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Die Entdeckung der Gestaltbarkeit E-Book

Felix Baumert

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Beschreibung

Ein Bewusstsein von Gestaltungsfreiheiten gesellschaftlichen Fortschritts - das ist auch in der Zeit nach der Französischen Revolution im langen 19. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit. Felix Baumert zieht Alexis de Tocqueville, Karl Marx und Max Weber erstmals gemeinsam heran, um aus ihren verschiedenen Perspektiven zu zeigen, wie sich auch in der modernen Welt einschränkende Möglichkeitsräume oder gar die Erstarrung von Gestaltungsfreiheiten ergeben können. Damit zeigt er die fundamentale Bedeutung von Politik in der Moderne auf, und zwar als notwendiges Instrument der Bewusstwerdung sowie der Absicherung von Gestaltungsfreiheiten.

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Felix Baumert, geb. 1989, arbeitet für eine Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Als Sozialwissenschaftler war er Lehrbeauftragter an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt sowie Stipendiat der Stiftung der deutschen Wirtschaft.

Felix Baumert

Die Entdeckung der Gestaltbarkeit

Gesellschaftstheorien bei Alexis de Tocqueville, Karl Marx und Max Weber

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Felix Baumert

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-6215-3

PDF-ISBN 978-3-8394-6215-7

EPUB-ISBN 978-3-7328-6215-3

https://doi.org/10.14361/9783839462157

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1.Einleitung

2.Historischer Kontext

3.Demokratische RevolutionTocquevilles Analyse

3.1Demokratische Revolution als historische Entwicklung

3.2Die verschiedenen Erfahrungen mit der Demokratisierung

3.2.1Macht der Mehrheit

3.2.2Tyrannei der Mehrheit

3.2.3Gesellschaftliche Mobilität, Individualismus und Materialismus

4.Die bürgerliche Mittelstandsgesellschaft als despotisme démocratiqueTocquevilles Kritik

4.1Ökonomische Dynamik und politische Erstarrung

4.2Die despotisme démocratique

5.Politik als bürgerliches EigeninteresseTocquevilles Vision

5.1Verschiedene Erfahrungsräume von Politik

5.1.1Politische Vereinigungen

5.1.2Dezentrale Verwaltungsstruktur

5.1.3Bürgerliche Vereinigungen

5.1.4Freiheit des Ausdrucks

5.1.5Geschworenengerichte

5.1.6Der allgemeine Rechtsgedanke

5.1.7Religion

5.2Die politische Bürgergesellschaft als Ausdruck des individuellen Interesses

5.2.1Über die Freiheit in der politischen Bürgergesellschaft

5.2.2Die neue politische Wissenschaft

6.Historischer Gegensatz und historische EntwicklungMarx’ Analyse

6.1Die Grundlagen der Produktion

6.2Die Produktion von Mehrwert

6.3Die kapitalistische Produktion als historisches Ergebnis

6.4Die Strukturprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft als historische Zwangsläufigkeit

6.4.1Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse

6.4.2Die produzierte Entfremdung

6.4.3Isolation eigentlich sozialer Wesen

6.4.4Die Entwicklung von Reichtum und Elend

6.4.5Der kapitalistische Wachstumszwang

6.4.6Geld und Privateigentum

7.Bürgerliche Gesellschaft und Despotie des KapitalsMarx’ Kritik

7.1Die bürgerliche Klassengesellschaft

7.2Der Überbau der kapitalistischen Verhältnisse

7.3Charaktermasken und Individualität

7.4Despotie des Kapitals

8.Radikal-revolutionäre PolitikMarx’ Vision

8.1Die Zuspitzung des Gegensatzes als Möglichkeit und Notwendigkeit

8.2Das Proletariat als politischer Akteur

8.3Ein zwangsläufiges Ziel

8.4Radikal-revolutionäre Politik und die Folgen

9.Historische Entwicklung der RationalisierungWebers Analyse

9.1Prädestination und Beruf

9.2Rationalisierung und Wertepluralismus

9.3Methodisch-rationale Lebensführung

9.4Der neue Geist des Kapitalismus

9.5Der rationale Betriebskapitalismus

9.6Bürokratische Herrschaft als Ausdruck rationaler Lebensführung

9.7Die okzidentale Stadt

10.Die moderne bürgerliche Gesellschaft als stählernesGehäuse Webers Kritik

10.1Der moderne bürokratische Staat

10.2Die Bürokratisierung der Politik

10.3Das stählerne Gehäuse

11.Elitäre PolitikWebers Vision

11.1Die institutionelle Ertüchtigung der Politik

11.2Die elitäre Erweckung der Politik

11.3Elitäre Politik in der plebiszitären Führerdemokratie

12.Schluss

Danksagung

Literatur

 

 

 

 

Meinen Eltern.

1.Einleitung

»Il faut une science politique nouvelle à un monde tout nouveau.«

(Alexis de Tocqueville)

Eine gänzlich neue Welt erkennt Alexis de Tocqueville. Diese Aussage aus seinem Buch De La Démocratie en Amérique bezieht er nicht nur auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Letztlich lässt sich diese Aussage auf die gesamte Zeit nach der Französischen Revolution beziehen, also auf das lange 19. Jahrhundert, wie der Historiker Eric J. Hobsbawm die Zeit von 1789 bis 1914 genannt hat. Und tatsächlich ist die Zeit nach der Französischen Revolution eine gänzlich neue Zeit oder ist eben die Welt eine neue Welt. Nicht etwa, weil unmittelbar und sofort Gesellschaften nach den Prinzipien oder den Forderungen dieser Revolution, nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit strukturiert werden. Sondern weil das Versprechen auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, diese »Grundprinzipien der modernen Welt«1, die gesellschaftliche Realität allmählich und unaufhaltsam durchdringen. Die Ideen von Demokratie und Individualismus breiten sich immer mehr aus, die Entwicklung eines modernen und darauf basierenden Kapitalismus nimmt an Fahrt auf.

Bis zur Französischen Revolution ist die Geschichte geprägt von starken Kontinuitäten, wie ein Gedankenexperiment von Conrad Waddington eindrucksvoll zeigt:

»Wenn ein alter Römer achtzehn Jahrhunderte später wieder auf die Welt gekommen wäre, hätte er sich in einer Gesellschaft wiedergefunden, die er ohne Schwierigkeit verstanden hätte. Horaz wäre sich als Gast bei Horace Walpole nicht deplatziert vorgekommen, und Catull hätte sich zwischen den Wagen, Damen und brennenden Lampen nachts in London des 18. Jahrhunderts zu Hause gefühlt.«2

In fast allen Bereichen sind solche Kontinuitäten zu beobachten, im Militärwesen, in der Landwirtschaft, in der Architektur oder der Medizin.3 Ein Bauer um 1725 konnte fast sein ganzes Leben lang mit einer Handvoll Grundvorstellungen über das Leben, die Welt und seine Position darin auskommen, die er sich in der Jugend angeeignet hatte. Darin unterscheidet sich das 14. vom 18. Jahrhundert kaum. Erst der industrielle Mensch ist einem Prozess ausgesetzt, der unnachgiebig dazu zwingt, ›auf dem Laufenden‹ zu bleiben. In der agrarisch-ständischen Gesellschaft sammelt sich das Wissen bei den Alten, die als Weise gelten. In der industriellen Gesellschaft hingegen werden die Alten schnell zu Gestrigen. Sind die sozialen Beziehung in jener meist persönlich, so stehen die Menschen sich in dieser zunehmend indifferent oder gar entfremdet gegenüber.4

Kontinuitäten lösen sich in der Nachfolge der Französischen Revolution zunehmend auf. Mit Claude Lefort lässt sich festhalten, dass durch die Französische Revolution also zunächst nichts anderes passiert, als der Wegfall alter Gewissheiten5 – das Altbekannte verliert an Wert und Orientierungskraft. Durch diese Auflösungsprozesse erscheinen am Horizont der Geschichte neue Spielräume und Freiheiten, die gesellschaftliche Entwicklung nun bewusst gestalten zu können; Fortschritt ist nicht mehr festgelegt auf Bahnen, die durch überzeitliche Prinzipien bestimmt werden. Gesellschaftliche Entwicklung muss nicht mehr zwangsläufig einer mehr oder minder allgemeingültigen Interpretation folgen oder nur einem und vermeintlich ›richtigen‹ oder ›wahren‹ Pfad folgen. Von nun an könnte die gesellschaftliche Entwicklung immer auch anders gestaltet werden.

Doch wie steht es tatsächlich um das gesellschaftliche Bewusstsein dieser neuen Gestaltungsspielräume? Was ist mit den neuen Gestaltungsfreiheiten in der dieser neuen Zeit? Ist dieses Bewusstsein bereits tatsächliche Erfahrung und Grundlage gesellschaftlicher Selbstbestimmung im langen 19. Jahrhundert?6

Alexis de Tocqueville (1805 bis 1859), Karl Marx (1818 bis 1883) und Max Weber (1864 bis 1920) prägten die intellektuellen Diskurse in dieser und über diese Zeit sicherlich mit am stärksten. Nach Julia Adams und anderen sind gerade Alexis de Tocqueville, Karl Marx und Max Weber angetrieben durch das Interesse an gesellschaftlichem Wandel beziehungsweise daran, wie sich gesellschaftliche Strukturen und Akteure durch die Transformation von dezidiert traditionellen oder feudalen zu distinktiv modernen Gesellschaften gestalten und verändern.7

Skadi Krause will mit ihrem aktuellen Buch zu Tocquevilles Theorie seine Bedeutung »als ersten bedeutenden Theoretiker der modernen [Herv. FB] Demokratie«8 unterstreichen. Es geht ihr darum, sein politisches Denken vor dem Hintergrund der neuen Welt nachzuzeichnen. Denn angesichts dieser neuen Welt sieht Tocqueville eine Notwendigkeit einer neuen politischen Wissenschaft, denn Machiavellis Florenz oder das antike Athen helfen nur noch bedingt weiter angesichts dieser neuen Welt. Sie baut damit auf zahlreichen Arbeiten auf, die den Anspruch geäußert haben, sich stärker dieser neuen politischen Wissenschaft zu widmen9 und dem auch nachgegangen sind. Nicht nur in diesem Werk, sondern auch zusammen mit Harald Bluhm behandelt Skadi Krause Tocquevilles neue politische Wissenschaft vor dem historischen Hintergrund seiner Zeit. Schon das frühe Werk von George W. Pierson setzt diesen Fokus. Skadi Krause, Harald Bluhm und George W. Pierson geht es also darum, Tocquevilles politische Theorie vor dem Hintergrund des historischen Kontextes, und zwar sowohl französischer als auch US-amerikanischer Debatten, nachzuvollziehen.10 Cheryl B. Welch hält den Zusammenhang zwischen politischer Theorie und politischem Handeln für ein grundlegendes Motiv in Tocquevilles gesamtem Werk.11 Tocqueville gilt als moderner politischer Theoretiker oder Theoretiker der modernen Demokratie, weil er in einer Zeit schreibt, die am Beginn der Moderne steht – so könnte eine erste Bewertung lauten.

Marx gilt den einen als Philosoph, anderen als Wirtschaftstheoretiker und wieder anderen als Soziologe. Aus Teilen der umfassenden Marx-Literatur ergibt sich der Anschein, dass im Marx’schen Werk überhaupt nichts über Politik als Gestaltungsmittel gesellschaftlicher Entwicklung zu finden sei.12 Eine andere Sichtweise steht in Verbindung mit der sogenannten ›Staatsableitungsdebatte‹, welche sich allerdings mehrfach auf DasKapital bezieht beziehungsweise wenn überhaupt in Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie Aussagen über den Zusammenhang zwischen Gesellschaftsanalyse und Politik findet.13 Hinsichtlich des Marx’schen Gesamtwerkes ist bisher oftmals davon die Rede, dass es dort durchaus eine Ausführung über die Politik gibt, die allerdings »eng mit der Kritik der politischen Ökonomie verknüpft ist und [dieser] letztlich untergeordnet wird«14. Mit diesem Urteil folgt Miguel Abensour vielen Ansätzen, die dem Marx’schen Denken insgesamt einen Mangel an der Beschäftigung mit Politik attestieren. Dieses Urteil drückt sich auch in der Kritik am vermeintlichen Ökonomismus15 oder auch der Spannung zwischen der Theorie des Klassenkampfs und Marx’ politischen Ökonomie aus.16 In der Absicht ähnlich, allerdings mit einem anderen Zugriff, sieht Jacques Rancière bei Marx im Proletariat als Träger eines finalen Klassenkampfes einen Hinweis auf ein »Jenseits von Politik«17.

Oliver Flügel-Martinsen kritisiert an allen diesen Ansätzen jedoch die Überfokussierung auf Marx’ ökonomische Gesellschaftstheorie.18 In ihrem Vorwort zum Sammelband Kritik im Handgemenge stellen auch Matthias Bohlender und andere fest, dass gerade die »Stimme« der Marx’schen Kritik als »politischer Einsatz« lange und »allzu gerne überhört und vergessen« wurde.19 Damit legen sie den Finger in die Wunde. Marx’ Hinterlassenschaft hat im Laufe der Kanonisierung und wissenschaftlichen Verarbeitung vieles an politischer Intention verloren. Doch Marx befasst sich ganz wesentlich mit Politik, wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt wird. Die Frage, wie die Gesellschaft unter den Bedingungen der neuen Welt die eigene Entwicklung bestimmen kann, ist für Márcio Egídio Schäfer die »Hauptfrage von Marx’ politischer Philosophie«20. Matthias Bohlender und andere wollen in ihrem Sammelband genau dieser Marx’schen Stimme, die die Bedeutung von Politik betont, wieder mehr Gehör verschaffen. Auch Harry Cleaver sieht etwa Das Kapital eher als ein »politisches Dokument« und kritisiert an vielen Marx-Exegesen, diese würden sich in »philosophische[n] Abhandlungen und strukturalistische[n] Modelle[n] von Klassenverhältnissen [ergehen], die sich als perfekt für akademische Studien und Debatten erwiesen haben«, aber die eigentliche Intention verquasen.21 Zuletzt war es Peter Ghosh, der Marx’ Werke als eine zentrale Säule der politischen Ideengeschichte gezeigt hat.22

Weber gilt weithin als Realist und Pragmatiker. Realpolitik ist eines der Schlüsselkonzepte im politischen Denken Webers. Lawrence A. Scaff zeigt Weber als einen solchen Realisten, der die Welt und die Umstände nimmt und analysiert, wie sie sind und nicht, wie er sie gerne gehabt hätte.23 Weber ist, wie Wolfgang Mommsen festhält, einer der »bedeutendsten Repräsentanten des europäischen Liberalismus an der Schwelle seines Niedergangs«24. Stefan Breuer stellt fest, dass Weber

»ein in seinen Werten und Maßstäben zutiefst der untergehenden Welt Alteuropas verhafteter, mit unbestechlicher Schärfe die Kosten der ›Modernisierung‹ registrierender Autor [war], der seinen antimodernen Affekten wohl nur deshalb nicht die Zügel schießen ließ, weil er klar die Irreversibilität der Prozesse erkannte, die der alteuropäischen Welt (wie auch der Herrschaftswelt außerhalb Europas) die Grundlage entzogen«25.

Betrachtet Weber bestimmte gesellschaftliche Entwicklung als unhintergehbar, dann ist sein Denken diesbezüglich durchzogen von zahlreichen »Dennochs«26, wie Wilhelm Hennis bemerkt. Kern dieser ›Dennochs‹ ist Politik. Politik als Darstellung und Kampf verschiedener Möglichkeiten und Vorstellungen. Dies wird in der vorliegenden Arbeit gezeigt. Rainer Lepsius betont hierbei wieder den Realismus und die wissenschaftliche Objektivität des großen Soziologen Webers, wenn er feststellt, dass Weber zwar durch einen zeithistorischen Bezug »angeregt, aber nicht bestimmt« gewesen sei. Webers Fragestellungen und Nachdenken über Politik sind demnach »intellektuelle Leistungen«27 mit eigenen Motiven. Agnes Heller sieht in Weber vielleicht überhaupt den Ersten, »who […] opened the path towards the concept of the political«28.

Diese einzelnen Arbeiten befassen sich teils mehr und teils weniger mit dem, was Tocqueville, Marx und Weber über Politik als Gestaltungsinstrument gesellschaftlicher Entwicklung gedacht und geschrieben haben. Hier soll gezeigt werden, dass Tocqueville, Marx und Weber in der Politik das zentrale Instrument sehen, in dem sich unter den Bedingungen der neuen Welt das Versprechen auf Gestaltungsfreiheit ausdrückt. Politik ist demnach der Ort, an dem das Bewusstsein für diese neuen Spielräume besteht. In der Politik zeigt sich die neue Gestaltungsfreiheit. Das ist das erste Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. In und durch Politik drückt sich allerdings nicht nur ein Bewusstsein von Gestaltungsfreiheit aus, sondern noch etwas mehr, dass bisher weniger im Nukleus der jeweiligen Betrachtung von Tocqueville, Marx und Weber stand.

Mit Paul Nolte lässt sich feststellen, dass Gestaltungsfreiheit auch als Kontingenz übersetzt werden kann.29 Andersherum bedeutet die Möglichkeit Dinge immer auch anders entscheiden und gestalten zu können in der Moderne nichts anderes als Freiheit.30 Völlig unstrittig ist in der heutigen Politikwissenschaft zum einen, dass Politik selbst kontingent ist.31 Mit Alfred Heuß ließe sich sagen: »Es gibt keine Handlung, und erst recht keine historische, von der man nicht sagen könnte, daß sie auch anders hätte ausfallen oder auch unterbleiben können.«32 Zum anderen wandelt sich Politik historisch.33 Kontingenz wird heute als Spezifikum moderner Gesellschaften gesehen.34 Wie Kari Palonen eingängig zeigt, ist der Begriff der Kontingenz heute in der Politikwissenschaft fast schon ein »Modebegriff« oder zur »Allerweltsformel« geworden und die Begründung dafür liege in der »Anerkennung ihrer Allgegenwärtigkeit«.35 In dieser Allgegenwärtigkeit geht allerdings Präzision verloren. Zygmunt Baumann etwa hat den Unterschied deutlich gemacht, ob etwas kontingent ist oder als solches wahrgenommen wird.36 Tatsächlich ist es angesichts der hier zu untersuchenden Fragestellung elementar darauf hinzuweisen, dass es um das Kontingenzbewusstsein hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung geht. Kontingenz an sich wird nicht hervorgebracht, aber es muss ein Bewusstsein für sie entstehen, denn nur dann besteht auch ein Bewusstsein für die Gestaltungsfreiheit innerhalb dieser möglichen Kontingenz. Darin liegt eine essenzielle Bedeutung von Politik in der neuen Welt. Die eigene und die gesellschaftliche Entwicklung wirklich frei zu gestalten ist zugleich immer auch Ausdruck eines Kontingenzbewusstseins. Kontingenzbewusstsein und Gestaltungsfreiheit verweisen aufeinander. Das Wissen darüber es anders machen zu können, ist die Grundlage freier Gestaltung. Wenn für Tocqueville, Marx und Weber die Politik der Ort ist, an dem sich ein Bewusstsein für Gestaltungsspielräume und -freiheiten bildet oder eben die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung immer wieder entdeckt wird, dann ist die Politik auch der Ort, an dem sich ein Kontingenzbewusstsein findet. Diese Suche nach der Bedeutung von Politik als Ort von Kontingenzbewusstsein ist der zweite und neue Forschungsschritt, der hier gewagt wird.

Tocqueville, Marx und Weber formulieren ihre Vorstellungen von Politik allerdings nicht in den luftleeren Raum, sondern ihre Vorstellungen von Politik sind Reflektionen kritischer Gesellschaftsanalysen. Tocqueville, Marx und Weber sind präzise Beobachter der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Entwicklung. Tocqueville ist daneben immer auch am praktisch-politischen Handeln interessiert und das nicht nur, weil er selbst Politiker war.37 Folgt man Lawrence Scaff, dann registriert Weber in seinen Beobachtungen sehr sensibel auch kleinste Gefahren für die individuelle Freiheit.38 Durch ihre unterschiedlichen Analysen der Gesellschaften unter den Bedingungen der neuen Welt, kommen alle drei zu Kritiken an ebendiesen Gesellschaften. In dieser Arbeit soll zunächst gezeigt werden, wie Tocqueville, Marx und Weber die gesellschaftliche Entwicklung beschreiben – etwa als: Demokratisierung, also voranschreitende Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen (Tocqueville), als Entwicklung des historischen Widerspruches zwischen angehäufter und unmittelbarer Arbeit (Marx) oder als universelle Rationalisierung (Weber). Dieser Analyseebene folgt die Betrachtung der jeweiligen und daraus abgeleiteten Kritiken: demokratische Despotie (Tocqueville), Despotie des Kapitals (Marx) oder stählernes Gehäuse (Weber). Thematisch befassen sich alle drei Kritiken mit der Gefahr der gesellschaftlichen Erstarrung als Folge der gesellschaftlichen Entwicklung unter den Bedingungen der neuen Welt. Alle drei beschreiben potenzielle oder tatsächliche despotische Zustände. Das Augenfällige dabei ist, dass diese despotischen Zustände Folge der Bedingungen der neuen Welt sind, denn Tocqueville, Marx und Weber beschreiben keinesfalls eine Rückkehr antiker Formen von Despotie oder Diktatur. Im Gegenteil, sie beschreiben diese despotischen Zustände, in denen die gesellschaftliche Gestaltungsfreiheit ihrer Meinung nach eingeschränkt oder (noch) nicht (bewusst) vorhanden ist als komplexe Konsequenz aus den Bedingungen der neuen Welt und darin auftretender gesellschaftlich bewusster, vor allem aber unbewusster Eigengesetzlichkeiten und -dynamiken. Die eigentliche historisch glückliche Situation angesichts der Möglichkeiten an Gestaltungsfreiheit kann umkippen und moderne Unfreiheiten, Tyranneien, Despotien oder Erstarrungen erzeugen, das zeigen die drei Analysen und Kritiken. Nicht ohne Grund, so ließe sich an dieser Stelle festhalten, sind Tocqueville, Marx und Weber (neben Sigmund Freud) die einzigen drei Theoretiker des langen 19. Jahrhunderts, bei denen Roger Boesche eine ›Theorie der Tyrannei‹ findet.39

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Reflexionen von Tocqueville, Marx und Weber jeweils mit einem Fokus auf Politik. Tocqueville formuliert dabei im Kern eine Vorstellung von moderierender Politik als aufgeklärtes Bürgerinteresse40, Marx eine Idee radikaler Politik als notwendige Überwindung historischer Widersprüche und Weber eine Vision von widerständiger Politik als elitäres Primat über unentbehrliche Notwendigkeiten moderner Massengesellschaften. Gerade aus der Kontrastierung der drei Gesellschaftswissenschaftler wird dabei ersichtlich, dass Politik angesichts der Bedingungen der neuen Zeit jeweils eine zentrale Bedeutung zukommt, die unweigerlich selbst der Kontingenz unterliegt.

Es gibt bereits zahlreiche Arbeiten, die sich in dieser Hinsicht mit jeweils zwei der drei hier untersuchten Autoren in unterschiedlicher Konstellation befassen. In den Gesellschaftswissenschaften gelten Tocqueville, Marx und Weber vielfach als konträre Denker. Tocqueville und Marx werden etwa von Cheryl B. Welch als Antipoden dargestellt, die im Kalten Krieg die entgegengesetzten Ideologien belieferten.41 Tocquevilles Plädoyer für eine pluralistische Gesellschaft stelle ihn in die zu Marx entgegengesetzte Kategorie, wie auch Seymor Lipset notiert.42 Klaus Hornung arbeitet die Unterschiede beider hinsichtlich ihrer grundlegenden Gesellschafts- und Politikauffassung heraus.43 Für Peter Lassmann ist Tocqueville mit seiner Auffassung zur Natur und dem Möglichkeitsraum des Politischen maximal von Weber entfernt.44 Nach Wolfgang Schluchter wendet sich Weber wiederum entschieden gegen den extremen Objektivismus von Marx.45 Daher reüssiert Weber als gewichtiger theoretischer Gegenspieler von Marx, wie Wolfgang J. Mommsen darstellt.46 Andere soziologische und politikwissenschaftliche Arbeiten weisen durchaus auch auf Ähnlichkeiten hin. Herbert Dittgen etwa sieht eine solche darin, dass sich Tocqueville und Marx mit den sich in der Dynamik der Moderne auflösenden Gesellschaftsbande befassen.47 Dass sowohl Tocqueville als auch Weber ein Unbehagen über die Inadäquanz der Auflösung aristokratischer und Schaffung neuer demokratischer Strukturen ausdrücken, stellt Martin Hecht heraus.48 In der Ablehnung des liberalen Utilitarismus des 19. Jahrhunderts erkennt ferner Anthony Giddens eine Gemeinsamkeit von Marx und Weber.49 Jim Faught macht auf eine Gemeinsamkeit von Tocqueville und Weber aufmerksam, die seiner Ansicht nach in ihrem jeweiligen Fokus gesellschaftlicher Strukturen liegt. Beide sehen demnach, dass diese gesellschaftlichen Strukturen einen förderlichen oder ermöglichenden Einfluss auf demokratische Strukturen haben können.50

An diesen Arbeiten ist auffällig, dass sie sich nur am Rande oder gar nicht mit den Vorstellungen von Tocqueville, Marx und Weber über Politik als Ausdruck von Gestaltungsfreiheit und Ort eines Kontingenzbewusstsein der gesellschaftlichen Entwicklung beschäftigen. Es fehlt an dieser Stelle bisher eine Arbeit, die sich mit den Vorstellungen von Politik und Kontingenzbewusstsein aller drei befasst. In der vorliegenden Arbeit wird gezeigt, dass Tocqueville, Marx und Weber jeweils in der Politik das zentrale Instrument der neuen Gestaltungsfreiheiten und Politik als Ort eines Kontingenzbewusstseins sehen.

Mit Fortschritt und gesellschaftlicher Entwicklung befasst sich ein immer größerer Strang der Sozialwissenschaften. Generell wird Fortschritt und gesellschaftliche Entwicklung angesichts konstanter Beschleunigung immer mehr Aufmerksamkeit in den Gesellschaftswissenschaften zukommen.51 Zentrales Thema bei Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung ist dabei heute vielfach das Phänomen der Globalisierung. So ist die Idee der soziologischen Globalisierungstheorie, dass durch zunehmenden Austausch und intensivere Beziehungen eine allmähliche Homogenisierung der Welt erreicht wird. Schon im 19. Jahrhundert und der ›Europäisierung der Welt‹ folgte der Freihandelsidee eine ähnliche Vorstellung von der Entwickling. Auch heute ist diese Linie noch präsent, wenn über die ›Coca-kolonisierung‹ oder die ›McWorld‹52 gesprochen wird. Aktuellere Ansätze betonen allerdings auch, dass Globalisierung neben Homogenisierung immer auch neue Abgrenzung und Fragmentierung, also durchaus auch Divergenzen schafft.53 Ein Vorhaben Sebastian Conrads ist es, das Verhältnis von Partikularität und Globalisierung umzudrehen, »weil die Globalisierung um 1900 die politische, ökonomische und diskursive Ordnung dieser Welt durcheinanderbrachte« und zur »Konjunktur von Vorstellungen nationaler Besonderheit« beigetragen habe.54 Aus der Kritik an Euro- und Anglozentrismus ergab sich die Globalisierungsthese der Geschichtswissenschaft55 und der Postkolonialismus-Forschung,56 die davon ausgeht, dass Globalisierung ein synchroner Prozess und Ergebnis wechselseitiger und globaler Beeinflussung ist. Schon Reinhard Bendix hat auf die internationale Ebene hingewiesen, indem er Vorreiter und Nachzügler in der Entwicklung konstatierte.57 In diesem theoretischen Rahmen arbeitet auch die Varieties-of-Capitalism-Forschung, die die Variationen von Kapitalismus nicht gegen einen globalen Kapitalismus stark macht, sondern diese in jenem aufgehen sieht. Zusammen mit Hans-Ulrich Wehler58 und Rainer Lepsius59 steht Peter Flora60 für die Ansicht der Systematisierung der Modernisierung durch die Auflösung in Dichotomien von beispielsweise traditional und modern. Auch die in den 1950er-Jahren in den USA entstandene Modernisierungsforschung erscheint oft mit dem Anspruch einer Megatheorie.61 Der Multiple-Modernities-Ansatz Shmuel Eisenstadts geht wiederum davon aus, dass es verschiedene Modernen gibt62 – multiple Modernen als Ausdruck von Kontingenz.

Mit der Betrachtung von Tocqueville, Marx und Weber soll gezeigt werden, dass Politik als Gestaltungsinstrument kein einheitliches Steuerungsinstrument gesellschaftlicher Entwicklung ist. Vielmehr zeigt sich aus der Betrachtung der drei Theoretiker, dass Politik als Ort eines Kontingenzbewusstseins unendlich vielgestaltig ist. Politik ist und bleibt kontingent und historisch wandelbar. Alle drei Autoren erkennen allerdings die zentrale Bedeutung der Politik, ein kollektives Bewusstsein der Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung aufrechtzuerhalten. Es geht also nicht darum, eine Megatheorie gesellschaftlichen Wandels aus den drei Ansätzen zu destillieren, sondern die Moderne als kontingent und eben ergebnisunsicher zu zeigen und damit den Hintergrund gesellschaftlichen Wandels in der Moderne so zu lassen, wie er ist, nämlich kontingent und unsicher. Die drei Autoren des langen 19. Jahrhunderts stehen damit auch sinnbildlich für die unhintergehbare Pluralität und Kontingenz der Moderne, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer kritischen Gesellschaftsanalysen als auch hinsichtlich ihrer Reaktionen darauf. Es ist schlicht nicht mehr (oder zumindest bisher nicht) möglich, nurmehr eine Erklärung der Welt, ihrer Entwicklung und damit ein Gestaltungsmodell zu haben.

Tocqueville hat ein Gesamtwerk hinterlassen, dass umfangreich an Redebeiträgen und Briefen ist sowie aus zwei entscheidenden Monografien besteht: De La Démocratie en Amérique als erstes und der L’Ancien Régime et la Révolution als zweites Hauptwerk. Hier wird sich maßgeblich auf das erste Hauptwerk, Briefe und Reden beschränkt. Gerade De La Démocratie en Amérique ist deutlich durch den Zusammenhang von Tocquevilles Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft und seiner Idee von Politik als Reflexion darauf geprägt. L’Ancien Régime et la Révolution hingegen ist deutlich historischer angelegt und wird hier nur am Rande herangezogen.

Bei Marx und Weber ist eine solche Einteilung des Gesamtwerkes unmöglich, weswegen hier auch mit den Gesamtausgaben gearbeitet wurde. Besonders die Werke von Marx und Weber gelten als ›Steinbrüche‹ oder jeweils als ›Corpus.‹ Beide sind unabgeschlossen und vieles erst posthum von anderen Personen ediert worden. Bezüglich Marx wird oftmals von einem jungen-ideologischen und einem reifen-wissenschaftlichen Marx gesprochen. Diese Trennung sowohl der Marx’schen Biografie als auch die damit einhergehende Einteilung des Marx’schen Denkens sowie des Marx’schen Gesamtwerkes an sich geht maßgeblich auf Louis Althusser zurück. Er unterteilt das Marx’sche Denken also in zwei Perioden: »die noch ›ideologische‹ Periode vor dem Einschnitt von 1845 und die ›wissenschaftliche‹ Periode nach dem Einschnitt von 1845«63. Louis Althusser bezog damit Stellung in der Diskussion darum, ob die Marx’sche Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft eine philosophische Theorie ist oder nicht. Für ihn bricht Marx, als er 1845 mit Engels zusammen an der Deutschen Ideologie arbeitet, »mit seinem früheren ideologischen philosophischen Bewusstsein«64. Er geht sogar noch weiter und unterscheidet innerhalb der wissenschaftlichen Periode nach »Werken der Reifung« und »Werken der Reife«.65 Auch Donald Hodges erkennt eine Trennlinie zwischen dem jungen und reifen Marx, allerdings klingt dies bei ihm schon weniger absolut. Er erkennt nämlich auch eine Konstante im Marx’schen Denken, die er in der Verpflichtung dem Proletariat gegenüber sieht.66 Im Marx’schen Gesamtwerk lassen sich somit sowohl Brüche als auch Konstanten finden. Andere betonen deutlicher die Kontinuitäten etwa in Marx’ gesellschafts- und geschichtsphilosophischen Überlegungen.67Das Elend der Philosophie, 1847 verfasst und damit exakt auf der von Louis Althusser aufgerufenen Bruchlinie stehend, kann vielleicht gewissermaßen als Beispiel einer Kontinuität zwischen dem ›jungen‹ oder ›frühen‹ und ›alten‹ oder ›reifen‹ Marx dienen. Es ist ein Beleg dafür, dass eine Einteilung des Marx’schen Denkens in ›früh‹ und ›reif‹ oder ›jung‹ und ›alt‹ so nicht unbedingt, auf keinen Fall aber absolut tragbar ist. In Das Elend der Philosophie sind bereits viele Themen angerissen, die in der Rezeptionsgeschichte des Marx’schen Gesamtwerkes erst dem späten und reifen Marx zugeordnet werden. Er thematisiert darin bereits die Gesellschaft als Klassengesellschaft, das Verhältnis von Freiheit und ökonomischen Bedingungen oder erwähnt grundlegende ökonomische Kategorien, wie den Preis oder Wert von Arbeit, das Verhältnis von Arbeit und Kapital oder die grundsätzliche Bedeutung der materiellen Basis für die politische Ordnung. Insgesamt muss zu diesem Thema gesagt werden, dass es eine fast banale Tatsache ist, dass, wenn jemand gute 40 Jahre an zwar verschiedenen, doch aber verwandten Themen arbeitet, in dem Gesamtwerk eine Entwicklung zu sehen ist. Aus diesem Umstand jedoch einen Bruch abzuleiten, würde Marx’ Denken nicht richtig wiedergeben, um es mit den Worten Daniel Friedmans auszudrücken.68 Auch Michael Quante stimmt hier überein, wenn er feststellt:

»Zwischen dem Marxschen Denken, wie es sich ab 1843 herausbildet, und dem Marxschen Denken, wie wir es bis zu den letzten Arbeiten am Kapital vorfinden, gibt es aus philosophischer Sicht eine fundamentale Kontinuität.«69

Auch Webers Werk ist nicht nur insgesamt ein Korpus geblieben, sondern ist durch verschiedene wesentliche Themen gekennzeichnet. Es ist auf der einen Seite analytisch und führt einzelne Phänomene einer Definition zu. Auf der anderen Seite zeigt es die historische Genese bestimmter Dinge auf. Zuletzt gibt es auch politisch intendierte Texte. Muss jedoch zwischen den politischen Aussagen und den wissenschaftlichen Einsichten unterschieden werden? Gibt es also einen wissenschaftlichen und einen politischen Weber, wobei der wissenschaftliche auch noch unterteilt werden muss in analytisch-definitorisch und historisch?70 Hier wird davon ausgegangen, dass seine politisch intendierten auf seinen theoretischen und analytischen Schriften aufbauen.71 Dies zeigt sich zum einen mehrfach direkt in seinem Gesamtwerk. Zu vergleichen sind hier etwa die Schrift Politik als Beruf oder vieles von Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland mit den einschlägigen Passagen in Wirtschaft und Gesellschaft. Vor allem aber zeigt es zum anderen der Blick auf das Gesamtwerk Webers. Wolfgang Mommsen ordnet es richtig ein und bemerkt, dass sich die politischen Teile Webers Werk natürlich auf die analytischen Teile beziehen. Damit ist es nicht nur ratsam, sondern von erheblicher Bedeutung, die durchaus unterscheidbaren Nuancen dennoch als Ausdruck eines Ganzen zu betrachten.72 Die Zusammenhänge von theoretischer und historischer Analyse sowie politischen Schriften sind vorhanden und werden im Folgenden gemeinsam herangezogen.

Es ist demnach fraglich, in beiden Gesamtwerken Brüche oder unverbundene Einzelstücke zu sehen. Vielfach erscheinen in beiden Werken Kontinuitäten und Gesamtlinien, die nicht nur die einzelnen Werkteile, sondern damit auch das gesamte Denken durchziehen. Aus diesem Grund wird im Folgenden nicht versucht, die Aussagen von Marx oder Weber zu zuordnen oder etwa nur den ›jungen‹ Marx und den ›analytischen‹ Weber zu behandeln. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass es Kontinuitäten im Denken der beiden gibt, die es ermöglichen, das jeweilige Gesamtwerk als solches heranzuziehen.

Die Arbeit wird sich entsprechend der drei Theoretiker gliedern. Bei jedem wird im ersten Schritt die Gesellschaftsanalyse, darauf aufbauend die Kritik an der bestehenden Gesellschaft hinsichtlich der Entwicklung beziehungsweise ihrer Steuerung und zuletzt die Reflexion darauf, also die Vision erläutert.

Beginnend mit Tocqueville wird im ersten Kapitel zunächst auf sein Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung eingegangen. Dabei wird gezeigt, dass für Tocqueville die Geschichte maßgeblich durch den Prozess der Demokratisierung gekennzeichnet ist. Darauf aufbauend geht es um die Erfahrungen mit der Gleichheit, dieser ersten Erscheinung der Demokratisierung, die Tocqueville in den Vereinigten Staaten von Amerika beobachtet. Aus den sozialen Erfahrungen, zusammengefasst als gesellschaftlicher Zustand, droht sich potenziell ein politischer Zustand zu entwickeln, den Tocqueville als demokratische Despotie bezeichnet und um die es im anschließenden Abschnitt gehen wird. Dabei wird explizit darauf eingegangen, inwiefern diese für Tocqueville ein Ergebnis fehlender bewusster Gestaltung und eines zunehmend schwindenden Kontingenzbewusstseins ist. Die demokratische Despotie ist laut Tocqueville auf verheerende Weise ein stabiler Zustand, der die Gestaltungsfreiheit der neuen Welt ad absurdum führe, in dem sich Freiheit zunehmend ausschließlich im individuellen ökonomischen Handeln zeige, nicht aber mehr Ausdruck einer politisch freien demokratischen Gesellschaft sei. Entsprechend muss ausgeführt werden, wie er die Gesellschaft beschreibt, die durch eine zunehmend abgekoppelte, eigengesetzliche und eigendynamische Entwicklung gestaltet wird und wie sich die Individuen darin einfinden. Ganz deutlich gemacht werden wird, wie die Individuen das Bewusstsein von Gestaltungsfreiheit und Kontingenz verlieren. Vor dem Hintergrund dieser Kritik Tocquevilles an der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft, beschreibt er die US-amerikanische Gesellschaft als eine politischen Bürgergesellschaft. Diese Beschreibung richtet er an die entstehenden demokratischen Gesellschaften in Europa und entwirft insofern anhand der US-amerikanischen Gesellschaft eine reale Vision oder praktische Philosophie einer demokratischen Gesellschaft, die dauerhaft ihre Entwicklung bewusst zu gestalten in der Lage ist und ein Kontingenzbewusstsein aufrechterhält. Tocqueville reflektiert diese reale Vision auf seine kritische Analyse; es ist daher weniger eine Theorie, sondern mehr eine Beschreibung von bestehender Praxis in den USA, die aus einer Analyse hervorgeht. Seine Beschreibung ist geprägt durch die verschiedenen Erfahrungsräume von Politik. Es wird gezeigt, wie Tocqueville aus diesen politischen Erfahrungsräumen ein individuelles Interesse an Politik erwachsen sieht und wie sich daraus ein Ausgleich zwischen den Tendenzen der Gleichheit und Freiheit bilden kann. Politik erscheint am Ende als die einzige Möglichkeit, einerseits die Möglichkeiten der neuen Welt genießen zu können, ohne andererseits den potenziellen Gefahren einer modernen Despotie zu erliegen.

Auch das Kapitel über Marx beginnt zunächst mit seiner Sichtweise der historischen Entwicklung. Dabei geht es zentral um seine Ausführungen zur Entwicklung des Gegensatzes von angehäufter und unmittelbarer Arbeit, der, seiner Einsicht nach, die gesamte bisherige gesellschaftliche Entwicklung antreibt. Darauf aufbauend wird im nächsten Abschnitt genauer auf Marx Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft eingegangen, deren Strukturprinzipien laut Marx eine Ableitung der historischen Entwicklung des Widerspruchs sind. Im nächsten Schritt wird geklärt, inwiefern sich die bürgerliche Gesellschaft und deren Entwicklung als Ausdruck des speziellen Verhältnisses von angehäufter Arbeit als Kapital und unmittelbarer Arbeit als Lohnarbeit aus der abgekoppelten und eigengesetzlichen Funktionslogik des Verhältnisses selbst ergibt. Es wird zentral darum gehen, wo und wie sich dieses kapitalistische Verhältnis und die dahinter liegende Eigendynamik ausdrückt und das individuelle Handeln aufgrund eines fehlenden Bewusstseins festlegt – es wird also Marx’ Kritik der bürgerlichen Gesellschaft erläutert, die er als Despotie des Kapitals beschreibt. Auch in dieser Kritik der bürgerlichen Klassengesellschaft wird deutlich, dass weder gesellschaftliche Gestaltungs- noch individuelle Freiheit darin tatsächlich möglich sind und auch (noch) kein Kontingenzbewusstsein besteht. Zuletzt wird Marx’ Vision einer modernen Gesellschaft dargestellt, deren Kern eine Vorstellung von radikaler Politik ist. Grundlage davon ist ein Bewusstsein für die Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung und in ihr zeigen sich die Möglichkeiten neuer Gestaltungsfreiheiten. Marx’ politische Vorstellung läuft auf eine Idee einer radikal-revolutionären Politik hinaus, die ihre Grundlage in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung hat. Sie ergibt sich aus der Marx’schen Analyse und ist keine schlichte Theorie, sondern ebenfalls eine praktische Philosophie. Diese Idee existiert nur in der Projektion der praktischen Umsetzung, und zwar in der historisch notwendigen Radikalität und von dem Akteur, wie er sich ebenso notwendigerweise aus der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung ergibt. Es ist diese radikal-revolutionäre Politik, die erstmals den historischen Widerspruch zwischen angehäufter und unmittelbarer Arbeit zu überwinden in der Lage ist. Ein Widerspruch, der bisher durch die Menschheitsgeschichte hindurch unbewusst Unfreiheiten hervorbrachte, was in der bürgerlichen Klassengesellschaft und der Despotie des Kapitals einen Höhepunkt erreicht hat.

Zuletzt beginnt auch das Kapitel über Weber mit dessen Ausführungen zur geschichtlichen Entwicklung. Es wird eingangs gezeigt, dass der Prozess der Rationalisierung für Weber maßgeblich ist, wenn es um gesellschaftlichen Fortschritt geht. Entsprechend wird ausgeführt, wie Weber diesen Prozess der Rationalisierung beschreibt. Der rationale Betriebskapitalismus und die rationale Bürokratie sind dabei zwei der herausragenden Folgen des Rationalisierungsprozesses sowie zwei essenzielle Treiber der gesellschaftlichen Entwicklung. Sodann wird Webers Aussagen darüber nachgegangen, wo darin Eigengesetzlichkeiten sowie eine Eigendynamik liegen und wie diese das individuelle Handeln unbewusst derart prägen, dass Weber die bürgerliche Gesellschaft am Ende als stählernes Gehäuse bezeichnet. Zentraler Kritikpunkt ist auch bei Weber, dass in der bürgerlichen Gesellschaft ein Potenzial dafür existiert, durch welches die Individuen das Kontingenzbewusstsein verlieren und damit die eigentlichen Gestaltungsfreiheiten im allgemeinen Bürokratisierungstrend erstarren. Es wird entsprechend gezeigt, inwiefern Weber die moderne bürgerliche Gesellschaft kritisiert, nämlich maßgeblich an ihrer Stellung zum rationalen Betriebskapitalismus und der rational-bürokratischen Organisierung von zunehmend komplexer werdenden Zusammenschlüssen. Vor dem Hintergrund dieser Kritik entwirft Weber eine Vision, der der abschließende Abschnitt des Kapitels gewidmet ist. Diese Vision, einer sich der kontingenten Entwicklung bewussten Gesellschaft, basiert auf einer Idee elitärer Politik. Weber formuliert keine Vision, in der es nicht unbedingt ein kollektives Kontingenzbewusstsein gibt, sondern in der Gestaltungsfreiheit und Kontingenzbewusstsein Angelegenheiten einer politischen Elite sind. Auch seine Vision ist auf Basis seiner kritischen Gesellschaftsanalyse formuliert. Auch Weber erscheint damit mehr als praktischer Philosoph. Bei dieser Behandlung wird nachgezeichnet, welche Voraussetzungen Weber für seine Idee einer elitären Politik formuliert und wie diese Form der Politik auf die bürgerliche Gesellschaft zurückwirkt, beziehungsweise wie diese Politik in der Lage ist, ein Kontingenzbewusstsein und Gestaltungsfreiheiten auch unter den unvermeidlichen Begleiterscheinungen der Moderne zu erhalten.

Im Anschluss an die drei Theoretiker mit ihren Analysen, Kritiken und Visionen wird die Metaperspektive darauf eingenommen. Alle drei Visionen unterscheiden sich. Es sind drei unterschiedliche Vorstellungen von Politik. Abschließend wird geklärt, wie Politik und Kontingenzbewusstsein zusammenhängen.

Es geht nicht um eine oder die Politik, sondern um die spezifische Rolle und Funktion von Politik. Die Frage, wie die gesellschaftliche Entwicklung gestaltet beziehungsweise wie die Spielräume und Gestaltungsfreiheiten der neuen Welt erhalten oder überhaupt erreicht werden können, ist – und das wird aus der Metaperspektive auf die drei verschiedenen Theorien gezeigt – eine Frage, die offenbar in Abhängigkeit von Analyse und Kritik sehr unterschiedlich beantwortet werden kann. Die Notwendigkeit von Politik zeigt sich schließlich vor dem Hintergrund, dass die gesellschaftliche Entwicklung und der Fortschritt in ihrer Vielfältigkeit unaufhaltsam sind. Dadurch werden die gesellschaftlichen Bedingungen und die soziale Realität fortlaufend umgebaut, ob nun bewusst oder unbewusst. Daraus erwächst wiederum die Gefahr, dass sie durch ihre Eigengesetzlichkeiten und spezifische Dynamiken die Gestaltungsspielräume der neuen Welt negieren oder dafür sorgen, dass die Gesellschaften des langen 19. Jahrhunderts die neuen Gestaltungsfreiheiten und das Kontingenzbewusstsein hinsichtlich der eigenen Entwicklung verlieren. Nur Politik, aufbauend auf einem Kontingenz- und Gestaltungsbewusstseins, vermag auch unter den Bedingungen permanenter Veränderung und spezifischer Eigendynamiken Gestaltungsfreiheiten und Kontingenzbewusstsein zu bewahren, erstmals sichtbar zu machen oder immer wieder neu zur Geltung zu bringen.

1Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866, München 1991, S. 11.An dieser Stelle sei gleich etwas zur Zitierweise in der vorliegenden Arbeit gesagt. Da insbesondere Marx und Weber häufig mit Hervorhebungen arbeiten, werden hier nur die vom Autor der vorliegenden Arbeit selbst eingefügten Hervorhebungen gekennzeichnet. Alle Hervorhebungen ohne Kennzeichnung sind so im Original.

2Conrad H. Waddington: The Ethical Animal, Chicago 1960, S. 5. Übersetzung nach Cipolla a.a.O.

3Vgl. Carlo Cipolla: »Die Industrielle Revolution in der Weltgeschichte«, in: Carlo Cipolla/Knut Borchardt (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte. Band 3 Die Industrielle Revolution, Stuttgart – New York 1976, S. 1ff, hier S. 2.

4Vgl. ebd., S. 9.

5Vgl. Claude Lefort: The Political Forms of Modern Society, Cambridge 1986.

6Schnell kommt vielleicht die Skepsis auf, dass das lange 19. Jahrhundert doch nun wirklich und im wahrsten Wortsinne Geschichte sei. Doch das lange 19. Jahrhundert ist keineswegs »auserzählt,‹ sondern bietet Raum für neue Deutungen – und sei es nicht zuletzt unter innovativer Rückbesinnung auf sozialhistorische Fragestellungen.« Forschungsbericht: Das lange 19. Jahrhundert: Neuere Forschungen und Forschungsperspektiven. 28.04.2016 – 29.04.2016 Berlin vom 26.05.2016.

7Vgl. Julia Adams/Elisabeth S. Clemens/Ann S. Orloff: »Introduction: Social Theory, Modernity, and the three Waves of Historical Sociology«, in: Julia Adams/Elisabeth S. Clemens/Ann S. Orloff (Hg.), Remaking Modernity. Politics, History, and Sociology, Durham 2005, S. 1ff.

8Skadi S. Krause: Eine neue Politische Wissenschaft für eine neue Welt, Berlin 2017, S. 11.

9Vgl. dazu Harald Bluhm/Skadi Krause: »Zwischen akademisch-institutionalisierter Wissenschaft und Aufklärung der Bürger. Tocquevilles Neue Wissenschaft der Politik«, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 24 (2014b), S. 29ff, hier S. 30; Karlfriedrich Herb/Oliver Hidalgo: Alexis de Tocqueville, Frankfurt a.M. 2005, S. 57f; Wilhelm Hennis: »Tocqueville’s »Neue Politische Wissenschaft«, in: Justin Stagl (Hg.), Aspekte der Kultursoziologie. Aufsätze zur Soziologie, Philosophie, Anthropologie und Geschichte der Kultur: zum 60. Geburtstag von Mohammed Rassem, Berlin 1982, S. 385ff.

10Vgl. Harald Bluhm/Skadi S. Krause (Hg.): Alexis de Tocqueville, Paderborn 2016; George W. Pierson: Tocqueville and Beaumont in America, Oxford 1938.

11Vgl. Cheryl B. Welch: De Tocqueville, Oxford 2001.

12Vgl. Rolf P. Sieferle: Karl Marx zur Einführung, Hamburg 2007.

13Einen Überblick darüber bietet etwa Ingo Elbe: Marx im Westen, Berlin 2008.

14Miguel Abensour: Demokratie gegen den Staat, Berlin 2012, S. 199.

15Vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a.M. 1990.

16Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 2012.

17Jacques Rancière: Das Unvernehmen, Frankfurt a.M. 2002, S. 96.

18Vgl. Oliver Flügel-Martinsen: »Fehlt Marx eine Theorie des Politischen? Marx’ politische Kritik und die postmarxistische Marx-Kritik«, in: Matthias Bohlender/Anna-Sophie Schönfelder/Matthias Spekker (Hg.), Kritik im Handgemenge. Die Marx’sche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz, Bielefeld 2018, S. 245ff, hier S. 247. Gemäß der Einteilung verschiedener Marx-Fiktionen von Harald Blum ordnet Oliver Flügel-Martinsen die Kritiker hier jener zu, in der Das Kapital im Zentrum des auf der ökonomische Gesellschaftstheorie gerichteten Fokus steht. Zur Einteilung der Marx-Fiktionen Harald Bluhm: »MEGA-Marx«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 11 (2017), S. 41ff, hier S. 45ff.

19Matthias Bohlender/Anna-Sophie Schönfelder/Matthias Spekker: »Vorwort«, in: Matthias Bohlender/Anna-Sophie Schönfelder/Matthias Spekker (Hg.), Kritik im Handgemenge. Die Marx’sche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz, Bielefeld 2018, S. 7ff, hier S. 9.

20Márcio E. Schäfer: Bürgerliche Gesellschaft und Staat, Würzburg 2018, S. 11. Ähnlich auch Tom Rockmore: Marx’s Dream, Chicago 2018.

21Harry Cleaver: »Das Kapital« politisch lesen, Wien 2012, 14ff., 66.

22Vgl. Peter Ghosh: »Constructing Marx in the history of ideas«, in: Global Intellectual History 2 (2017), S. 124ff.

23Vgl. Lawrence A. Scaff: »Weber on the cultural situation of the modern age«, in: Stephen Turner (Hg.), The Cambridge Companion to Weber, Cambridge 2000, S. 99ff, hier S. 116.

24Wolfgang J. Mommsen: »Ein Liberaler in der Grenzsituation«, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt a.M. 1974b, S. 21ff, hier S. 21.

25Stefan Breuer: Max Webers tragische Soziologie, Tübingen 2006, S. 4.

26Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, S. 80.

27Rainer Lepsius: »Max Webers soziologische Fragestellungen«, in: Thomas Schwinn/Gert Albert (Hg.), Alte Begriffe – Neue Probleme. Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Problemstellungen, Tübingen 2016, S. 21ff.

28Agnes Heller: »The concept of the political revisited«, in: David Held (Hg.), Political theory today, Oxford 1991, S. 330ff, hier S. 332.

29Vgl. Paul Nolte: Was ist Demokratie?, München 2012, S. 130.

30Vgl. Richard Rorty: Contingency, irony and solidarity, Cambridge 1989, 26, 26.

31Vgl. Kegina Kreide/Andreas Niederberger: »Politik«, in: Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hg.), Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2011, S. 290ff.

32Alfred Heuß: »Die Kontingenz in der Geschichte«, in: Neue Hefte für Philosophie 24/25 (1985), S. 14ff, hier S. 20. Vgl. auch David Platt: The gift of contingency, New York 1991, S. 22.

33Vgl. Willibald Steinmetz/Ingrid Gilcher-Holtey/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Writing political history today, Frankfurt a.M. 2013.

34Vgl. Agnes Heller: »Die ethischen Alternativen der Moderne«, in: Heinrich Meier (Hg.), Zur Diagnose der Moderne, München 1990, S. 99ff, hier S. 121. Dazu auch MIchael Makropoulus: »Möglichkeitsbändigungen. Disziplin und Versicherung als Konzepte zur sozialen Steuerung von Kontingenz«, in: Soziale Welt 31 (1990), S. 407ff, hier S. 421.

35K. Palonen (1998), S. 13.

36Vgl. Zygmunt Baumann: Die Krise der Politik, Hamburg 2000; ähnlich Cornelius Castoriadis: »Democracy as Procedure and Democracy as Regime«, in: Constellations 4 (1997), S. 1ff.

37Vgl. Aurelian Craiutu: Liberalism under Siege, Lanham 2003; Sheldon S. Wolin: Tocqueville between two worlds, Princeton N.J. u.a. 2001.

38Vgl. Lawrence A. Scaff: Fleeing the Iron Cage, London 1989 Ähnlich argumentiert Christian Schwaabe: Freiheit und Vernunft in der unversöhnten Moderne, München 2002.

39Vgl. Roger Boesche (Hg.): Theories of Tyranny, University Park 1996.

40An dieser Stelle ist es angebracht, auf den Zusammenhang von Sprache und Geschlecht auf der einen und auf die Gehalte der Gleichheitskonzepte der drei Theoretiker einzugehen. Tocqueville, Marx und Weber leben in einer Zeit, in der bestimmte Formen von Diskriminierung und Ausschluss (also Ungleichheit durch Rassismus, Sexismus etc.) selbstverständlich waren und diese Umstände von ihnen vermutlich ebenso selbstverständlich kaum bis gar nicht wahrgenommen wurden. Tocqueville, Marx und Weber schreiben mehrheitlich von männlich dominierten Gesellschaften, und zwar politisch, sozial und ökonomisch. Inwiefern sie damit gesellschaftliche Ungleichheiten in Form von Diskriminierung reproduzieren, soll hier nicht diskutiert werden. Ich werde im sprachlichen Duktus der drei Theoretiker zu bleiben, um zu vermeiden, die Aussagen der drei Männer des langen 19. Jahrhunderts zu verfälschen oder ihnen sogar einen aufgeklärteren Impetus unterzuschieben, den sie vermutlich gar nicht hatten. Die Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit von Diskriminierung und Ausschluss sollen hier nicht durch eine nachträgliche Veränderung der Sprache kaschiert werden. Vgl. zur Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit von Diskriminierung in der Geschichte der Demokratie etwa Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2020.

41Vgl. C. B. Welch (2001), S. 225.

42Vgl. Seymor M. Lipset: The political man: the social bases of politics, Garden City 1960, S. 7.

43Vgl. Klaus Hornung: »Die Dialektik von Emanzipation und Despotismus. Alexis de Tocqueville und Karl Marx«, in: Der Staat 15 (1976), S. 305ff, hier S. 308.

44Vgl. Peter Lassman: »Democracy and Disentchantment: Weber and Tocqueville on the ›Road of Servitude‹«, in: Herminio Martins (Hg.), Knowledge and passion. Essays in honour of John Rex, London 1993, S. 99ff, hier S. 116.

45Vgl. Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, Frankfurt a.M. 1991a, S. 73.

46Vgl. Wolfgang J. Mommsen: »Kapitalismus und Sozialismus. Die Auseinandersetzung mit Karl Marx«, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt a.M. 1974b, S. 144ff, hier 144ff.

47Vgl. Herbert Dittgen: Politik zwischen Freiheit und Despotismus, Freiburg i.Br. 1986, S. 57. Kurz davor insistiert Herbert Dittgen allerdings auf den unterschiedlichen Anliegen beider. Vgl. ebd., S. 45.

48Vgl. Martin Hecht: Modernität und Bürgerlichkeit, Berlin 1998.

49Vgl. Anthony Giddens: Capitalism and Modern Social Theory, Cambridge 1971, S. 244.

50Vgl. Jim Faught: »Tocqueville and Weber. Interests, Values and Democracy«, in: Journal of Classical Sociology 7 (2016), S. 55ff.

51Thomas Schwinn bietet hier einen knappen, aber sehr genauen Überblick. Thomas Schwinn: »Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen. Ein Literaturbericht in konstruktiver Absicht«, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), S. 454ff.

52Vgl. Benjamin Barber: Jihad vs. McWorld, New York 1995.

53Vgl. Jan A. Scholte: Globalization, Basingstoke 2000; Arif Dirlik: »Is there History after Eurocentrism? Globalism, Postcolonialism, and the Disavowal of History«, in: Arif Dirlik (Hg.), Postmodernity’s History. The Past as Legacy and Project, Lanham 2000, S. 63ff; Zygmunt Baumann: Globalization, New York 1998; Ronald Robertson: Globalization: Social Theory and Global Culture, London 1992; Arjun Appadurai: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy«, in: Public Culture 2 (1990), S. 1ff.

54Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 9f. Siehe auch Craig Calhoun: »Nationalism, Modernism, and their Multplicities«, in: Eliezer Ben Rafael/Yitzak Sternberg (Hg.), Identity, Culture and Globalization, Leiden 2001, S. 445ff.

55Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, München 2013; Sebastian Conrad/Andreas Eckert: »Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen«, in: Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a.M./New York 2007, S. 7ff; Christopher A. Bayly: The Birth of the Modern World 1780-1914, Malden, Oxford, Carlton 2004.

56Vgl. S. Kaviraj: »An Outline of a Revisionist Theory of Modernity«, in: European Journal of Sociology 46 (2005), S. 497ff; Sebastian Conrad/S. Randeria: Jenseits des Eurozentrismus, Frankfurt a.M./New York 2002; D. P. Goankar: Alternative Modernities, Durham 2001; D. K. Chakrabarty: Provincializing Europe, Princeton 2000.

57Vgl. Reinhard Bendix: »Tradition and Modernity Reconsidered«, in: Reinhard Bendix (Hg.), Embattled Reason. Bd. 1, New Brunswick 1988, S. 279ff.

58Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975.

59Vgl. Rainer Lepsius: »Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der ›Moderne‹ und die ›Modernisierung‹«, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 10ff.

60Vgl. Peter Flora: Modernisierungsforschung, Wiesbaden 1974.

61Vgl. Wolfgang Zapf (Hg.): Probleme der Modernisierungspolitik, Meisenheim am Glan 1977.

62Vgl. Shmuel N. Eisenstadt: Multiple Modernities, New Brunswick 2002; Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000.

63Louis Althusser: »Vorwort: Heute«, in: Louis Althusser/Frieder O. Wolf (Hg.), Für Marx, Frankfurt a.M. 2011, S. 17ff, hier S. 35f. ebd.

64Ebd.

65Ebd., S. 37.

66Vgl. Donald C. Hodges: »The Unity of Marx’s Thought«, in: Science and Society 28 (1964), S. 316ff. Ähnlich anhand der Untersuchung der verschiedenen Methoden im Marx’schen Werk auch Philip J. Kain: »Marx’s Dialectic Method«, in: History and Theory 19 (1980), S. 294ff.

67Besonders spannend hierbei ist, dass Étienne Balibar, der mit Louis Althusser zusammen Das Kapital lesen herausgebracht hat, diese Meinung auch in seinem Beitrag dieses Buches vertritt. Vgl. Étienne Balibar: »Die Grundbegriffe des historischen Materialismus«, in: Louis Althusser/Étienne Balibar/Roger Establet et al. (Hg.), Das Kapital lesen, Münster 2015, S. 441ff. Daneben finden sich viele andere gleichlautende Meinungen etwa bei Michael Harrington: Socialism, New York 1972, S. 78f; Shlomo Avineri: The Social and Political Thought of Karl Marx, Cambridge 1968, S. 2; Iring Fetscher: »Karl Marx: Das Verhältnis von Frühwerk und Kapital«, in: Iring Fetscher (Hg.), Karl Marx und der Marxismus. Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, München 1967, S. 13ff.Auch der erste Übersetzer der Marx’schen Grundrisse ins Englische, Martin Nicolaus, sieht darindie erste Fassung vom Kapital, was wiederum eine Kontinuität im Marx’schen Gesamtwerk nahelegt. Vgl. Martin Nicolaus: »The Unknown Marx«, in: New Left Review 48 (1968), S. 41ff. Gegenmeinungen speziell dazu finden sich bei John Mepham: »The Grundrisse: Method oder Metaphysics?«, in: Economy and Society 7 (1978), S. 430ff; Keith Tribe: »Remarks on the Theoretical Significance of Marx’s Grundrisse«, in: Economy and Society 3 (1974), S. 180ff.

68Vgl. Daniel J. Friedman: »Marx’s Perspective on the Objective Class Structure«, in: Polity 6 (1974), S. 318ff, hier S. 320.

69Michael Quante: »Das gegenständliche Gattungswesen. Bemerkungen zum intrinsischen Wert menschlicher Dependenz«, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.), Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, Berlin 2013, S. 69ff, hier S. 70. Gerade im Begriff der Entfremdung und dem Vergegenständlichungsmodell, welche beide aus der Hegelschen Philosophie kommen und in den sogenannten Frühwerken erstmals von Bedeutung, allerdings auch in den sogenannten Spätwerken von zentraler Relevanz sind, zeigt sich diese Kontinuität. Ernst Lange etwa führt an, dass gerade der Tauschwert »notwendige Ausdrucksweise oder Erscheinungsform« des in der Ware vergegenständlichten Wert der Arbeit ist und sich daran diese Kontinuität beweisen lässt. Ernst M. Lange: Das Prinzip Arbeit, Frankfurt a.M. 1980, S. 55.

70Andreas Anter etwa trennt bezüglich Webers Staatsverständnis eine »Hermeneutik« von einer »Archäologie« des Staates. Vgl. Andreas Anter: Max Webers Theorie des modernen Staates, Berlin 2014.

71Vgl. Peter Ghosh: »A short manifesto by way of introduction«, in: Peter Ghosh (Hg.), A Historian Reads Max Weber. Essays on the Protestant Ethic, Wiesbaden 2008, S. 1ff, hier S. 2. Sheldon Wolin geht in seiner Argumentation sogar noch weiter und sagt, dass Webers methodologische Schriften selbst Texte politischer Theorie sind. Vgl. Sheldon S. Wolin: »Max Weber: Legitimation, Method, and the Politics of Theory«, in: Political Theory 9 (1981), S. 401ff, hier S. 420.

72Vgl. Wolfgang J. Mommsen: »Zum Begriff der ›plebiszitären Führerdemokratie‹«, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt a.M. 1974b, S. 44ff, hier 56ff. Hier ebenfalls interessant ist Friedrich Tenbrucks Arbeit, in der Webers Werturteilsfreiheit in den Gesamtzusammenhang Webers ›Wirklichkeitswissenschaft‹ einordnet. Vgl. Friedrich H. Tenbruck: »Die Genesis der Methodologie Max Webers«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1959), 573ff.

2.Historischer Kontext

Das lange 19. Jahrhundert bildet gewissermaßen die Klammer um die drei hier behandelten Autoren. An dieser Stelle soll es einmal grob ausgeleuchtet und auf hier wichtige Entwicklungen Eingängen werden. Dabei wird notwendigerweise selektiv vorgegangen.

Das lange 19. Jahrhundert beginnt mit der Französischen Revolution – einem Paukenschlag in der Geschichte. Einem Ereignis, das nicht nur retrospektiv, sondern auch zeitgenössisch als Bruch mit der Vergangenheit wahrgenommen wurde.1 Die Pariser schrieben an ihre Häuser die Parolen: Unité, Indivisibilité de la République, Liberté, Égalité, Fraternité ou la mort – Einheit, Unteilbarkeit der Republik, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod. Eine neue Zeit ist eingeläutet.2 Obgleich dies starke und große Worte sind, kann dadurch wohl kaum verdeutlicht werden, was für ein Gefühl der Befreiung und Euphorie geherrscht haben muss. Diese Gedanken der Französischen Revolution wirken weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. Die Französische Revolution ist ein regionales und globales Ereignis zugleich, wie der zeitgenössische Philosoph Henrik Steffens bemerkt:

»Es war nicht bloß eine französische, es war eine europäische Revolution […], sie faßte Wurzel in Millionen Gemütern, klar sehende Große erkannten die allgemeine Gewalt, ja verzehrten sie; ein Strafgericht war über die vormoderne Zeit ergangen, ein Sieg über verkümmerte nichtige Verhältnisse war entschieden errungen. Die Revolution war in allen freien Gemütern von Europa schon da, auch wo sie nicht ausbrach.«3

Selbst der konservative Schriftsteller Ernst Moritz Arndt konstatiert seinerzeit anerkennend:

»Ich würde aber sehr undankbar und zugleich ein Heuchler sein, wenn ich nicht offen gestände, daß wir dieser wilden und tollen Revolution unendlich viel zu verdanken, daß sie ein reiches Feuermeer des Geistes ausgegossen hat […], daß sie Ideen in die Köpfe und Herzen gebracht hat, die zur Begründung der Zukunft die notwendigsten sind und die zu fassen vor zwanzig und dreißig Jahren die meisten Menschen noch zitterten. Sie hat jenen geistigen Gährungsprozeß beschleunigt, durch welchen wir als durch unser gehen mußten, wenn wir zu den Himmelspforten des neuen Zustandes gelangen wollten; sie bewiesen, wie weit der menschliche Geist sich in irdischen Dingen vermessen darf, alles zu wollen und zu wagen, was er in ihm selbst als ewige Aufgabe der Vernunft gegründet findet. Es wird künftig unsere eigene Schuld sein, wenn wir den glücklichen Mittelweg nicht zu halten verstehen, der uns zwischen der unendlichen Theorie und der beschränkten Praxis allein durch die politischen Gefahren hindurchführen kann.«4

Ernst Moritz Arndt verweist hier indirekt auf die neuen Gestaltungsspielräume, indem er über die Schuld spricht, die auf die Gesellschaft zurückfällt, wenn sie es nicht schafft, die eigene Entwicklung bewusst zu gestalten. Eine Folge der Gestaltungsspielräume – so lässt sich an dieser Stelle zunächst festhalten – ist ergo eine gewisse Verantwortlichkeit dafür. Die gesellschaftliche Entwicklung und die unterschiedlichen Möglichkeiten müssen stärker ins Bewusstsein drängen.

Die Französische Revolution an sich und mit ihren politischen Forderungen stellt einen »tiefen Bruch der europäischen Geschichte« dar. Schon im »Bewußtsein der Zeitgenossen« kündigt sich dadurch der »Anbruch der ›Neuesten Zeit‹« an.5 In der Französischen Revolution laufen verschiedene Entwicklungen etwa der Aufklärung6, der schottischen Moralphilosophie7 sowie der allmählichen Herausbildung eines Bürgertums8 zusammen; sie kulminieren – so könnte man sagen – in der Französischen Revolution. Von ihr gehen auch wieder verschiedene Entwicklungen aus – sie wird daher zu einem »Knoten«9 der Geschichte, wie Franz Bauer sich ausdrückt.

Die Ständeordnung war sowohl weltlich als auch religiös bis ins kleinste Detail determiniert – in dieser Rigidität war die Ständeordnung enger Zwang, aber auch fester Orientierungspunkt. Diese Gesellschaftsordnung, die das Leben und die Entwicklung über Jahrhunderte prägte, dieser Polarstern, der unverrückbar sowie zugleich mystisch verklärt war und gerade daher immer und überall Orientierung bot, begann zu verblassen. Die Frage der gesellschaftlichen Entwicklung wird in der Nachfolge der Französischen Revolution und des Abgesangs der Ständeordnung deutlich unsicherer, aber auch freier.

Fortschritt und gesellschaftliche Entwicklung beschleunigen sich, denn die Bremsen, die sie in der Ständeordnung noch hemmen, lösen sich immer stärker. Insbesondere die ökonomische Entwicklung nimmt rasant an Fahrt auf und schafft immer mehr irreversible Tatsachen. Diese liegen in der Eigenverantwortung der Gesellschaft, es sind selbstgeschaffene Tatsachen. Deutlich zeigen sich auch nun auch neue Eigendynamiken.

Die Gesellschaften des 19. Jahrhunderts sind insgesamt aufgeklärter und klären sich zugleich immer schneller über die eigenen Bedingungen auf. Damit sind ihnen allerdings auch Unsicherheitserfahrung viel näher. Das ist kein einzelnes oder eindimensionales, allein politisches Phänomen. Vielmehr nehmen darauf aufbauend weitere Dynamiken beschleunigt ihren Verlauf. Im langen 19. Jahrhundert entsteht eine neue und viel intensivere gesellschaftliche Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung, und zwar sich selbst bestärkend. Wissen wird immer mehr aus der Beobachtung der Welt – der Empirie – destilliert und weniger aus religiösen oder traditionalistischen Dogmen abgeleitet, was auch eine Folge der Säkularisierung ist.10 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts umspannt die Geburtsmomente der Ethnographie, der Sozialanthropologie, der Soziologie und auch der Psychologie.11 Die »unendliche Entwickelung der materiellen Kräfte und die überaus vielseitige Entwickelung der Naturwissenschaften«12, die gesamte Entwicklung der Technik also, wie der Zeitgenosse Leopold Ranke bemerkt, führt zusätzlich zu einem gänzlich neuen Verhältnis von Mensch und Natur.13 Der Statistik als Quelle von Wissen kommt eine immer größere Bedeutung zu.14 Nationalbibliotheken, Museen, Fotographie und Filme sind neue Entstehungen im 19. Jahrhundert, die eine gesteigerte Selbstbeobachtung ermöglichen15 – auch das Entstehen der Presse fällt hier hinein.16 Aufklärung wird zunehmend multidisziplinär betrieben und insgesamt deutlich methodischer. Die Folgen einzelner Entdeckungen oder Ideen sind immer schwerer abzusehen. Auch vermeintlich kleinste Ereignisse und Veränderungen sind potenziell dazu in der Lage, tiefgreifende Veränderungen auszulösen.

Es entsteht eine immer selbstbewusstere und größere Öffentlichkeit und Assoziationskultur. In Lesezirkeln, Clubs, Cafés, Logen, Bewegungen oder Parteien werden nicht nur neue wissenschaftliche Erkenntnisse besprochen, sondern auch verschiedene politische Programme diskutiert. Es bilden sich Foren gesellschaftlicher Selbstorganisation und damit Möglichkeiten der Erfahrung von Selbstwirksamkeit fernab absolutistisch-monarchischer Inszenierung.17 Trotz vielfacher reaktionärer Unternehmungen sind »die Götter und Könige der Vergangenheit […] machtlos angesichts der Geschäftsleute und Dampfmaschinen dieser Gegenwart«18. Ein Zurück unter den Mantel der alten traditionalen und religiösen Welt ist nicht mehr möglich. Die Zeit ist von einem unaufhaltbaren Vorwärtsdrang durchzogen und kennt doch (noch) kein eindeutiges Ziel – Bewegung ohne die Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr und (bisher) ohne finales Ankommen.

Das 19. Jahrhundert ist geprägt durch eine neue und rasant vonstattengehende ökonomische Entwicklung. Nicht nur setzt ein bisher unbekanntes ökonomisches Wachstum ein, sondern die Wirtschaft verändert sich grundsätzlich. Korporatistische Bindungen, Zünfte, Gewerbebeschränkungen, Merkantilismus werden immer mehr verdrängt durch freie Vertragsgestaltung und Individualismus. Diese Ideen der Aufklärung, die das 18. Jahrhundert »durchtränkten«19 sind maßgebliche Topoi im langen 19. Jahrhundert. Der Befreiung aus der ständischen Vorfestlegung der sozialen Position durch die Geburt folgt nun die Abhängigkeit der gesellschaftlichen Positionierung von der individuellen Leistung. Aus der Leibeigenschaft oder auch aus liberaleren Formen des ländlichen Patriarchalismus befreite Individuen suchen sich neue Lebensgrundlagen, ziehen in die Städte und treiben die Transformation des Manufakturwesens zur industriellen Fabrik und damit die Entwicklung des modernen Industriekapitalismus an. Es handelt sich dabei

»um eine der größten Umwälzungen in der Geschichte: In einem knappen Jahrhundert verwandelte sich das Europa der Landgüter, der Bauernwirtschaften und der Handwerksbetriebe in ein Europa der großen Industriestädte«20.

Insgesamt eine völlig neue und die ganze Gesellschaft betreffende Dynamik von Wandel ergibt sich aus der Industrialisierung und der allmählichen Entwicklung des modernen Kapitalismus. Beide haben die »Welt überfallen, unsere ganze Existenz umgekrempelt, die Strukturen aller bestehenden menschlichen Gesellschaften über den Haufen geworfen […]«21. Langsam, aber sicher wird die Welt vom Phänomen des Konjunkturzyklus bestimmt. Krisen sind immer weniger auf klimatisch bedingte Missernten zurückzuführen22 und werden seltener als göttliche Strafe gedeutet23. Gesellschaften sind plötzlich konfrontiert mit den Folgen und den Erfahrungen von Selbstverantwortung für ihre eigenen kollektiven wirtschaftlichen Handlungen und Handlungsbeziehungen. Damit kommen allerdings auch erstmals Dauerprobleme eigener Art auf.24 Die Wirtschaftspolitik als Steuerungsinstrument ökonomischer Prozesse wird beispielsweise viel komplexer. Produktionszyklen, Angebots- und Nachfrageverschiebungen, allgemein Spekulation oder falsche beziehungsweise richtige Investitionsentscheidungen sind nun bestimmend für den Erfolg von Ökonomien und damit auch für das Schicksal ganzer Weltregionen. Das Abschätzen wirtschaftspolitischer Entscheidungen wird zusehends schwieriger und kurzfristiger. Es sind neue, selbstgeschaffene und vor allem selbstreferenzielle Bedingungen. Weil die Wirtschaft sich auch zunehmend international vernetzt, sind die Bedingungen der Konjunktur auch nicht mehr nur an die eigene Wirtschaft gebunden. Potenziell jedes Ereignis auf der Welt birgt nun die Möglichkeit, Einfluss auf die Konjunktur zu nehmen. Die Gründerkrise 1873 oder auch die erste weltweite Hochkonjunkturphase 1896 sind hierfür Beispiele.25 Die globale Welt ist nunmehr viel eher funktionale Realität geworden und nicht mehr ein eher geografischer Begriff und »Geschichte […] von nun an Weltgeschichte«26. Damit ergibt sich auch eine neue Notwendigkeit zu internationaler Kooperation und Absprache in wirtschaftlichen Fragen. Die Industrialisierung, die damit zusammenhängende Entwicklung des Kapitalismus und auch die Globalisierung haben damit nicht nur disruptiven Charakter für alte gesellschaftliche und politische Strukturen sowie Orientierungen, sondern sie schaffen auch neue Sachzwänge. Eine kapitalistische Wirtschaft braucht Wachstum, braucht eine gewisse Konzentration auf Konsum oder auch eine bestimmte Effektivität sowie generell Effizienz in der Verwaltung. Außerdem wälzen Kapitalismus, Konjunktur und technologische Entwicklung fortlaufend ganze Gesellschaft um.

Der Freihandel wird bis in die 1870er-Jahre hinein immer bedeutender, mindestens im europäischen und dem durch europäische Länder imperialistisch beherrschten Raum. Erhöhte sich der Welthandel von 1800 bis 1913 generell um das 25-fache, gibt es außergewöhnliche Schübe in den 1850er- und 1870er-Jahren.27 Solange es fast einen alleinigen wirtschaftlichen Entwicklungsvorsprung hat, fördert Großbritannien den weltweiten Freihandel. In anderen Ländern (in Deutschland etwa mit Friedrich List, aber auch in den USA, speziell in den Nordstaaten) gibt es früh wirtschaftsprotektionistische Ideen. Als die USA und Deutschland den britischen Vorsprung eingeholt hatten und zu wirklichen Konkurrenten wurden, intensivierten sich auch in Großbritannien die Vorhaben einer eher protektionistischen Wirtschaftspolitik. Die einheitliche liberale Wirtschaftspolitik der ersten drei Viertel des Jahrhunderts gibt es offensichtlich am Ende des Jahrhunderts nicht mehr.28 Die Ökonomie wird immer stärker und anders als bisher bekannt zum Gegenstand politischer Entscheidungen und auch durchzogen von anderen als ökonomischen Faktoren, etwa geopolitischen und nationalen Vorgaben. Es zeigen sich Erfahrungen ökonomischer Pfadabhängigkeiten und neuer Sachzwänge sowie eine zunehmende dynamische Komplexität.

Der »Revolution der Kohle und des Eisens« im Zeitraum von 1780 bis 1850 folgt eine zweite Welle, die »Revolution des Stahls und der Elektrizität« von 1850 bis 1914.29 In den 1880er-Jahren breitet sich die Industrialisierung nochmals mit einer neuen Geschwindigkeit aus, denn auch Japan und Russland treten nun in die Industrialisierung ein. Auch Indien und Südafrika, wo in den 1880er-Jahren große Goldvorkommen entdeckt werden, bilden neue erste Industriezentren außerhalb des Westens aus.30 Die Industrialisierung erlebt ferner eine zweite technische Entwicklungsstufe jenseits der Dampfmaschine. Die Elektrizität und das elektrische Licht (Glühlampe 1876), das Automobil (1885/1886), das Maschinengewehr (1884), aber auch Rundfunk und Röntgengerät (beide 1895) sind hier zu nennen. Insbesondere die Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität wie Dynamo, Elektromotor oder Kraftwerkstechnologie sind bedeutend für den weiteren Verlauf.31 Die Industrialisierung bekommt einen neuen Schub.

Nicht nur gibt es ab 1880 eine zweite Welle technischer Innovationen, auch organisatorisch passiert in den Betrieben und Unternehmen einiges. Wissenschaft und Wirtschaft rücken näher zusammen, worin der Startschuss zu großindustrieller Forschung gesehen werden kann. Parallel dazu beginnt eine Unternehmens- und Kapitalkonzentration, die in den USA und anderen westlichen Staaten große wirtschaftliche Einheiten entstehen lässt (Monopolkapitalismus). Es entwickeln sich erste multinationale Konzerne.32 Damit findet auch eine Anonymisierung unternehmerischer Tätigkeiten statt; angestellte Unternehmensverwalter (Manager) stehen neben Familienunternehmern. Es entsteht eine neue private Bürokratie in den Betrieben, mit klaren Hierarchien in der Angestelltengesellschaft.33 Die Industrialisierung und die Entwicklung des modernen Kapitalismus verursachen auch gravierende Veränderungen im Lebensstil34 und im Wertegerüst35. Das ursprüngliche liberale Postulat einer »harmonischen bürgerlichen Eigentümergesellschaft«36 ist zunächst gegen die feudale Gesellschaftsformation und