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Lucian Hölscher verfolgt die Geschichte der Zukunft in Europa von ihrer Entdeckung in der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Auch die Zukunft hat ihre Geschichte: Gewandelt haben sich im Laufe der Zeit nicht nur die konkreten Zukunftsvorstellungen vergangener Gesellschaften, sondern auch die Zukunft als Dimension gesellschaftlicher Selbstorganisation überhaupt. In einer aktualisierten und deutlich erweiterten Neuauflage seines 1999 erschienen Standardwerkes verfolgt Lucian Hölscher die Geschichte der Zukunft in Europa von ihrer Entdeckung in der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Er zeigt, wie der vorausschauende Blick der Menschen seit mehr als 300 Jahren in zyklischen Konjunkturen immer weitere Zukunftsräume erobert und damit unser Leben in der Gegenwart grundlegend auf die Zukunft hin ausgerichtet hat.
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Seitenzahl: 468
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Lucian Hölscher
Die Entdeckungder Zukunft
Einleitung
ERSTER TEILAuf dem Weg zur Moderne
Der mittelalterliche Zukunftshorizont und sein Ende
Die Entstehung des modernen Zukunftsbegriffs
ZWEITER TEILDie Periode der Entdeckung 1770 – 1830
Die geschichtsphilosophische Erschließung der Zukunft
Der unabsehbare Fortschritt und seine Grenzen
Die Zukunft im Spiegel des Altertums
Nationalstaatliche Zukunftsmythen
DRITTER TEILDie Periode des Aufbruchs 1830 – 1890
Der demokratische Aufbruch in die Zukunft um 1830
Die Zukunftsentwürfe der frühen Sozialisten
Die Anfänge der empirischen Zukunftsforschung in den Sozialwissenschaften
Die kommende sozialistische Revolution
Der sozialistische Zukunftsstaat
VIERTER TEILDie Periode des Höhepunkts 1890 – 1950
Die neue Qualität der Zukunft
Der Aufschwung des Zukunftsromans
Kosmologische Zeithorizonte
Die Technisierung der Zukunft
Die Ästhetik der Zukunft
Architektur und Städtebau
Die neue Gesellschaft
Die alternative Moderne
Der große Krieg
Die Weimarer Republik: Vielerlei politische Zukünfte
Alterndes Volk
Der Mythos vom Tausendjährigen Reich
Das Dritte Reich und die faschistischen Diktaturen
Der Niedergang des sozialistischen Zukunftshorizonts
FÜNFTER TEILDie Periode der Transformation seit 1950
Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Futurologie und die Grenzen des Fortschritts
Gesellschaftliche Reaktionen
Das Jahr 2000 und die Zukunft der Zukunft
Nachwort zur 2. Auflage
ANHANG
Anmerkungen
Auswahlbibliographie
Abbildungen
Namensregister
Sachregister
Zukunftsvorstellungen sind, wie jeder aus seiner eigenen Erfahrung weiß, äußerst luftige Gebilde. [1] Sie sind unbeständig, lösen sich oft ebenso plötzlich wieder auf, wie sie entstanden sind. Oft entwerfen wir sie überhaupt nur, um auf eine mögliche Gefahr hinzuweisen, eine falsche Entscheidung zu verhindern, und wollen schon morgen, wenn die Gefahr vorüber ist, nichts mehr von ihnen wissen. Oft legen wir uns beim Blick in die Zukunft auch gar nicht auf eine bestimmte Vorstellung fest, sondern halten bald die eine, bald die andere Entwicklung für möglich. Schließlich bilden wir uns zu unendlich vielen Vorgängen auch überhaupt keine Zukunftsvorstellungen oder erst von einem bestimmten Zeitpunkt an – und können uns dann manchmal später kaum noch erklären, wie uns das frühere Vorstellungs»loch« damals gar nicht auffallen, geschweige denn stören konnte. Zukunftsvorstellungen sind also alles andere als stabile, feststehende Größen.
Zukunftsvorstellungen sind ferner Zwitter zwischen Realität und Fiktion. Sie können weder als bloße Erfindungen noch im einfachen Sinne als historische Realitäten betrachtet werden. Einerseits sind sie zwar beides zugleich, nämlich mentale Gegebenheiten, die unser Denken und Handeln auch dann beeinflussen, wenn sie nicht eintreten. Und als solche sind sie natürlich historiographisch ebenso ernst zu nehmen wie andere historische Fakten auch. Andererseits unterscheiden sie sich aber auch von beiden: von bloßen Erfindungen, wie sie in Romanen vorkommen, schon allein dadurch, dass sich der Gegenstand ihrer Imagination im Rückblick durchaus als reales Ereignis bzw. Zustand herausstellen kann – dann nämlich, wenn sich die Erwartung oder Voraussage als zutreffend erweist. Bertrand de Jouvenel beschreibt sie deshalb als »futuribles«, als mögliche Zukunftsereignisse. [2] Von vergangenen Ereignissen und Zuständen andererseits trennt sie nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch die gesamte logische Konzeption der Geschichte: In der Vergangenheit gilt nämlich die eindeutige Alternative, dass sich etwas entweder ereignet hat oder nicht. Die vergangene Welt lässt sich in faktische und fiktive Ereignisse unterteilen. Die zukünftige Welt so zu ordnen wäre dagegen sinnlos, denn in ihr können wir eben gerade nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ein Ereignis dem Bereich des Faktischen oder des Fiktiven zuzurechnen ist. [3]
Und dies ist kein nebensächliches, sondern ein wesentliches Merkmal solcher Ereignisse. Denn wüssten wir mit Bestimmtheit, dass sich eine Zukunftsvorstellung tatsächlich auch so realisieren wird wie vorausgedacht, so stellte sich die gegenwärtige Welt von Grund auf anders dar. Wer würde z. B. noch eine Reise antreten, wenn er schon im Vorhinein wüsste, dass er auf ihr verunglücken wird; wer noch an der Börse spekulieren, wenn Gewinn und Verlust schon von vornherein feststünden? Und doch gehen Historiker meist gerade so mit vergangenen Zukunftsvorstellungen um, als ließen diese sich dadurch hinreichend charakterisieren, dass wir sie im Nachhinein als »realistisch« oder »illusionär« bezeichnen: Bismarck erscheint ihnen als weiser Mann, weil er, anders als seine Nachfolger, die Gefahren eines Zweifrontenkriegs zwischen Russland und Frankreich richtig voraussah; Hitler und Napoleon sind ihnen dagegen unkluge Strategen, weil sie die Möglichkeit einer militärischen Eroberung Russlands falsch einschätzten, usw.
In Wirklichkeit trägt diese Art der nachträglichen Abgleichung vergangener Zukunftsvorstellungen mit späteren Ereignissen und Entwicklungen deren tatsächlicher historischer Bedeutung nur ganz unzureichend Rechnung. Zwar gehört auch sie zum kritischen Umgang mit vergangenen Zukunftsvorstellungen. Doch ihre aktuelle Bedeutung für die Zeitgenossen selbst geht weit darüber hinaus:
Sie liegt zum einen auf dem Gebiet der historischen Horizontbildung: Indem wir unsere Gegenwart geschichtlich begreifen, entwerfen wir Zukunftshorizonte, die diese Gegenwart in eine bestimmte historische Perspektive rücken. Wie dies geschieht, zeigt die zeitgenössische Erfahrung: Man denke nur an den Dauerkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern, an die divergierenden (optimistischen wie pessimistischen) Zukunftsszenarien, die seit Jahrzehnten aufgebaut werden, um dessen möglichen Ausgang abzuschätzen, und vergleiche ihn etwa – einigen von uns noch erinnerlich – mit den Zukunftsszenarien, die 1989/90 anlässlich der deutschen Einheit aus dem Boden schossen. Dann wird man sehen, wie aus realen Möglichkeiten Illusionen und aus Hoffnungen realistische Erwartungen werden.
An solchen Beispielen lässt sich nachvollziehen, wie sich der Realitätscharakter von Zukunftsvorstellungen mit dem zeitlichen Abstand allmählich verschiebt, den wir zu dem Ereignis haben, das sie auslöste: Je ferner uns das historische Ereignis rückt, desto mehr schwindet das Bewusstsein für die Offenheit der damaligen Situation, desto stärker sehen sich deshalb auch die damaligen Zukunftsvorstellungen in unserem Bewusstsein von der Bezeichnung als ›realistisch‹ oder ›illusionär‹ eingefärbt. Es gehört ein hohes Abstraktionsvermögen gegenüber dem gewandelten historischen Kontext dazu, um auch in späterer Zeit noch an der historischen Offenheit der Zukunft in einem vergangenen Zeitpunkt festzuhalten.
Die Bedeutung vergangener Zukunftsvorstellungen liegt zum andern auf dem Gebiet der Zukunftsgestaltung: Mehr denn je zuvor orientieren sich Politiker, Parteien und Wähler heute bei politischen Entscheidungen an Vorstellungen über den möglichen Verlauf der künftigen Entwicklung. Solche Vorstellungen wurden und werden vielfach in Expertengutachten, Parteiprogrammen, Regierungserklärungen, Enqueten und Denkschriften niedergelegt, sie nehmen breiten Raum in Wahlreden und tagespolitischen Schriften ein, bestimmen aber noch weit mehr unsichtbar im Hintergrund das politische Urteil der Menschen. Häufig handelt es sich dabei gar nicht nur um positive Ziele, sondern auch um die Erwartung negativ bewerteter Ereignisse oder Entwicklungen, die es abzuwehren oder zu verhindern gilt. Natürlich erschließt sich der historische Sinn vergangener Ereignisse nicht allein auf diesem Wege. Immer gehört auch die Kenntnis der mittlerweile eingetretenen Folgen dazu. Doch ohne die Kenntnis der zeitgenössischen Zukunftserwartungen ließe sich das Zustandekommen politischer Ereignisse und Entwicklungen ebenso wenig erklären, wie wenn wir uns dabei ausschließlich auf sie stützen.
So lässt sich zusammenfassend feststellen: Zukunftsvorstellungen strukturieren den Erwartungshorizont einer Gesellschaft. Sie engen die unendliche Offenheit des prinzipiell Möglichen auf wenige (manchmal nur zwei) politisch relevante Möglichkeiten ein. Das bedeutet nicht, dass eine dieser Möglichkeiten dann auch tatsächlich eintritt: Oft geschieht vielmehr etwas Drittes, das womöglich von niemandem erwartet wurde. Aber die Horizontbildung hilft den beteiligten Akteuren und ihren Beobachtern bei der Lagebeurteilung und der Entscheidungsfindung. Kollektive politische Entscheidungen, vor allem solche in demokratischen Gesellschaften, bedürfen einer solchen Verengung des historischen Erwartungshorizonts, um überhaupt getroffen werden zu können.
Man könnte meinen, wie wir selbst, so hätten auch alle vergangenen Generationen eine Zukunft vor sich gehabt, auf die sie hinlebten: Mögen sie sich bei ihren konkreten Erwartungen auch häufig getäuscht haben, so erwarteten sie doch immer irgendetwas. Doch tatsächlich ist die Zukunft erst spät entdeckt worden. Zwar gab es schon immer zukünftige Ereignisse, die die Menschen erwarteten, aber nicht immer gab es die Vorstellung von einer homogenen, allmählich verfließenden Zeit, in der sich solche Ereignisse vorausschauend ansiedeln ließen. Und bei genauerer Analyse der älteren Quellen ist es oft sogar zweifelhaft, ob es sich vor Beginn der Neuzeit tatsächlich schon um »zukünftige« Ereignisse im modernen Sinne des Wortes ›zukünftig‹ handelte. Das klingt rätselhaft und ist es auch. Denn die Formen, in denen sich die Menschen das zurechtlegen, was wir heute als ›zukünftig‹ bezeichnen, sind zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen. Sie sind auch heute noch für uns zu verworren, als dass wir sie leicht verstehen könnten. Denn bis vor wenigen Jahrzehnten hat sich die historische Forschung noch kaum mit diesem Thema beschäftigt. [4]
Jedenfalls ist die Vorstellung von der Zukunft als einem einheitlichen geschichtlichen Zeitraum, gemessen am Alter der uns bekannten Geschichte der Menschheit, noch relativ jung. Sie bildete sich erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in Westeuropa und hängt eng mit dem neuzeitlichen Konzept der Geschichte zusammen, mit dem es auch, von den Zeitgenossen weitgehend unbemerkt, entstanden ist. Denn es gibt niemanden, der das Konzept der Zukunft erfunden oder entdeckt hätte. Zu selbstverständlich sind den Menschen zu allen Zeiten ihre Zeitvorstellungen gewesen, als dass sie deren Wandel bewusst registriert oder gar konzipiert hätten.
Seitdem die Zukunft allerdings einmal entdeckt worden ist, hat sie auch eine Geschichte. Bei deren Rekonstruktion geht es im Folgenden nicht allein um die Fülle konkreter Zukunftsvorstellungen, die zu verschiedenen Zeiten, bei verschiedenen Menschen und hinsichtlich verschiedener Gegenstände bestanden haben. Zwar wird auch von ihnen zu berichten sein. Aber sie vollständig zu sammeln und in eine geschichtliche Ordnung zu bringen gäbe einen schier unendlichen Stoff. Vielmehr geht es hier in erster Linie um das historische Konzept der Zukunft selbst, um die allgemeinen Strukturen, in denen die Zukunft zu verschiedenen Zeiten entworfen wurde, sowie um den Wandel dieser geschichtlichen Strukturen.
Die historische Beschreibung des Wandels des Zukunftskonzepts basiert deshalb von vornherein auf einer Hypothese, die durch die Darstellung erhärtet werden soll: der Annahme nämlich, dass die Fähigkeit, sich selbst in eine Zukunft hinein zu entwerfen, keine anthropologische Konstante, keine Vorgegebenheit menschlicher Existenz schlechthin ist, sondern eine historisch spezifische Denkform. [5] Wir wissen zwar nicht, wie lange diese Form noch bestehen wird, aber wir können erkennen, wie und wann sie entstanden ist.
Gegen den hier genutzten sprachgeschichtlichen Zugriff könnte man einwenden, dass es neben dem sprachlich expliziten auch einen weit älteren impliziten Bezug auf Zukünftiges gibt, der sich jenseits aller sprachlichen Artikulationen im Handeln der Menschen selbst zeigt. Der mittelalterliche Kaufmann, der sein Schiff übers Meer schickte, damit es ihm nach verstrichener Frist Waren aus Übersee bringt; der antike Bauingenieur von Dämmen gegen kommende Fluten, sie mussten das Zukünftige, das sie erhofften oder fürchteten, nicht aussprechen: In ihrem Handeln war es immer schon impliziert. Das ist wohl wahr und soll hier nicht bestritten werden. Doch unabhängig davon, dass alles Denken und Handeln von Menschen faktisch in der Zeit stattfindet, ist die Fähigkeit, dieses in die Zukunft und in die Vergangenheit hinein zu entwerfen, doch eine historisch spezifische Denkform. So bleibt in den genannten Beispielen auch unklar, wie das Zukünftige vorgestellt wurde, solange in den Quellen nicht Fristen genannt, Maßnahmen terminiert, Gefahren beschrieben werden. Zu dem allen ist Sprache nötig, in der die intentionale Bezugnahme des Handelnden auf Zukünftiges allererst hergestellt werden kann. Solange die sprachliche Artikulation in den Quellen fehlt, sieht sich der moderne Historiker genötigt, den intentionalen Bezug der einstigen Akteure projektiv mit seinen eigenen sprachlichen Mitteln herzustellen.
Wir werden uns in dieser knappen Darstellung auf Weniges beschränken müssen: Fast unberührt bleibt z. B. die Vielzahl der Konzepte, mit denen sich vormoderne und außereuropäische Gesellschaften ihre je eigene Vorstellung von zukünftigen Dingen gebildet haben. Manche Sprachen wie etwa das Deutsche verfügten im Mittelalter noch nicht einmal über die Zeitform des Futur, um von zukünftigen Dingen zu sprechen. Nur um die Neuartigkeit des neuzeitlichen Zukunftskonzepts anzudeuten, werden deshalb in den ersten Kapiteln, mehr fragend als beschreibend, die Zukunftsvorstellungen mittelalterlicher Gesellschaften kurz in den Blick treten. Doch auch im Hinblick auf die letzten drei Jahrhunderte kommt es dieser Studie vor allem darauf an, anhand einer Reihe prominenter und gesellschaftspolitisch einflussreicher Zukunftsentwürfe einige bemerkenswerte Züge herauszuarbeiten, die den Wandel des neuzeitlichen Zukunftskonzepts bis heute bestimmen:
Dabei wird sich erstens herausstellen, dass die gesellschaftliche Beschäftigung mit der Zukunft nicht zu allen Zeiten und auf allen Feldern des Wissens mit gleicher Intensität betrieben wurde. Es gab Zeiten und auch Themen verstärkten Interesses für das, was die Zukunft an neuen Zuständen, Ereignissen und Erfahrungen im guten wie im bösen Sinne bringen würde, sowie Zeiten und Themen, in bzw. bei denen man der Zukunft gegenüber gleichgültiger war, ja sogar solche, in und bei denen eine ausgesprochene Abneigung gegen ihre Voraussage vorherrschte. Und es ist sonderbar zu beobachten, wie sich in den letzten beiden Jahrhunderten einerseits das Spektrum der Aufmerksamkeit für die Zukunft der Dinge kontinuierlich ausweitete, sich andererseits Zeiten der Zu- und Abwendung von der Zukunft in rhythmischen Konjunkturen von fast gleicher Länge abgelöst haben. Deshalb gliedert sich die folgende Darstellung in ihrem Hauptteil seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in vier größere Epochenabschnitte von jeweils etwa 60 Jahren oder zwei Generationen.
Zweitens wird sich zeigen, dass die Zukunft als gesellschaftlicher Erwartungszeitraum im Laufe der Zeit sowohl Phasen der Erweiterung als auch solche der Verengung durchlaufen hat: Das heißt, bald schien sich die Zukunft den Zeitgenossen extrem zu verkürzen, der Zeitablauf zu beschleunigen, bis hin zur Erwartung einer nahen kosmischen, religiösen oder sozialen Katastrophe, bald aber auch enorm zu erweitern. Die zeitliche »Tiefe« dieses geschichtlichen Erwartungszeitraums – bei der Vergangenheit würden wir von deren »Alter« sprechen – variierte dabei immer spezifisch zum Gegenstand, auf dessen Wandel sich die Erwartung richtete. Sie fällt auch heute noch gewöhnlich größer aus, wenn wir gesellschaftliche Institutionen im Vergleich zur Lebenserwartung des Einzelnen betrachten, noch größer hinsichtlich des Wandels menschlicher Kulturen, von Wetter, natürlichen Ressourcen und der Gestalt unserer Erde überhaupt oder schließlich gar hinsichtlich der Zukunft des Weltalls insgesamt.
All diese gegenstandsspezifischen Erwartungszeiträume haben sich im Laufe der Zeit stark verändert und werden sich aller Voraussicht nach auch in Zukunft weiter verändern. Der Zeithorizont des naturwissenschaftlichen Weltbilds etwa war, wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer fast kontinuierlichen Expansion begriffen, er scheint seit einiger Zeit jedoch eher zu stagnieren. Dies gilt auch für viele gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch in Zeiträumen von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden entworfen wurden, während heute oft schon der Zeitraum des kommenden Jahrhunderts kaum noch überschaubar erscheint. Der Erwartungszeitraum einer Gesellschaft erstreckt sich also je nach dessen Gegenstand in eine unterschiedliche Tiefe, doch die verschiedenen Erwartungszeiträume stehen dabei auch in zeittypischen Zusammenhängen miteinander.
Drittens schließlich ist nicht zu übersehen, dass die Erforschung der Zukunft im Laufe vor allem der letzten fünfzig Jahre immer komplexer, und das heißt sowohl sachlich detaillierter als auch methodisch aufwendiger, geworden ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird die Erforschung der Zukunft immer aufwendiger und methodisch reflektierter betrieben. Die Zukunftswissenschaft ist ins Zentrum der gesellschaftlichen Wissensorganisation überhaupt getreten. Diese historische Überblicksdarstellung ist selbst ein Teil ihrer selbstreflexiven Wende geworden, deren Rückwirkung auf die Gestaltung von Natur und Gesellschaft es zu bedenken gilt. Das bedeutet nicht, dass wir heute tatsächlich mehr über die Zukunft wissen als früher. Denn die Menge existierender Prognosen nimmt zwar ständig zu, aber viele erweisen sich als falsch und werden immer wieder durch neue ersetzt. Zudem wandeln sich mit den prognostizierten Zuständen und Ereignissen auch die Parameter unserer Prognosen, d. h. die ihnen zugrunde liegenden Daten, Fragestellungen und Werturteile, und entwerten auch damit einen Großteil derselben.
Gleichwohl gilt vermutlich, dass die Fülle des vermeintlichen Zukunftswissens heute in den modernen Gesellschaften ungleich größer ist als zu irgendeinem früheren Zeitpunkt in irgendeiner Gesellschaft und dass politische Entscheidungsprozesse deshalb heute unter einem unvergleichlich höheren Druck stehen, sich dieses Wissen nutzbar zu machen bzw. sich ihm gegenüber zu behaupten. Dadurch gewinnt das Problem zunehmend an Bedeutung, wie sich moderne Gesellschaften gegenüber solchen »Sachzwängen« den nötigen Handlungsspielraum für freie Entscheidungen verschaffen können, ohne sie irrational zu gestalten.
In dieser Situation ist es nützlich, daran zu erinnern, dass der Begriff der ›Zukunft‹ schon immer doppeldeutig gewesen ist, indem er zwei äußerst heterogene, ja geradezu widersprüchliche Vorstellungen miteinander verknüpft: einerseits die Vorstellung, dass sich die Dinge, die wir erwarten, aus der Vergangenheit und Gegenwart ableiten lassen, andererseits die gerade umgekehrte Vorstellung, dass diese, wie schon das Wort selbst sagt, aus der Zukunft auf uns »zukommen«. Seit ihrer Entdeckung ist die Zukunft deshalb sowohl programmatisch von einem angestrebten Ziel bzw. prophetisch von einem vorausgesetzten Ende der Geschichte her als auch prognostisch von der Vergangenheit und Gegenwart aus entworfen worden.
Immer wieder haben utopische und apokalyptische Zukunftsentwürfe die rationale Erforschung der Zukunft nicht nur durchkreuzt, sondern auch sinnvoll korrigiert. Dabei handelt es sich nicht um einen Überhang archaischer Denkstrukturen, wie man in vermeintlich »aufgeklärter« Perspektive auf die Welt meinen könnte, sondern um ein Erbe der Aufklärung selbst. Bilder vom guten und schlechten Leben, wie sie Ernst Bloch im »Prinzip Hoffnung« (1959) nachgezeichnet hat, scheinen auch heute noch unerlässlich, damit die prognostizierte Zukunft für uns auch künftig akzeptabel bleibt. Beides, Prognose und Programm bzw. Prophetie, gehörte nicht nur von Anfang an zum Konzept der ›Zukunft‹, sondern beide sind in ihm auch zu einer unauflösbaren Einheit verschmolzen.
ERSTER TEIL
›Zukunft‹ nennen wir gewöhnlich die vor uns liegende Zeit. Was sie bringen wird, ist eine schwer zu beantwortende, aber nach der Meinung vieler uralte Frage der Menschen. Deshalb erscheint eine historische Darstellung vergangener Vorstellungen von der Zukunft zunächst als eine methodisch zwar schwierige, aber begrifflich einfache Aufgabe. Doch das ist nicht der Fall. Denn erstens verfügten in früheren Zeiten keineswegs alle Gesellschaften über die nötigen sprachlichen Werkzeuge, um überhaupt von der Zukunft zu reden: Das macht die Interpretation der Quellen schwierig. Zweitens ist aber auch unser eigener, neuzeitlicher Begriff der ›Zukunft‹ vieldeutig: Zunächst bezeichnete er überhaupt nur die Ankunft, dann die Bestimmung des Menschen nach seinem Tode, erst dann auch die Zukunft des Menschen hier auf Erden. Und heute spricht man nicht mehr nur von ›der Zukunft‹, sondern in einem noch näher zu diskutierenden Sinn auch von den vielen ›Zukünften‹ einer Gesellschaft.
Eine weitere Schwierigkeit des Zukunftsbegriffs liegt darin, dass wir von der Zukunft sowohl im objektiven Sinne dessen, was tatsächlich geschehen wird, als auch im subjektiven Sinne der Vorstellungen, die wir uns von der Zukunft machen, sprechen können. Im ersten Sinne ist die Zukunft eine Realität jenseits unserer eigenen, zeitgebundenen Existenz, im zweiten ist sie eine bloße Vorstellung, gerade als solche allerdings ein wesentlicher Teil unserer grundsätzlich auf Zukunft ausgerichteten Existenz.
In der folgenden Untersuchung können wir auf keines der beiden Konzepte verzichten: Denn ohne den subjektiven Zukunftsbegriff würden wir die Geschichte um die Dimension des bloß Vorgestellten und Eingebildeten bringen und sie auf das reduzieren, was tatsächlich geschah. Damit verlören wir den Blick für den realen Zusammenhang zwischen menschlicher Voraussicht und historischem Wandel und damit für die realen Folgen unserer Zukunftsentwürfe.
Ohne den Begriff einer objektiven Zukunft hingegen würden wir alle Zukunftserwartungen, und seien sie auch noch so realistisch, zu bloßen Einbildungen degradieren und die Geschichte damit auf eine Folge von Gegenwarten reduzieren. Für eine realistische Betrachtung der Geschichte ist es jedoch wesentlich, die Zukunft nicht nur als gegenwärtigen Entwurf, sondern zugleich auch als antizipierte Realität zu denken. Denn sonst übersähen wir die Tatsache, dass wir das, was kommen wird, bei aller Fehlerhaftigkeit doch auch zum Teil zutreffend voraussagen können.
Wer sich mit vergangenen Zukunftsvorstellungen beschäftigt, stößt also schnell auf eine verwirrende Fülle ganz unterschiedlicher Zukunftsbegriffe. Jede historische Fragestellung birgt deshalb schon eine Vorentscheidung in sich – so auch diejenige, die in diesem ersten Kapitel verfolgt werden soll: Was erwartete die mittelalterliche Gesellschaft von der Zukunft?
Was wir über die Zukunftsvorstellungen des Mittelalters wissen, ist noch immer dürftig. [1] Bezogen auf das Leben jedes einzelnen bildete zweifellos das Fegefeuer, eine Zeit der Prüfung und der Läuterung der Seele nach dem Tod, eine höchst wirkungsvolle Zukunftsvorstellung. [2] Darüber hinaus rechneten Christen mit der kommenden Wiederkehr Christi auf Erden, eventuell auch mit einem tausendjährigen Reich, jedenfalls mit dem dann folgenden Endgericht am »Jüngsten Tag«. Aber schon wann dies stattfinden würde, war unklar: vermutlich, so glaubte man, in nicht allzu weiter Ferne, denn sonst müssten die Gestorbenen noch länger bis zur Erlösung warten, und Christus hatte doch angekündigt, er würde schon bald wiederkehren.
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