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Im 18. Jahrhundert verschrieben sich zwei Männer unabhängig voneinander einem spektakulären Ziel: zum ersten Mal alles Leben auf der Erde zu finden, zu beschreiben und zu benennen. Ihre Wege jedoch hätten unterschiedlicher nicht sein können. Carl von Linné (1707–1778), ein gottesfürchtiger schwedischer Arzt, glaubte, dass alles im Leben in ordentliche, feste Kategorien gehörte. Georges-Louis de Buffon (1707–1788), universalgelehrter Aristokrat und Landschaftsgärtner der französischen Krone, betrachtete das Leben als einen dynamischen Wirbel voller Komplexitäten. Beide glaubten, ihre Mission wäre ambitioniert, aber nicht unmöglich. Die Erde konnte doch wohl kaum mehr als ein paar tausend Spezies beheimaten – oder mehr, als auf die Arche Noah passten? Von der Artenvielfalt überwältigt, sollten beide scheitern. Doch ihre Sicht auf die Natur und die Welt veränderte unser wissenschaftliches Verständnis von der Erde essenziell – und ihre Gegensätze wirken bis heute fort.
Über ein Jahrzehnt lang recherchierte und kompilierte Jason Roberts die packende Geschichte eines naturwissenschaftlichen Wettlaufs, so facettenreich und staunenswert wie die Natur selbst.
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Seitenzahl: 685
JASON ROBERTS
Carl von Linné, Georges-Louis de Buffon und der abenteuerliche Wettstreit zur Erforschung der Natur im 18. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Christina Hackenberg und Hans-Peter Remmler
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Every Living Thing bei Random House, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe 2024
© by Jason Roberts 2024
© der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Dr. Thomas Bertram
Umschlaggestaltung: SERIFA, Christian Otto
Motive: Wikimedia Commons (gemeinfrei): »Carolus Linnaeus by Hendrik Hollander 1853«; François-Hubert Drouais, »Buffon 1707–1788«
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31705-8V001
www.heyne.de
fürJesse Eli
Inhalt
Einführung: Savants – Gelehrte
Die Entdeckung allen Lebens
Vorwort: Die Maske und der Schleier
Teil I: Die Große Kette der Wesen
Kapitel 1: Der Mann vom Lindenbaum
Kapitel 2: Lehrjahre sind Hungerjahre
Kapitel 3: Der Sohn des Salzkämmerers
Kapitel 4: Vegetabilische Lämmer und Entenmuschelbäume
Kapitel 5: Mehrere Bräutigame, mehrere Bräute
Kapitel 6: Die große Gabe der Geduld
Kapitel 7: Mal in Schimpf und Schande, mal in Ruhm und Ehre
Kapitel 8: Die siebenköpfige Hydra von Hamburg
Kapitel 9: Eine Zusammenfassung der gesamten Welt
Kapitel 10: Schändliche Hurerei
Kapitel 11: Der Universalienstreit
Teil II: Diese wunderbare Vielfalt
Kapitel 12: Goldfische für die Königin
Kapitel 13: Buße in Staub und Asche
Kapitel 14: Der einzige verfügbare Preis
Kapitel 15: Beständig und sogar ewig
Kapitel 16: Baobab-zu-zu
Kapitel 17: So viele neue und unbekannte Teile
Kapitel 18: Von Gesetzen regiert, von Willkür regiert
Kapitel 19: Ein allgemeiner Prototyp
Kapitel 20: Die Linse zerbricht
Kapitel 21: Meine kalten Jahre
Kapitel 22: Der Preis der Zeit
Teil III: Der Kanzleibeamte des Herrgotts
Kapitel 23: Germinal, Floréal, Thermidor, Messidor
Kapitel 24: Transformismus und Katastrophismus
Kapitel 25: Platypus
Kapitel 26: In lächerlicher Weise den meinigen ähnlich
Kapitel 27: Die Reime des Universums
Kapitel 28: Der menschlichste aller Menschen
Kapitel 29: Ein Spinnennetz von Interaktionen
Danksagung
Zum Erkunden
Personenregister
Anmerkungen
Georges-Louis de Buffon und Carl Linnaeus
Objekte werden unterschieden und erkannt, indem wir sie methodisch klassifizieren und ihnen zweckdienliche Namen geben. Folglich bilden Klassifizierung und Benennung die Grundlage unserer Wissenschaft.[1]
Linnaeus
Die einzige und wahre Wissenschaft [besteht] in der Erkenntnis wirklicher Begebenheiten.[2]
Buffon
Über einen Großteil des 18. Jahrhunderts lieferten sich zwei Männer einen regelrechten Wettlauf um die Vollendung einer umfassenden Bestandsaufnahme allen irdischen Lebens. Dabei ging es nicht allein um wissenschaftliche Unsterblichkeit, es ging um das Wesen unseres Verhältnisses zur Natur – um die Begriffe und Prinzipien, anhand derer wir das Leben auf der Erde begreifen. Die monumentalen Werke der beiden Männer, betitelt Histoire naturelle und Systema Naturae, waren weit mehr als bloße Kataloge. Sie verkörperten ganz unterschiedliche Auffassungen von der Welt und zielten darauf ab, diese Auffassungen durch Zusammenfügen aller Einzelteile des Lebenspuzzles zu einem zusammenhängenden Ganzen zu untermauern.
Die Aufgabe nahm ihr ganzes Leben in Anspruch. Beide glaubten zunächst, die Erde könne unmöglich mehr als ein paar Tausend Spezies beherbergen, aber während die Jahrzehnte verstrichen, blieben ihre gewaltigen Kompendien weit von jeder Vollständigkeit entfernt. Das Erstaunen angesichts der Fülle irdischen Lebens, seiner unerwarteten Vielfalt und seines Nuancenreichtums führte bei beiden Männern zur Ausprägung noch gegensätzlicherer Ansichten über die Umwelt, über die Rolle des Menschen bei der Gestaltung des Schicksals unseres Planeten und über die Menschheit als solche.
Beide Männer lebten genau zur gleichen Zeit und hätten doch kaum gegensätzlicher sein können. Carl Linnaeus war ein schwedischer Arzt, seinen Doktortitel verdankte er einer Titelschmiede und einem gewissen Hang zur Selbstbeweihräucherung. »Keiner war ein größerer Botaniker oder Zoologe«, prahlte er einmal, während er, nicht minder großspurig, anonym enthusiastische Kritiken seiner eigenen Werke publizierte. Georges-Louis de Buffon, der vornehme Hüter von Frankreichs königlichem Garten, verachtete zeitgenössischen Ruhm als »eitles und täuschendes Trugbild«, dabei war er zu Lebzeiten weit berühmter als sein Gegenspieler. Linnaeus, ganz der eifersüchtige Mittelpunkt seines eigenen Universums, zog die Gesellschaft studentischer Gefolgsleute vor. Buffon, ob seiner Eleganz ebenso berühmt und bewundert wie wegen seines brillanten Geistes, bewegte sich selbstbewusst am Hof von Versailles und in den Salons von Paris.
Linnaeus orientierte sich eng an der Bibel und berief sich zugleich auf die göttliche Inspiration seines eigenen Tuns. Buffon dagegen musste sich formellen Anschuldigungen wegen Blasphemie stellen, weil er behauptet hatte, die Erde könnte älter sein als in der Heiligen Schrift angegeben. Linnaeus erachtete seine Töchter der Bildung nicht für würdig und gestattete ihnen lediglich, häusliche Fertigkeiten zu erlernen. Buffons engste Freundschaft verband ihn mit einer Frau, einer erfolgreichen Intellektuellen, die er in vielerlei Hinsicht als ihm überlegen ansah.
Linnaeus leistete unbekümmert Grundlagenarbeit für die rassische Pseudowissenschaft und schuf nicht nur die Kategorien, die später als »Rassen« etikettiert werden sollten, sondern wies diesen Kategorien auch unverrückbare Attribute zu (sein Homo sapiens europaeus wurde grundsätzlich »von Gesetzen regiert«, während der Homo sapiens afer »von Willkür regiert« wurde). Buffon wandte sich leidenschaftlich dagegen, die Menschheit in starre Kategorien zu unterteilen, und betonte stattdessen unsere reichhaltige, nuancierte Diversität und den gemeinsamen Ursprung.
Die beiden verband eine tiefe Rivalität. Buffon bemitleidete Linnaeus öffentlich mit grandioser Herablassung als das »besessene« Opfer einer Manie, Linnaeus seinerseits fand heimliches Vergnügen daran, eine Spezies nach seinem Intimfeind »Buffonia« zu taufen – eine Pflanze mit schmalen Blättern, schließlich besäße auch Buffon »nur sehr schmale Ansprüche auf botanische Ehren«. Jedenfalls waren beide Männer überaus originelle Köpfe. Beide legten eine erstaunliche Fähigkeit zu ausdauernder Arbeit an den Tag und verfolgten ihr gemeinsames Ziel mit eiserner Disziplin. Während dieses Ziel für beide in immer weitere Ferne rückte, standen sie chronische Krankheiten und Perioden schweren Kummers durch. Beide versuchten, ihre Söhne zu ihren Nachfolgern heranzuziehen, in beiden Fällen mit tragischem Ausgang. Beide hinterließen Vermächtnisse, die noch ehrfurchtgebietender waren als die Summe ihrer gesamten veröffentlichten Werke – Vermächtnisse, die über Jahrhunderte um die Vorherrschaft stritten und es bis heute tun.
Beide Männer, die wir heute als Wissenschaftler bezeichnen würden, galten in ihrer Zeit, als es etwa im Englischen den Begriff science noch gar nicht gab, als savants (Gelehrte), Fachleute in einer Disziplin, die Erforschung, Philosophie und ein gerüttelt Maß an selbstbewusster Autorität in sich vereinte. Doch viele Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts vereinnahmten Linnaeus eifrig als ihren Vorläufer und verliehen ihm dadurch einen posthumen Ruhm, der den einst gefeierten Buffon in Vergessenheit geraten ließ. Als die Linnaeus-Anhänger während des Chaos der Französischen Revolution die Oberhand gewannen und im kolonialen Expansionismus des viktorianischen Zeitalters eine Blütezeit erlebten, beeilten sie sich, Buffon nicht etwa zu widerlegen, sondern ihn zu trivialisieren und sein Werk mit der Behauptung, es zu übersetzen, regelrecht auszuweiden. Seine Histoire naturelle wurde weiterhin gedruckt, allerdings in gekürzten und verfälschten Fassungen, die fast schon wie Parodien des Originals wirkten.
Die Naturgeschichte wird, wie die menschliche Geschichte, von den Siegern geschrieben. Die Anhänger der Linné’schen Weltsicht waren sich über Generationen absolut gewiss, den Sieg davongetragen zu haben.
Doch schon in den 1860er-Jahren begannen Schwachstellen in dieser Weltsicht zutage zu treten, als Charles Darwin einräumte, Buffons Theorien seien »in lächerlicher Weise den meinen ähnlich«. Bei dem Versuch, Linnaeus’ starre Hierarchien mit dem ständigen Wandel der Evolution in Einklang zu bringen, schusterten Naturforscher immer aufwendigere Taxonomien zusammen, in denen es von Redundanzen und Fehlern wimmelte. Im 20. Jahrhundert erweiterten die Entwicklung der Genetik und die Entdeckung der DNA unser Verständnis vom Leben entscheidend, machten die Mängel der bestehenden Systematiken noch offenkundiger und verwiesen auf Alternativen. Im 21. Jahrhundert haben Fortschritte, wie etwa die Epigenetik und die Genomsequenzierung, Wissenschaftler veranlasst, die Beschränkungen des Linné’schen Weltbildes einzuräumen, Pläne zu dessen Ersetzung zu diskutieren sowie Werk und Vermächtnis Buffons erneut zu prüfen.
Dies ist die Geschichte der parallelen Lebenswege zweier Männer, die in überaus eindrucksvoller Weise bestrebt waren, den tiefsten Wahrheiten unserer Existenz auf die Spur zu kommen. Das von Genialität und Hybris, vom Glanz unsterblichen Ruhms und von unbändigem Drang nach Erkenntnis unserer selbst und unserer Welt getriebene Bemühen, alles Leben zu verstehen, war indes von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dennoch hat es niemals eine menschlichere Aufgabe gegeben.
Jason Roberts
Die Entdeckung allen Lebens
Buffons Heldenstatue, in Auftrag gegeben von König Ludwig XVI.
Die Presse hatte Mühe, die Zahl der Schaulustigen zu schätzen, als am Morgen des 18. April 1788 etwa 20000 Menschen die Straßen von Paris säumten, sich vordrängelten und die Hälse reckten, um einen Blick auf den Trauerzug eines der berühmtesten Männer der Welt zu erhaschen. Was sie zu sehen bekamen, war in seinen Dimensionen einer Parade vergleichbar, ein würdiges, weihevolles Spektakel, ein »Glanz, wie er Mächtigen, Reichen und Würdenträgern nur selten zuteilwird«, wie Paris Mercury vermeldete. »So bedeutend war der Einfluss dieses großen Namens.«[3]
Zuerst kamen ein Ausrufer und sechs Amtsdiener, die den Weg für einen Konvoi aus 19 livrierten Dienern frei machten.[4] Dann erschien eine Abteilung der im Gleichschritt marschierenden Pariser Garde, gefolgt von einem Kontingent Schulkinder, 60 Geistlichen und 36 Chorknaben, die, begleitet von vier Basshörnern, Klagelieder sangen. Dahinter schritten sechs Wachsoldaten mit Fackeln. Endlich kam die Kutsche mit dem Sarg in Sicht, gezogen von 14 Pferden, die in passende schwarze Seide mit silbernen Stickereien gewandet waren. Das Ende des Zuges bildete ein langes, düsteres Gefolge prominenter Trauernder: Aristokraten, Akademiker und Künstler zogen Schulter an Schulter hinter dem Sarg her. Einer von ihnen – Dr. Felix Vicq-d’Azyr, der Leibarzt von Königin Marie-Antoinette – war tief bewegt vom Anblick der einfachen Leute, die aus der Menschenmenge heraustraten und sich dem Trauerzug anschlossen. »Sie erinnern sich, meine Herren«, schrieb er später rückblickend,
dieses unüberschaubaren Gefolges von Leuten aller Stände und aus allen Gesellschaftsschichten, die sich dem Trauerzug anschlossen, inmitten einer riesigen, tief bestürzten Menge. Ab und an durchbrachen gemurmelte Worte der Bewunderung und des Bedauerns die Stille der Menschenansammlung. Das Gotteshaus, zu dem wir zogen, vermochte die enorme Anhängerschaft eines großen Mannes nicht gänzlich aufzunehmen.[5]
Zu Lebzeiten hatte Georges-Louis Leclerc de Buffon lediglich die bescheidene Stelle eines königlichen Hofgärtners im Jardin du Roi – dem Königlichen Botanischen Garten – bekleidet. Am von der Arbeiterschaft geprägten südlichen Stadtrand von Paris gelegen, war der Garten trotz seines Namens keineswegs eine royale Enklave. Buffon hatte als Sohn eines provinziellen Steuereintreibers im ländlichen Burgund keinen sehr verheißungsvollen Start. Während seines kurzen Studiums an der Universität machte er keinen Abschluss, sondern erwarb sich allenfalls den Ruf, sich lieber zu duellieren, als zu studieren. Doch dann stieg er auf zum Anführer jener intellektuellen Revolution, die als Aufklärung bekannt werden sollte, und wurde zu einer einflussreichen und weltweit anerkannten Persönlichkeit. Jenseits des Ärmelkanals in London betrauerte das Gentleman’s Magazine Buffon als das letzte der »vier strahlenden Lichter« Frankreichs, das nun »gänzlich erloschen« sei, und reihte ihn ein in einen Pantheon neben Montesquieu, Rousseau und Voltaire.[6] Der Historiker Sainte-Beuve ging noch weiter, als er konstatierte: »Buffon starb als letzter der vier großen Männer des 18. Jahrhunderts, und in gewissem Sinne markiert der Tag seines Ablebens einen Schlusspunkt jenes Jahrhunderts.«[7]
Noch einen Schritt weiter ging der Philosoph Nicholas de Condorcet in der offiziellen Trauerrede. »Die Geschichte der Wissenschaft kennt nur zwei Männer, die im Lichte ihres Werkes offenbar an Monsieur Buffon heranreichen – Aristoteles und Plinius.«[8]
Beide waren unermüdliche Arbeiter wie er – faszinierend angesichts der immensen Fülle ihres Wissens und der Pläne, die sie entworfen und durchgeführt haben, beide hoch angesehen zu Lebzeiten und nach ihrem Tod von ihren Landsleuten verehrt –, und beide haben sie miterlebt, wie ihr Ruhm die Revolutionen der Meinungen und der Imperien überdauerte, wie er die Nationen überlebte, die sie hervorbrachten, und selbst die Sprachen, deren sie sich bedienten, und ihr klassisches Vorbild scheint Monsieur Buffon einen nicht minder anhaltenden Ruhm in Aussicht zu stellen.
Keine Rede war davon, dem bedeutenden Mann ein Denkmal zu errichten, denn es gab bereits eines: eine hoch aufragende Statue, elf Jahre zuvor heimlich in Auftrag gegeben von einem dankbaren König Ludwig XVI. und enthüllt als Herzstück des Jardin du Roi, zur großen Verlegenheit des Dargestellten. Die Marmorskulptur trägt eine pathetische Inschrift (»Alle Natur verneigt sich vor seinem Genie«) und zeigt einen fast nackten Buffon – immerhin lieferte sie nach allem, was man weiß, ein bemerkenswert akkurates Abbild des Mannes, der zum Zeitpunkt der Enthüllung 71 Jahre alt war, aber um Jahrzehnte jünger wirkte. Der Bildhauer musste ihn kaum idealisieren, war Buffon doch schon seit langer Zeit Beobachtern wie eine Art zum Leben erwachte Heldenstatue vorgekommen. »Von stattlicher Körpergröße und nobler Erscheinung; ein eindrucksvolles Gesicht, von gleichermaßen gefälliger und majestätischer Physiognomie«, so die Beschreibung in Condorcets Grabrede.
»Nie sprach Monsieur Buffon zu mir von den Wundern der Erde«, gab ein langjähriger Freund zu, »ohne in mir den Gedanken zu wecken, er selbst müsse eines dieser Wunder sein.«[9]
Ein weiteres, noch eindrucksvolleres Denkmal fand sich nicht im Jardin du Roi, sondern in Bücherregalen überall auf der Welt. Die Histoire naturelle, générale et particulière, Buffons Meisterwerk, umfasste 35 Bände – davon allein drei zur allgemeinen Einführung, dann zwölf über Säugetiere, neun über Vögel, fünf über Mineralien und sechs Ergänzungsbände zu verschiedenen Themen. In gewissem Sinne war es ein Fehlschlag: Sein ursprünglicher Plan war gewesen, »das komplette Spektrum der Natur und das gesamte Reich der Schöpfung« zu erfassen, doch trotz 43 Jahren eifrigster Hingabe hatte er es nicht geschafft, angemessen auf Pflanzen, Amphibien, Fische, Weichtiere und Insekten einzugehen.[10]
Nichtsdestotrotz war die Histoire eine überwältigende Leistung. Wenngleich unvollständig, stellte sie die meisten Enzyklopädien weit in den Schatten, was noch eindrucksvoller wirkt, bedenkt man Buffons erstaunliches Vorgehen beim Abfassen des Werkes. Bekanntlich las er Freunden seine Entwürfe laut vor, bat sie darum, das Gehörte frei wiederzugeben, und schrieb dann alles um, was ihm verworren oder unverstanden dünkte – dieses Prozedere wiederholte er für einzelne Kapitel bis zu 17 Mal. »Gutes Schreiben heißt gutes Denken, gute Wahrnehmung und gute Ausführung, und zwar alles auf einmal«, lautete sein Diktum.[11] Diese sorgfältigen Bemühungen um Klarheit, in Verbindung mit seiner Wahl der Sprache – er verfasste sein Werk in zeitgenössischem Französisch, nicht etwa in akademischem Latein –, waren ein Schlüssel zum andauernden Erfolg des Werkes gewesen.
Die Histoire naturelle einen Bestseller zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung. Gepriesen als Meilenstein der Naturwissenschaften und zugleich als literarisches Werk war sie ein verlegerisches Phänomen, das Buffon zum populärsten Sachbuchautor in der französischen Geschichte machte.[12] Die Veröffentlichung jedes neuen Bandes sorgte für rege Verkaufszahlen und neue öffentliche Debatten und es sah ganz danach aus, als würde das immer so weitergehen. Zu denen, die in dem Trauerzug mitmarschierten, gehörte auch Buffons handverlesener Nachfolger, ein junger französischer Adliger, der die Methoden seines Mentors und dessen unverwechselbaren Stil sorgfältig eingeübt hatte. Er hatte bereits Band 36 der Histoire herausgebracht, über Schlangen und eierlegende Vierfüßer, und arbeitete an Band 37 über Wale. Der große Mann war dahingeschieden. Das große Werk sollte weitergehen.
Das jedenfalls war der Plan.
***
Der Tod von Professor Carl Linnaeus, ein Jahrzehnt vor dem Ableben Buffons, war nicht zum Anlass großer öffentlicher Trauer geworden. Der seit Langem pensionierte Wissenschaftler wurde an einem Winterabend in einem schlichten Sarg zur letzten Ruhe gebettet, gezimmert aus einer der Eiben auf seinem Grundstück, sein nicht gewaschener und unrasierter Leichnam war lediglich in ein Leichentuch gehüllt. Als Fackelträger schritten seine Hausbewohner und Diener hinter der Kutsche mit dem Sarg her. Die meisten Teilnehmer waren von der nahe gelegenen Universität in Uppsala herübergekommen, an der Linnaeus 22 Jahre lang Medizin und Botanik gelehrt hatte.
Viele von ihnen, Studenten und Lehrkräfte gleichermaßen, kannten ihn eher vom Hörensagen als aus eigener Erfahrung. Die fortschreitende Hirnerkrankung des Professors hatte ihn schon vor 15 Jahren gezwungen, seinen Lehrauftrag aufzugeben, vor fünf Jahren hatte er den Bezug zur Realität verloren, die letzten zwei Jahre hatte er weder gehen noch sprechen können. Die Zeremonie war respektvoll, aber doch geprägt von dem Bewusstsein, dass der Geist lange vor dem Körper seinen Dienst versagt hatte. Linnaeus hatte seine letzten Jahre in einem Labyrinth der Verwirrung zugebracht, sein bedeutendstes Werk durchblätternd, ohne zu begreifen, dass er selbst es verfasst hatte.
Es waren weder Denkmäler aufgestellt noch diesbezügliche Vorschläge gemacht worden.
Buffon und Linnaeus hatten beide im Jahr 1707 das Licht der Welt erblickt. Beide widmeten sich der Erarbeitung eines gewaltigen Werkes, das die Gesamtheit der Natur erfassen sollte, und keinem der beiden gelang dieses Vorhaben. Aber hier enden die Ähnlichkeiten auch schon. Linnaeus war der herausragendste Repräsentant jener naturgeschichtlichen Schule, deren Vertreter als Systematiker bekannt waren und denen das Benennen und Etikettieren wichtiger war als alles andere. Buffon hingegen war der führende Vertreter einer komplexeren Herangehensweise an die Natur – einer Sichtweise, die mit einem Etikett zu versehen er passenderweise nie für notwendig erachtete. Vielleicht könnte man am ehesten von einer komplexen Gesamtschau der Erdgeschichte sprechen.
Für Linnaeus war die Natur schlicht ein Substantiv. Alle Spezies blieben so, wie sie in der Genesis erschaffen worden waren, sie stellten ein unveränderliches Tableau dar. Buffon interpretierte die Natur als ein Verb, als einen Strudel ständigen Wandels. Für Linnaeus war Klassifikation gleichbedeutend mit Wissen: Wie sonst wollte man das Leben verstehen, wenn nicht durch seine Einordnung in sauber unterteilte Kategorien? Buffon sah in der Klassifikation eine übertriebene Vereinfachung; zwar nützlich für praktische Zwecke, lief sie doch immer Gefahr, grundlegende Missverständnisse einzuschließen. Linnaeus glaubte, ein einziges Exemplar eines Lebewesens könne beispielhaft für seine jeweilige Spezies stehen, die »Essenz« darstellen, die es von allen anderen Spezies abgrenzt. Buffon war der Ansicht, dass Spezies weit veränderlicher seien und dass unbekannte Kräfte sie über lange Zeit miteinander verbanden.
Linnaeus handelte mit Gewissheiten und gratulierte sich selbst aus vollem Herzen dazu. In einer seiner Autobiografien (er verfasste deren vier) beschrieb er sich selbst in der dritten Person so:
Gott selbst hat ihn geleitet. […] Der Herr gewährte ihm Einblick in Seine Geheimnisse und ließ ihn mehr von Seinen Schöpfungen erblicken als irgendeinen Menschen vor ihm. Gott hat ihm den größten Einblick in die Naturgeschichte gegeben, größer als sie irgendjemand sonst zuteilgeworden ist. Gott ist mit ihm gewesen, wohin es ihn auch zog, und der Herr hat alle seine Feinde für ihn ausgelöscht und ihn zu einem großen Namen werden lassen, nicht geringer als jene der größten Männer auf Erden.[13]
Im Gegensatz dazu war Buffon zu der Überzeugung gelangt, die Natur ließe sich nur auf eine einzige Weise studieren, nämlich in einem Zustand permanenter Ungewissheit – mit der Bereitschaft, Beobachtungen zusammenzutragen und Zusammenhänge zu erkunden, sich dabei aber stets das Gefühl des Staunens zu bewahren und mit der Erwartung des Unvorhergesehenen zu leben. Die Weltsichten der beiden Männer waren grundverschieden, wie die metaphorische Verwendung von Maske und Schleier durch Buffon veranschaulicht. »Die größten Hemmnisse für den Fortschritt menschlichen Wissens liegen weniger in den Dingen selbst als vielmehr in unserer Betrachtungsweise der Dinge«, schrieb er. »Die Natur […] trägt nur einen Schleier, und wir setzen ihr eine Maske aufs Antlitz. Wir beladen sie mit unseren eigenen Vorurteilen und meinen, sie würde ihr Handeln und ihren Fortgang in der gleichen Weise betreiben wie wir selbst.«[14]
Für Buffon waren Systeme nichts anderes als Masken, die wir der Natur überstülpen. Sie standen für einen Drang, die Natur so zu sehen, wie wir sie gerne sehen wollten, und nicht so, wie sie tatsächlich war. Es lehrte uns Demut, geduldig zu beobachten, nur ab und an flüchtig hinter den Schleier zu blicken, aber für ihn gab es keine andere Wahl. Die Natur war zutiefst und im Übermaß komplex – möglicherweise überstieg sie menschliches Begriffsvermögen, waren doch die Menschen selbst Teil der Gleichung. Alles in ordentliche Kategorien zu unterteilen, hieß, die inhärenten Wechselbeziehungen des Lebens zu bestreiten. »Die Natur, dargestellt in ihrem vollen Ausmaß, bietet uns ein gewaltiges Schauspiel«, schrieb er,
eine fortlaufende Reihe von Gegenständen, so nahe und einander so ähnlich, dass die Unterschiede nur schwer zu beschreiben wären. Diese Kette ist nicht einfach ein Faden, der bloß immer länger wird, sie ist ein großes Geflecht oder vielmehr ein Netzwerk, welches von Knoten zu Knoten Zweige nach dieser und jener Seite ausstreckt, um sich mit den Netzwerken einer anderen Ordnung zu vereinen.[15]
Würden die Menschenmassen und Ehrbezeugungen jenes Aprilmorgens irgendeinen Schluss zulassen, dann hatte Buffons ganzheitlich-komplexe Weltsicht triumphiert: Die Natur war als dynamisches Ganzes zu betrachten, nicht als statische Einheit zu erobern. Doch binnen fünf Jahren sollte Buffon als Feind des Fortschritts geschmäht werden, abgetan als Symbol einer unbedeutenden Vergangenheit, das man am besten aus der Erinnerung streicht. Seine sterblichen Überreste ließen Plünderer, die Buffons Sarg seiner Metallteile beraubten, achtlos aus just jenem Sarg fallen, der einst feierlich durch die Straßen von Paris zu Grabe getragen worden war. Eine mit Fackeln bewehrte Menge strömte durch die Tore seines geliebten Jardin, ignorierte seine monumentale Statue – so wie sie aufgestellt war, konnte man sie schwerlich zerstören – und verlangte zeternd nach der Installation eines Abbilds des Mannes, dessen Lebenswerk parallel und zugleich im diametralen Gegensatz zu jenem Buffons stand: einer Gipsbüste, hastig herbeigeschafft und bemalt, damit sie nach Marmor aussah, von Carl Linnaeus.
Dabei muss man erwägen, daß es kaum eine Sache von größerer Schwierigkeit und von zweifelhafterem Erfolge gibt, als sich zum Haupte einer neuen Staatsverfassung aufzuwerfen.
Machiavelli
Ein Bildnis von Linnaeus aus dem 19. Jahrhundert, das ihn als kindlichen Botaniker zeigt
Die Landschaft Schwedens im 17. Jahrhundert war übersät mit Schreinen der Natur. Es waren Linden, welche die Schweden in einem halb mystischen Licht sahen: Sie verbanden die herzförmigen Blätter und die duftenden Blüten mit Freyja, der nordischen Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit. Schwangere Frauen suchten die Bäume auf, um Blätter zu sammeln, in der Hoffnung, sich Freyjas Schutz bei der Geburt zu sichern, wenn sie auf mit Lindenblättern gefüllten Kissen schliefen. Reisende suchten bei Sturm unter den Ästen des Baumes Schutz, in dem Glauben, Thor würde sich Freyja unterordnen und seine Blitze anderswo einschlagen lassen. Die silbrig schimmernden Stämme waren beliebte Orte für romantische Liebeserklärungen und geschäftliche Vereinbarungen, denn von Freyja nahmen die Leute an, sie würde jeden bestrafen, der unter ihrem Geäst die Unwahrheit spräche.
Ein uralter Lindenbaum wurde ganz besonders verehrt. Er wuchs nahe der Grenze der südschwedischen Provinz Småland, auf einem Feld, das sich über die Gemeinden Vittaryd und Jonsboda erstreckte. Über seinem hoch aufragenden mächtigen Dreifachstamm dehnte sich ein Blätterdach mit einem Durchmesser von etwa siebzig Metern. An seine Wurzeln schmiegte sich ein kleiner Steinhaufen, der noch aus der Bronzezeit stammte und für die Markierung der Grabstätte eines Wikingerkriegers gehalten wurde. Die einheimischen Bewohner von Småland hatten den Baum und den ihn umgebenden Grund und Boden schon vor langer Zeit zum våarträd erklärt, einem kostbaren Wahrzeichen, welches der ganzen Landschaft in seiner Umgebung Schutz gewähren sollte.
Für die Familie, der das Land gehörte, bedeutete dies Ehre und besondere Verpflichtung zugleich: Våarträds wurden nach Möglichkeit unberührt gelassen, selbst wenn sie sich auf Grund und Boden befanden, der ansonsten produktives Ackerland hätte sein können. Über Generationen hegte und pflegte die Familie den Baum. Wenn Zweige oder Äste fielen, sammelte man diese sorgfältig ein (das Abbrechen auch nur eines einzigen Zweiges brachte Unglück), stapelte sie fein säuberlich auf den Wurzeln zu Füßen des Baumes auf und ließ sie in Ruhe verwittern. Eine Umzäunung wurde errichtet, um den Baum vor Wildtieren zu schützen, die ihn mit ihren Köpfen oder Geweihen bearbeiten, sich daran reiben oder die Rinde hätten abknabbern können, Besucher hatten allerdings weiterhin über einen Pfad Zugang zu dem Stamm.
Die Familie hatte keinen Nachnamen. Auf dem Land war das in Schweden durchaus üblich, dort brauchte es in der Regel keine Nachnamen; die lebenslängliche Anwesenheit auf dem angestammten Flecken Erde genügte als Identitätsnachweis. Die meisten männlichen Bewohner bedienten sich, wenn sie einen Nachnamen brauchten, einfach des Patronyms, das heißt, sie hängten ein »-son« an den Vornamen des Vaters an – deshalb wimmelt es in Schweden heute von Johannssons, Nilssons, Petterssons und Svenssons. Im Herbst des Jahres 1690 jedoch traf ein 16 Jahre junger Mann namens Nils eine andere Wahl. Anstatt wie üblich zu Nils Ingemarsson zu werden, beschloss er, sich zum Andenken an den Baum seiner Familie den Nachnamen »Linnaeus« zu geben – »Mann vom Lindenbaum«, allerdings nicht auf Schwedisch, sondern Latein.
Die Namenswahl verriet seinen Ehrgeiz. Nils war auf dem Sprung, von zu Hause wegzugehen und die Universität im 240 Kilometer entfernten Lund zu besuchen, wo man als Sprache des akademischen Diskurses das Lateinische pflegte. Viele Gelehrte legten sich lateinische Versionen ihres Nachnamens zu, deshalb kennt man Michel de Nostredame üblicherweise als Nostradamus, und Nikolaj Kopernik ist besser bekannt als Nikolaus Kopernikus. Sich allerdings schon im Voraus einen latinisierten Namen zuzulegen, war ein schriller und vermessener Schritt im provinziellen Småland. Aber dieses Leben in der Provinz war genau das, was Nils hinter sich lassen wollte.
***
Nils Linnaeus entfernte sich nicht ganz so weit vom Lindenbaum wie eigentlich erhofft. Das bäuerliche Einkommen seiner Familie reichte, um ihn auf die Universität zu schicken, aber es war nicht genug, um ihn dort zu halten. Als er ankam, hatte er kaum das Schulgeld für ein einziges Jahr an der Universität bei sich und hoffte, den Rest mit einer Mischung aus Stipendien und Gelegenheitsarbeiten bestreiten zu können. Als jedoch aus diesen erhofften Geldquellen nichts wurde, brach er seine Ausbildung ab und wanderte den größten Teil des folgenden Jahrzehnts kreuz und quer durch Schweden und das benachbarte Dänemark, ohne an irgendeinem Ort oder in irgendeinem Beruf dauerhaft Fuß zu fassen. Nach allem, was man weiß, war er eine sympathische Erscheinung, eine liebenswürdige, aufgeschlossene Seele. Und er hatte es nicht besonders eilig, sich wieder in Richtung Heimat auf den Weg zu machen.
Als er schließlich zurückkehrte, war er 27 Jahre alt, die Familie war enttäuscht und er musste sich nach einem Lebensunterhalt umsehen. Weil ihm die Mittel fehlten, um sich in Småland als Landwirt niederzulassen, begann er zu studieren, um ein lutherisches Priesteramt anzutreten. Zwei Jahre später fand der frisch ordinierte Pfarrer Linnaeus einen Einstiegsposten als Hilfsprediger (Komminister) in dem Dorf Stenbrohult, einer Bauerngemeinde an den Ufern des Möckelnsees. Der Flecken lag nur 30 Kilometer von seinem Geburtsort und dem Lindenbaum entfernt, dem er seinen Namen verdankte. Im Jahr 1706 heiratete er Christina Brodersonia, die Tochter seines unmittelbaren Vorgesetzten; die nahm danach den Namen Christina Linnea an (»Frau vom Lindenbaum«). Am 23. Mai 1707 brachte sie ihr erstes Kind zur Welt, einen Sohn. Zu Ehren des schwedischen Königs nannten die Eltern ihn Carl.
Geburt und frühe Kindheit von Carl Linnaeus sind kräftig ausgeschmückt mit allerlei Familienlegenden und späteren Versuchen, aus ihm eine Art säkularen Heiligen zu machen, dazu ausersehen, die grünen Pfade des Ruhms zu beschreiten. Nicht belegten Berichten zufolge soll der Knabe mit schneeweißem Haar – dem Kennzeichen eines Skogsande oder Walgeistes – zur Welt gekommen sein, das erst später nachdunkelte und braun wurde. Das Kleinkind war merkwürdig unruhig und reizbar, nur wenn seine Mutter Blumenbouquets über seiner Krippe drapierte, war es zu beruhigen. »Blumen wurden zu Carls erstem und liebstem Spielzeug«, schrieb ein früher Biograf. »Der Vater nahm den kleinen, ein Jahr alten Sohn manchmal mit hinaus in den Garten, setzte das Kind ins Gras und gab ihm eine kleine Blume in die Hand, mit der er sich vergnügen konnte.«[16]
Und Blumen gab es im Überfluss. Inzwischen war Pfarrer Linnaeus seinem Schwiegervater als Pastor nachgefolgt und mit seiner Familie ins Pfarrhaus von Stenbrohult gezogen, und da er nun nicht mehr in der Kirchengemeinde umherreisen musste, begann er, die Gartenarbeit als Hobby zu pflegen. Des Pfarrers Garten nahm stattliche Ausmaße an und umfasste mehrere Hundert Blumenarten, mit einem »Festmahl« aus Blumen im Zentrum, einer Art Hochbeet in Form eines runden Tisches, besetzt mit Pflanzen, die sorgfältig so gehegt wurden, dass sie wie zum Festschmaus belegte Teller wirkten. Am Rand des Tisches gepflanzte Stauden wurden in Form geschnitten, die Rolle von Tischgästen zu übernehmen. Der junge Carl verbrachte angeblich viele Stunden in der Gesellschaft dieser imaginären Gäste und noch mehr Stunden mit der Hege und Pflege seines eigenen Gartenstücks ganz in der Nähe. Ein früher Biograf schrieb, der Junge »suchte unentwegt in Feld und Wald nach Blumen. […] Seine liebevolle Mutter beklagte, dass er, kaum war er einer neuen Blume habhaft geworden, diese auch schon grausam in Stücke riss, denn der kleine Kerl liebte es, den Geheimnissen der Natur, soweit dies möglich war, auf den Grund zu gehen.« Es gibt sogar eine Geschichte, der zufolge der junge Carl dabei erwischt wurde, wie er heimlich Blumen zwischen den Seiten der Familienbibel presste. »Die Bibel ist das Buch des Lebens«, soll er erläutert haben, »und wenn ich die Blumen zwischen ihre Seiten lege, so werden sie doch gewiss ihre Farbe behalten, denn die Bibel wird sie für immer am Leben erhalten.«[17]
Aber solche Geschichten, selbst wenn sie zutrafen, waren bedeutungslos: Der Beruf des Jungen stand bereits mit der Geburt fest. Genau wie Nils Linnaeus seinem Schwiegervater als Pfarrer von Stenbrohult nachgefolgt war, so sollte Carl ihm nachfolgen und damit in fünfter Generation den erblichen Platz auf der Kanzel einnehmen, der die Mitgift seiner Mutter gewesen war. Die sorgsame Pflege eines Gartens war das Steckenpferd des Vaters, eine Verschnaufpause neben der Seelsorge für die Menschen. Das konnte durchaus auch zum Steckenpferd seines Sohnes werden – mehr aber auch nicht.
***
Carl sollte später den Moment, an dem sich seine Faszination in Besessenheit verwandelte, präzise benennen. Es war an einem sonnigen Frühlingstag im Jahr 1711, kurz nach seinem vierten Geburtstag. Das Wetter war so schön, dass viele Bürger Stenbrohults ihre häuslichen Pflichten ruhen ließen und ein Picknick auf Möklanäs genossen, einer Wiese auf einer Landzunge, die in den Möckelnsee hineinragt. Hinterher entspannten sich die Leute im üppigen Gras, und Pfarrer Linnaeus unterhielt sie mit einem spontanen Vortrag über Botanik. »Die Zuhörer setzten sich irgendwo auf dem blumenbewachsenen Boden nieder«, erinnerte sich Carl später, während sein Vater ein paar Exemplare in der Nähe pflückte und »allerlei Bemerkungen zu den Namen und Eigenschaften der Pflanzen machte, wobei er ihnen die Wurzeln von Succisa, Tormetilla, Orchides zeigte.«[18]
Noch Jahrzehnte später hatte er die lateinischen Namen dieser zufällig gepflückten Exemplare klar und deutlich im Kopf. In der dritten Person von sich selbst sprechend, beschrieb er später jenen schicksalhaften Moment:
Das Kind schenkte allem, was es sah und hörte, seine absolute und ungeteilte Aufmerksamkeit und ließ von dieser Stunde an niemals davon ab, seinen Vater mit Fragen über Namen, Eigenschaften und das Wesen jeder einzelnen Pflanze zu bedrängen, die ihm begegnete; sehr oft fragte er sogar mehr, als sein Vater zu beantworten imstande war.
Carls unstillbarer neuer Wissensdurst führte zu manch heiklen Momenten im Garten der Familie. Wie er später zugab (erneut in der dritten Person), pflegte er nach einer Pflanze zu fragen, »aber wie andere Kinder vergaß er sofort wieder, was er gerade gelernt hatte, vor allem aber die Namen der Pflanzen« (Hervorhebung von Linnaeus selbst). Sein Vater, der ständigen Wiederholungen müde, stellte dem Knaben ein Ultimatum: Von nun an würde er für ihn Pflanzen beschreiben und benennen, aber immer nur ein einziges Mal. Carl Linnaeus sollte seinem Vater für den Rest seines Lebens für zwei Geschenke dankbar sein: seine Einführung in die Botanik und »diese Strenge« der Unterweisung, die sein Gedächtnis schon in frühester Kindheit schärfte, »denn von da an merkte ich mir mit Leichtigkeit alles, was ich hörte«.
Im Jahr 1717 lieferte sein Vater den zehnjährigen Carl bei der »Trivialschule« in Växjö ab, knapp fünfzig Kilometer entfernt von Stenbrohult. Er regelte seine Unterkunft und Verpflegung und ermahnte ihn, er solle sich »nützliche Dinge für die Priesterschaft aneignen«. Die Trivialschule hieß so, weil sie die drei Fächer des klassischen akademischen Triviums lehrte: Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Es war ein exklusiver Lehrplan: Die Grammatik betraf das Lateinische und Griechische, die Rhetorik gründete auf Aristoteles, und die Dialektik bezog sich auf Sokrates. Trivialschulen überforderten zumeist selbst die intelligentesten jungen Menschen aus der Provinz – was, wie Carl rasch herausfand, die Schulmeister veranlasste, »lieber zu Strafen und Stockschlägen zu greifen als zu Ermahnung und Ermunterung«.[19] In seinem zweiten Jahr in Växjö schleppte sich Carl morgens nur noch mit einem wachsenden Gefühl der Angst in seine Unterrichtsstunden.
Er wurde ein bestenfalls mittelmäßiger Schüler. Auch wenn er den Großteil seiner Karriere mit dem Verfassen von Werken in lateinischer Sprache zubringen sollte, beherrschte er diese Sprache doch eher handwerklich denn elegant; sogar über sein Schwedisch machten sich sprachgewandtere Kollegen lustig. Die ersten fünf Jahre brachte er fast ausnahmslos auf dem kleinen Gelände der Trivialschule zu, bis sein Status als Oberschüler ihm das Recht gab, das Schulgelände zu verlassen. Fortan verbrachte er Stunden auf einsamen Spaziergängen in den Wäldern und Feldern rund um Växjö. Falls er Freundschaften schloss, so erwähnt er jedenfalls nichts davon in seinen vier Autobiografien. Was er jedoch festhält, ist, dass Mitschüler und Lehrer ihn inzwischen den lilla botanisten nannten, den »kleinen Botaniker«, eine Anspielung auf seine Statur (er wurde gerade einmal 1,52 m groß), aber ebenso auf seine wachsende Obsession. Von seinen einsamen Spaziergängen brachte er jede Menge Blumen und Blätter mit, die er zwischen den Seiten seiner Bücher trocknete. Todunglücklich und von Heimweh nach Stenbrohult geplagt, wo die »Flora anscheinend all ihre Schönheiten verschwenderisch ausgebreitet hat«, wie er sich inzwischen ausmalte, zog sich Carl immer mehr in sein privates Fachwissen zurück.[20] Der väterliche Garten erschien ihm unerreichbar weit entfernt, ein Garten Eden, aus dem er vertrieben worden war. »Lasst das Kind sich an seinem Paradies erfreuen«, schrieb er später. »Durch Sorge vertrieben wird es noch früh genug werden.«
In seiner Jugendzeit wurden die schulischen Anforderungen nur noch größer. In Mathematik und Physik kam er einigermaßen zurecht, seine Leistungen in Hebräisch, Metaphysik und Theologie waren jedoch miserabel – regelmäßig rangierte er unter den schlechtesten Schülern der Schule. Seine Eltern bekamen allerdings nichts davon mit und bei den seltenen Besuchen daheim beichtete Carl auch nichts von seinem schulischen Elend. Im siebten Jahr in Växjö jedoch mischte sich pure Verzweiflung unter die Ängste des »kleinen Botanikers«. Er schaffte es nicht – er hatte es nicht geschafft –, sich nützliche Dinge für das geistliche Amt anzueignen. Dafür würde man ihm die Rechnung präsentieren.
***
Die Rechnung kam im Jahr darauf, als sich Pfarrer Linnaeus eine geringfügige, aber anhaltende Krankheit zuzog. Auf dem Weg zu seinem alten Freund Johann Rothman, einem Arzt mit einer Praxis in Växjö, beschloss er, auf einen spontanen Besuch in der Trivialschule vorbeizuschauen. Wie sich Carl später erinnerte, war sein Vater voller »Hoffnung, von den Lehrern schmeichelhafte Schilderungen der Fortschritte des geliebten Sohnes zu vernehmen«,
aber die Dinge liefen anders […], man hielt es für richtig, dem Vater anzuraten, er solle den Jüngling bei einem Schneider oder Schuhmacher in die Lehre geben oder in irgendeinem anderen Handwerk, das wäre einer akademischen Bildung, für die er offenkundig ungeeignet sei, eindeutig vorzuziehen.[21]
Der Pastor konnte sein Entsetzen nicht verbergen. Ein Schneider oder Schuhmacher. Die Enttäuschung saß tief, aber vor allem war das ein finanzielles Fiasko. Die Ausgaben für Schule, Kost und Logis waren über Carls neun Schuljahre hinweg eine bedeutende Belastung gewesen. Nun würden noch weitere Ausgaben anfallen, da an Carls Stelle nun sein jüngerer Bruder Samuel die geistliche Ausbildung antreten müsste. Noch drängender jedoch war die Frage: Was sollte aus Carl werden? Die Empfehlung der Schule, ihn in eine Handwerkslehre zu schicken, war zu spät gekommen. Er war kein kleiner Junge mehr, sondern ein junger Mann von bald zwanzig Jahren. Schwer vorstellbar, dass ein gestandener Handwerker beim Anblick des schmächtigen Jungen, der mit dem Kopf immer woanders war, ihn überhaupt als Lehrling aufnehmen würde.
Nach seiner Ankunft klagte Pfarrer Linnaeus Dr. Rothman sein Leid. Der lauschte verständnisvoll, bestätigte dann aber auch, dass die harsche Beurteilung durch die Schule wohl nicht von ungefähr komme: Der Arzt war in Teilzeit auch als Physiklehrer an der Trivialschule tätig, und auch ihm war der junge Linnaeus als sich abmühender, aber unmotivierter Schüler aufgefallen. Zugleich hatte er jedoch erkannt, dass Carl über einen wachen Verstand verfügte und über die Fähigkeit, sich geradezu besessen auf eine Sache zu konzentrieren. Vielleicht, so regte er an, sei ja eine andere Lösung denkbar.
Zu jener Zeit galt die Botanik kaum als eigenständiges Berufsfeld. Sie war etwas für den Hobbygärtner oder vielleicht einen unabhängigen, wohlhabenden Dilettanten. Es gab Professoren, die Botanik als Fachrichtung lehrten, aber lediglich im Rahmen eines medizinischen Lehrplans, weil Kenntnisse über Pflanzen und ihre Verwendungsmöglichkeiten ein wichtiger Aspekt der Medizin waren. Ob Nils möglicherweise erwogen habe, seinen Sohn Arzt werden zu lassen? Rothman bot an, Carl bei sich aufzunehmen und ihn ein Jahr lang auszubilden. Es würde sich um eine informelle Lehre handeln, aber mit ein wenig Glück hätte Carl am Ende das Rüstzeug, um eine medizinische Fakultät zu besuchen.
Der Vorschlag stieß bei Nils Linnaeus nicht auf große Gegenliebe. Die Medizin genoss damals in Schweden viel weniger gesellschaftliches Ansehen als die Zugehörigkeit zum Pfarrerstand, zudem hatte Carl noch nie Interesse an dem Thema bekundet. Er fürchtete, sein Sohn, der Tagträumer, würde bestenfalls als Militärarzt unterkommen und damit zu den am wenigsten angesehenen Vertretern der Ärzteschaft gehören, lediglich dazu da, Verwundete auf dem Schlachtfeld und Syphilis in den Kasernen zu behandeln. Bessere Optionen gab es aber offenbar nicht. Also willigte Nils ein, machte sich auf nach Stenbrohult und fragte sich die ganze Zeit, wie er diese Nachricht wohl seiner Frau beibringen sollte.
Von der Last der eintönigen Trivialschule befreit, erwies sich Carl als williger Lehrling, der die Schule verließ und bei seinem vorübergehenden Lehrmeister einzog. Die Einwohner Växjös gewöhnten sich an den Anblick des »kleinen Botanikers«, der dem Arzt bei seinen Visiten nicht mehr von der Seite wich und sein Bestes gab, um aus sich den »kleinen Doktor« zu machen. Als jedoch das Lehrjahr bei Rothman zu Ende war, kehrte Carl zurück ins heimatliche Stenbrohult, wo ihn ein angespanntes Wiedersehen mit der Familie erwartete. Der Pfarrer hatte seiner Frau die Wahrheit über das akademische Scheitern des Sohnes so lange wie möglich verschwiegen und es war für sie kein Trost gewesen, als sie schließlich von dem eilig arrangierten Berufswechsel erfuhr. Gleichermaßen verärgert und enttäuscht, verbot Christina Linnea, Gärtnerei und Botanik innerhalb des Hauses auch nur zu erwähnen. Immerhin gab sie ihr frostiges Einverständnis, dass Carl ab dem Herbst die medizinische Fakultät besuchte.
Carl verließ sein Zuhause am 17. August 1727. Bei sich trug er ein Empfehlungsschreiben seiner ehemaligen Schule – technisch gesehen die Voraussetzung, um sich an der medizinischen Fakultät einschreiben zu können, allerdings war dieses Schreiben so abschätzig formuliert, dass er gar nicht erst daran dachte, es vorzulegen. Außerdem hatte er einen Geldbeutel mit silbernen schwedischen Talern bei sich, ein Geschenk seines Vaters, der allerdings klargestellt hatte, dass der Sohn mit weiterer finanzieller Unterstützung leider nicht rechnen könne. Der Betrag reichte bestenfalls für ein Jahr. Danach müsste er improvisieren.
Statue des jungen Linnaeus im Botanischen Garten von Uppsala
Am 19. April 1729 verschwand in der schwedischen Stadt Uppsala Professor Olof Celsius zwischen Unkraut und Gestrüpp auf einem verwilderten Feld. Pummelig, gekleidet in die schwarze Amtstracht, das Gesicht eingerahmt von einer gepuderten Perücke und einem prächtigen Ziegenbart, machte der Wissenschaftler mittleren Alters eine würdevolle Figur, die umso weniger zu seinem plötzlichen Abtauchen in ein überwuchertes Dickicht passen wollte, in dessen Nähe Kühe grasten. Auf zufällige Passanten wirkte das Stück Land wie verlassen, aber Celsius wusste um dessen Geheimnis. Genau dort verbargen sich die Überreste eines Gartens.
Fast ein Jahrhundert zuvor hatte ein anderer Professor aus Uppsala hier einen privaten Lehrgarten angelegt, ein Klassenzimmer unter freiem Himmel, in dem Medizinstudenten praktische Erfahrungen bei der Bestimmung medizinisch nützlicher Pflanzen sammeln konnten. Die Sammlung gedieh über Generationen hinweg und zählte fast zweitausend botanische Varietäten (darunter als absolute Neuerung in Schweden eine Kuriosität mit Namen Kartoffel). Was war mit dem Botanischen Garten von Uppsala geschehen? Genau dasselbe, was auch der Stadt Uppsala selbst widerfahren war. Über Jahrhunderte hatte Uppsala mit Stockholm um den Status der führenden Stadt Schwedens konkurriert. Stockholm war das Handelszentrum und der Sitz der Regierung, Uppsala war das kulturelle und religiöse Zentrum, der Hauptsitz der schwedischen Kirche, Heimat der ältesten Universität Nordeuropas und Krönungsort der schwedischen Könige und Königinnen (die traditionell in Stockholm und in Uppsala Schlösser unterhielten). Im Jahr 1702 endete diese Rivalität abrupt, als ein Großfeuer unbekannter Ursache durch Uppsala tobte, angefacht von starken Winden, die durch die engen mittelalterlichen Straßen fegten wie Luft in einem Blasebalg. Der große Brand legte drei Viertel der Stadt in Schutt und Asche und bedeutete einen Rückschlag, von dem sich Uppsala nie wieder ganz erholte. Anstatt Schloss Uppsala instand zu setzen, ließ Schwedens König Steine aus den Trümmern fortschaffen und in seinem Stockholmer Palast verbauen.
Uppsala war nun keine Metropole mehr und erfand sich in kleinerem Maßstab neu. Auch 26 Jahre später war die Stadt noch mit dem Wiederaufbau beschäftigt, und an dem alten Lehrgarten war niemandem besonders gelegen. Nur ein Zehntel der Pflanzen hatte das Feuer überstanden. Nun wuchsen sie größtenteils ganz selbstständig, überwucherten angelegte Pfade und rankten sich über noch immer verkohlte Erde. Doch in Teilen des inneren Bereichs konnte man sich nach wie vor einigermaßen orientieren, und Professor Celsius fand, dies sei der passende Ort, um seine Gedanken zu sammeln. Er schrieb gerade ein Buch über Pflanzen – oder versuchte es zumindest.
Das Unterfangen erschien zunächst nicht weiter kompliziert. Unter dem Arbeitstitel Hierobotanicum (Heilige Pflanzen) wollte er sich ausschließlich mit den Einzelheiten der 126 Pflanzen befassen, die im Alten und im Neuen Testament Erwähnung finden. Aber obwohl Celsius einer der führenden Bibelgelehrten Schwedens war, plagte ihn eine große Unsicherheit. Die Namen all dieser 126 Pflanzen zu kennen, so hatte er feststellen müssen, war eine Sache, sie zu bestimmen eine ganz andere.
Was beispielsweise war der »Ysop«, von dem im Zweiten, Dritten und Vierten Buch Mose sowie in den Psalmen die Rede ist? Die Bibel erwähnt eine solche Pflanze an zwölf Stellen, aber zu den Zeiten Celsius’ wurde der Name Ysop mit mindestens fünf verschiedenen Pflanzen in Verbindung gebracht: einem Kraut, einem Nesselgewächs, einer Wasserpflanze, einer Wildblume und einer Anis-Art. Überdies war Ysop (hyssop) eine Transliteration aus dem Griechischen; auf Hebräisch heißt die Pflanze ezob oder ezov, was möglicherweise etwas ganz anderes bezeichnet, vielleicht aber auch nicht. Warum war das wichtig? Die Bibel erwähnt den Ysop als entscheidende Zutat, wenn es darum geht, eine Kirche spirituell zu reinigen, ein Haus von der Lepra zu befreien, einen Leichnam für die Bestattung vorzubereiten und eine rote Kuh korrekt zu opfern. Celsius hatte nicht die Absicht, derlei Rituale durchzuführen, aber sie alle standen mit dem faszinierenden Thema der Hygiene in Verbindung. Besaß der biblische Ysop desinfizierende Eigenschaften oder bot er Schutz vor ansteckenden Krankheiten? Derartige Einsichten konnten erst gewonnen werden, wenn klargestellt war, welche der fünf Ysop-Varianten nun die Pflanze war, um die es hier in Wahrheit ging – wenn es denn überhaupt eine der fünf war. Diese Entscheidung zu treffen, fühlte sich Celsius nicht befähigt.
In dem zerstörten Garten hatte Celsius normalerweise die Freiheit, über derlei Dinge in aller Ruhe nachzusinnen. Doch an jenem Frühlingstag, als er über einen verwitterten Pfad schritt, sah er einen weiteren Besucher. Ein junger Mann saß auf einer Bank und kritzelte eifrig in seinem Notizbuch. Er war klein, kaum größer als 1,50 Meter, und von so schmächtigem Wuchs, dass er beinahe elfengleich wirkte. Er trug keine Perücke, was ihn als jemanden auswies, der nicht der gehobenen Gesellschaft zuzurechnen war. Seine Kleidung war nicht nur abgetragen, sie saß schlecht und passte überhaupt nicht zusammen, als wären die Einzelteile gestohlen oder erbettelt worden. Ein verschlissener Mantel hing schlaff über seinen schmalen Schultern. Aus Löchern in seinen Schuhen lugten Fetzen Zeitungspapier hervor.
Die Universität von Uppsala war voller bettelarmer Studenten, die nur notdürftig über die Runden kamen, aber dieser Fremde wirkte tatsächlich eher wie ein Bettler denn wie ein verarmter Student. Celsius trat näher heran und bemerkte, dass der junge Mann nicht etwa schrieb, sondern etwas aus der Natur abzeichnete: Mit groben, schmucklosen Strichen skizzierte er eine Blume, die in der Nähe wuchs. Der offenkundige Mangel an künstlerischer Absicht (und Befähigung) bedeutete, dass es sich hierbei nicht um ein Stillleben handeln konnte, sondern um ein naturkundliches Schaubild. Die Blume war ein bestimmtes Exemplar einer Art.
»Was untersuchen Sie?«, fragte der Professor.[22]
Der Fremde antwortete höflich. Doch anstatt den schwedischen Namen der Pflanze zu nennen, führte er eine wenig bekannte technische Bezeichnung an, die von dem französischen Botaniker Joseph Pitton de Tournefort stammte. Das war beeindruckend. Celsius wusste, dass Tourneforts Systematik der Pflanzenklassifizierung überaus schwer zu beherrschen war – man musste dafür nicht weniger als 698 unterschiedliche Kategorien auswendig lernen. »Sie kennen sich mit Pflanzen aus? Haben Sie Botanik studiert?«, wollte Celsius wissen. »Wie heißen Sie?«
»Carl Linnaeus, mein Herr.«
»Woher kommen Sie?«, fragte Celsius, auch wenn die Antwort bereits weitgehend der Sprechweise des jungen Mannes zu entnehmen war. Er redete mit dem vagen und undeutlichen Tonfall der ländlichen Provinzen und mit einem Akzent, der seine bäuerliche Herkunft einigermaßen deutlich durchblicken ließ.
Celsius zeigte auf verschiedene Gewächse. »Kennen Sie den Namen dieser Pflanze? Wie steht es mit jener dort?« Dieser Bursche namens Linnaeus nannte ihm beide Namen nacheinander. Dann begann er, ganz von sich aus, auch diverse Unkräuter zu identifizieren.
Also war er wohl doch mehr als bloß ein eifriger Student. Das musste schon ein ernsthafter, eigenständiger Botaniker sein. »Wie viele Pflanzen haben Sie gesammelt und gepresst?«, fragte Celsius.
»Mehr als sechshundert einheimische Wildblumen.« Das war das Dreifache dessen, was im Botanischen Garten überlebt hatte.
Celsius betrachtete den ungewöhnlichen jungen Mann, der trotz seiner schäbigen Kleidung redete wie ein Universitätsprofessor. »In den Augen hatte er nichts als Pflanzen, aber in seinem Magen herrschte die meiste Zeit gähnende, schmerzvolle Leere«, schrieb der renommierte Naturphilosoph John Muir später über diesen entscheidenden Moment in Linnaeus’ Leben. »Lehrjahre als Hungerjahre sind, wie es scheint, eine grausame Notwendigkeit bei der Ausbildung der Günstlinge des Himmels.«[23]
Celsius traf eine impulsive Entscheidung. Er führte mit seiner Frau einen lebendigen, vielköpfigen Haushalt, mit mehreren Kindern und einer stets geschäftigen Küche. »Kommen Sie mit«, sagte er, wandte sich abrupt zum Gehen und machte sich in Richtung seines Domizils auf, nur drei Häuserblocks entfernt. Er nannte keinen Grund, warum der Fremde ihm hätte folgen sollen, er hatte ihm noch nicht einmal seinen Namen verraten.
***
Der Carl Linnaeus, der ein paar Minuten später am Tisch im Hause Celsius saß und eine Mahlzeit hinunterschlang, war eine viel hagerere und gestähltere Gestalt als der junge Mann, der zweieinhalb Jahre zuvor die Provinz Småland verlassen hatte. Sein Medizinstudium hatte ihn durch zwei Universitäten geführt – und an den unmittelbaren Rand der Verarmung.
Seine erste Station war die Universität von Lund gewesen, die Alma Mater seines Vaters, nahe der Ostseeküste. Zur Zeit seines Vaters war Lund eine blühende Universitätsstadt gewesen, aber eine ganze Serie von Unglücken – Brände, ein Ausbruch der Beulenpest, wechselnde Besetzung durch schwedische und dänische Soldaten – hatte das verwüstet, was einst als Londinum Gothorum – das London der Goten – gegolten hatte und die größte Stadt ganz Skandinaviens gewesen war. Als Linnaeus dort eintraf, war Lund in einem schleichenden Verfall begriffen, die Einwohnerzahl war auf weniger als 1200 Menschen geschrumpft. Ganze Viertel waren aufgegeben worden, in denen nun Gänseschwärme und Rotten verwilderter Hausschweine auf Nahrungssuche umherstreiften. Die medizinische Fakultät der Universität Lund bestand nur noch aus einem einzigen Professor, dem ältlichen Johan von Döbeln, der vor ein paar Dutzend Studenten seine Vorlesungen vor sich hin nuschelte.
Linnaeus hatte keine Wahl – er musste versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Er mietete sich in eine Dachkammer im Haus von Killian Stobaeus ein, einem Arzt, der nicht mit der Universität in Verbindung stand. Stobaeus besaß eine eindrucksvolle Sammlung von Texten über Medizin, Geologie und Fossilien, aber die Bibliothek war verschlossen, und nur Stobaeus’ Assistenten, einem jungen deutschen Medizinstudenten namens Koulas, war der Zutritt gestattet. Linnaeus traf eine Abmachung mit Koulas: Er würde ihm Privatunterricht geben, dafür durfte Linnaeus sich unerlaubterweise Bücher ausleihen. Der Assistent schmuggelte die Bücher aus der Bibliothek zu Linnaeus, der sie über Nacht las und am Morgen wieder zurückbrachte, bevor der Hausherr der beiden entdecken konnte, dass Bücher fehlten. Die Masche funktionierte allerdings nur, bis der schlaflose Stobaeus eines Nachts um zwei Uhr mit einer Kerze in der Hand durchs Haus streifte und seinen Mieter schlafend an einem Tisch vorfand, neben sich eine Reihe verbotener Bücher.
Stobaeus war eher beeindruckt als wütend. Der Doktor weckte den Schlafenden, fragte ihn nach seinen heimlichen Studien aus, und der junge Mann imponierte ihm immer mehr. Zu Koulas’ Verärgerung behandelte Stobaeus schon bald Linnaeus als seinen Protegé, gewährte ihm Zugang zum ganzen Haus und kostenlose Verpflegung, und er nahm ihn sogar mit zu seinen Patientenbesuchen. »[Er] liebte mich nicht wie seinen Schüler, sondern eher wie seinen Sohn«, erinnerte sich Linnaeus später.[24] Doch zu Dankbarkeit konnte er sich trotzdem nicht durchringen. Dr. Stobaeus’ Gönnerschaft änderte nichts daran, dass Lund eine Sackgasse war, ein dem Untergang geweihtes Programm des Medizinstudiums in einer verfallenden Stadt.
Ohne Gelegenheiten, seine begrenzten Mittel aufzustocken, verlegte er sich erneut darauf, seine freie Zeit mit Wanderungen durch die angrenzende Wildnis zu verbringen, auf der Suche nach Exemplaren, die er in seine Sammlung aufnehmen könnte. Im Frühjahr 1728 erkundete er die nahe gelegenen Moore bei Fågelsång, als er einen Stich im rechten Arm verspürte. Zuerst ignorierte er den Schmerz, aber binnen weniger Stunden war die Stelle entzündet und stark geschwollen. Kurz darauf war er bettlägerig, hatte Fieber und immer stärkere Schmerzen. Dr. Stobaeus wusste keinen Rat und zog daher einen Kollegen namens Schnell hinzu. Der Chirurg brachte einen tiefen Schnitt an, der Linnaeus nicht nur eine Narbe vom Ellbogen bis zur Achselhöhle eintrug, sondern ihm auch (nach Überzeugung des Patienten) das Leben rettete. Die Ursache des Stichs war ein Mysterium, aber am Ende war er überzeugt, von einem schmalen Wurm aus der Luft attackiert worden zu sein, »so dünn wie ein Menschenhaar, grau mit schwarzen Gliedmaßen«, eine Kreatur, die aus dem Himmel herabstürzt und sich tief ins Fleisch ihres Opfers bohrt.[25] Er erfand auch einen Namen für das Geschöpf und nannte es den »Schuss«, um die Schnelligkeit und die von dem Wesen ausgehende Verletzungsgefahr zu verdeutlichen. Später taufte er das geheimnisvolle Etwas auf den wissenschaftlichen Namen Furia infernalis – Höllenfurie.
Sobald er sich einigermaßen erholt hatte, wechselte Linnaeus auf die wesentlich größere Universität von Uppsala – eine Entscheidung, die er augenblicklich bereute.
***
Uppsala, so stellte Linnaeus fest, war kaum besser als Lund. Die Universität beherbergte zwar über tausend Studenten, aber die medizinische Fakultät war kaum mehr als eine Illusion. Der Lehrplan sah zwar einigermaßen eindrucksvoll aus und bot Unterricht in Anatomie, Botanik, Zoologie, theoretischer und praktischer Medizin, Chirurgie, Physiologie und Chemie. In Wirklichkeit jedoch wurden alle diese Fächer von zwei ergrauten Professoren unterrichtet, und das auch nur dann, wenn den beiden der Sinn danach stand. Begünstigt durch ein auf dem Dienstalter beruhendes System, durch das sie praktisch niemandem Rechenschaft schuldig waren, ließen sie sich eher selten zu ihren Lehrveranstaltungen blicken. Stattdessen beriefen sie Assistenten, die laut aus Vorlesungstexten vorlasen, die Jahre, ja Jahrzehnte zuvor verfasst worden waren.
Diese legere Wahrnehmung ihres Lehrauftrags war inzwischen purer Nachlässigkeit gewichen. Seit Jahren waren weder Anatomie noch Chemie gelehrt worden. Bei der Unterweisung in praktischer Medizin wurde nur ganz selten mit echten Patienten gearbeitet. Das Hospital der Schule wurde so wenig genutzt, dass man einen Teil davon in eine Taverne umgewandelt hatte. Die zoologische Sammlung des Fachbereichs bestand aus kaum mehr als einem ausgestopften »Drachen« (vermutlich eine Eidechse) und einer 15 Zentimeter langen, zweiköpfigen Schlange. Botanik wurde so selten gelehrt, dass Linnaeus niemals die Gelegenheit bekommen sollte, auch nur eine einzige Unterrichtsstunde zu dem Thema zu besuchen. Der Botanische Garten war, wie bereits erwähnt, ein überwuchertes Feld. Die medizinische Ausbildung in Uppsala war in Wert und Ansehen derart gesunken, dass sie ihre Absolventen längst nicht mehr dazu qualifizierte, innerhalb Schwedens als Arzt zu praktizieren. Das Programm war gar nicht darauf ausgerichtet, medizinische Doktortitel zu verleihen, sodass die Studenten gezwungen waren, ihre Diplome anderswo zu erwerben. Die meisten verließen zu diesem Zweck das Land.
Linnaeus stand vor der bedrohlichen Herausforderung, Geld für eine dritte medizinische Universität aufbringen zu müssen, aber diese Sorge konnte er sich in der Zukunft machen. Er begann sein Studium in Uppsala mit dem Besuch der einzigen Vorlesung, die damals angeboten wurde, ein über mehrere Wochen angelegter Vortrag über Enten, Hühner und die medizinische Verwendung von Geflügel. Im Dezember 1728 gelang es ihm, ein kleines Stipendium zu ergattern, und er nutzte es für eine Reise nach Stockholm, wo eine Verurteilte kurz vor ihrer Hinrichtung am Galgen stand. Als Ersatz für den fehlenden Anatomieunterricht in Uppsala bezahlte er 16 Taler, um der Sezierung ihres Leichnams beiwohnen zu können.
Damit waren seine Geldvorräte nahezu aufgebraucht – und seine Optionen ebenso. Im Januar 1729 wich das Gefühl der Enttäuschung nagendem Hunger. Linnaeus, nach eigener Darstellung »gezwungen, dem Glück zu vertrauen, wenn er eine Mahlzeit ergattern wollte«, lieh sich Geld und nahm Kleidungsspenden von anderen Studenten an.[26] In einem billigen gemieteten Zimmer bibberte er sich durch den harten schwedischen Winter. Als sein letztes Paar Socken durchgewetzt war, schnitt er die Fußenden ab und trug die verbliebenen Hüllen um die Waden, da er auf die Wärme des Stoffs angewiesen war. Die Löcher in seinen Schuhsohlen verstopfte er mit Zeitungspapier. Linnaeus war zwar noch als Student eingeschrieben, konnte sich aber den Besuch der Vorlesungen nicht mehr leisten, deshalb verbrachte er nun Stunden in der medizinischen Bibliothek, wo er über botanischen Texten brütete. Es gab ein paar beeindruckende Raritäten in der Sammlung, allen voran der Hortus Siccus, der »trockene Garten«, in dem anstelle von Abbildungen gepresste Pflanzen direkt auf die Buchseiten geklebt waren. Es war ein gigantisches Werk mit mehr als dreitausend Seiten, die sich auf 26 Bände verteilten, und es war so wertvoll, dass Schwedens Armee es als Kriegsbeute aus Dänemark mitgebracht hatte. Aber Linnaeus hatte einen langen Weg zurückgelegt und einen hohen Preis bezahlt, nur um sich getrocknete Blätter ansehen zu dürfen.
Es führte kein klarer Weg vorwärts, und ein Zurück gab es auch nicht. Die erbliche Pfarrerstelle, einst sein Geburtsrecht, war längst auf seinen jüngeren Bruder Samuel übergegangen. Linnaeus träumte davon, Uppsala zu verlassen und sich nach Lund zurückzuziehen, wo er zumindest seinen alten Wohltäter Dr. Stobaeus um eine zweite Chance bitten könnte. Als das Wetter wieder wärmer wurde, begann er seine Sitzungen in der Bibliothek um einsame Stunden im alten Botanischen Garten zu erweitern und Blüten abzuzeichnen, sobald sie zum Vorschein kamen.
Der Garten wirkte in all seiner heruntergekommenen Schönheit allmählich wie die Endstation seiner Ambitionen, der letzte Halt, bevor er in ein Dasein als Landstreicher herabsinken würde – bis Professor Celsius des Weges kam, einen Blick auf Carls Notizbuch warf und nach den Namen von Pflanzen fragte.
Celsius’ spontan ausgesprochene Einladung führte zu weiteren Mahlzeiten und bald darauf zu einem Angebot, das der Bettelstudent ohne Zögern annahm: Unterkunft und Verpflegung, im Gegenzug sollte er dem Professor beim Abfassen seines Buches über die biblischen Pflanzen helfen. Linnaeus’ Beiträge zum Hierobotanicum sollten sich als bescheiden erweisen, denn Celsius arbeitete in der Folge noch weitere 18 Jahre an dem Manuskript. Aber am Ende erwiderte er Celsius’ Güte, indem er eine Pflanze Hyssop Officinalis taufte, gedacht als Antwort auf die quälende Frage nach dem »wahren« Ysop.
Als Bitterkraut wächst Hyssop Officinalis tatsächlich in den in der Bibel genannten Gegenden. Da aber Linnaeus niemals die hinter seiner Namenswahl stehende Logik erläuterte, scheint die Bezeichnung doch eher seiner selbst proklamierten Gewissheit geschuldet zu sein. Soweit die moderne geschichtliche und linguistische Analyse dies ermitteln kann, handelt es sich beim »wahren« Ysop in Wirklichkeit um Capparis spinosa, den Kapernstrauch.
Georges-Louis Leclerc, später mit dem Titel de Buffon versehen
Die Kindheit des Georges-Louis Leclerc ist von keinerlei Mythologie umrankt. Nur fünf Monate nach Linnaeus, am 7. September 1707, im ländlichen Burgund in dem Dorf Montbard geboren, war er nach allem, was man weiß, ein unauffälliges Kind. »Man kann sich aus seiner Kindheit und sogar aus seiner Zeit als Jugendlicher«, berichtete ein Verwandter, »nur jener Züge erinnern, die allen Kindern gemein sind, welche über ein gewisses Maß an gesundem Menschenverstand verfügen.«[27] In der Schulzeit bescheinigte man ihm, »keine ausgeprägten Begabungen« an den Tag zu legen – weder scheiterte er bei seinen schulischen Aufgaben, noch glänzte er darin. Er war eine recht angenehme Erscheinung, insbesondere stachen die sehr braunen, fast schwarz wirkenden Augen hervor. Ein besonderes Funkeln lag nicht in ihnen, so wenig, wie sie ausgeprägten Ehrgeiz verrieten. Darüber war niemand enttäuscht, denn von dem jungen Georges-Louis wurde nicht mehr erwartet, als dass er den etwas unappetitlichen Beruf seines Vaters übernahm.
In dem bescheidenen Maße, wie das im ländlichen Frankreich des 17. Jahrhunderts möglich war, standen die Leclercs aus Montbard beispielhaft für sozialen Aufstieg. Der Ururgroßvater des Jungen war Bauer gewesen, zog aber irgendwann von seinen Feldern ins Dorf und eröffnete ein Barbiergeschäft. Jede nachfolgende Generation hatte eine weitere Stufe auf der Leiter gesellschaftlichen Ansehens erklommen. Der Sohn des Barbiers wurde Arzt, der Sohn des Arztes wurde Richter, und der Sohn des Richters erlangte ein wichtiges Staatsamt. Nachdem Benjamin-François Leclerc die übliche Gebühr an König Ludwig XIV. entrichtet hatte (derartige Ämter standen offen zum Verkauf), wurde er zum regionalen Verwalter und Eintreiber der Gabelle ernannt, Frankreichs nationaler Steuer auf Salz.
Kaum eine Steuer war so verhasst wie die Gabelle. Eingeführt anno 1259 als einfache Verkaufssteuer auf Salz in Höhe von 1,66 Prozent, schimpften die Franzosen von Anfang an über die als ungerecht empfundene Abgabe. Die Pauschale bedeutete eine Last für die Armen und ein Schnäppchen für die Reichen. Aber Salz galt als eines der lebensnotwendigen Güter, unerlässlich nicht nur als Gewürz, sondern auch zur Haltbarmachung von Lebensmitteln in einer Zeit, die noch keine Kältetechnik kannte. Dies garantierte dem König einen derart konstanten Einnahmefluss, dass Frankreichs Monarchen die Steuer im Lauf der folgenden Jahrhunderte immer weiter ausdehnten, indem sie dem Volk Zwangskäufe auferlegten, verbunden mit immer drakonischeren Vorschriften. Zu der Zeit, als Benjamin-François Leclerc sein Amt als Salzkämmerer von Montbard antrat, war die Salzsteuer die größte Einnahmequelle der französischen Krone.
Die Schwierigkeiten, den Verbrauch eines gängigen Minerals zu kontrollieren, führten zu manch drastischen Maßnahmen. Salzbecken, Salzbergwerke und sogar das Abkochen von Meerwasser unterlagen strenger Regulierung – theoretisch konnten die Leute ihr eigenes Salz ernten, solange sie es anschließend bei staatlichen Stellen ablieferten und sich damit abfanden, es zurückkaufen zu müssen. Schäfern war es verboten, ihre Herden salzhaltiges Wasser trinken zu lassen. Grenzsoldaten inspizierten die Habseligkeiten der Reisenden, um Salzschmuggel auf die Spur zu kommen. Sie stießen Dorne durch das Gepäck und prüften anschließend auf Spuren des weißen Schmuggelguts. Besonders verhasst waren die Gabelous, bewaffnete Bevollmächtigte, die über Land zogen und nach verbotenen Schmuggelaktivitäten innerhalb Frankreichs Ausschau hielten. Die Gabelle fiel in unterschiedlichen Distrikten unterschiedlich hoch aus: Beispielsweise war die Steuer an dem einen Ufer der Loire 18 Mal höher als am gegenüberliegenden. Solche Ungleichheiten waren natürlich eine Verlockung für Schwarzhändler ebenso wie für arme Bauern, was wiederum die Gabelous veranlasste, ohne Durchsuchungsbefehl oder hinreichende Verdachtsmomente ungestraft Razzien durchzuführen. Mehr als dreitausend Männer, Frauen und Kinder wurden jedes Jahr wegen Verbrechen im Zusammenhang mit der Salzsteuer eingesperrt oder hingerichtet. Wenn sie die Dreistigkeit besaßen, vor ihrem Prozess in der Haft zu sterben, wurden ihre Leichen in Salz konserviert. Die Kosten stellte man ihren Familien in Rechnung.
Verhaftung wegen eines Verstoßes gegen die Gabelle
Es war nicht möglich, die Salzsteuer einfach durch den Verbrauch von weniger Salz zu umgehen. Die meisten Bürger, die älter waren als acht Jahre, waren gesetzlich verpflichtet, ein Jahreskontingent zu kaufen, das direkt aus staatlichen Lagern zu massiv überhöhten Preisen verkauft wurde. In Burgund betrug dieses Kontingent beispielsweise sieben Kilogramm Salz pro Person und Jahr – der tatsächliche Konsum einer solchen Menge hätte zum Schlaganfall, wenn nicht sogar zum Tod geführt. Als zusätzliche Demütigung wurde das Salz in obligatorischen Wochenrationen ausgegeben, was das Alltagsleben mit einer überaus verhassten Routine belastete. In Montbard war mindestens ein Mitglied jedes Haushalts verpflichtet, den Salzkämmerer Leclerc