Die Entdeckung der Geduld - Matthias Sutter - E-Book

Die Entdeckung der Geduld E-Book

Matthias Sutter

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  • Herausgeber: Ecowin
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Erfolg hat, wer geduldig ist Geduld ist eine Tugend, wenn auch eine scheinbar altmodische. Wer möchte heutzutage noch lange mit ungestillten Sehnsüchten und unerfüllten Wünschen leben? Matthias Sutter, einer der führenden Wirtschaftsforscher im deutschsprachigen Raum, verhilft der vernachlässigten Qualität Geduld zu einem fulminanten Comeback. Seine eindrucksvollen und wissenschaftlich etablierten Studien führen zur überraschenden Erkenntnis: Geduld ist gleich viel wert wie Talent! Anhand erstaunlicher Forschungsergebnisse zeigt Sutter, was wir mit mehr Beharrlichkeit im Leben alles erreichen können, welche Faktoren unsere Ausdauerfähigkeit entscheidend beeinflussen und wie wir unsere eigene Ungeduld und die unserer Kinder erfolgreich bändigen können. Denn eines steht fest: Wer sich heute noch in Geduld übt, wird schon morgen davon profitieren.

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Seitenzahl: 197

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Matthias Sutter

Die Entdeckung der Geduld –

Ausdauer schlägt Talent.

 

 

 

 

 

 

 

© 2014 Ecowin, Salzburg

bei Benevento Publishing

Eine Marke der Red Bull Media House GmbH

 

Lektorat: Joe Rabl

Art Direction: Peter Feierabend

Gestaltung und Satz: Frank Behrendt

Covergestaltung: Marc Wnuck

Foto: Qyzz – Fotolia.com

Foto Backcover: Sabine Holaubek

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN: 978-3-7110-5110-3

www.ecowin.at

 

Printed in Europe

Clara und Elke oder: Worum geht es in diesem Buch?

KAPITEL 1

CLARA UND ELKE ODER: WORUM GEHT ES IN DIESEM BUCH?

Gummibärchen und Neujahrsvorsätze

Die sechsjährigen Erstklässler sitzen malend in ihren Schulbänken. Es ist Zeichenstunde. Der Schultag ist fast vorbei. Noch 15 Minuten, dann sind die vier Stunden des heutigen Tages zu Ende. Zu Beginn ihrer Schullaufbahn ist es für manche Kinder noch schwierig, vier Stunden ruhig zu sitzen und konzentriert mitzumachen. Da zieht die Klassenlehrerin plötzlich ganz viele kleine Gummibären-Päckchen aus ihrer Tasche. Sie legt jedem der 20 Kinder ein Päckchen auf seinen Platz, öffnet es und legt daneben noch ein zweites, aber ungeöffnetes. Sie sagt: „Heute wart ihr ganz fleißig. In den letzten 15 Minuten könnt ihr mit euren Zeichnungen weitermachen. Wer möchte, kann jetzt schon das geöffnete Päckchen Gummibären essen. Wer von euch es aber schafft, nichts aus dem geöffneten Päckchen zu nehmen, bis in 15 Minuten die Schulglocke läutet, der kann auch noch das ungeöffnete Päckchen Gummibären mitnehmen. Wer vor Schulschluss aus dem geöffneten Päckchen isst, kann dieses ganz aufessen, bekommt dann aber das ungeöffnete Päckchen nicht.“

Clara und Elke sitzen nebeneinander. Sie sind gute Freundinnen, auch wenn ihr Temperament recht unterschiedlich ist. Elke ist sehr temperamentvoll und impulsiv, Clara hingegen überlegt sich ihre Handlungen gründlich, bevor sie Entscheidungen trifft. Beide mögen Gummibärchen sehr gerne. Elke kann sich vor Freude über die Gummibärchen der Lehrerin gar nicht zurückhalten, greift in die geöffnete Packung und beginnt die Süßigkeiten genussvoll zu essen. „Clara“, sagt Elke, „die schmecken echt lecker. Probier doch auch!“ Clara aber schiebt beide Päckchen zur Seite, verdeckt sie mit ihrer Malschachtel und arbeitet an ihrer Zeichnung weiter. Elkes Gummibärchen riechen herrlich, deshalb konzentriert sie sich nur umso mehr auf die Biene, die sie gerade malt. Endlich, nach 15 Minuten, läutet die Schulglocke und Clara steckt freudestrahlend beide Päckchen Gummibären in ihre Schultasche. „Tschüss und bis morgen! Ich lass mir meine zwei Packungen zu Hause schmecken!“, ruft sie vor dem Schulhaus ihrer Freundin Elke zu, bevor die beiden in unterschiedlichen Richtungen nach Hause gehen.

Clara und Elke haben sich in ihrem Leben nicht aus den Augen verloren. Ihre Freundschaft hat aufgrund unterschiedlicher Lebenswege nicht mehr die Intensität aus der Kindheit, als sie noch sehr viel Zeit miteinander verbracht haben. Doch feiern sie regelmäßig den Silvesterabend und den Beginn des neuen Jahres miteinander. Beide sind sie nun 35 Jahre alt. Heuer hat Elke Clara zu sich eingeladen. Elke hat eine kleine Wohnung. Als Aushilfskraft im Gastgewerbe kann sie sich keine größere leisten. Sie ist überhaupt froh, im Moment eine Arbeitsstelle zu haben, denn in den vergangenen Jahren war sie schon häufig ohne Arbeit. Da konnte sie sich manchmal nicht einmal eine Wohnung wie die gegenwärtige leisten. Die Schule hat sie mit 16 Jahren abgebrochen, um möglichst schnell ihr eigenes Geld zu verdienen. Dann war sie zuerst Verkäuferin, dann Raumpflegerin, bis sie nach vielen Unterbrechungen und Phasen der Arbeitslosigkeit im Gastgewerbe landete, wo sie meist in der Wintersaison und manchmal in der Sommersaison arbeitet. Die häufige berufliche Unsicherheit war und ist sehr belastend für sie. Es sind dann die kleinen Freuden des Lebens, die sie trösten: eine Zigarette, ein Gläschen Wein und besonders gerne leckere Schokolade, auch wenn sie eigentlich immer davon träumt, schlanker zu sein, als sie ist. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagt Clara, als sie die Wohnung betritt. Sie hat Medizin studiert und mit 30 Jahren die Ausbildung zur Fachärztin für Frauenheilkunde abgeschlossen. Seither arbeitet sie erfolgreich in diesem Beruf an einer Privatklinik. Gummibärchen liebt sie immer noch, ansonsten aber ernährt sie sich sehr ausgewogen, treibt regelmäßig Sport und lebt zufrieden in einer geräumigen Dachgeschosswohnung im Zentrum der Stadt.

„Zeig her! Darf ich die Geschenke sofort aufmachen?“, fragt Elke nur wenige Augenblicke, nachdem sie Clara die Jacke abgenommen und zum einladend gedeckten Tisch geführt hat. „Aber natürlich. Wie jedes Jahr“, sagt Clara, bedankt sich ihrerseits für die Geschenke, die ihr Elke übergibt, legt sie aber erst zur Seite, um Elke beim Auspacken zuzuschauen. Danach unterhalten sich die beiden angeregt über das zu Ende gehende Jahr und ihre neuesten Erlebnisse. Um Mitternacht stoßen sie auf das neue Jahr an und Elke sagt entschlossen zu Clara: „Hab ich dir schon erzählt: Im neuen Jahr werde ich ab September die vierjährige Abendschule beginnen. Ich weiß, ich hätte einfach in der Schule bleiben sollen bis zur Matura, aber ab Herbst hole ich das endgültig nach und werde vier Jahre abends die Schulbank drücken. Du kennst mich ja. Geduld und Ausdauer sind nicht gerade meine Stärken, aber ich bin sicher, diesmal schaffe ich es. Und dann finde ich bestimmt eine bessere und vor allem dauerhafte Arbeitsstelle.“ Clara wünscht ihr alles Gute für dieses Vorhaben und vor allem Ausdauer. In Gedanken hofft sie, dass Elke ihr Ziel diesmal erreichen wird, denn sie erinnert sich an viele gute Vorsätze ihrer Freundin an vergangenen Silvesterabenden. Die wenigsten hat sie durchgehalten, trotz bester Absichten. Clara fasst keine besonderen Neujahrsvorsätze. Sie plant ihre Tage sorgfältig, setzt sich kleine Ziele, die sie Schritt für Schritt verwirklicht, und hat in ihren Studien- und Fachausbildungsjahren gelernt, dass ein „langer Atem“ ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg ist.

Das Thema dieses Buches: Geduld und Ungeduld – Gegenwart versus Zukunft

Die einleitende Geschichte von Clara und Elke ist frei erfunden. Sie illustriert allerdings das Thema dieses Buches. Es geht erstens um die Bedeutung von Geduld beziehungsweise Ungeduld für das Leben eines Menschen. Und es geht zweitens um den scheinbaren Widerspruch, dass viele Menschen in der Gegenwart ungeduldig sind und eher kurzfristig orientierte Entscheidungen treffen, während sie für die Zukunft Pläne schmieden, die große Geduld erfordern und damit nicht mit ihrem gegenwärtigen Handeln übereinstimmen.

Ich habe zwei Momentaufnahmen im Leben von Clara und Elke skizziert, zuerst eine Episode aus der Kindheit, dann eine Begebenheit im Erwachsenenalter. Als Kind kann Clara schon 15 Minuten auf ein zweites Päckchen Gummibären warten. Elke kann das nicht.

Die erste zentrale Frage dieses Buches besteht darin, ob das Ausmaß an Geduld und Selbstkontrolle in der Kindheit mit dem späteren Lebensweg zusammenhängt. Die Antwort auf diese Frage wird ein eindeutiges „Ja!“ sein. Es ist geradezu verblüffend, wie sich geduldige Kinder selbst einige Jahrzehnte später als Erwachsene in vielen Aspekten ihres Lebens von ungeduldigen Kindern unterscheiden. Das betrifft etwa den Bildungsgrad, die finanzielle Situation, den gesundheitlichen Zustand oder auch die Wahrscheinlichkeit, Süchten zu verfallen.

Als Erwachsene fasst Elke bedeutsame Zukunftspläne, die Beharrlichkeit und Ausdauer verlangen. Das notwendige Verhalten zur Realisierung dieser Zukunftspläne passt nicht zu ihrem Verhalten, wenn es um das Hier und Jetzt geht. Die Schule hat sie abgebrochen, um schnell eigenes Geld zu verdienen. Die Geschenke zu Silvester reißt sie sofort nach Erhalt auf. Eine solche Kombination von Ungeduld in der Gegenwart, aber „Geduld“ in der Zukunft, kann man bei sehr vielen Menschen beobachten, oft auch bei einem selbst. Es ist einfach viel leichter, morgen mit einem Laster wie Rauchen oder übermäßigem Essen aufzuhören, morgen für die Altersvorsorge zu sparen oder ab morgen regelmäßig Sport zu treiben, als all das heute schon zu tun. Wenn der morgige Tag dann gekommen ist, werden die Vorsätze von gestern schnell zur Makulatur und man ist geneigt, die guten Vorsätze wieder auf den nächsten Tag zu verschieben.

Die zweite zentrale Frage des Buches lautet: Woher kommt es, dass Menschen in der Gegenwart ungeduldig, in ihren Plänen für die Zukunft aber geduldig sind, und wie unterscheiden sich solche Menschen von jenen, die bezüglich ihrer Geduld keinen Unterschied zwischen der Gegenwart und Zukunft machen?

Das Abwägen von Gegenwart gegen Zukunft prägt unser Leben von Kindesbeinen an. Interessant, weil konfliktträchtig, wird ein solches Abwägen immer erst dann, wenn es in der Gegenwart zwar etwas zu gewinnen gibt, wenn man aber durch Geduld und Arbeitseinsatz im Heute für die Zukunft mehr erreichen kann. Im umgekehrten Fall wäre das Entscheidungsproblem nämlich geradezu trivial. Wer würde nicht zwei Päckchen Gummibären jetzt gleich nehmen, wenn die Alternative nur ein Päckchen in 15 Minuten wäre?

Im gesamten Buch wird es deshalb immer wieder um die Entscheidung zwischen „weniger heute“ und „mehr morgen“ gehen. Im jungen Schulalter ist das beispielsweise die Entscheidung zwischen mehr Zeit für das Lernen, für die Schule oder mehr Zeit zum Spielen mit Freunden. Langfristiger Schulerfolg – und damit verbunden späterer beruflicher Erfolg – lässt sich eher durch die Entscheidung fürs Lernen erzielen. „Weniger heute“ meint in diesem Fall, zugunsten von mehr Zeit fürs Spielen weniger Zeit für das Lernen aufzuwenden. Dass das nicht immer einfach ist und Kinder dabei Unterstützung brauchen, langfristige Ziele erfassen und darauf hinarbeiten zu können, versteht sich von selbst. Daraus folgt übrigens, dass das familiäre und schulische Umfeld von Kindern beim Abwägen von Gegenwart gegen Zukunft eine besondere Rolle spielt.

Im Teenageralter stellt sich die Frage nach dem „weniger heute“ oder „mehr morgen“ wieder, wenn Jugendliche entscheiden, ob sie nach Absolvieren der Schulpflicht sofort in den Arbeitsmarkt einsteigen wollen, um schneller eigenes Geld zu verdienen. Alternativ können sie eine weiterführende Schule besuchen, was weiteres Lernen erfordert und kein unmittelbares eigenes Einkommen ermöglicht. Eine weiterführende Ausbildung, zumal eine akademische, ermöglicht üblicherweise ein höheres durchschnittliches Einkommen und reduziert das Risiko, arbeitslos zu werden. Die Akademikerarbeitslosigkeit ist von allen Ausbildungsschichten nach wie vor mit Abstand die geringste und beträgt sowohl in Österreich als auch Deutschland aktuell ungefähr zwei Prozent. Der Verzicht auf ein eigenes Einkommen während der vielen Jahre zusätzlicher Ausbildung ermöglicht also im Regelfall ein „mehr morgen“, auch wenn es durch kein oder ein geringes Einkommen heute und durch die Mühen einer höheren Ausbildung erkauft werden muss.

Auch Entscheidungen, die eine unmittelbare Relevanz für unsere Gesundheit haben, können unter dem Blickwinkel von „weniger heute“ gegen „mehr morgen“ betrachtet werden. Rauchen ist ein Beispiel dafür. Der Wunsch dazuzugehören oder das Nachahmen von Vorbildern im Freundeskreis beziehungsweise der Verwandtschaft führen häufig dazu, dass junge Menschen im Teenageralter zu rauchen beginnen. Sich dem zu entziehen, erfordert Selbstkontrolle und Durchhaltevermögen, etwas, was mit Geduld sehr eng verwandt ist. Da es sehr schwer ist, sich das Rauchen abzugewöhnen, besteht die beste Gesundheitsvorsorge in diesem Punkt darin, gar nicht damit anzufangen. Langfristig betrachtet sind die negativen Auswirkungen des Rauchens auf die Gesundheit nicht zu übersehen, auch wenn es kurzfristig zu sozialer Anerkennung im Freundeskreis oder zu einem Genusserlebnis führen kann. Eine gesunde Lebensweise ist deshalb zukunftsorientiert.

Im Erwachsenenalter begegnen uns die Entscheidungen zwischen dem „weniger heute“ und dem „mehr morgen“ fast täglich. Eines der prominentesten und bedeutendsten Beispiele ist die Frage nach der Altersvorsorge. Da die staatliche Altersvorsorge aufgrund der steigenden Lebenserwartung – und damit aufgrund der ständig steigenden Zahl von Pensionisten im Vergleich zu (Pensionsbeiträge einzahlenden) Berufstätigen – in den kommenden Jahrzehnten weiter an Bedeutung für die Altersvorsorge verlieren wird, wird die private Altersvorsorge immer wichtiger, um im Alter einen gewohnten Lebensstandard aufrechterhalten zu können. Die dritte Säule der Altersvorsorge – die betriebliche Pensionsvorsorge – reduziert zwar zu einem gewissen Teil die Notwendigkeit privater Vorsorge, sie wird Letztere aber nicht obsolet machen. Privat vorzusorgen bedeutet aber, auf heutigen Konsum (etwa für Reisen, teure Autos oder andere Hobbys) zu verzichten, um im Alter eine bessere finanzielle Absicherung zu haben. Das „mehr morgen“ wird dabei erkauft durch Verzicht auf gewisse Konsumgüter heute. Die Alternative besteht darin, heute mehr zu konsumieren, dafür aber im Alter weniger zu haben.

Das letzte Beispiel illustriert sehr gut, dass Begrifflichkeiten beim Abwägen zwischen Gegenwart und Zukunft eine bedeutende Rolle spielen. Wenn man ein Mehr an Konsum jetzt als „mehr heute“ und damit verbunden eine geringere Altersvorsorge als „weniger morgen“ wahrnimmt, dann macht diese Begrifflichkeit Sparen für die Altersvorsorge weniger attraktiv. Vergleichsweise könnte man als Kind mehr Freizeit – auf Kosten der Lernzeit – als „mehr heute“ wahrnehmen, im Bewusstsein, dass morgen weniger Freizeit möglich sein wird, weil der Schulstoff irgendwann gelernt werden muss. Die Begrifflichkeit hängt also immer vom übergeordneten Ziel ab. In den Beispielen dieses Abschnitts sind die übergeordneten Ziele „Lernerfolg und gute Ausbildung“, „gesunde Lebensweise“ und „ausreichende Altersvorsorge“. Anhand dieser Ziele ergibt sich beim Abwägen zwischen Gegenwart und Zukunft, was ich als „weniger heute“ und „mehr morgen“ bezeichne. Dass die Sprache beim Abwägen von Gegenwart gegen Zukunft tatsächlich eine sehr große Rolle spielt, darauf werde ich später ausführlich eingehen.

Zunächst aber möchte ich einen kurzen Überblick über die Kapitel dieses Buches geben. Psychologen – allen voran Walter Mischel – haben sich seit mehreren Jahrzehnten damit beschäftigt, wie sich Geduld von Kindern messen lässt, welche Faktoren Geduld beeinflussen und welche Zusammenhänge etwa zum Lebensweg dieser Kinder im Erwachsenenalter bestehen. Zum Ende des Einleitungskapitels werde ich kurz Walter Mischels erste Arbeiten zur Messung von Geduld bei kleinen Kindern vorstellen. Diese Arbeiten sind heute bekannt als „Marshmallow-Experimente“.

•Kapitel 2 präsentiert mehrere Möglichkeiten zur Messung von Geduld und empirische Daten, wie sich das Ausmaß an Geduld vom Kindergartenalter bis zum frühen Erwachsenenalter entwickelt. Ein wichtiger Aspekt dieses Kapitels besteht in der Untersuchung, ob Messungen von Geduld über die Zeit hinweg bei ein und demselben Menschen zu den gleichen – oder sagen wir bescheidener: zu ähnlichen – Ergebnissen führt. Nur wenn Letzteres zutrifft, können Geduld oder Ungeduld in der Kindheit Bedeutung für die langfristige Entwicklung eines Menschen bekommen.

•Kapitel 3 beleuchtet den Zusammenhang von Geduld und Gesundheit. Eine schlechte Gesundheit ist beispielsweise eine große Hypothek für die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Noch stärkere Beeinträchtigungen können vom Suchtverhalten ausgehen, dessen Beziehung zu Geduld ebenfalls im dritten Kapitel beleuchtet wird.

•Kapitel 4 bringt einen methodischen Einschub, um zu verstehen, wie man erkennt, ob jemand im Hier und Jetzt ungeduldig, aber in den Plänen für die Zukunft geduldig ist. Das bringt uns dann zurück zu den Neujahrsvorsätzen, und es lässt sich zeigen, dass Menschen häufig kurzfristig ungeduldig sind, aber langfristig geduldig planen. Dieses Wissen ist dann für das folgende Kapitel wichtig.

•Kapitel 5 befasst sich mit beruflichem und finanziellem Erfolg. Dieser wird illustriert am Durchhaltevermögen in einem anstrengenden Job (als Fernfahrer), am Erfolg von Arbeitslosen, eine neue Arbeitsstelle zu finden, oder an der Höhe der Kreditkartenschulden von berufstätigen Menschen.

•Kapitel 6 liefert Belege für die These, dass geduldige Kinder im Erwachsenenalter erfolgreicher und gesünder sind als ungeduldige Kinder. Dieses Kapitel basiert auf wissenschaftlichen Arbeiten, die junge Kinder – teilweise Vierjährige – über mehrere Jahrzehnte hinweg auf ihrem Lebensweg begleitet haben, um zu prüfen, ob sich Geduld in der Kindheit langfristig auszahlt.

•Kapitel 7 beschäftigt sich mit dem Einfluss des Elternhauses. Macht Stillen Kinder geduldiger oder sind Kinder reicher Eltern geduldiger? Diese Fragen stehen im Zentrum. Es geht aber ebenso um die Frage, ob es für das Ausmaß der Geduld von Kindern wichtig ist, sich auf das verlassen zu können, was Erwachsene sagen.

•Kapitel 8 befasst sich mit dem Zusammenhang von kognitiven und nicht-kognitiven Fähigkeiten. Insbesondere geht es um die Frage, wie Geduld und der Intelligenzquotient eines Menschen zusammenhängen. Es könnte ja sein, dass die Bedeutung von Geduld letztlich nur eine Frage der Intelligenz ist.

•Kapitel 9 untersucht, ob die Sprache, die ein Mensch spricht, einen starken Einfluss auf Entscheidungen zwischen Gegenwart und Zukunft hat. Diesbezüglich gibt es eine interessante Hypothese aus der Sprachwissenschaft. Sie basiert auf den Unterschieden zwischen verschiedenen Sprachen hinsichtlich ihrer grammatikalischen Möglichkeiten, sich auf zukünftige Ereignisse zu beziehen. Wenn man in einer Sprache – wie im Deutschen – über die Zukunft auch in der Gegenwartsform sprechen kann („Morgen lese ich das Buch von Matthias Sutter über Geduld“), dann scheint das zukunftsorientierte Entscheidungen wahrscheinlicher zu machen.

•Kapitel 10 wirft einen Blick in das menschliche Gehirn und erläutert, welche Areale dafür zuständig sind, dass Menschen häufig kurzfristig ungeduldig, aber langfristig geduldig sind. Diese Diskrepanz wird als inkonsistentes Verhalten interpretiert. Die Grundlagen dafür liegen im Wechselspiel zwischen verschiedenen Gehirnarealen.

•Kapitel 11 widmet sich der Frage, wie Ungeduld gebändigt werden kann. Hier haben verschiedene verhaltenswissenschaftliche Studien in den letzten Jahren interessante Einsichten hervorgebracht, die helfen können, die negativen Effekte von ungeduldigem Verhalten zu vermindern.

•Kapitel 12 fasst die wichtigsten Einsichten des Buches zusammen.

Walter Mischels „Marshmallow-Experimente“

Walter Mischel, geboren in Österreich, Professor für Psychologie in Harvard, Stanford und an der Columbia-Universität in New York, interessierte sich in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren für die Frage, ob Kinder im Vorschulalter und frühen Schulalter fähig sind, auf Belohnungen zu warten, und welche Strategien sie anwenden könnten, wenn sie auf eine Belohnung warten sollen. Dazu führte er eine große Serie von experimentellen Studien durch, die heute als „Marshmallow-Experimente“ bekannt sind, weil die Kinder in vielen Experimenten ein Marshmallow – das süß-klebrige Zeug, das fast alle Kinder sehr gerne mögen – bekommen konnten. Neben Marshmallows verwendete Mischel aber auch Kekse oder Brezeln.

In einem typischen Marshmallow-Experiment wurden Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren in einen sehr kärglich ausgestatteten Versuchsraum gebracht und mit folgender Entscheidungssituation konfrontiert: Vor dem Kind lag auf einem Tisch ein Marshmallow. Der Versuchsleiter teilte dem Kind mit, dass er für eine andere Aufgabe den Raum verlassen müsse. Sollte das Kind das Marshmallow essen wollen, dann solle es mit einer Klingel nach dem Versuchsleiter klingeln. Der Versuchsleiter käme dann sofort zurück und das Kind könnte das Marshmallow essen. Sollte der Versuchsleiter aber zurückkommen, bevor das Kind klingelt, dann würde das Kind vom Versuchsleiter noch ein zweites Marshmallow bekommen. Beide Marshmallows könnten dann gleich gegessen werden. Der Versuchsleiter sagte dem Kind aber nicht, dass er auch ohne Klingelzeichen nach 15 Minuten wiederkommen würde. Wie lange das Kind warten musste, war diesem also nicht bekannt. Der Versuchsraum war deshalb kärglich ausgestattet, damit das Kind nicht durch andere Gegenstände von der eigentlichen Aufgabe abgelenkt würde. Jedes Kind saß also an einem Tisch, auf dem das Marshmallow lag. Sonst waren keine Gegenstände vorhanden, mit denen sich die Kinder hätten beschäftigen können.

Walter Mischel wollte mit dieser Versuchsanordnung prüfen, in welchem Alter Kinder lernen, die Zukunft in ihre Handlungen einzukalkulieren und auf eine erstrebenswerte Belohnung in der Zukunft zu warten. Letztlich ist das die Frage, wann Kinder Strategien für ein in die Zukunft gerichtetes Handeln entwickeln können. Ein solches Handeln setzt Selbstkontrolle und Willenskraft voraus. Weil Selbstkontrolle und Willenskraft aber an sich schwer zu messen sind, suchte Mischel nach einer Aufgabe, in der ein Näherungsmaß dafür gefunden werden konnte. Das Marshmallow-Experiment ermöglichte ein solches Maß, nämlich den Zeitraum, den ein Kind warten kann, bis es die Klingel betätigt, um das erste Marshmallow zu essen. Dieses Zeitmaß betrug bei verschiedenen Experimentserien mit vierjährigen Kindern im Schnitt meist sechs bis zehn Minuten. Die Wartezeiten einzelner Kinder schwankten aber sehr stark zwischen sofortigem Verzehr und Warten bis zur Rückkehr des Versuchsleiters. Eine kleine Minderheit der Kinder aß das erste Marshmallow sofort und eine relativ kleine Gruppe wartete, bis der Versuchsleiter von selbst wiederkam. Die unterschiedlichen Wartezeiten wurden von Mischel als Maß für Geduld und Selbstkontrolle interpretiert.

Zu Beginn dieser Studien war Mischel noch nicht ausdrücklich daran interessiert, ob das Verhalten eines Kindes ein Indikator für seine weitere Entwicklung als Jugendlicher und später als Erwachsener sein könnte. Erst Nachfolgeuntersuchungen mit denselben Kindern mehrere Jahre und Jahrzehnte später brachten einen solchen Zusammenhang ans Licht. Davon später in diesem Buch mehr. Das unmittelbare Erkenntnisinteresse von Mischel bestand zunächst darin zu verstehen, welche Strategien Kindern das Warten erleichtern und damit zukunftsorientiertes Handeln unterstützen.

Manche Kinder nahmen das Marshmallow rasch in ihre Hände und rochen daran. Vielleicht taten sie das, um ihre Vorfreude zu steigern. Das Riechen am Objekt der Begierde führte aber meist zu einem ersten kleinen Biss in das Marshmallow und üblicherweise darauf zum sofortigen Verzehr – meist noch bevor das Kind überhaupt die Klingel betätigte, um den Versuchsleiter zu rufen. Die Konzentration auf das angestrebte Marshmallow führte also meist nicht dazu, dass die Kinder bis zur Wiederkehr des Versuchsleiters nach 15 Minuten warten konnten.

Eine häufige Reaktion der Kinder bestand darin, sich umzudrehen oder die Hände vor das Gesicht zu halten. Diese Verhaltensweisen dienten offenbar dem Zweck, den Gegenstand der Versuchung nicht sehen zu müssen. Ganz nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. Kinder mit einer solchen Strategie warteten üblicherweise länger, bis sie das Marshmallow aßen, auch wenn nicht alle erfolgreich bis zur Rückkehr des Versuchsleiters durchhielten.

Eine dritte häufige Verhaltensweise war, dass die Kinder zu singen begannen oder sich sonst irgendwie abzulenken versuchten. Im einleitenden Beispiel von Clara und Elke hat sich Clara auf das Zeichnen einer Biene konzentriert (und dazu auch noch die beiden Gummibären-Päckchen hinter ihrer Malschachtel versteckt). Die Konzentration auf eine andere Tätigkeit erleichterte es den Kindern normalerweise, auf die Rückkehr des Versuchsleiters zu warten und damit ein zweites Marshmallow zu bekommen. Diese Strategie ermöglichte es häufig, den Impuls, das auf dem Tisch liegende Marshmallow sofort zu essen, zu unterdrücken.

Die Marshmallow-Experimente haben ganze Generationen von Psychologen inspiriert. Walter Mischels Arbeiten sind aber auch für Ökonomen faszinierend, weil sie mithilfe einer ganz einfachen Aufgabe eine Kernfrage ökonomischer Forschung ansprechen. Es geht dabei um die Entscheidung zwischen einer kleineren Belohnung zu einem früheren Zeitpunkt und einer größeren Belohnung zu einem späteren Zeitpunkt. Ökonomen denken dabei sofort an das Paradebeispiel „Sparen“. In der traditionellen ökonomischen Forschung steht dabei die Sparquote eines Landes im Vordergrund. Je mehr eine Volkswirtschaft spart – und damit auf heutigen Konsum verzichtet –, umso mehr kann sie in die Zukunft investieren, etwa in Bildung oder Infrastruktur. Die verhaltenswissenschaftliche Revolution in den Wirtschaftswissenschaften hat seit einigen Jahren den Blickwinkel von der volkswirtschaftlichen auf die individuelle Ebene gelenkt und untersucht, wie Geduld mit wirtschaftlichem Erfolg zusammenhängt. Es geht dabei um die Frage, ob und wie sich geduldige und ungeduldige Menschen unterscheiden und welche Konsequenzen das für ihren beruflichen Erfolg und ihre Gesundheit hat. Aus diesem individuellen Blickwinkel sind die folgenden Kapitel geschrieben.

Wie misst man Geduld und wie entwickelt sie sich in Kindheit und Jugend?

KAPITEL 2

WIE MISST MAN GEDULD UND WIE ENTWICKELT SIE SICH IN KINDHEIT UND JUGEND?

In der einleitenden Geschichte von Clara und Elke haben die beiden eine einmalige Entscheidung zwischen einem Päckchen Gummibären sofort oder zwei Päckchen in 15 Minuten treffen können. Auch in Walter Mischels Marshmallow-Experimenten trafen die Kinder immer nur eine Entscheidung, nämlich das Marshmallow gleich zu essen oder auf ein zweites zu warten.

In der Verhaltensökonomie misst man das Maß an Geduld meist in der Form, dass ein Versuchsteilnehmer nicht nur eine, sondern mehrere Entscheidungen treffen muss. Dabei wird die mögliche Belohnung in der Zukunft schrittweise gesteigert. Dadurch kann man messen, wie attraktiv die zukünftige Belohnung sein muss, um der kleineren Belohnung in der Gegenwart zu widerstehen. Dieses Herangehen entspricht dem typischen Ansatz von Ökonomen, dass (fast) alles seinen Preis hat. Tatsächlich hat auch das Warten auf die Zukunft einen Preis, nämlich den Verzicht auf Konsum in der Gegenwart. Je nachdem, wie attraktiv der gegenwärtige Konsum im Vergleich zu den Konsummöglichkeiten in der Zukunft ist, wird jemand warten oder nicht. Dieses Grundprinzip gilt für alle Entscheidungen, bei denen die Zukunft eine Rolle spielt. Beispielsweise führen steigende Zinsen dazu, dass Menschen mehr sparen, weil dann der Verzicht auf aktuellen Konsum in der Zukunft mehr Ertrag bringt. Im gleichen Sinne lohnt es sich eher, in eine gute, aber lange Ausbildung zu investieren, wenn die Berufs- und Verdienstmöglichkeiten mit einer solchen Ausbildung attraktiver und lukrativer sind, als wenn das nicht der Fall ist und sich eine gute Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt fast nicht auszahlt.