Fehlstart - Marion Messina - E-Book

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Marion Messina

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Beschreibung

„Houellebecq hat eine Erbin.“ (Marianne). Marion Messina blickt auf das Leben und Scheitern einer jungen Frau in Paris – ihr furioses Debüt ist ein Stich ins Herz unserer krisengeschüttelten Gegenwart.

Als ihre erste Liebe scheitert, zieht die neunzehnjährige Aurélie von Grenoble nach Paris. Dort will sie endlich in vollen Zügen leben und mit ihrem Jurastudium die provinziellen Arbeiterbiographien ihrer Eltern hinter sich lassen. Aber in Paris reicht es gerade mal für einen Job als Empfangsdame, der Wohnungsmarkt entpuppt sich als anarchische Zone und die Liebe ist eine Farce zwischen freundlichen Arrangements und Pornographie. Doch dann setzt Aurélie alles auf Anfang. Voll Zorn, Klarsicht und gnadenloser Ironie blickt Marion Messina auf das Leben einer jungen Frau und ins Innerste einer neuen verlorenen Generation. „Ein furioses Debüt; beißend und unverschämt gut geschrieben“ (Le Monde).

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Über das Buch

Als ihre erste Liebe scheitert, zieht die neunzehnjährige Aurélie von Grenoble nach Paris. Dort will sie endlich in vollen Zügen leben und mit ihrem Jurastudium die provinziellen Arbeiterbiographien ihrer Eltern hinter sich lassen. Aber in Paris reicht es gerade mal für einen Job als Empfangsdame, der Wohnungsmarkt entpuppt sich als anarchische Zone und die Liebe ist eine Farce zwischen freundlichen Arrangements und Pornographie. Doch dann setzt Aurélie alles auf Anfang. Voll Zorn, Klarsicht und gnadenloser Ironie blickt Marion Messina auf das Leben einer jungen Frau und ins Innerste einer neuen verlorenen Generation. »Ein furioses Debüt; beißend und unverschämt gut geschrieben« (Le Monde).

Marion Messina

Fehlstart

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Carl Hanser Verlag

Für Jean, Micheline und Antoine

Ser terco. Insistir

1

Alejandro war mit dem trockenen Mund und dem Halbsteifen eines verkaterten Morgens aufgewacht. Als er sich mühsam streckte, berührten seine schmalen Handflächen den Balken, der durch das einzige Zimmer seiner Wohnung lief. Er hatte Hunger. Der bei Emmaus gekaufte Kühlschrank roch säuerlich nach Nudeln mit Speck. Er zog dieselbe Unterhose wie seit drei Tagen an, streifte einen für den Winter in Grenoble zu dünnen Pullover über und überflog die Liste seiner Downloads. Mit scheelem Blick und hektischer Hand sah er zu, wie sich eine Vierzigjährige mit Strapsen und Highheels in den Arsch vögeln ließ, ging raus, um sich mit einem Restaurantgutschein einen Kebab zu kaufen, und kehrte in seine staubigen 18 m2 zurück. Inzwischen war es schon fünf, ein verregneter, kalter Dezembersamstag. Am Wochenende arbeitete er nicht. Das nächste Besäufnis mit seinen Landsleuten begann nicht vor neun. Er drehte sich einen Joint und legte sich wieder hin.

Er hauste in einem alten Einfamilienhaus im Île-Verte-Viertel. Aus den einstigen Kinderzimmern hatte der Eigentümer acht Miniapartments improvisiert, die von Studenten bewohnt wurden. Erregtes Röcheln, Alkoholorgien und das Klirren der Flaschen, die am Sonntagnachmittag in Eimern runtergetragen wurden, hatten Kinderlachen und Radau ersetzt. Der jüngste Mitbewohner war neunzehn, der älteste ein Physik-Doktorand hart an den vierzig, der seine Kahlheit sommers wie winters unter einer Rastamütze versteckte. Die verputzten Wände bebten unter Bässen von britischem Triphop, süßlichen Noten jamaikanischen Reggaes oder hippem electro irgendeines osteuropäischen DJs. Er hätte jeder beliebige Student in jeder beliebigen westeuropäischen Provinzstadt sein können. Aber Alejandro Manuel González Peña war sich seiner Haltlosigkeit halbwegs bewusst, und deswegen war er interessanter und viel neurotischer als jeder beliebige Kolumbianer in einer rein zufällig gewählten Stadt im Ausland.

Im letzten Jahr des pregrado für französische Literatur an einer Privatuniversität in Bogotá hatte Alejandro beschlossen, es seinen Idolen gleichzutun, und sich auf dem Alten Kontinent zu bilden. Erschüttert von der Erbärmlichkeit seiner Mitbürger und der Korruption ihrer nicht zu stürzenden Elite, hatte er fast ein Jahr lang Anträge geschrieben, die sein akademisches Französisch auf eine harte Probe stellten. Auf der Wikipedia-Seite zu Stendhal hatte er seine künftige Wahlheimat gefunden, obwohl ihn die geringe Einwohnerzahl zunächst erschreckt hatte. Grenoble war eine Notlösung, nachdem die kolumbianische Post seine Bewerbungen nie rechtzeitig nach Bordeaux und Lyon geschickt hatte.

Dank der Hilfe eines Onkels in den USA hatte er genug Geld zusammengekratzt, um ein Visum zu bekommen, das Flugticket zu kaufen und die Kaution für seine erste Bleibe aufzubringen, eine Dreizimmerwohnung an den großen Boulevards, die er mit vier anderen Südamerikanern teilte. Um seinen Traum von Ruhm und Gelehrtheit zu leben, hatte er Diana, seine novia seit der Oberschule, zurückgelassen. Schon im Flugzeug hatte er gemerkt, dass sie ihm nicht fehlen würde, oder kaum. Er brach auf, um seinem Schicksal zu begegnen, was kümmerte ihn, dass er die erste und größte Liebe ihres Lebens war.

Diana hatte vorgeschlagen, ihm zu folgen, da auch sie ihr Grundstudium abgeschlossen hatte und ihr Französisch viel besser war als seins. Er hatte abgelehnt, indem er Neruda zitierte und ihr erklärte, man müsse sich trennen, wenn die Liebe auf dem Höhepunkt sei. Nach seiner Abreise war sie in einer monatelangen Depression versunken und hatte zwanzig Kilo zugenommen. Etwas in ihr war zerbrochen. In langen Mails beschrieb sie das unerträgliche Gefühl des Verlassenseins, die grauenvollen Nächte voll obszöner Träume — sie sah ihn mit anderen Frauen vögeln —, ihre Bauchschmerzen, die Bulimie-Attacken und die endlosen Weinkrämpfe, die sie zu jeder Tages- und Nachtzeit überfielen. Er hatte nie geantwortet. Es gab nichts dazu zu sagen. Er bedauerte, dass sie litt, fühlte sich aber keineswegs dafür verantwortlich. Er wollte sich nicht den Kopf zerbrechen.

*

Alejandro war vor kurzem vierundzwanzig geworden. Er hatte in einer Latinobar gefeiert, deren gezwungen fröhliche Atmosphäre auf Franzosen geeicht war, die sich nach Sonnenklängen und höllischen Rhythmen sehnten. Das lateinamerikanische Lebensgefühl war in Grenoble kaum heimisch geworden, die Erwähnung des Kontinents genügte wenigstens, um einige weibliche Exemplare, von der vulgären, Reggeaton liebenden Schlampe bis zur in Neruda-Gedichten und Buñuel-Retrospektiven schwelgenden Zuständigen für Problemviertel geil und verfügbar zu machen.

Er fühlte sich alt und müde. Im September hatte er ein M. A. für Moderne Literatur begonnen. Er war schon mehr als ein Jahr in Frankreich; am Tag nach seiner Ankunft hatte er auf der Website des Jobcenters gesurft, CV + Bewerbung hingeschickt, in der UB Unterlagen zusammengestellt, bei der KVangestanden, die verschiedenen Stiftungen, die EU und Erasmus entdeckt, bei denen Geld zu holen war. Bald hatte er einen Minijob für zehn Wochenstunden als Reinigungskraft in einem privaten Studentenwohnheim bekommen. Jeden Morgen stand er um sechs Uhr auf und arbeitete bis halb neun, bevor er mit dem Fahrrad zum Hörsaal oder zu den Fertigteilgebäuden hinter der Südhalle der Universität fuhr. Er verdiente ein paar hundert Euro im Monat, zusammen mit dem Wohngeld reichte es knapp für die Miete und ein paar auf weniger als das Nötige reduzierte Ausgaben. Sein Vater war Bauingenieur, die Mutter Spanischlehrerin in einem angesehenen katholischen Gymnasium in Bogotá, aber Alejandro war mit einer bestimmten Vorstellung vom genialen und notleidenden Schriftsteller aufgewachsen, die er nicht durch liebende Eltern oder eine anhängliche Geliebte verderben wollte. Er hatte Dutzende Saufkumpane, die er nie zu sich einlud, weil der Platz und die Ausstattung fehlten. Sein Rechner brummte rund um die Uhr, immer damit beschäftigt, Pornos runterzuladen oder Radiohead auszuspucken.

Er führte ein in finanzieller Hinsicht maximal bohèmehaftes, in literarischer Hinsicht wiederum maximal langweiliges Dasein. Er hatte seine Examen knapp bestanden und eine mäßige Zwischenarbeit präsentiert, die allerdings hervorragend war, wenn man bedachte, dass er keine drei Wochen vor der mündlichen Präsentation mit dem Schreiben angefangen hatte. In den Lehrveranstaltungen hatte er abgesehen von einem komplexen Semantik-Wortschatz, der dem Spanischen eigentlich sehr nah war, nicht viel gelernt. Er hatte stundenlang Brel, Brassens, Booba, Gainsbourg und alle Gruppen der lokalen Musikszene gehört. Mit dummen Bemerkungen über den Hip-Hop und langen Zitaten von Cioran hatte er es geschafft, auf seiner zu weichen Matratze ein paar Mädchen zu vögeln, die er nur anhand der Festigkeit ihrer Brüste unterscheiden konnte. Er schrieb nicht mehr.

2008 waren die Titelseiten der Zeitungen voll von der Krise, von der niemand etwas begriff, zu der aber jeder eine Meinung hatte. Der Trotzkismus kam wieder in Mode, man fantasierte über bevorstehende Festnahmen von Firmenchefs, sprach von goldenen Fallschirmen, der Wall Street, der deregulierten Finanzwelt, vom wilden Kapitalismus; Sarkozy versuchte mehr recht als schlecht, ein System zu geißeln, das er im Wahlkampf ein Jahr zuvor in den höchsten Tönen gerühmt hatte. Man müsse die Ökonomie moralischer machen, ihr einen Platz zuweisen, wo sie im Dienste des Menschen stehe und nicht umgekehrt; für Werbeagenturen war es ein sehr gutes Jahr. Die Restaurantterrassen waren immer voll, und die Franzosen, dieses ungeduldige und reizbare Volk, stießen auf die Krise an, von deren Auswirkungen sie, auch Monate nachdem sie in den 20-Uhr-Nachrichten davon gehört hatten, noch nichts merkten. Journalistenschwachsinn, falscher Alarm oder Beginn einer neuen Ära; Fünfzigjährige, zu spät geboren für den Mai 68 und immer noch neidisch auf die Älteren, sagten eine Revolution voraus, die mit großen Schritten näher käme. Sie rissen ihre Restaurantgutscheine vom Block und redeten über ihre Immobilienpläne für die Rente, während sie von einer strahlenden, für immer von Spekulation und Heuschrecken mit Diplomatenkoffer befreiten Zukunft träumten, von einem Paradies der gewissenhaften Beamten, die sich für die edelste Sache einsetzten: den Fortbestand des Wohlfahrtsstaates. In diesem versifften und apokalyptischen Umfeld, inmitten von Tratsch und hohlen politischen Einschätzungen begann Alejandro seine Tage mit leerem Bauch und vollen Hoden.

Am Abend ging er zu Gustavo, der Darstellende Künste studierte. Gustavo liebte das argentinische Theater und die Filme von Woody Allen, arbeitete als Kartenabreißer in einem Kulturhaus am Stadtrand und als Aufsicht in einer Berufsschule; für einen Immigranten mit einem so wenig begehrten Studienfach hatte er großes Glück. In diesem Jahr bereitete er seine zweite Hausarbeit vor; dank der Verlängerung des Studentenvisums konnte er legal in Frankreich bleiben, wo er so erbärmlich lebte, wie es ein Durchschnittsfranzose, selbst der mindeste der Mindestlohnempfänger, nie vermocht hätte. Mit Alejandro teilte er die wachsende Verachtung für sein Heimatland, um nichts in der Welt wäre er nach Kolumbien zurückgekehrt. Er dachte voller Zärtlichkeit und Trauer an seine Mutter und seine Großeltern, die er in jedem zweiten Sommer besuchte. Die Weihnachtszeit kam heran, für die Expats der schwierigste Moment: Sie feierten das Fest der Familie mit Sixpacks Billigbier und ihren Unglücksgefährten, lösten sich beim Skypen ab, um ein verschwommenes Bild der Liebsten zu erhaschen, hörten Lieder von Carlos Gardel und Joe Arroyo und starrten auf die verschneiten Dächer der Stadt.

Der Abend würde so ablaufen wie die der vergangenen und der künftigen Wochen: sechs junge Männer um die fünfundzwanzig an einem Tisch in einer winzigen Wohnung, auf der Erde oder auf einem Sofa vom Sperrmüll, ein PC für die Geräuschkulisse, Shitdämpfe, immer unverhohlenere Hopfenrülpser, Diskussionen über Frauen oder Politik, anzügliche Witze, Karten spielen, saufen, am nächsten Nachmittag um drei aufwachen. Einige schworen auf Uribe, der »Kolumbien gerettet« habe, Alejandro hasste ihn mit jeder Faser eines Städters mit anarchistischen Neigungen. Die Wochenenden waren nicht viel prickelnder als die anderen Tage, aber sie vergingen schnell und gaben ihm die Illusion, in Gesellschaft zu sein. Trotzdem war er innerlich erstarrt vor Angst und Einsamkeit. Vom Alkohol beflügelt, brachte er manchmal Texte von ein, zwei Seiten zu Papier, sie waren sehr gut. Er hatte unbestreitbar Talent. Am nächsten Tag löschte er, was er geschrieben hatte; er wollte Die Brüder Karamasow schreiben und García Márquez vom Thron stürzen, den er wegen seines unerträglichen Stils und der unaussprechlichen Namen seiner Figuren verabscheute. Er schaffte es nicht, über etwas anderes zu schreiben als über Frauen und Alkohol, er fühlte sich wie ein Baudelaire der vierten Welt, klein, lächerlich, dazu verurteilt, Wohnheimteppichböden zu saugen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln schwarzzufahren. Er begriff nicht, warum er in Europa war, er war ein Wichser, im Wortsinn, da Masturbation und die Suche nach sexueller Befriedigung den Hauptteil seiner freien Zeit ausfüllten.

*

Die Woche begann damit, dass er wie üblich zu seinem Arbeitsplatz fuhr. Aurélie war vor ihm da, mit einer ebenso lächerlichen wie bewundernswerten Ernsthaftigkeit und Disziplin. Auf dem Boden kniend, streckte sie ihm den Hintern entgegen, während sie unter einem Bett putzte. Alejandro betrachtete sie und rief sich die Lust in Erinnerung, die er in ihr verspürte: Sie war üppig und weich, rund und straff, ihre Stimme stieg in beeindruckende Höhen, wenn er in sie eindrang und sein Becken bewegte. Wenn sie zu ihm kam, brachte sie ihm immer ein Stück Schokoladentarte oder Quiche mit Thunfisch und Erbsen in Alufolie mit. An jeder Kleinigkeit erkannte man die Arbeitertochter: billiger Nagellack, der nach zwanzig Minuten Arbeit abplatzte, im Sparpack gekaufte Unterhosen aus grober Baumwolle mit kleinen, lächerlichen Motiven, schulterlanges, ganz leicht abgestuftes Haar, der Schnitt der Oberschülerinnen, die mit einem Blankoscheck der Mutter zum ersten Mal zum Friseur gehen, Blusen mit geplatzten Nähten, zu große und schlecht geschnittene Jeans, die ihren winzigen, prallen Hintern nicht genug zur Geltung brachten.

Aurélie war eine saubere, gut erzogene junge Frau, die in einer Sozialwohnungssiedlung in der Vorstadt Fontaine aufgewachsen war und das Viertel nie verlassen hatte. Sie besuchte ihn schon seit einigen Wochen, ausschließlich, um mit ihm zu schlafen. Sie sprachen nur wenig und waren beide froh, nicht so tun zu müssen, als würden sie Konversation machen. Die Beziehungen zwischen Individuen waren immer eigennützig und dienten dazu, eine Leere zu füllen, die Zeit totzuschlagen oder Sex zu haben. Wozu reden, wenn die Beteiligten dasselbe Ziel haben? Das Wesentliche wird erreicht, der Austausch ist fair. Sie war gewissenhaft, eifrig und wartete immer, bis er kurz vor dem Höhepunkt war, bevor sie aufhörte, an seinem Pimmel zu saugen. Sie genoss seine Fellatio und war zu etwas imstande, was in ihrer pornogesättigten Generation ziemlich selten war: locker zu werden und das wenig schmeichelhafte Sichgehenlassen des Körpers im Liebesakt zu akzeptieren.

Sie zog nicht den Bauch ein, rasierte sich nur wenig zwischen den Beinen, unterdrückte weder Schreie noch Grimassen, wenn die Lust in ihr aufstieg. Sie war spontan und natürlich, sie hatte Humor, obwohl er nicht genug mit ihr sprach. Sie war mit Wohlwollen und ohne Angst zu ihm gekommen: An der Oberschule hatte sie nur einen erbärmlichen Liebhaber gehabt. Der hatte sie ungeschickt entjungfert, aber geblutet hatte sie nicht. Schon beim zweiten Mal sprach er von Analverkehr, aber sie wollte es nicht. Sie erklärte ihm, dass er ihr wehtue, und er antwortete, das sei ein gutes Zeichen, es müsse der Frau wehtun, Frauen würden ja denken und nein sagen, sie könnten nicht zwischen Schmerz und Orgasmus unterscheiden. Er verlangte von ihr, sich vollständig zu epilieren, was sie abstieß. Sie fuhr gern mit der Hand durch ihr trockenes, dichtes und krauses Schamhaar, sie mochte den Hügel, den es unter ihrer Unterwäsche bildete. Sie hatte nie ernsthaft Pornos angeschaut, irgendwas war ihr unangenehm, sie fand sie gekünstelt und langweilig. Dann war sie inaktiv geblieben, bis sie ihr Abitur für Wirtschaft und Soziales mit der Note gut abgeschlossen hatte.

Sie hatte Alejandro bei der Arbeit kennengelernt und sich von dem mageren Jungen mit den Gummigelenken, der beim Gehen vom Boden abzufedern schien, gleich angezogen gefühlt. Er hatte einen kulturellen Hintergrund, ein Minimum an Lebenserfahrung, sie war gerade aus dem Nest gefallen und voller Wissensdurst, von dem sie nicht wusste, wie sie ihn stillen sollte; er war kein Franzose, nicht mal Europäer, allein schon ihn reden zu hören war ein Fenster in die Welt. Er spielte seine Exotik-Karte sehr dosiert und raffiniert. Durch sein Äußeres konnte er sich nicht hervortun, er war klein, und der niedrige Haaransatz reduzierte seine Stirn auf einen schmalen, ockerfarbenen Hautstreifen zwischen einer glatten, glänzenden Mähne und schwarzen Augen mit bläulichem Schimmer unter dichten, schlecht gezeichneten Brauen. Seine Augen waren rund und von geraden, wie mit dem Lineal gezogenen Wimpern gesäumt. Die Hakennase verlieh seinem Profil eindeutig Charakter; er war eine Häufung charmanter Mängel. Seine Zähne waren spitz und unregelmäßig, aber strahlend weiß, sein Mund üppig und glänzend.

Sie kannte nichts von Kolumbien außer Shakira und der FARC, wenige Monate zuvor war Ingrid Betancourt befreit worden. Ihre Mutter hatte zum Zeichen der Solidarität Kerzen auf den Balkon gestellt, sie aber hatte das Schicksal der Geisel gleichgültig gelassen: Sie hatte sich auf anderen Gebieten engagiert, die sie vernachlässigte, als die Abiturprüfungen näher rückten. Er versprach, ihr mehr zu erzählen, tat es aber nie. Er war an Auschwitz-Touristen gewöhnt, die für ein freies Tibet eintraten, die Ureinwohner des südamerikanischen Kontinents unterstützten und fair gehandelte Schokolade aßen, das war die Mehrheit seiner nichtkolumbianischen Freunde; eine Französin, die einfach neugierig war, überraschte ihn. Über Politik sprach er nur mit seinen Landsleuten, bei den anderen musste man zu weit ausholen. Irgendwie schämte er sich auch, die immer neuen Skandale in seinem Heimatland zu erwähnen, dem er sich immer weniger verpflichtet fühlte, er hatte eher das Gefühl, einem großen Gefängnis entkommen zu sein, aber die mitleidigen Blicke der Europäer, die ihre eigenen Obdachlosen krepieren ließen, waren ihm ebenso unerträglich.

Aurelié hatte nicht den Wunsch verspürt, umworben oder begehrt zu werden. Verführung brauchte Zeit und ein Selbstvertrauen, das ihr abging. Sie hatten einander mit einem Blick erkannt, und er hatte nicht viel Zeit verloren, ehe er sie zu sich einlud. Sie hatte sich ihm in tadellosem Französisch und mit leicht zitternder Stimme anvertraut; an der Schule hatte sie nur sehr wenige Freunde gehabt, seit sie an der Universität war, erlebte sie eine schreckliche Einsamkeit, sie sprach wie eine brave Schülerin, die gerade den Boden unter den Füßen verlor. Ihr Studentenjob war befriedigend, weil sie jeden Morgen wiedererkannt wurde; mit dem verdienten Geld konnte sie ihre Mutter in eins der vielen vietnamesischen Restaurants in der Rue Condorcet einladen. Sie hatte viel gelesen, um die Zeit totzuschlagen, wählte ihre Worte sorgfältig und hatte eine perfekte Aussprache. In einer anderen sozialen Schicht geboren, hätte sie Literatur studiert, sie aber hatte Jura gewählt, um ihre Alten zu beruhigen. Da gebe es gute Chancen, sagten die, sehr stolz, ihre Kenntnis des Arbeitsmarktes zu demonstrieren. Sie hatte schon einen Kredit aufgenommen, um den Führerschein zu finanzieren. Sie langweilte sich zu Tode. Beim Theorieunterricht, in den Vorlesungen, bei den Studentenabenden, zu deren Besuch sie sich zwang, um Kontakt zu ihren Hörsaalnachbarn zu knüpfen, bei den Seminaren, bei ihren Eltern, in der Straßenbahn, im Einkaufszentrum. Sie war achtzehn Jahre alt.

2

Aurélies Studium hatte an einem Donnerstag begonnen. Die Universität von Grenoble lag außerhalb des Zentrums und war ein wunderbar grüner, moderner Studienort — so hatte man es vierzig Jahre zuvor gesehen. Sie hatte sorgfältig ihre Tasche und die Federmappe gepackt und die Stunden gezählt, die sie von ihrem neuen Lebensabschnitt trennten. Da sie stets bereit war, sich den kleinsten Veränderungen anzupassen, hatte sie die farbenfrohe, enge Kleidung der Abiturientin gegen weite Blusen und Holzohrringe getauscht. Sie hatte sich kaum geschminkt, nur etwas Eyeliner aufgetragen und sich mehrere Tage nicht gekämmt, um möglichst wie eine Bohemienne auszusehen.

Die im Gang vor der Tür von Amphi 1 der Pierre-Mendès-France-Universität versammelte Schar vermittelte ein ehrliches, ungeschöntes Bild der »Diversität« à la française, des Konzepts, von dem alle reden, ohne es je erlebt zu haben. Eine knappe Mehrheit der Truppe bestand aus Bürgerkindern, die gut in die Konsumgesellschaft integriert waren, junge Frauen mit Slim Jeans, Ballerinas und geglättetem Haar, Jünglinge mit Schmachtlocke und locker am Handgelenk baumelnder Umhängetasche, den neuesten weißen Smartphones und gewienerten Schuhen, nette Gesichter ohne jede Zukunftsangst, vor Selbstsicherheit blitzende Augen, völlig entspannt, höchstens ein bisschen wachsam in dieser neuen, von der sowjetischen Architektur inspirierten Umgebung. Dann kamen die Kinder der alternden Rechten, die mit achtzehn aussahen wie mit dreizehn oder fünfzig — je nach Licht. In Marineblau und Naturfarben gekleidet, mit furchtsamem Blick und gekrümmtem Rücken schienen sie auf die Messe oder die nächste Mahlzeit zu warten. Sie hätten ihr Jurastudium auch in einem Stall oder einem Kolchos absolviert, solange sie nur sicher waren, dass die Familientraditionen und ihr Rang gewahrt blieben. Ein paar neonfarbene Jogginghosen über den speckigen, weichen Hüften der Töchter nordafrikanischer Einwanderer brachten etwas Leben in die spießige Masse. Die Gespräche waren gedämpft, die Teenager-Spontaneität überließ allmählich der Zurückhaltung und der falschen, in Misstrauen schmorenden Schamhaftigkeit des Erwachsenenalters das Feld.

Aurélie gehörte zum Lager der neutralen Elemente, der kleinen Weißen mit gesenktem Blick und verschränkten Armen, die vor Unbehagen schwitzten, obwohl die Umgebung dafür konzipiert worden war, gerade sie zu Tausenden in den berühmten Hörsälen zu empfangen. Ohne besonderen Kleidungsstil, die Baumwolloberteile einfarbig oder mit schlechtem Englisch bedruckt, ohne besondere Merkmale, ohne gemeinsame Interessen, standen sie einzeln in den Ecken und starrten auf ihre Telefone. Die Menge strömte in den riesigen Hörsaal, und die sozioprofessionelle Zugehörigkeit ließ sich sogleich wieder an den eingenommenen Plätzen ablesen; die kleinen Neutralen verteilten sich. Der Saal war zwei Jahre zuvor nach den Protesten gegen die Ersteinstellungsverträge renoviert worden. In die Tische waren noch seltsame Runen mit eindeutiger Botschaft gegen rechts, gegen Freihandel, für den öffentlichen Dienst und für eine freie Ardèche graviert. All diese Ausbrüche von Hormonen und gutem Willen hatten die Krise nicht verhindert und ebenso wenig, dass aus Gymnasiasten Abiturienten wurden und die Studentenzahlen überall im Land wuchsen.

Ein Mann betrat den Saal und stellte seine abgewetzte Aktentasche auf den Hartfaserschreibtisch auf dem Podium. Er klopfte ans Mikro, aber es wurde nicht still. Er räusperte sich mehrmals und putzte seine Brille an seinem Hemd mit ausgeprägter Rückenfalte. Er trug eine Hose mit Hahnentrittmuster; die raffinierte Anordnung blassbrauner Locken sollte den rosig welken Schädel verbergen. Er begann seinen Vortrag trotz des Lärms und setzte ihn auch vor der dröhnenden Geräuschkulisse der Studenten in der letzten Reihe fort, die der unwiderstehlichen Anziehungskraft des Sozialstipendiums erlegen waren.

»So ein Jurastudium macht man nicht mit links. Man braucht Methode und Strenge. Eiserne Disziplin und Willenskraft. Sie werden die Welt verstehen und die oft verkürzten Informationen der großen Medien besser begreifen. Sie brauchen eine Auswahl von Werken, mit deren Hilfe Sie die zentralen Konzepte beherrschen lernen. Sie werden sich mein letztes Buch besorgen müssen, das bei Presses universitaires de Grenoble erschienen ist.«

Aurélie schrieb gewissenhaft mit, konnte sich aber nicht konzentrieren. Die Stimme des Mannes war tief, unterbrochen von lautem Schlucken und unangenehmen Schmatzgeräuschen. Er wiederholte denselben Vortrag seit Jahrzehnten, machte Witze über den General und über Mitterrand, sprach von der Fünften Republik wie von einer jüngst stattgefundenen Revolution; in den ersten Reihen notierten die künftigen Diplomanden für Notariatsrecht jedes Wort und legten den Arm zum Schutz vor möglichen Abschreibern um ihren Block.

Nach den zwei Stunden dieser ersten Vorlesung hatte sich Aurélie wie ein frisch defloriertes Mädchen gefühlt, sie konnte es nicht fassen, dass etwas so lange Erträumtes so fade, unnütz und endlos sein konnte. Die Frustration ließ ihren Unterleib schmerzen. Wie die Hälfte ihres Jahrgangs eilte sie zu den Kaffeeautomaten. Im Vorbeigehen schnappte sie ein paar Worte auf, konnte sich aber nicht durchringen, auf die anderen zuzugehen. Die Studenten unterhielten sich über ihre Abiturprüfungen im Juni, ihre Ferien, die altmodische, mitleiderregende Aufmachung des Professors; niemand schien sich über die Erbärmlichkeit der ersten Vorlesung aufzuregen. Das waren zu viele Leute, zu viele identische Personen, um einen auszuwählen, den sie hätte ansprechen können. Den pickligen Jungen mit Turnschuhen links, der so nett aussah? Oder den anderen mit bartlosem Gesicht rechts, der erzählte, er habe sein Abi in Barcelona gefeiert und sich super amüsiert?

An den folgenden Tagen musste sie Wahlpflichtfächer wählen und mehrere Stunden anstehen, um das Formular bei der Verwaltung abzugeben. Ein A5-Blatt mit einem umfangreichen Stundenplan präsentierte ihr die fantastische Vielfalt der Fächer, für die sie sich einschreiben konnte: portugiesische Literatur, französische Zeichensprache, Bildanalyse, antike Philosophie, Badminton, Intensivkurs Japanisch, Informatik, Kommunikation und Medien, spanische Landeskunde, Phonologie, Geschichte der zeitgenössischen Kunst, Fotografie, kritische Comic-Analyse. Die Anmeldung für die optionalen Unterrichtseinheiten erfolgte in einem Algeco-Container, wo drei Sekretärinnen mit Kordeln an den Brillen die Blätter stempelten und vor Müdigkeit lange Seufzer ausstießen.

*