Die Entblößten - Marion Messina - E-Book

Die Entblößten E-Book

Marion Messina

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Beschreibung

Mit hellsichtiger Schärfe erzählt Marion Messina vom gesellschaftlichen Pulverfass, auf dem wir alle sitzen. Die alleinerziehende Lehrerin Sabrina stößt einen ihrer Schüler gegen die Wand. Und fragt sich später, wohin das System sie getrieben hat. Der parismüde Literaturwissenschaftler Paul gibt die Hoffnung auf einen prekären Job an der Uni auf und wird Fleischer in einem Großsupermarkt in der Ardèche. Seinen Freund Aurélien, Kastanienbauer in siebter Generation, zwingen die staatlichen Auflagen indes langsam in die Knie. Als der öffentliche Selbstmord eines Studenten zum Symbol aller Missstände wird und die Armee auf die protestierenden Massen schießt, stehen alle drei vor der Frage: In welcher Zukunft wollen wir leben - und zu welchem Preis?

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Das ist das Cover des Buches »Die Entblößten« von Marion Messina

Über das Buch

Mit hellsichtiger Schärfe erzählt Marion Messina vom gesellschaftlichen Pulverfass, auf dem wir alle sitzen. Die alleinerziehende Lehrerin Sabrina stößt einen ihrer Schüler gegen die Wand. Und fragt sich später, wohin das System sie getrieben hat. Der parismüde Literaturwissenschaftler Paul gibt die Hoffnung auf einen prekären Job an der Uni auf und wird Fleischer in einem Großsupermarkt in der Ardèche. Seinen Freund Aurélien, Kastanienbauer in siebter Generation, zwingen die staatlichen Auflagen indes langsam in die Knie. Als der öffentliche Selbstmord eines Studenten zum Symbol aller Missstände wird und die Armee auf die protestierenden Massen schießt, stehen alle drei vor der Frage: In welcher Zukunft wollen wir leben — und zu welchem Preis?

Marion Messina

Die Entblößten

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer

Hanser

Das Unglück ist aus sich selbst unartikuliert. Die Unglücklichen flehen schweigend darum, dass man ihnen Worte leiht, um sich auszudrücken. Es gibt Zeiten, wo sie nicht erhört werden. Es gibt andere, wo man ihnen Worte leiht, die aber schlecht gewählt sind; denn sie stehen dem Unglück, das sie deuten, fremd gegenüber.

Simone Weil, Die Person und das Heilige (1943)

Auch kann man zum Beispiel keineswegs den Zusammenbruch jeglicher Ordnung, den wir heute erleben, mit jenen Ereignissen vergleichen, in deren Verlauf die Welt nach dem Sturze Roms so verheert wurde. Wir sind heute nicht Zeugen des natürlichen Endes einer großen Kultur in der Geschichte der Menschheit, sondern Zeugen der Geburt einer unmenschlichen Zivilisation, die sich nach einer ungeheuren, maßlosen und die ganze Welt umfassenden Auslaugung der höchsten Werte des Lebens ausbreiten wird.

Georges Bernanos, Wider die Roboter (1947)

Diese »Konsumzivilisation« ist eine diktatorische Zivilisation. Wenn das Wort Faschismus am Ende die Arroganz der Macht bedeutet, dann hat die »Konsumzivilisation« den Faschismus gut verwirklicht.

Pier Paolo Pasolini, Scritti corsari (1975)

Las cosas son iguales a las cosas

Aquello que non puede ser dicho, hay que callarlo.

Zum Andenken an Jérôme Laronze.

Von Weitem meint man ein Kind zu sehen. Seine Röhrenhose schlackert um wadendünne Oberschenkel. Über der Achillessehne glüht rot ein verklemmter Reißverschluss auf. Die Beine zittern in einem harten, schnellen Rhythmus. Er hat sich den Schädel kahlgeschoren. Durch das Stoppelfeld seiner Haare zieht sich ein großflächiger Hautausschlag; seine Arme sind frisch tätowiert: die Verse des Vaterunsers, wie ein Spickzettel. Bis jetzt war er sich nicht sicher gewesen — vielleicht war es nichts als ein Gedicht.

Jetzt erst erlangt jedes Wort einen Sinn, der das äußerste Ende seiner Existenz markiert. Seine Hände zittern nicht. Der Unterkiefer auch nicht. Sein Blick richtet sich fest auf eine Themis-Statue, deren Namen er nicht kennt.

Vater unser im Himmel — seine Kehle bricht;

Geheiligt werde dein Name — er macht eine Pause, knirscht mit den Zähnen und rollt die Augen; Dein Reich komme — es komme schnell, ich flehe dich an;

Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden;

Unser tägliches Brot gib uns heute;

Und vergib uns unsere Schuld; er hält die Augenlider gesenkt, beugt den Oberkörper nach rechts, greift nach einem Kanister und gießt sich den Inhalt über den Kopf. Dies ist seine Taufe;

Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern — verzeih mir, Herr, denn ich verzeihe nicht.

Und führe uns nicht in Versuchung.

Und an dieser Stelle holt er sein Zippo-Feuerzeug hervor. Das von seinem Vater. Sie haben die gleichen Initialen.

Sondern erlöse mich von dem Bösen.

Der Geruch breitet sich aus, begleitet von einem unerträglichen Knistern. Man hört Schreie, jugendliche Wehklagen. Aus Lautsprechern dringt die Wartemusik der Feuerwehrzentrale. Dutzende Handys sind auf die lebende Fackel gerichtet — der Brand wird live übertragen.

Amen.

1

Am selben Tag, in einem Moment ohne Uhrzeit, meint Sabrina Toms Schreie erneut zu hören. Sie versucht sich zu strecken, aber ihr stocksteifer Körper droht zu zerspringen. Ihre eingerosteten Knie tragen sie bis ins Badezimmer. An den mit bläulichen Schimmelspuren überzogenen Wänden werfen sich geschwulstartige Feuchtigkeitsblasen auf. Die mit billiger Kosmetik und verwaschenen Handtüchern beladenen Regale drohen jeden Moment von der bröckelnden Gipswand abzufallen. Sie wirft der Literflasche mit dem Ei-Shampoo ohne Ei, das sie seit zwei Monaten immer weiter verdünnt, einen bösen Blick zu. Als Kind wurde ihr von diesem Shampoo mit seiner rotzartigen Konsistenz und seinem Lösungsmittelgeruch schlecht. »Ei-Shampoo« steht in hässlichen Buchstaben auf dem Etikett, wie von einem Kind geschrieben, das mit der Schönschrift auf Kriegsfuß steht. Der Anblick dieser Flasche treibt ihr die Galle hoch. Ich habe alles getan, was man mir gesagt hat. Alles richtig gemacht.

Im Badezimmer kommt ihr Körper ihr vor wie ein Wrack. Sie ist hübsch — oder vielleicht sollte man eher von Charme sprechen: eine dichte Haarmähne mit kleinen Löckchen um das Gesicht und großen Locken dahinter, eine Hakennase, die ihrem abgezehrten Gesicht Charakter verleiht, feine Züge, ein Mund mit einer etwas zu vollen Unterlippe, wohlgeformte kleine Zähne, abgesehen von dem schief stehenden Eckzahn rechts, dichte, klar gezeichnete Augenbrauen (leicht dachförmig und zu den Schläfen hin auslaufend), zarte Gelenke, für ihre Morphologie etwas zu kräftige Oberschenkel. Die natürliche Schönheit hat etwas Faules, etwas Anstößiges — das hat sie jedes Mal gespürt, wenn ein Mann ihr ein ganz gewöhnliches, gerade mal süßes (und auch das nicht immer), aber herausgeputztes Mädchen gezeigt und als hübsch bezeichnet hat.

Das orangegelbe Badlicht lässt ihre Pickelchen und den leichten Flaum an ihrem Unterkiefer hervortreten. Sie fühlt sich haarig, ungepflegt; ihr einziges weißes Haar scheint ihren gesamten Schopf zu verfärben; sie hat sich bei einem billigen Frisör blonde Strähnen machen lassen; die leichte Furche zwischen ihren Augenbrauen scheint ihr bis auf den Knochen zu reichen. Ihre Kleider verlieren bei der ersten Wäsche Form und Farbe. Sie sind schlecht geschnitten, schlecht genäht — sie schmeicheln ihr nie. Ihre wenigen guten Stücke hat sie über einen Secondhand-Online-Shop verkauft und sich dabei geschworen, sie zurückzukaufen. Sie könnte nicht sagen wie, aber sie weiß, man sieht ihr von Weitem an, dass sie kein Händchen dafür hat, sich zurechtzumachen, dass sie es nicht wert ist, umworben zu werden. Sie sendet nicht die richtigen Signale aus, damit die Männer ihr Rad schlagen. Dieses freie Wochenende kommt zur falschen Zeit. Sie hätte sich liebend gern um die Kleine gekümmert, ihr bei den Hausaufgaben geholfen und Crêpes gebacken. Auch wenn sie schon seit einer Weile nicht mehr lacht, wenn ihre Mutter sie unter Trommelwirbelgeräuschen in der Luft wendet.

Lina ist Sabrinas ganzes Leben. Eine knochige Kleine, deren Übertritt in die sechste Klasse ihre Mutter in abgrundtiefe Melancholie gestürzt hat. Ein sehr junges Mädchen mit dem Auftreten einer Dame und der Naivität eines Kükens. Es wird nicht mehr lange dauern und sie wird Sabrina um eine Handtasche bitten, um ihre Schulsachen darin zu verstauen. Die Interessen ihrer Tochter haben sich in eine Sphäre verlagert, die ihr verschlossen bleibt: ein Handy, das von seiner jungen Besitzerin mit mehr Zartgefühl behandelt wird, als sie es je für ihre Babypuppen aufgebracht hat. Das kleine Gerät ist zu ihrem Tresor geworden, eine Erweiterung ihres Geistes, und hat das Ende der Eintracht zwischen ihnen eingeläutet. Es war ein Geschenk ihres Vaters, damit seine Prinzessin und er sich gegenseitig Herzchen schicken und Gute Nacht sagen können. Noch vor Kurzem konnte das Kind nicht ohne ein Kosewort der Mutter einschlafen.

Ihr Exmann sagt es ihr nicht ins Gesicht, aber er denkt, dass sie Lina schlecht erzieht, dass die Kleine, die ihre Hausaufgaben kniend am Sofatisch erledigt, nicht über die nötigen Voraussetzungen verfügt, um in der Schule Erfolg zu haben. Für ihn ist Erziehung ein technisches Problem, dem man mit dem richtigen Material, mit der entsprechenden Gebrauchsanweisung beikommen kann. Damit ein Kind glücklich ist, muss man mit ihm in den Park gehen, aus seinem Geburtstag eine Riesenfeier im kalifornischen Stil machen, die wochenlange Organisation erfordert, Knabbereien zwischen den Mahlzeiten einschränken, Fernsehen verbieten, Bastelaktivitäten veranstalten, Bücher kaufen — das Verfahren ist aufwendig, aber einfach, und ein Vater kann sich darin als besser erweisen als eine Mutter. Dem Kind gegenüber gibt es keine Unterschiede zwischen einem Mann und einer Frau. An den Wochenenden sorgt er dafür, dass er nicht erreichbar ist; er hat Angst, die Kleine zu traumatisieren, wenn er ihr nicht seine gesamte Aufmerksamkeit widmet.

Lina fotografiert sich gern im Licht einer Glühbirne. Ihr Ziel ist ein engelhafter Teint (sie kennt das englische Wort dafür, flawless), sanfte Rehaugen, perfekte Lippen, neckischer, vielversprechender Schmollmund — worin das Versprechen besteht, darüber wagt Sabrina nicht nachzudenken. Sie weiß nicht, wie sie ihre Tochter dazu bringen soll, ihren Stil zu ändern. Sie leidet darunter, wie ihr Kind sich von nail-art- und playback-Videos faszinieren, ja betören lässt, von all dieser Leere, die dem Leben Stunden raubt, ohne dass irgendetwas dabei herauskommt. Im Gesicht sehen sie sich ähnlich. Ihre Lockenschöpfe unterscheiden sich nur um einen halben Farbton. Sie haben die gleichen halbmondförmigen Augen, schwarz und haselnussbraun. Seit einiger Zeit führt die Kleine ein eigenständiges Leben, immer mehr ihrem Vater zugewandt, als wolle sie sie verleugnen. Sabrina wirft einen Blick auf ihr Handy: nichts Neues, nur eine Benachrichtigung von France Travail, ein Jobangebot für zwei Tage in einem Amazon-Lager, zweiunddreißig Kilometer von Paris entfernt (Schwerbehinderte bevorzugt).

Als Nicolas gegangen ist, hat sie mit einiger Mühe eine Wohnung an der Place des Fêtes ergattert, zwei schlecht isolierte Zimmer, in denen sie ausharrt, bis sie eine Sozialwohnung zugewiesen bekommt. Die Wartezeit für einen Antrag wie den ihren beträgt in Paris im Schnitt acht Jahre; es gibt keine für die Lehrerschaft reservierten Wohnungen mehr. Lina bewohnt das kleine Schlafzimmer, in dem Kleider, Haarschmuck, Diademe und Plastikzauberstäbe, Schulbücher und Hefte in bunten Regalen untergebracht sind. An der mit phosphoreszierenden Sternen beklebten Decke hängt ein Phönix aus Papier. Er thront über einem Himmelbett mit pinker Bettwäsche und schönen Stofftieren, die Lina nicht mehr anschaut.

Sobald das Kind schläft, kaut Sabrina an ihren Fingernägeln und tippt auf ihrem Taschenrechner herum, um bis auf den letzten Cent kalkulierte Überlebensbudgets zu erstellen. Die schwierigen Monatsenden beginnen immer früher; Fleisch kauft sie nur noch für die Kleine. Halal, weil es billiger ist — die Metzger kennen sie und bieten ihr manchmal Reststücke zum Sonderpreis an. Sie muss sich zwischen Waschmittel und Milch entscheiden. Sabrina fühlt sich schmerzlich an ihre Kindheit erinnert: das Einkaufen in trostlosen Lagerhallen, das Knistern der Neonröhren, die Großpackungen, die Kartons, die man selbst öffnen musste, die noch auf der Palette gestapelten Waren, ihre eigene Mutter, die an der Kasse manche Artikel wieder aussortierte, ihr bleiches Gesicht, wenn der Gesamtpreis angesagt wurde, ihre vor Scham bebende Stimme. Es tut mir leid, ich habe mich verrechnet, können Sie die Butter herausnehmen? Entschuldigen Sie bitte, tut mir leid.

Ein Buch fällt ihr aus den Händen, als ihr Hirn wieder anläuft und hohlzudrehen beginnt. Wieder der Bengel — und sie verspürt leise Scham, als sie dieser Rotzbengel denkt. Sabrina beschließt, aus dem Haus zu gehen, kommt aber nicht weiter als bis zum kleinen Supermarkt um die Ecke. Der einzige Angestellte hockt mit Kopfhörern auf den Ohren vor den Regalen, die er auffüllen muss; er sieht sie nicht. Sie bezahlt ihre Einkäufe an der SB-Kasse; eine künstliche Stimme wünscht ihr im Namen der Ladenkette einen schönen Tag. In den Armen trägt sie eine Dose Ravioli mit Rindfleischfüllung, eine Tube Tomatenmark, eine biologisch abbaubare Pappschale, die vom Saft zweier Fischfilets im Sonderangebot durchgeweicht ist, und eine Bierdose mit einem gefakten deutschen Klosternamen; sie hat vergessen, eine Einkaufstasche mitzunehmen, und sich geweigert, sechzig Cent für eine Papiertüte zu bezahlen.

Sie beschließt, nach Hause zu gehen, um ihre Einkäufe abzustellen und ein Bier zu trinken; dann wird sie wieder hinausgehen, um sich weiter die Beine zu vertreten. Auf dem kurzen Rückweg kommt sie an drei Bildschirmen vorbei. Auf einem davon läuft eine Werbung, die eine freche Göre mit Zöpfen zeigt, die ihrem Vater, Typ Buchhalter mit Bauch und Glatze im kurzärmeligen Hemd, eine Kaugummiblase vor der Nase zerplatzen lässt. Keiner nimmt dich ernst? Probier’s mit Swix. Swix, die Marke, die dich respektiert.

Zurück zu Hause wirft sie einen Blick auf den dünnen Roman, der auf dem Boden gelandet ist. Es gab eine Zeit, in der sie abends dies und das las; nichts Großartiges, aber ehrenwerte Lektüren: Simenon, Christie, einmal im Jahr Giono. Am Anfang ihrer Karriere hatte sie in den höheren Klassen »Die Katze« von Baudelaire auswendig lernen lassen und sich beglückt wieder in Die Blumen des Bösen vertieft; in der Grundschule hatte sie den größten Kindern lange Marcel Aymés Kater Titus erzählt zu lesen gegeben. Das ist alles vorbei: Mit der Zeit war es immer schwieriger und schließlich unmöglich geworden, ihre Aufmerksamkeit länger als fünf Minuten aufrechtzuerhalten.

Sie sind unfähig, an irgendetwas dranzubleiben; sie fühlen sich gedemütigt, wenn sie etwas nicht gleich verstehen. Ihre Eltern reagieren beleidigt, wenn sie eine schlechte Note bekommen; bei der leisesten Kritik an ihrem Kind bekommen sie Zustände wie reizbare Diven. Wenn es darum geht, etwas Neues zu entdecken, fragen die Schüler, was ihnen das nützen wird. Sie kennen den Preis aller Dinge. Sie sind zu Gewalt bereit, auf Konkurrenz gedrillt, durch die Sprache des Internets formatiert. Mehr als alles andere fürchten sie Rassismus, aber sie haben das Gesetz des Dschungels verinnerlicht — sie träumen davon, durch Sport, Kino, Reality-TV, institutionelle Kunst oder Start-ups Millionär zu werden.

Die Eltern, höhere Angestellte, die es in die Stadtviertel am Rand des Autobahnrings verschlagen hat, werfen ihr vor, dass sie nicht genug alternative Pädagogik einsetzt. Dauernd führen sie Montessori im Mund, von der sie nur die Sandpapierbuchstaben und die Bildkarten kennen. Sie sind zwar glücklich, ihre Sprösslinge abzugeben, diese schon im Mutterleib von ehrgeizigen, verbiesterten Eltern überstimulierten Kinder, lassen es sich aber nicht nehmen, die Schule mit einem Gefängnis zu vergleichen, während sie ihren Bälgern den Terminkalender bis zum Anschlag vollstopfen. Diese Halbgebildeten mit ihren subalternen Jobs in Werbe- oder PR-Firmen halten mit ihrer Verachtung für Sabrina, die genauso lange studiert hat wie sie, nicht hinterm Berg; sie betrachten sie als Kinderfrau, die der Staat ihnen zur Verfügung stellt, und verhalten sich ihr gegenüber wie unzufriedene Kunden.

Da sind Sabrina die traditionellen Eltern mit Migrationshintergrund lieber; die respektieren sie und sehen sie als die große Intellektuelle, der sie in ihrem Alltag begegnen. Aber diese Eltern werden immer seltener; sie assimilieren sich unweigerlich und betrachten die Schule am Ende ebenfalls als eine Bahnhofshalle, in der sie ihre Kinder abliefern. Egal, wenn diese lese- und schreibunkundig wieder herauskommen, unfähig zu erzählen, womit sie ihre Tage zubringen; egal, dass ihre Lehrer eine schwierige Prüfung ablegen mussten, um eingebildeten Rotznasen den Unterschied zwischen Infinitiv und Partizip Perfekt beizubringen. Die paar Schüler mit einer nicht stimulierten, sondern natürlichen Intelligenz müssen von der ersten bis zur neunten Klasse die gleichen Übungen wiederholen — nur das Blabla drum herum wird ausgebaut, um den Schwindel zu bemänteln. Die Lehrer sollen bitte Wunder bewirken; schließlich haben sie den ganzen Sommer Ferien. Während die Honorarkräfte am Strand Krapfen verkaufen oder als Tellerwäscher in den Muscheln-mit-Pommes-Kaschemmen an der Küste arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Auch wenn sie die nötigen Mittel hätte, um mit ihrer Klasse Ausflüge zu machen, könnte sie es nicht mehr tun. Die Versicherungen sind zu teuer, die Eltern die nötigen Genehmigungen unterschreiben zu lassen ist zu mühsam — die einen suchen das Haar in der Suppe wie Juristen, nur um sie in Verlegenheit zu bringen, die anderen können der verwaltungstechnischen Sprachakrobatik nicht folgen. Einmal musste sie an einem Sonntag in der Schule vorbeigehen, um das Ladegerät ihres Handys zu holen. Sie nahm Lina mit, weil sie anschließend mit ihr in den Parc des Buttes-Chaumont wollte. Die Kleine rutschte aus und verstauchte sich den Knöchel — und Sabrina musste sofort daran denken, dass sie sich regelwidrig verhielt: Ihre Tochter war für Unfälle im Schulgebäude nicht versichert. Im Nachhinein war sie erschrocken: Ihre erste Reaktion war nicht die einer Mutter gewesen, sondern die einer Kinderverwalterin.

Am Montag wieder arbeiten zu gehen ist unmöglich. Um Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen muss man feilschen wie um die Freilassung von Geiseln. Sie muss kündigen. Sie will nicht mehr mit einer feigen Schulverwaltung verhandeln, die ihr mit Fehlern gespickte E-Mails schickt. Sie ist nicht mehr in der Lage, unausstehliche Eltern zu ertragen, die überzeugt sind, einen Einstein auf die Welt gesetzt zu haben; die Gesellschaft von Eltern auszuhalten, die nett sind, aber kein Wort Französisch verstehen; ihr Berufsvokabular auf den neuesten Stand zu bringen wie eine Handelsvertreterin; Kinder aufzunehmen, die anderswo besser aufgehoben wären; von allen Seiten Vorwürfe abzubekommen; für privilegiert gehalten zu werden; mehr schlecht als recht von allem ein bisschen zu machen, nur nicht ihre eigentliche Arbeit.

Tom. Der Junge geht ihr nicht aus dem Kopf. Hat er Schmerzen? Werden seine Eltern Anzeige erstatten?

Seit zwei Jahren erstattet man online Anzeige oder über eine App — und es hat nie irgendwelche Folgen. Die Polizisten sind mit Ausweiskontrollen auf der Straße beschäftigt, genauso wie die Soldaten, die man in Sicherheitsbeamte verwandelt hat, die Hand träge auf einem verdreckten Maschinengewehr ruhend. Die Attentate von 2024 am Châtelet haben die Polizeireviere und Kasernen geleert. Die Drogendealer verstecken sich nicht mehr; trotz aller offiziellen Reden gegen sexistische Gewalt explodiert die Zahl der Vergewaltigungen. Niemand empört sich darüber, mehrmals am Tag seine Papiere vorzeigen zu müssen, oder seinen Impfpass, ohne den man kein Verwaltungsgebäude mehr betreten darf. Ein Dokument in Form eines QR-Codes, das Personalausweis, Reisepass, Radführerschein, Autoführerschein, Impfpass, gegebenenfalls Jagdschein, Waffenschein, Angelschein, Bootsschein in sich vereinigt, ist in der Testphase — die Eilfertigsten können ihre Bank bitten, auch ihr Girokonto damit zu verbinden.

Sabrina geht wieder hinaus. Sie denkt, es wäre gut, am nächsten Tag nach Meaux zu fahren. Sie wird ihrer Mutter Blumen kaufen. Auf der Straße brodelt es. Ein wütendes Grollen und Knistern, das von verzweifelten Rufen zerrissen wird. Die Ladenbesitzer haben ihre Waren hereingeholt; die E-Scooter-Fahrer sind abgestiegen und starren auf ihr Handy; die Gespräche klingen seltsam. Die Gesichter wirken verstört, sie blickt in vor Schrecken aufgerissene Augen; die Frauen ziehen sich ihre Halstücher oder Schals vors Gesicht, um ihre Tränen vor den Blicken der Passanten zu verbergen. Auf den drei Werbebildschirmen, an denen Sabrina vor nicht einmal einer Stunde vorbeigekommen ist, ist ein verbrannter Körper zu sehen, der von Feuerwehrleuten pietätvoll mit einem strahlend weißen Laken zugedeckt wird. Darüber steht in pissgelben Großbuchstaben: Paris, 14. November. Student verbrennt sich selbst.

2

In gewöhnlichen Zeiten klingen die Absätze der Präsidentin auf dem Wachsbetonboden des grünen Salons so ähnlich wie ein Buntspecht, der mit seinem Schnabel gegen einen hohlen Baumstamm trommelt. Die hagere, aufrechte Frau pflegt hier auf und ab zu gehen — hier und nirgendwo anders, weswegen die politischen Journalisten den Raum scherzhaft die Wandelhalle getauft haben. Die Präsidentin verlässt ihre Gemächer nur auf schwindelerregend hohen Stöckelschuhen — ein hart erkämpfter Sieg über eine Hüftdysplasie, an den sie mit jedem Schritt erinnern will. So wie manche an Phantomschmerzen leiden, hängt der Präsidentin ein abgehackter, gequälter Gehrhythmus an, den sie trotz einer kognitiven Verhaltenstherapie einfach nicht loswird. Sie bewegt sich in einem ternären Rhythmus vorwärts, der ihr den Spitznamen »die Mazurka« eingetragen hat.

An diesem Tag allerdings läuft die Präsidentin in orthopädischen Schuhen durch die Gänge. Sie trägt eine Trainingshose aus violettem Satin und trotz der Frische des frühen Abends ein ärmelloses T-Shirt, das ihre ausgeprägten Deltamuskeln zur Geltung bringt. Im goldenen Salon stößt sie zu ihren engsten Beratern und programmiert auf der quadratischen Uhr, die mit einem dezenten Armband aus pflanzlichem Leder an ihrem Handgelenk befestigt ist, die Boxen in den vier Ecken, um den Raum mit einer beruhigenden Mischung aus Trip-Hop und tibetischen Klangschalenklängen zu fluten. Sie weiß, dass ein junger Mann sich vor ein paar Stunden auf spektakuläre Weise umgebracht hat, nur ein paar Meter von der Nationalversammlung entfernt. Und das ist noch nicht alles: Der Junge hat an alle Redaktionen, alle sozialen Netzwerke, alle Videoportale ein Bekenntnis geschickt, in dem er die Namen seiner vorgeblichen Peiniger nennt. Auf das »vorgeblich« legt die Präsidentin wert. Es gibt keinerlei Rechtfertigung für diesen Masochisten, der sich mit Benzin übergossen hat und … Sie bringt ihren Satz nicht zu Ende. Eine vage Geste deutet an, dass für sie alles klar auf der Hand liegt: Wenn er ein Opfer gewesen wäre, dann wäre er am Leben geblieben, um die Justiz am Werk zu sehen.

Ihre Berater haben die Bankkonten, die Noten und Beurteilungen seiner Zeugnisse von der ersten Klasse bis zum letzten Jahr seines unabgeschlossenen Studiums durchforstet. Des Rätsels Lösung liefert schließlich die medizinische Akte, die den Konsum von Antidepressiva in den vergangenen Monaten belegt. Die Spur der psychischen Störung: ein unverhoffter Glücksfall. Enzo Brunets Name ist die häufigste Suche im Internet. Seine komplette Biografie steht online.

Er ist in Le Cheylard in der Ardèche geboren, einer nicht ganz gottverlassenen Stadt, in der es jedoch nicht mehr viel gibt. Das Krankenhaus und die Post sind im letzten Jahr geschlossen worden. Kein südländischer Ziegenhirte also, sondern ein Kind der Einfamilienhaussiedlungen, das bestimmt davon träumte, dass seine Mutter ihm einen Geburtstag im Fastfood-Restaurant mit Bällebad organisierte. Mist, nicht gut für die Identifikation, sagt sich die Präsidentin und dreht die Lautstärke von Unfinished Sympathy auf. Ein reiner Durchschnittsfranzose, bis in die Fingerspitzen, mit dem tätowierten Stern auf dem Ellbogen und dem sich bei jedem Schritt öffnenden Hundemaul auf dem Knie. Dazu noch Waise. Der Vater Landwirt, der sich mit Medikamenten umgebracht hat, bevor der Junge laufen konnte. Die Witwe, die den Hof für einen Apfel und ein Ei verkaufen musste, um nicht auf einem Schuldenberg sitzenzubleiben. Alleinerziehend mit dem Gehalt einer Arzthelferin. Die Mutter ist eine tapfere Frau — die Präsidentin schiebt den Moment hinaus, da sie das Video ihrer Reaktion auf der Webseite des Regionalblatts Le Dauphiné libéré wird anschauen müssen.

Der kleine Brunet ist ein Einzelgänger, wird jedoch von Onkeln und Tanten beider Seiten der Familie liebevoll umsorgt. Er ist ein guter Schüler, über den es nichts weiter zu sagen gibt, er besteht sein Abitur und bewirbt sich dann um ein Medizinstudium in Lyon. Der für die Verteilung der Abiturienten zuständige Algorithmus erteilt seine Zustimmung. Daraufhin wird eine Flasche Clairette geköpft. Der Staat gewährt ihm eine Beihilfe, die nicht einmal für die Miete eines heruntergekommenen Wohnklos in einem Studentenheim im Dresdner Nachkriegsstil reicht. Seine Mutter spart sich jeden Monat dreihundert Euro vom Mund ab, um sie ihm zu schicken. Dazu arbeitet er jedes Wochenende abends in einer Bar im Viertel Croix-Rousse und drei Tage in der Woche mittags in einem Bistro, wo er auf jedes Trinkgeld lauert und manchmal sogar das einstreicht, das nicht ihm zugedacht ist. Wie nicht anders zu erwarten, besteht er das erste Jahr nicht, und die neue Politik der »Meritokratie« verlangt von denen, die sich ihrem Studiengang nicht gewachsen zeigen, beim ersten Fehlschlag das Feld zu räumen. Er kehrt gesenkten Hauptes und mit zusammengebissenen Zähnen zurück nach Hause.

Wenn man im ersten Studienjahr durchfällt, kann man sich kein zweites Mal an einer öffentlichen Universität einschreiben. Dazu verbünden sich noch alle Planeten gegen sie, und die Witwe Brunet erhält eine Krebsdiagnose. Die Brust. Kaum hat sie es erfahren, fragt sie ihn: Meinst du, ich habe dich nicht lang genug gestillt? Sie verweigert sich das Recht zu sterben — das Los ihres Jungen macht ihr mehr Sorgen als der Zustand ihrer schadstoffverseuchten Brüste. Solange die Behandlung dauert, fährt er das Auto, kauft ein, füllt alle Formulare aus, wartet am Telefon, bis er endlich ein menschliches Wesen in der Leitung hat, das ihm in bedauerndem Ton mitteilt, es könne nichts tun — sei es, weil der Vertrag nicht vorsieht, worum man bittet, oder weil das Programm es nicht erlaubt, eine bestimmte Information einzugeben.

Nach den Chemotherapie-Sitzungen ist die Witwe Brunet zu schwach, um auf die Toilette zu gehen, und beschmutzt sich unter erstickten Tränen. Ihre Schwestern legen zusammen, um im Internet eine Perücke aus China zu bestellen: ein glatter Pagenkopf aus falschen Haaren, die aus Angelschnur zu bestehen scheinen. Enzo versucht, von der Krankenkasse einen Teil erstattet zu bekommen. Ein virtueller Helfer, dafür programmiert, einem den Mut zu nehmen, antwortet ihm immer wieder, dass die Perücke zu 30% aus Echthaar bestehen oder das Kunsthaar auf mindestens 30 cm2