes Vor­hängeschloss wurde entfernt, die dünne Tür geöffnet. Dahinter lag ein Raum von zwei mal drei Metern. Alibabas Höhle: Nickel, Kupfer, Messing und Silber. Karneol, Ebenholz und Glasperlen. Ringe, Ohrringe, Armreifen, Ketten, Schwerter, Messer, Amulette und Schlösser der Kel Tamaschek. Altes und Neues, filigrane Silbertiere, Ga­zel­len, Wüstenfüchse und Kamele. Tiefrotes Leder mit langen Fransen und türkisfarbenen, weißen und gelben Ornamenten. Kissen, Säcke, Taschen, ein Sattel mit dreigezacktem Knauf und hoher Lehne. Mohamed redete ununterbrochen auf mich ein: «Nehmen Sie das. Oder das da. Das ist schön. Es ist nicht teuer.» Männer und Kinder drängten herein. Es war laut und eng. Alle wollten etwas von mir. Ich wollte nur in Ruhe betrachten.

Ein hochgewachsener, dünner Mann mit unglaublich großen und schmalen Füßen trat auf mich zu. Er lächelte unwiderstehlich und stellte sich vor: «Elhadji». Er war ohne Turban, jung, sehr attraktiv und sprach gut französisch. Er komplimentierte die Anwesenden mit höflichen Gesten und leisen Worten hinaus. Mohamed fragte noch: «Wollen Sie später unseren Tee trinken?» Ich bejahte, wandte mich den Schätzen zu, hatte endlich die Qual der Wahl. Elhadji beobachtete mich still, saß ruhig in der Hocke auf dem Boden und bewegte sich nicht. Ab und zu erklärte er die Bedeutung einzelner Stücke. Nach einer Stunde war meine Entscheidung getroffen: ein altes Agadezkreuz und ein silberner Ring, ähnlich dem Nasenring eines Kamels, der kunstvoll an einem Lederband befestigt war und um den Hals getragen werden sollte. Mohamed, Elhad­jis alter Vater, sollte mich künftig wiederholt mit dieser Kette aufziehen: «Willst du immer noch als Kamel herumlaufen?» Die Verhandlungen um den Preis dauerten, Umrechnungsfaktoren wirbelten durch meinen Kopf.

Dreizehn französischsprachige Staaten Afrikas be­nutzen den Fcfa, der bis 1993 von Frankreich gestützt wurde, einen stabilen Kurs hatte und auf Pariser Banken wie Westgeld eingetauscht werden konnte. Im Prinzip war es hier, im Gegensatz zu anderen afrikanischen Ländern mit nationalen Banknoten, für die Bürger kein Problem an Devisen zu gelangen und vereinfacht Handel mit dem Ausland, sowie innerhalb ihrer Währungsunion zu treiben. Da vorwiegend in Frank­reich gewechselt wurde, waren die entsprechenden Staaten gezwungen, hauptsächlich französische Wa­ren zu kaufen. 1993 wurde der Kurs des Fcfa freige­geben. Sein Wert sank binnen eines Tages um die Hälfte, hat sich aber inzwischen stabilisiert.

Der Handel in der Schmiede machte Spaß. Elhadji war zwar zurückhaltend und leise, aber sehr bestimmt in seinen Preisvorstellungen. Nach zähem, von langen Pausen des Schweigens unterbrochenem Hin und Her fanden wir eine ehrenvolle Einigung.

Ich verbrachte in den folgenden Tagen noch lange Stunden bei den Schmieden, ließ mich vom eintönigen Rhythmus der Hämmer und Feilen, dem leisen Klang ihrer Sprache verzaubern und trank viel Tee aus einfachen Schnapsgläsern.

An diesen Gläsern herrscht immer Mangel. Da die Hand, die das Glas reicht, oft nicht zurückgenommen wird, fühlt man sich zu schnellem Austrinken gedrängt. Der Tee macht süchtig. Die klebrige Flüssigkeit glänzt sanft wie Nordseebernstein. Auf ihr liegt weißer Schaum. Eine Köstlichkeit in der sonst so kargen Umgebung. Mit einem Hammer wird Zucker von einem weißglitzernden Zuckerhut abgeschlagen. Trockene grüne Teeblätter werden in der Handfläche oder im Glas abgemessen in eine kleine emaillierte Kanne geworfen und mit Wasser aufgegossen. Die Kanne stellt man auf glühende Holzkohle und wartet dann, bis der Tee aufkocht. Jetzt kommt der durch Erfahrung genau bemessene Zuckeranteil hinzu. Es folgt wiederholtes Umgießen, Abschmecken, Umgießen, Aufkochen, Um­gießen und Eingießen zwischen Teekanne und Glas. Auf drei Gläser hat der Gast Anspruch – das erste so bitter wie der Tod, das zweite so stark wie das Leben, und das dritte so süß wie die Liebe. Dieses Gleichnis wird Fremden in verschiedensten Variationen erzählt.

Elhadji, Hadj Sidi, Mohamed, Ata, Malouchounu, Hamilla – neue Namen bevölkern mein Gehirn und halten meine Gedanken gefangen als ich Agadez ein paar Tage später mit dem letzten Flugzeug der Air Afrique Richtung Europa verlasse. Danach hat die Re­bellion der Kel Tamaschek gegen die Regierung an Hef­tig­keit zugenommen. Die regulären Flüge in den Norden Nigers aus Paris wurden eingestellt.

Monate nach meinem ersten Abschied von Afrika, mit­ten im sonnig blauen bayerischen Herbst, erreichte mich ein Brief aus Agadez mit der Bitte um Hilfe. Seit Ausbruch der Rebellion im Mai 1990 im Niger und dem B­e­­ginn des bewaffneten Kampfes der Islamischen Heilsfront im April 1992 in Algerien hatte sich die Zahl der durchreisenden Touristen laufend verringert, bis sie ganz ausblieben. Die Schmiedefamilie saß auf ihren Silberwaren fest. Keiner wollte oder konnte mehr etwas kaufen.

Verunsicherung und Angst bestimmten das ehemals lockere und friedliche Stadtbild von Agadez. Plötzlich grenzten sich die verschiedenen Völker, vor allem die Haussa, Araber und Kel Tamaschek, bewusst voneinander ab und misstrauten einander zutiefst. Die staatlichen Militärs misstrauten grundsätzlich jedem Kel Tamaschek und verhafteten viele Unschuldige, da ihnen die echten Rebellen immer wieder entwischten. Wer nur verprügelt wurde, konnte von Glück sagen.

Die Schmiede mussten ein neues Konzept zum Überleben entwickeln. Es lag an Elhadji, mit dem Rest der Welt Verbindung aufzunehmen und neue Märkte zu erschließen, da er als einziger in der Familie eine Schule besucht hatte. Sein Vater Mohamed hatte früher alle seine Kinder im Aïr versteckt, um die Schulpflicht zu umgehen. Man glaubte, die Lehrer aus dem Süden würden die Nomadenkinder verderben. Diese Haltung sollte sich künftig rächen. Wegen fehlender Ausbildung gelangen Kel Tamaschek nur selten in entscheidende Positionen. Der älteste Bruder, Hadj Sidi, meldete Elhadji jedoch heimlich in der Schule an. Später entschuldigte er sich beim Vater: «Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht, aber wenn Elhadji nicht in der Schule erscheint, werden dich die Militärs leider abholen.» Was sollte der Alte dem entgegensetzen? Er hatte schon immer großen Respekt vor Uniformen und mied sie wie die Pest.

Dieser kurze erste Brief aus Agadez war ein Zei­chen. Wochen zuvor hatte ich begonnen, Material über die Tamaschekschmiede zu sammeln. Eine vage Idee für einen Dokumentarfilm war entstanden, wobei mir die Komplexität dieser völlig anderen Kultur immer mehr bewusst wurde. Heute weiß ich immer weniger und verstehe immer mehr.

Alle vier bis sechs Wochen landete nun ein dünner knisternder Luftpostumschlag mit sonnenbunten Brief­marken in meinem Münchner Briefkasten und kündete von einer fremden, fernen Welt. Das jedes Mal aus einem Schulheft herausgerissene, karierte Blatt war ungeübt und eng mit Kugelschreiber beschrieben. Anfangs bestanden diese Briefe aus langwierigen Grüßen und Fragen nach meiner Familie. Natürlich erkundigte sich Elhadji auch nach dem Wetter und nach meiner Befindlichkeit – wie stand es mit Müdigkeit, Gesundheit und Arbeit? Am Ende wurden dann erneut alle Familienmitglieder aufgezählt und mit besten Wünschen in jeder Beziehung bedacht. Von Elhadji selbst erfuhr ich wenig. Einerseits hatte er große Angst zu viel von sich und seiner Familie zu erzählen, da in Agadez der Ausnahmezustand herrschte und die nigrischen Militärs viel Post öffneten. Andererseits befremdeten ihn meine unbefangenen, typisch europäischen Fragen, die nicht mit den strengen Respektregeln seiner zurückhaltenden Kultur zu vereinbaren waren.

In seinem sechstem Brief schrieb Elhadji plötzlich «Liebe Schwester» statt, wie gewohnt, «Dear von Trotha». «Du» und «Sie» wirbelten nach wie vor wild durcheinander. «Liebe Schwester» war sicherlich ein erster Versuch, endlich eine ihm bekannte Form von Vertrauen für unseren Umgang zu schaffen. Dem stand viel im Weg. Ich bin «weiß». Ich bin eine Frau. Ich bin älter als er. Wir hatten keinen gemeinsamen kulturellen Hintergrund und keine gemeinsame Vergangenheit. Unsere Lebensumstände hätten kaum unterschiedli­cher sein können. Wir waren weder durch Freunde noch durch Familie verbunden. Das einzige, was uns verband, war zähe Neugier und die Kommunikation in einer fremden Sprache: erst Englisch und später Französisch. Ich antwortete mit «Lieber Bruder» und wählte das «Du». Langsam wandelten sich die Briefe immerhin so weit, dass Grüße und Wünsche nur noch die Hälfte des Platzes einnahmen und nicht mehr drei Viertel. Wir wollten uns viel erzählen, kannten uns aber noch nicht gut genug, um Unterschiede genau auszumachen und fein zu überbrücken. Das geschriebene Wort war dafür kaum der richtige Weg. Wie sollte ich ahnen, dass man sich in Agadez die Zeit zum Schreiben stehlen muss? Man ist nie allein. Alleinsein gilt als ungesund und schädlich. Ständig sind Familienmitglieder und Freunde zu Besuch, sie abzuweisen ist unmöglich. Um still für sich sein zu können, braucht man ein gutes Versteck. Es gibt keine Schreibkultur, obwohl die Kel Tamaschek eine eigene Schrift besitzen – das tifinagh.

Die Buchstaben gehen auf das altlibysche Alphabet zurück. Es wird erzählt, dass jeder einzelne Buchstabe – iggi ein Rätsel darstellt, während die Buchstabenfolge ein lesbares Wort – iggilain ergibt. Das Schriftbild ist sehr variabel und lässt dem Schreiber freie Wahl, ob er von oben nach unten, von unten nach oben, von rechts nach links oder von links nach rechts schreiben und, ob er zwischen den Wörtern ein Leerzeichen lassen will oder nicht. Schmiede und Schmiedefrauen beherrschen das tifinagh. Schmuckstücke werden häufig mit Inschriften wie: «Ich, Soundso, habe dieses Stück hergestellt» signiert. Dies ist eine der wenigen Formen, in der das Wort bei den Kel Tamaschek überdauert. Alte Manuskripte sind rar, und gedruckte Bücher gibt es erst seit einigen Jahren. Tifinagh wird verwendet, um Liebeserklärungen in den Sand zu schreiben, die ein Mann seiner Angebeteten nicht direkt sagen kann. Sie antwortet auf die gleiche Weise. Der Wind verwischt alle Spuren.

Elhadji wurde 1968 in Toudou, einem kleinen Lager in der Nähe von Agadez, geboren. Kurz darauf starb die Mutter, er war ihr neuntes Kind. Die älteste Schwester, Hadja Tata, nahm ihren Platz ein. Mohamed, der Vater, heiratete bald wieder, klagt aber häufig, dass keine andere seine erste Frau ersetzen konnte. Damals zog die Familie mit ihren Kamelen, Pferden, Schafen und Ziegen einige Kilometer außerhalb der Stadt im Sahel herum. Sahel ist ein arabisches Wort und bedeutet «Ufer», was es von alters her für die Nomaden der Sahara ist, da sie dort große Märkte und reiche Weidegründe für ihre Tiere finden. Die Schmiede arbeiteten im Freien unter einem schattenspendenden Bastdach. Ihre Kunden such­­ten und fanden sie.

1974, als Aussicht auf einen konstant wachsenden Saharatourismus bestand, kaufte der Vater Grund in Agadez und übersiedelte bald darauf. Elhadji denkt nicht gern an diese erste Zeit: «Wir waren erst einen Monat in der Stadt, als mein Vater mich das erste Mal auf den Markt schickte. Es gelang mir tatsächlich, eine kleine Tüte Zucker zu kaufen. Auf dem Rückweg, den ich so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte, fuhr mich ein Toyota an. Ich weiß nicht was geschah, aber plötzlich wachte ich auf, um mich herum standen lauter fremde Menschen. Schnell machte ich die Augen wieder zu und öffnete sie erst Minuten später einen winzigen Spalt. Zuerst sah ich Körper, dann ernste Gesichter. Ich kannte niemanden und hatte große Angst. Was wollten diese Menschen von mir? Sie sprachen davon, dass ich tot sei. Ich suchte einen Ausweg. Ein Körper entfernte sich, er brach den dichten Kreis von Feinden auf, eine Lücke wurde frei. Ich nutzte sie sofort und rannte, rannte um mein Leben, bis ich zu Hause war. Ich hatte wirklich Angst. Noch nie hatten mich so viele Menschen angeschaut. Noch nie war ich so allein. Draußen, weit weg von der Stadt, war alles einfach. Wir kannten die Landschaft, die Nachbarn und alle Tiere …»

Elhadji ging zur Schule. Er bestand eine Klasse nach der anderen und schaffte die Zulassung für die Universität. Mathematik, Physik und Chemie waren seine Stärke. Parallel dazu erhielt er zu Hause die langwierige Ausbildung zum Silberschmied. 1986 stand Elhadji vor der Wahl zu studieren oder nicht: «Ich habe mich entschieden, Schmied zu werden, weil mir die Arbeit Spaß macht. Außerdem hatte die Familie wenig Geld. Was sollte nach einem Studium aus mir werden? Ohne enge Beziehungen zu einem Politiker bekommt man keinen Job …

Eine durchaus realistische Einschätzung. Durch die Kolonialwirtschaft kam es in Afrika zu ungleichen Entwicklungen in den verschiedenen Volksgebieten, was Rivalitäten und Konkurrenzverhalten unter den Völkern schürte oder verschärfte. Daraus versuchten die Herrschenden, Vorteile zu ziehen – divide et impera. Einzelne Völker wurden als anderen überlegen betrachtet. Diese Auswahl übernahmen die Afrikaner im Laufe der Jahrzehnte schließlich selbst. Viele afrikanische Staatschefs scharen, um ihre Macht zu erhalten, Leute um sich, auf deren Rückhalt sie bauen können. Die Loyalität zum eigenen Volk und in erster Linie zur eigenen Familie hat meist Vorrang vor dem Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit. Im traditionellen Sinn ist das keine Amigo-Wirtschaft sondern soziale Verpflichtung. Alle wollen am Glück eines Angehörigen teilhaben, da im Falle eines Unglücks auch alle die Folgen tragen. Ein durchaus vernünftiges Verhalten in Ländern, in denen staatliche Strukturen wie Ausbildung, Sozialhilfe, Renten- und Krankenversicherung, medizinische Ver­sor­gung sowie Rechtsprechung nicht oder nur ungenügend funktionieren.

«Ein Tuareg sucht seine Abholer!», tönte im Sommer 1994 die Durchsage am Flughafen Frankfurt am Main. Elhadjis erster Besuch in Deutschland. Freunde hatten mehrere Schmuckausstellungen organisiert, nun sollten wir uns wiedersehen. Da stand er mit zwölf Kilo Silberschmuck in einer Plastiktasche schüchtern und bescheiden am Zoll. Schlank und hochgewachsen, in einen weiten bestickten Übermantel – tekatkat – eingehüllt, den großen Turban fest um den Kopf gewickelt und ein langes, prachtvoll verziertes Schwert über der Schulter. Selbst den hartgesottenen Zöllnern war so viel Naivität noch nicht untergekommen. Sie ließen ihn großzügig mit geringen Gebühren passieren.

Am ersten Abend wurde langsam gesprochen, aber auch viel und lange geschwiegen. Eine Zigarette nach der anderen landete zerdrückt im Aschenbecher. Familie und Essen schienen die unverfänglichsten The­men. Wir quälten uns durch schwierige Namen und unbekannte Gerichte, bis wir lachen mussten. Die erste Fremdheit verschwand. Elhadjis Schweigen war nun nicht mehr peinlich und wurde es auch nie wieder. Trotzdem gab es anschließend noch Momente, die viel Geduld und Ausdauer erforderten. Ich befremdete ihn, wenn ich ihn mit zu direktem Blick anschaute, oder mich einer seiner Bekannten um einen in meinen Augen unverschämten Gefallen bat und ich einfach ablehnte, statt mir eine gute Ausrede einfallen zu lassen. Mich hingegen irritierte, wie wenig Selbstbewusstsein er in manchen Situationen zeigte.

Betrat Elhadji damals eine Bank in der Haupt­stadt Niamey dann blickte er sofort zu Boden, zog die Schultern hoch und benahm sich so zurückhaltend und beinahe ängstlich, dass der Bankangestellte ihn unweigerlich schlecht behandelte. Der Kunde ist König. Diese sehr westliche Haltung brauchte er in Agadez nicht und hatte sie folglich nie gelernt. Dort gab es seinerzeit weder Banken noch Einkaufsparadiese mit festen Preisen sondern nur die Post und einen winzigen, überteuerten libanesischen Mini-Market. Libanesen, von denen in Westafrika mehr als 200.000 leben, kontrollieren vielerorts einen Großteil der Wirtschaft. In Agadez kauft man alles auf zwei großen Märkten ein. Jeder kennt jeden, Preise ergeben sich aus Stimmung und Geschick. Allmählich kommen jedoch kleine Supermärkte in Mode. Nur, dass man dort nicht handeln kann, will so mancher Kunde nicht verstehen.

Januar 1994. Es ist Montagnachmittag, zehn vor vier. Bald wird die große, moderne Bank Nia­mey ih­re mächtigen Glastüren öffnen. Ich brauche Geld. Auf der Straße warten viele Europäer sowie einige Einheimische in Anzug und Schlips. Sie sind vielfach teurer gekleidet als die «Weißen». Bettler versuchen ihr Glück. Uniformiertes Wachpersonal vertreibt sie. Ein täglich sich wiederholendes Schauspiel. Punkt 16 Uhr ist Einlass, schnell füllt sich das Gebäude mit lärmenden und drängelnden Kunden, geordnetes Schlangenstehen ist hierzulande nicht üblich. Ich frage mich durch die Schalter der großen Halle und lande endlich im Vorzimmer des Bankdirektors. Elhadji ist verstummt, seit wir die Bank betreten haben und schleicht wie sein eigener Schatten hinter mir her. Meine Master Card wird auf ein kleines Silbertablett gelegt, mit einem weißen Spitzendeckchen wie aus Großmutters Wäscheschrank zugedeckt und weggetragen. Ich muss viele Formulare ausfüllen und unterschreiben. Die Karte kommt zurück, anhand langer Computerlisten wird überprüft, ob sie gültig ist. Eine sehr beleibte Angestellte überwacht den Vorgang, das restliche Personal nähert sich ihr mit großem Respekt. Zwei Stunden vergehen. Die Angestellte begleitet mich mit sehr langsamen Schritten zum Schalter und wartet bis ich mein Geld bekommen habe: «Auf Wiedersehen und viel Glück.» Elhadji hat die ganze Zeit über kein Wort verloren: «Wir haben hier auch ein Konto, doch wenn ich Geld abheben möchte, gibt man mir keines.»