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Im 19. Jahrhundert wurde die Welt von der Industrialisierung, dem Druck der Masse und politischen Kämpfen erschüttert, doch Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard stellten mit radikalem Eigensinn das Selbstgefühl in das Zentrum ihres Schaffens: Werde, der du bist. In ihren Werken, die die System-und Schulphilosophie über den Haufen warfen, verbinden sich individuelle Lebenserfahrungen und Gedanken zu einer bis dahin ungekannten Einheit. Die Schatztruhe der Subjektivität, die Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard auf je eigene Weise fanden, geriet im 20. Jahrhundert in die Hände der Psychologen. Das Ich verlor dadurch seinen aristokratischen Glanz.
Dieses Buch stellt die Verbindung zwischen den drei Außenseitern her und zeigt, dass ihre Werke uns heute im Zuge der Identitätsdebatten viel zu sagen haben.
„Ein sehr anschauliches, sehr lebendiges Buch.“ Jürgen Kaube, Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Seitenzahl: 473
ZUMBUCH
Im 19. Jahrhundert wurde die Welt von der Industrialisierung, dem Druck der Masse und politischen Kämpfen erschüttert, doch Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard stellten mit radikalem Eigensinn das Selbstgefühl in das Zentrum ihres Schaffens: Werde, der du bist. In ihren Werken, die die System-und Schulphilosophie über den Haufen warfen, verbinden sich individuelle Lebenserfahrungen und Gedanken zu einer bis dahin ungekannten Einheit. Die Schatztruhe der Subjektivität, die Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard auf je eigene Weise fanden, geriet im 20. Jahrhundert in die Hände der Psychologen. Das Ich verlor dadurch seinen aristokratischen Glanz.
Dieses Buch stellt die Verbindung zwischen den drei Außenseitern her und zeigt, dass ihre Werke uns heute im Zuge der Identitätsdebatten viel zu sagen haben.
ZUMAUTOR
Eberhard Rathgeb lebt als Schriftsteller in Norddeutschland. Er war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihrer Berliner Sonntagsausgabe. 2013 erhielt er den aspekte-Literaturpreis für seinen Debütroman »Kein Paar wie wir«. 2016 erschien bei Blessing sein viel gelobtes Sachbuch »Am Anfang war Heimat. Auf den Spuren eines deutschen Gefühls«. 2019 folgte »Zwei Hälften des Lebens. Hegel & Hölderlin. Eine Freundschaft«.
EBERHARD RATHGEB
Die Entdeckung des
SELBST
Wie Schopenhauer, Nietzsche und
Kierkegaard die Philosophie
revolutionierten
Blessing Verlag
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Copyright © 2022 by Eberhard Rathgeb und
Karl Blessing Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Satz: Leingärtner, Nabburg
Covergestaltung: SERIFA, Christian Otto, MÜNCHEN
Covermotiv: Gustave Courbet, Die Begegnung
oder Bonjour Monsieur Courbet, 1854 (Detail)
© akg-images/Fine Art Images/Heritage Images
ISBN 978-3-641-24268-8V003
www.blessing-verlag.de
»Die Filosofie ist ursprünglich ein Gefühl.«
Novalis
Inhalt
1 Einleitung – Flaschenpost eines Jahrhunderts
2 Keine Philosophie für Bürger – Drei Philosophen lehnen die Moderne ab
3 Der Mensch ist nicht frei – Schopenhauers Welt ohne Hoffnung
4 Probleme mit den Frauen – Eine neue Philosophie aus dem Gefühl
5 Die Wahrheit ist subjektiv – Kierkegaards Glaube an den Einzelnen
6 Eine Psychologie der Identität – Das Ich und sein neues Selbst
7 Das Leben ist nicht demokratisch – Nietzsches Wille zur Macht
8 Ein letzter Augenblick – Abschiede im 19. Jahrhundert
Anhang
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Bildnachweise
Heute wird heftig über Identität debattiert. Nietzsche, Schopenhauer und Kierkegaard hatten dafür ein anderes Wort: das Selbst. Es war das Zentrum, um das sie kreisten. Damit standen sie quer zu Philosophie und Wissenschaft ihrer Zeit. Sie pochten auf ihre Identität und ihr Selbstgefühl, an dem die Logik und die Rationalität abprallten wie Pfeile an einem Panzer. Ihre Philosophie ist nicht abstrakt, sondern emotional, sie dient nicht dem Dialog, der Verständigung und der Integration, sondern sie ist Monolog, Selbstvergewisserung und Abspaltung. Motive, die in der Psychologie, und Gründe, die in der Philosophie die entscheidende Rolle spielen, lassen sich bei ihnen ebenso wenig trennen wie intellektuelle Tradition und soziale Herkunft, Ideengeschichte und Lebensgeschichte.
Die Gedanken der drei Außenseiter trafen sich in einem entscheidenden Punkt, in der Ansicht, dass ein Leben gelebt werden muss, um verstanden werden zu können. Sie gingen von ihrem Gefühl für sich selbst aus und haben sich als Menschen, die sich letztendlich selbst ein Rätsel waren, sehr ernst genommen. Sie versuchten, dem Geheimnis, was es heißt, dieser eine bestimmte Mensch zu sein, auf die Spur zu kommen. Ihr Selbstgefühl war eine Lebensstimmung und ließ sich rational nicht rechtfertigen und vermitteln. Wie Aristokraten verweigerten sie sich der demokratischen Integration. Ihre Selbstbehauptung war absolut, nicht relativ. Im Jahrhundert der Moderne, der bürgerlichen Gesellschaft, der Rationalität und der Macht der Mehrheiten, waren sie Ausnahmen, die nicht nur eine neue Art des Philosophierens in die Welt setzten, sondern sich auch dem Zeitgeist radikal verweigerten.
Der Impuls für ihre philosophische Revolution erwuchs aus einer persönlichen Tiefe, in die eine Kultur nicht hineinreicht. Der Ausdruck von Gefühlen mag kulturell geformt werden, die Gefühle selbst entziehen sich dieser Macht. Liebe, Hass, Selbstvertrauen, Angst sind keine Erfindungen der Kultur. In Hinblick auf diese emotionale Tiefe gleicht die kulturelle Identität einem Kleidungsstück, das seine Träger zu tragen gewohnt sind, so, wie ihnen die Muttersprache so lange natürlich und selbstverständlich vorkommt, bis sie eine andere Sprache kennenlernen. Die Erfahrungen von Fremde und Fremdheit, wie psychische Abweichungen oder der verzweifelte und vergebliche Versuch, sich mitzuteilen, erinnert sie daran, dass Sozialisation, der Zugriff von Gemeinschaften und Gesellschaft nicht lückenlos ist, dass die Funktionen in einem System nicht immer restlos ausgefüllt werden.
Das Leben dieser drei Extremisten verlief nicht reibungslos, es war von Irritationen, Rebellion und Scheitern geprägt, von intellektuellen Dissonanzen und emotionalen Brüchen. Sie wurden auf ihr Selbstgefühl zurückgeworfen, an den dunklen Anfang ihrer Individualität, an den Kern ihrer gefühlten Identität, der vor dem Wissen liegt. Das Gefühl der eigenen Identität hat etwas zutiefst Undemokratisches, es verweigert sich der Kommunikation, die auf Verständigung und Integration pocht, es beharrt auf einer eigensinnigen Souveränität, auf dem Unsagbaren. Kunstwerke verweigern sich in gleichem Maße dem Zugriff einer letzten Interpretation. Sie gehen in ihr nicht auf.
Wer dem Selbstgefühl radikal zu folgen in der Lage ist, der verlässt manchmal, nicht nur im übertragenen Sinne, die Heimat der Gewohnheiten, das Geburtsland des konventionell geformten und agierenden Ich, und geht ins Ausland der Ungewissheiten, der neuen Gedanken und Ausdrucksmöglichkeiten. Der emotionale Druck führt über die Grenzen hinaus, die von der Kritik am Gegebenen nur erreicht werden. Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche waren viel mehr als Kritiker ihrer Zeitgenossen, sie standen quer zu ihrer Zeit, sie hoben sich aus ihr heraus, wie das nur denen gelingen mag, die für ihr Denken einen neuen Anfang setzen. Das 19. Jahrhundert kannte viele Kritiker der Gesellschaft, aber nur ganz wenige, die sich dem Sog der Moderne verweigerten und radikal Neues probierten.
Die drei Solitäre schrieben Monologe, wie es sie in dieser ausgeprägten Form in der Philosophie noch nicht gegeben hatte. Als intellektuelle Künstler blieben sie sich treu, ihrem Eigensinn verpflichtet, ihrer Mission. Bettina von Arnim, die aus eigenem Erleben wusste, welche Kraft Gefühle hatten, und die Empfindungen und Stimmungen sehr ernst nahm, nannte das stilistische Mittel für diese Art inwendiger Gespräche »Selbstsprache«.
Jean-Jacques Rousseau war der erste Philosoph, der sich genötigt sah, eine Biografie seiner Gefühle zu schreiben, um sein theoretisches Streben zu legitimieren und zur eigenen Rechtfertigung einzusetzen. Seine Bekenntnisse aus den Sechzigerjahren des 18. Jahrhunderts sollten die Wahrheit seiner intellektuellen Bestrebungen bestätigen durch die Wahrhaftigkeit seiner schonungslosen Selbstbefragung, die auch vor peinlichen Enthüllungen nicht zurückschreckte. Wenn Wahrheit und Wahrhaftigkeit zusammenfielen, dann schien eine Authentizität erreicht, die für die Gegner, die Rousseau auch persönlich angriffen, uneinnehmbar sein musste.
Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche wollten das eigene Erleben nicht wie ein Hindernis beim Denken umgehen. Bei der Gewinnung neuen philosophischen Landes spielten ihre Erfahrungen eine zentrale Rolle. Sie gingen dennoch davon aus, dass sie konsequent dachten. Konsequenz war eine Bedingung richtigen, logischen Denkens, und wo immer in den unterschiedlichen philosophischen Theorien der Tradition deren Anfänge lagen, die Folgerungen wurden nicht willkürlich gezogen, sondern unter dem Druck, überzeugen, Beweise liefern, sich für den eingeschlagenen Weg rechtfertigen zu müssen. Wenn der Anfang einer Philosophie im eigenen Erleben, im Selbstgefühl lag, wie ließ sich dann ihre Dringlichkeit beweisen? Die drei Einzelkämpfer überließen sich der Leidenschaft, der Kunst der Darstellung, der Rhetorik des Herzens, so, wie ein Liebhaber seinem Liebesgeständnis Druck nicht durch Argumente, sondern durch Stil, durch Eigenart und Vehemenz die nötige Verführungskraft verleiht.
In den Träumereien eines einsamen Spaziergängers, seinem letzten Buch, verschwieg Rousseau nicht, dass er sich als soziales Wesen nur im Plural kannte, sich je nach dem Kontext definierte, in dem er stand und aus dem heraus er mit und gegen andere Menschen agieren musste. Doch die Sehnsucht nach einem Urquell, dem Selbstgefühl, war da und erfüllte sich, als er an einem sonnigen Tag mit einem Boot auf den Bieler See hinausfuhr und den Augenblick als Selbstempfindung in einer Reinheit genoss, die für ihn nur in der Natur zu finden war. Die Zivilisation und die Wissenschaften zerstörten diese Einheit. Kindern, die das Glück hatten, in der Natur aufzuwachsen, war sie zugänglich.
Die Kindheit wird im Leben und Denken der drei sonderbaren Philosophen eine wichtige Rolle spielen. Sie werden deswegen nicht zu einem Fall für Psychologen, die im 20. Jahrhundert ein Selbst nach ihren Bedürfnissen und Theorien zu formen begannen. Der erste Sozialpsychologe, der Amerikaner George Herbert Mead, sah im Selbst ein notwendiges Ergebnis der Kommunikation, den individualisierten Ausdruck einer mächtigen sozialen Allgemeinheit, vor der die drei Selbstdenker flohen. Sozialisation lautete der neue Begriff für die psychische Formung und Eingemeindung eines Menschen in die Gesellschaft durch soziale Kräfte. Das Ich war ein Resultat der anderen. Wenn die Sozialisation nicht gelang, produzierte sie Außenseiter, Fehlertypen, deviantes Verhalten.
Das innere Meer war unheimlich, eine ungezähmte Kraft, ein nicht ausgeschöpftes Potenzial. Wären die drei Philosophen dafür unempfänglich gewesen, hätten sie nicht auf sich gehört, dann wären sie in die Bahnen der Konventionen geglitten, sie hätten Anschluss an ihre Zeit gefunden. Schopenhauer wäre Kaufmann geworden, Kierkegaard hätte eine Pfarrstelle angenommen, Nietzsche wäre Professor der Philologie geblieben. Sie hätten privat und beruflich funktioniert, wie Gleichungen ohne Unbekannte, und wären in den Schlaufen der bürgerlichen Anerkennung hängen geblieben, wie sie der gelungenen Integration zuteil wird. Aber sie rebellierten, etwas in ihnen empörte sich und hieß sie eigene Wege gehen. Sie wurden aus einem inneren Drang heraus ins Abseits getrieben, nicht aus Empörung über die intellektuellen, sozialen und politischen Zustände ihrer Zeit, dank derer sie nur zu Kritikern ihrer Kollegen, ihres Faches, ihres Berufsstandes geworden wären, ohne der Gegenwart den Rücken zu kehren und sich aus der Zeitgenossenschaft herauszulösen. Sogar der radikale Karl Marx schrieb sich mit seiner Kritik der politischen Ökonomie in den Zeitgeist hinein und konnte sich ein Leben ohne Parteiprogramm nicht vorstellen.
Sie würden, dachten die drei Solitäre, dem Leben, ihrem Selbst nur nahekommen, wenn sie ihrem inneren Impuls nachgaben. Wie sie sich dabei im Tiefsten gefühlt haben, das verrieten sie der Nachwelt nicht. Dafür reichen die Wörter und die Gedanken nicht aus. Das Denken ist der Existenz, dem Selbstgefühl immer einen kleinen, aber entscheidenden Schritt hinterher.
Ein Besuch bei ihnen kann die Kraft stärken, die eigene Identität zu behaupten, das eigene Selbstgefühl besser kennenzulernen und zu leben, in einer Zeit, die nur noch Integration durch kommunikative Anerkennung und Desintegration durch kulturelle Identität zu kennen scheint.
Die drei Philosophen umfassten mit ihrem Leben rund einhundert Jahre. Schopenhauer wurde 1788 geboren, Nietzsche starb 1900. Das ganze 19. Jahrhundert, die Zeit der Moderne, war eine rasante Abfolge von Entdeckungen, Erfindungen und Revolutionen. Mit diesen Veränderungen hatten die drei Exzentriker nichts zu tun. Im Gegenteil, ihre intellektuellen Bewegungen verliefen konträr zu den Ambitionen einer Epoche, die von Arbeit, Technik, Forschung, Politik und Gesellschaft bestimmt wurde.
Schopenhauer lebte in Deutschland, Nietzsche wuchs in Deutschland auf, ging dann in die Schweiz und pendelte nach seiner Pensionierung mit vierunddreißig Jahren zwischen den Schweizer Bergen sowie der italienischen und französischen Mittelmeerküste. Kierkegaard verließ Kopenhagen so gut wie nie. Zwei der drei Selbstdenker kannten die großen Städte der Moderne, Paris und London, aus eigener Anschauung nicht, sie kannten die Vibrationen der neuen Zeit nicht aus eigenem Erleben. Schopenhauer hatte etwas von der Welt gesehen, vor seiner Kaufmannslehre in Danzig hatte er auf einer langen Bildungsreise 1803/04 die Niederlande, Frankreich, Österreich, die Schweiz, Schlesien und Preußen bereist sowie in London die englische Sprache perfekt erlernt. Er wurde ein Mann von Welt, der später zweimal nach Italien reiste. Nietzsche war ein Wanderer zwischen Städten, in Bergen, an Küsten. Kierkegaard lief durch die Straßen Kopenhagens und ließ sich in die ländliche Umgebung fahren. Dreimal reiste er mit der Postkutsche, mit Schiff und Eisenbahn nach Berlin, wo Teile von Entweder – Oder und von Die Wiederholung entstanden. Wenn die drei Philosophen aufschrieben, was sie dachten, saßen sie nicht mit Intellektuellen und Künstlern in einem Pariser Café oder mit Dichtern und Schriftstellern in einem Londoner Restaurant. Kopenhagen war zwar die dänische Hauptstadt, aber sie war klein und zog keinen großen Geist aus den europäischen Metropolen an. Rund 130 000 Bürger lebten bei Kierkegaards Tod 1855 in der auf mehrere Inseln verteilten Stadt, in Paris waren es rund eine Million, in London zweieinhalb Millionen, in Berlin 420 000.
Seine Lebensanschauung brachte Schopenhauer schon in jungen Jahren zu Papier: Die Welt als Wille und Vorstellung erschien 1819. In den folgenden Jahrzehnten fand er keinen Grund, warum er das Buch hätte umschreiben sollen. Die Gegenwart konnte ihn zu keiner Revision seiner Ansichten bewegen, im Gegenteil, die Zeitläufte blieben am Gehäuse der Ideen nur Beiwerk, von dem seine Überzeugungen nicht irritiert wurden. Das Leben unterlag seiner Ansicht nach Gesetzen, die von den politischen Nachrichten und wissenschaftlichen Erkenntnissen nur bestätigt werden konnten. In uralten Texten aus der indischen Philosophie und Weisheitslehre, die zu seiner Zeit in Deutschland entdeckt wurden und in ersten Übersetzungen vorlagen, war er auf verwandte zeitlose Gedanken gestoßen, auf die Idee vom täuschenden Schleier der Erscheinungen, Maja genannt, hinter dem sich die Wahrheit der Welt verberge, und auf die Vorstellung, dass das Individuum einem endlosen Lebensstrom entstamme, mit dem Tod dorthin zurücksinke, nur um dann erneut zur Welt zu kommen.
Kierkegaards Blick war auf die protestantische Kirche fixiert und seit Kindheitstagen zu Gott in den Himmel erhoben. Ein Leben ohne Gott konnte er sich nicht vorstellen. Dem widersprach nicht die Liebe, die er zu Sokrates hegte. Dem griechischen Philosophen, der versucht hatte, seinen Mitmenschen zur Wahrheit zu verhelfen, indem er sie zum eigenständigen Denken anregte, fühlte er sich verwandt. Die Wahrheit, um die es dem dänischen Philosophen ging, war von einem ganz anderen Kaliber als die Wahrheit der Wissenschaften, vor allem seit das Leben im Licht der christlichen Offenbarung stand. Søren Kierkegaard ließ sich durch politische und soziale Ereignisse nicht dazu bewegen, diese Perspektive und Einschätzung zu ändern und im Menschen nur ein Mitglied der Gesellschaft zu sehen. Vor dem jederzeit gegenwärtigen Paradox, dass Gott seinen Sohn auf die Erde gesandt hatte, verlor die Endlichkeit, in deren Rahmen sich die Zeitgenossen bewegten, an Gewicht. Die Frage nach dem Seelenheil, nach der Wahrheit der eigenen Existenz, überragte alle bürgerlichen Sorgen und Nöte.
Nietzsche war von dem, was seine Zeitgenossen dachten, insofern nicht ganz frei, als die eigene Neuerschaffung mit der Überwindung von Ideen zusammenhing, die damals kursierten und die Kultur prägten, von der er sich absetzen wollte. Wie Stapel von Büchern, die er aus dem Fenster werfen wollte, packte er die Kultur seiner Zeit mit den Händen, er musste den Ballast loswerden, um sich von allem, was er von ihr geerbt und übernommen hatte, befreien zu können. Dabei ging er keine Kompromisse ein. Partei nahm er nur für sich – und eine Zeit lang, bis zur Selbstaufgabe und unter Einschluss beruflicher Nachteile, für Richard Wagner. Jede Relativierung des eigenen Willens zur gelebten Freiheit, jede Nachgiebigkeit gegenüber fremden Kräften hat er abgewehrt. Diese Radikalität verfestigte sich mit den Jahren. Er bewegte sich zunehmend in eine Richtung, hin zu größtmöglicher Ferne und Einsamkeit, und das hieß raus aus einer Zeit, die genau die umgekehrte Richtung, hin zu größtmöglicher Nähe und Vergesellschaftung, einschlug.
In den späten Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts hatte der dänische Gelehrte und Literaturkritiker Georg Brandes, der ein Gespür für das Aktuelle und Unzeitgemäße im kulturellen Leben hatte, an der Universität in Kopenhagen gut besuchte Vorlesungen über Nietzsche gehalten und dessen Erfolg auf diese Weise mit eingeleitet. Dort hatte er für dessen Philosophie einen Begriff geprägt, der auf alle drei Philosophen zutrifft: aristokratischer Radikalismus. Nietzsche war darüber begeistert und schrieb Brandes, noch nie habe jemand ihn so gut verstanden. Getroffen haben sich die beiden Männer nicht, obwohl Nietzsche sich eine persönliche Begegnung mit Brandes gewünscht hatte. Brandes hat Nietzsche die Lektüre Kierkegaards ans Herz gelegt. Ob es dazu gekommen ist, dass Nietzsche, der als Student mit Begeisterung Schopenhauer studiert hatte, den dänischen Philosophen las, lässt sich nicht sicher behaupten. Am 19. Februar 1888 schrieb Nietzsche aus Nizza an Brandes: »Ich habe mir für meine nächste Reise nach Deutschland vorgenommen, mich mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen.«1
Der Blickwinkel der drei Außenseiter war exzentrisch und beschränkt. Schopenhauer inthronisierte den blinden Willen zum Herrscher der Welt, Kierkegaard behauptete, die Subjektivität sei die ganze Wahrheit, und Nietzsche erklärte den Willen zur Macht, eine dionysische Bejahung von Schmerz und Lust, Werden und Vergehen, zur Grundlage einer freien Existenz. Ihre lebensanschauliche Energie ist in der philosophischen Literatur einzigartig. Die von ihnen verfolgten Ideen dienten nicht der unmittelbaren Verbesserung der Gesellschaft, sie waren dem modernen Zusammenleben nicht förderlich, das auf Zuversicht, Rationalität und Kompromiss beruhte. In einem strikten Sinne sind sie nie modern gewesen, sondern stellten sich gegen Emanzipationen jeder Art und verhöhnten die soziale und politische Gleichheit. Die Moderne errichtete den Imperativ der Gesellschaft und erfand die Soziologie als Wissenschaft. Damit wollten sie nichts zu tun haben.
Ein Emblem für die Maßlosigkeit und die Zerwürfnisse der Moderne, für den egoistischen Erwerbsgeist und die blindwütige Ausbeutung der Natur war ein riesiger weißer Wal, über den Herman Melville 1851 ein Buch veröffentlichte, Moby Dick, der ästhetisch radikalste Roman seiner Zeit, eine Wildnis der Formen, ein erzählerisches und sprachliches Naturereignis. Das Buch war eine ketzerische Theologie der besessenen Jagd nach einem Ungeheuer der Meere, eine grandiose poetische Philosophie des Menschenlebens in seiner Vermessenheit und Nichtigkeit. Die atemlose Geschichte, erzählt von dem Matrosen Ismael und von zahlreichen Exkursen wie von den Launen des Wetters auf hoher See durchzogen, handelte von dem Hass des einbeinigen Kapitän Ahab auf einen weißen Pottwal mit dem Namen Moby Dick, ein alter Feind, der dem Kapitän einst ein Bein abgerissen hatte. Die Jagd über die Meere ging von Nantucket über das Kap der Guten Hoffnung bis in den Indischen Ozean. Und welche Einwände und Bedenken der fromme Steuermann Starbuck auch vorbringen mochte, sie zerschellten an Ahabs Gier. In diesem Roman kamen Gedanken und Empfindungen zusammen, die auch die drei philosophischen Außenseiter umtrieben: der Rausch von Werden und Vergehen als Sinn des Lebens, die Souveränität eines Einzelnen und der ungehemmte Wille zur Machtentfaltung des eigenen Wahns, eines unheimlichen Selbst. Das Gefühl, dass hier einer allein mit sich und der Welt war und für sich und gegen die Welt kämpfte, konnte Kierkegaard nicht fremd sein, so wenig wie Schopenhauer das Gefühl, auf dem Meer den Naturgewalten ausgeliefert zu sein, und so wenig wie Nietzsche das Gefühl, als Kapitän Herr über Leben und Tod zu sein und einer anderen Moral zu folgen als der Rest der Mannschaft. Kapitän Ahab trotzte den Stürmen, er schien keine Angst vor dem Tod zu haben und den Untergang nicht zu scheuen. Hatte er, wie er dastand auf dem Schiff in der Nacht und auf das wogende schwarze Meer blickte, mehr vom Leben und der Welt verstanden als seine Mannschaft, die sich den Naturgewalten ausgeliefert fühlte, während doch der Mensch wie das Meer nur ein Teil eines großen Ganzen waren? »Wann nun«, hatte Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben, »ein Individuum Todesangst empfindet; so hat man eigentlich das seltsame, ja, zu belächelnde Schauspiel, daß der Herr der Welten, welcher Alles mit seinem Wesen erfüllt, und durch welchen allein Alles was ist, sein Dasein hat, verzagt und unterzugehen befürchtet, zu versinken in den Abgrund des ewigen Nichts; – während, in Wahrheit, Alles von ihm voll ist und es keinen Ort giebt, wo er nicht wäre, kein Wesen, in welchem er nicht lebte; da das Dasein nicht ihn trägt, sondern er das Daseyn.«2 Kapitän Ahab ließ die Ruderboote von Bord, und die Mannschaft verteilte sich in die Boote, und dann begann die Jagd auf die Wale mit Harpunen und Lanzen, und das Meer färbte sich rot vor Blut. Der weiße Wal riss alle Seeleute und mit ihnen den Kapitän in die Tiefe. Nur einer, Ismael, der Erzähler, überlebte.
Einen Eindruck von dem sozialen Abgrund, der sich auftat, wenn die Gier nach Gewinn unermesslich wurde und einige Reiche und ein Heer von Armen produzierte, wird Gustave Doré den Zeitgenossen vermitteln in den Illustrationen des Buches London. A Pilgrimage, das 1872 erschien und die allgemein geteilte Ansicht befestigte, London liege im Höllenkreis von Dantes Göttlicher Komödie. Mit einem einheimischen Journalisten und teilweise unter Polizeischutz begab sich der französische Maler und Graphiker auf Exkursionen in die englische Hauptstadt, wie Dante unter der Führung Vergils in die Kreise von Hölle, Fegefeuer und Himmel. London war ein soziales Ungeheuer, Hygiene und Ernährung der unteren Schichten waren katastrophal und erniedrigend.
Gustave Doré, Dudley Street (1872)
Diese Nachricht war nicht neu. Über die miserablen Zustände in der englischen Hauptstadt hatte schon 1840 die französische Frauenrechtlerin Flora Tristan eine Reportage verfasst, Im Dickicht von London oder Die Aristokratie und die Proletarier Englands.
Der Gegenwartsverlust der drei Solitäre lässt sich abschätzen, wenn Zeitgenossen wie Karl Marx, Gustave Courbet, Heinrich Heine, Édouard Manet, ja auch Edgar Degas mit ins Bild genommen werden, die unmittelbar auf Ereignisse und Stimmungen, auf Probleme und Gedanken des Jahrhunderts reagierten und sie ihrerseits beeinflussten. Zeitgenossenschaft zeigt sich in den Bildern, in der Malweise, und in den Theorien, Dichtungen und Ideen, die damals Anerkennung fanden oder für Aufregung sorgten.
Die Künstler und Intellektuellen hingen an ihrer Zeit wie Leser an den Folgen eines Fortsetzungsromans, der in einer Zeitung abgedruckt wurde, eine Form der Veröffentlichung, die damals populär wurde. Unter der Herrschaft der Mechanisierung und Industrialisierung, mit den Entdeckungen der Naturwissenschaften veränderten sich das Leben und die Gesellschaft. Plötzlich gab es die Masse als soziale Macht und die Arbeiterfrage als zukunftsweisende Herausforderung. Motoren lärmten, elektrische Leitungen wurden gelegt, Fernsprecher und Phonographen wurden eingeschaltet, Fotografien aufgenommen, Glühlampen leuchteten, Straßenbahnen und Automobile fuhren, und seit 1895 machten Röntgenstrahlen Bilder vom Körperinnern, der Grundstein für die Entdeckung und Bekämpfung von Bakterien und Viren wurde in den Achtziger- und Neunzigerjahren gelegt.
Der Zug der Zeit ratterte, die Künstler und Intellektuellen saßen in Fahrtrichtung, ohne zu wissen, wohin genau die Fahrt gehen würde. Kritiker wollten das Steuer übernehmen. Den Revolutionären fuhr der Zug zu langsam, sie drängten auf schnellere, radikale Veränderungen, und sei es mit Gewalt. Von bedächtiger, konservativer Seite kamen Vorschläge, die Geschwindigkeit zu drosseln, ja den Zug anzuhalten und etwas zurückfahren zu lassen. Der Kunsthistoriker und Sozialreformer John Ruskin zum Beispiel verfolgte ganz andere Ziele zur Verbesserung der Gesellschaft als Karl Marx. Die graue Welt der Fabriken nahm er mit Grausen zur Kenntnis. Er träumte von Landschaften, wo keine Dampfmaschinen lärmten und keine Eisenbahn fuhr. Anders war Großbritannien seiner Ansicht nach nicht zu retten. Er versuchte, den Wert und das Ansehen der handwerklichen Arbeit wieder zu heben, die unter der Masse der Fabrikwaren erdrückt wurden, und gründete die Arts and Crafts Movement, in der Kunst, Arbeit und Gesellschaft in einer alltagstauglichen Beziehung und Form zusammenfanden.
Für Revolutionäre wie Karl Marx bestand die Lösung nicht darin, den Rückzug aus der Industrie in die Natur zu propagieren, die Warenproduktion und den Konsum zu reduzieren und technische Erfindungen zu hemmen. Sie hofften im Gegenteil auf einen Fortschritt, der Wohlstand für alle Bürger bringen würde. Die Natur lieferte dafür das Material. Marx kämpfte für die Arbeiter in den Städten und Fabriken und für eine kommunistische Gesellschaft, die das Ziel der Geschichte war. Das Kommunistische Manifest erschien 1848, ein Jahr nachdem Kierkegaard seinen Mitbürgern in Die Taten der Liebe das Christentum der Nächstenliebe und der Liebe Gottes gepredigt hatte.
In den Zwanzigerjahren schrieb Henri de Saint-Simon Bücher über das entstehende industrielle System, eine gerechtere Organisation der Gesellschaft und das Christentum. Nur wer arbeitete, meinte er, sollte am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben. Das galt auch für reiche Erben. Die Gleichheit fand ihre Erfüllung dort, wo die Arbeit für Brüderlichkeit sorgte. Der Unternehmer Robert Owen verbesserte die Arbeitsbedingungen in seiner Baumwollspinnerei, führte eine Arbeits- und Altersrentenversicherung ein und ließ Wohnungen für die Arbeiter zu bauen. Von einer neuen Welt der Arbeit und Liebe träumte Charles Fourier. Er begeisterte sich für Genossenschaften, setzte sich für ein Grundeinkommen ein und forderte die Gleichberechtigung von Frau und Mann. Étienne Cabet bastelte an der Idee einer sozialistischen Gemeinschaft und unterstützte die Arbeiterfortbildung. Louis Blanc forderte ein Recht auf Arbeit und eine Kontrolle der Preise von Grundnahrungsmitteln.
Nietzsche war übel von diesem Auf und Ab der Ideen, wie den Menschen zu helfen sei. In der Götzen-Dämmerung, die 1889 erschien, schrieb er voller Überdruss über die wechselnden politischen Zielvorgaben und die soziale und psychische Instabilität, die durch die neuen Freiheiten hervorgerufen wurde: »In solchen Zeiten, wie heute, seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängniss mehr. Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich unter einander; ich definirte das M o d e r n e bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft der Erziehung würde wollen, dass unter einem eisernen Drucke wenigstens Eins dieser Instinkt-Systeme p a r a l y s i r t würde, um einem andren zu erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müsste man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe b e s c h n e i d e t: möglich, das heisst g a n z … Das Umgekehrte geschieht: der Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von Denen am hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu streng wäre – dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das ist ein Symptom der décadence: unser moderner Begriff ›Freiheit‹ ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr.–«3
Schopenhauer und Kierkegaard waren Monarchisten, Nietzsche hoffte auf den starken Mann. Demokraten beugten sich der wankelmütigen Meinung der Mehrheit, Diktatoren ermächtigten sich selbst zum Handeln. Die Geschichte bot glorreiche Vorbilder für eigenwillige Führer, wie die Medici im Stadtstaat Florenz. Zweimal war Nietzsches älterer Basler Kollege Jacob Burckhardt nach Italien gereist, weil er es in Basel nicht mehr aushielt, wo das Geld und der kaufmännische Biedersinn regierten. Nietzsche bewunderte Burckhardt und suchte die Freundschaft des Historikers. Er teilte dessen Kritik an dem klassizistischen Bild der Griechen. Hinter der Fassade vom Guten, Wahren und Schönen der griechischen Kultur, die Winckelmann in Deutschland aufgestellt hatte, öffneten sich Abgründe der Barbarei. Auf Nietzsches Schriften, die der Autor ihm später stolz schickte, reagierte der eigensinnige und zurückgezogen lebende Professor verhalten. Schließlich hüllte er sich vor dem Extremisten in Schweigen.
Die Flucht aus der Zeit konnte sich auch in den gemäßigten Bahnen einer Flucht in das Studium der Geschichte vollziehen. Burckhardts Buch Die Kultur der Renaissance in Italien erschien 1860. Es behandelte eine Kunstepoche, in der unter der harten Hand von Herrschaftsfamilien gerade die Vorstellung von der Einzigartigkeit des Individuums aufblühte, und dies nur, weil diese Kultur das gesamte gemeinschaftliche Leben durchdrang und gestaltete, weil sie der Atem einer bestimmten Region war, und nicht nur Beiwerk und Schmuck wie in Basel. Im Licht dieser Kulturtheorie gesehen, lag es nahe, dass Nietzsche eines Tages an die frische Luft eilen würde, ins Schweizer Gebirge oder an die italienische und französische Mittelmeerküste, um nicht in Deutschland und in den Schweizer Städten zu ersticken. Die deutsche Kultur abzustoßen, in der Protestantismus, Wissenschaftsgläubigkeit, Militarismus und Nationalismus eine unheilvolle Einheit bildeten, gehörte zu seinem Programm der Selbstreinigung und Selbsterschaffung.
In Dänemark fuhr der Zug der Zeit gemächlicher als in Frankreich und England. Dänemark war dünn besiedelt, und in der dänischen Hauptstadt gingen früh die Lichter aus. Die Bürger Kopenhagens waren nicht sehr anspruchsvoll. Wenn sie in größeren Gruppen zusammenkamen, dann auf dem Markt, in der Kirche oder, eine junge Errungenschaft, im Vergnügungspark Tivoli, der 1843 eröffnet worden war. In Dänemark regierte die protestantische Kirche über die Herzen und das Gewissen der Bürger und schöpfte die Unzufriedenheit ab, bevor sie sich in eine revolutionäre Stimmung verwandeln konnte. Während 1848 in anderen europäischen Ländern die Revolution ausbrach, bereitete der dänische König Frederik VII. aus eigenem Antrieb Reformen vor und ersetzte die absolutistische Monarchie durch eine konstitutionelle.
Als Christ, der es mit der Nächstenliebe ernst meinte, gab Kierkegaard den Armen milde Gaben, aber eine Schrift, die sich mit den sozialen Verhältnissen auseinandersetzte und Vorschläge machte zur Verbesserung der Lebensumstände der sozial Benachteiligten, findet sich unter seinen Werken nicht. Trotz seiner hohen Geistesgaben war ihm die Politik ein zu schwieriges Geschäft, in das er sich nicht einmischen wollte. Partizipation als Bürgerpflicht wies er von sich. Jeder Mensch erfüllte, wozu er vorgesehen war. Diese Ansicht teilte auf seine Weise auch Schopenhauer. Für ihn war der Charakter eines Menschen sein Schicksal. Freiheit als eine soziale Errungenschaft und eine Bedingung der Möglichkeit, eine Lebensform zu wählen und zu verwirklichen, tauchte als demokratische Forderung in beider Ideenkreis nicht auf. »Nein, Politik ist nicht meine Sache; in diesen Zeiten mit der Politik mitzukommen, auch nur mit der inneren, ist mir gelinde gesagt eine Unmöglichkeit«, schrieb Kierkegaard in einem Brief aus dem August des Revolutionsjahres 1848. »Mir dreht sich alles im Kopf, gewiss auch, weil ich zu wenig weiss … Politik ist mir zuviel. Ich liebe es, meine Aufmerksamkeit auf das Geringe zu concentrieren, wo man bisweilen genau dasselbe beobachten kann.«4
Darauf erzählte er von einer Begebenheit in einem der Viertel Kopenhagens. Dort hatten sich zwei Hunde ineinander verbissen. Zwei Frauen eilten herbei, von denen er annahm, dass ihnen die Hunde gehörten. Die Frauen fingen an, sich zu prügeln, wer von den Hunden angefangen habe. Kurz darauf tauchten zwei Männer auf, die Ehemänner der Frauen, und auch sie fingen an sich zu prügeln, wegen ihrer Frauen. Bei dieser ganzen Prügelei, so Kierkegaard, sei es nur darum gegangen, wer angefangen habe. Er sah in diesem Vorfall ein exemplarisches Bild der Weltpolitik. »Krieg in erster Potenz ist Krieg, in zweiter Potenz ist es ein Krieg aus Anlass der Frage, wer den ersten Krieg begonnen habe.«5 Politik war in seinen Augen eine mühselige Angelegenheit, und wer sich ihr verschrieb, der machte bald die Erfahrung, dass sie die Hoffnung strapazierte, es könne eine gute Lösung und ein sicherer Frieden gefunden werden. Sie verführte den Geist, mit der verheerenden Folge, dass er von sich selbst und der Frage nach dem Seelenheil absah und sich den weltlichen Dingen verschrieb. Es gab einen König, und mit ihm war Kierkegaard zufrieden.
Schopenhauer war ein Pessimist, Kierkegaard gottergeben und Nietzsche ein freudiger Fatalist. Gesellschaftliche Veränderungen zum Wohle der Mehrheit stellten die bestehende Welt nur auf den Kopf. Weder Schopenhauer noch Kierkegaard noch Nietzsche hätten eine Revolution begrüßt. Einem System ließ sich mit den Mitteln, die es selbst hervorgebracht hatte, mit Parteien und Programmen, nicht entkommen. Die Verbesserung der Menschen durch Zeitgenossen, die über den Projekten vergaßen, dass sie selbst zum Kreis der Mitmenschen gehörten, war ein Widerspruch in sich. Nietzsche traute den Zeitgenossen schaudernd viele Projekte zu, Arbeiterparteien, Demokratisierungen, Sozialfürsorge, nur keine Erlösung zu einem wahrhaftigen ungehemmten Leben.
Die drei Aristokraten des Geistes gaben sich illusionslos und waren in dieser Hinsicht ihrem Jahrhundert weit voraus, das im besten Falle an den Hoffnungen der Aufklärung, an der Macht von Einsicht und Vernunft festhielt und die Dynamik der Reformvorhaben und revolutionären Entwürfe erst richtig ins Laufen brachte. Sie ähnelten den kommenden postmodernen Skeptikern, den Systemtheoretikern und den nüchternen Analytikern von Diskurs und Macht. Kierkegaard sah, wie auch Nietzsche, die Welle einer allgemeinen menschlichen Nivellierung auf seine Zeit zurollen, die sich gegen die Einebnung des Individuellen in Durchschnittsformate nicht wehrte. Der Einzelne war die Kategorie, die er der Mehrheit und den Forderungen nach Gleichheit und Demokratie entgegenhielt.
Die Kritik, die er damit übte, diente nicht dazu, die Verhältnisse zu ändern, sondern seine Abkehr von der Zeit zu erhärten. Die Zeitgenossen sollten dadurch aus den Fängen der Gegenwart gelöst und zur Besinnung gebracht werden. Sie sollten sich endlich um sich selbst sorgen, um ihr Seelenheil. Der Einzelne trumpfte nicht auf wie ein von den Massen bejubelter Sieger und Befreier, sondern er agierte wie ein konservativer Partisan im Untergrund, der Flugschriften unter die Leute brachte und gezielte Angriffe gegen das Establishment unternahm: »Die große Veränderung wird also auch folgende sein. Während in den älteren Gestaltungen (des Verhältnisses zwischen Generation und Individuum) die Unteroffiziere, die Offiziere, die Kompanieführer, die Generäle, der Held (d. h. die Ausgezeichneten, die Hervorragenden, je nach ihrem unterschiedlichen Range, die Führer) k e n n t l i c h waren, und jeder (nach Maßgabe seiner Vollmacht) mit seiner kleinen Abteilung sich malerisch und organisch in das Ganze einordnete, selber vom Ganzen gestützt und das Ganze stützend: werden jetzt die Ausgezeichneten, die Führer (gemäß ihrem jeweiligen Rang) ohne Vollmacht sein, eben weil sie das diabolische Prinzip der Nivellierung gottgemäß verstanden haben, sie werden u n k e n n t l i c h sein, so wie wenn die Polizei in Zivil geht, und ihre jeweilige unterschiedliche Würde verhüllt tragen, und nur negativ, d. h. durch Abstoßung, eine Stütze sein, indessen die unendliche Gleichmäßigkeit der Abstraktion über jedes Individuum das Urteil spricht, es examiniert in seiner Isoliertheit.«6
Sich selbst bezeichnete Søren Kierkegaard, ohne mit der Wimper zu zucken, als Spion Gottes, ein Agent, der in geheimem Auftrag unterwegs war und den dänischen Mitbürgern ein ausgetüfteltes Schauspiel vorspielte, um sie desto besser in die Arme des wahren Christentums treiben zu können. Rettung war eine Art innerer Emigration, sie kam aus dem Geist, durch Gott, von einem Jenseits des Systems, wo ein Mensch, wie im Gebet und in der Meditation, allein war.
Unter dem Andrang der Masse und der sozialen Wirklichkeit, die sich mit enormem Druck ins Wahrnehmungsfeld der Bürger schoben, so wie hundertfünfzig Jahre später die virtuelle Welt, wurde das Glück des Einzelnen immer mehr zu einer politischen Angelegenheit und entzog sich dem Zugriff der Kirche. Es koppelte sich vom Seelenheil ab. Die Industrialisierung brachte Widersprüche mit sich, die sich als moralische Herausforderungen darstellten und nach befriedigenden Lösungen riefen. Die Erfahrungen in den urbanen Zentren führten zu scharfen intellektuellen und ästhetischen Reaktionen, die sich in den sozialistischen Theorien vom Klassenkampf, im Realismus eines Adolf Menzel, deutlich in seinem Gemälde Das Eisenwalzwerk, und im Naturalismus eines Émile Zola niederschlugen. Die christliche Nächstenliebe, die sich auf dem Dorf und in der Provinz in der Nachbarschaftshilfe erfüllen konnte, sickerte ein in Gebote sozialer Verantwortung, in Forderungen demokratischer Politik und in den Ausbau von Plänen für eine bessere Zukunft.
Mit dem jungen demokratischen Empfinden, das seit der Französischen Revolution von 1789 vielerorts aufflackerte und sich, mit großen Verzögerungen, letztlich durchsetzte, vergrößerte sich auch der individuelle soziale Zuständigkeitsbereich, der Sinn für die Gemeinschaft. Es ging nicht nur darum, Rechte einzuklagen und für sie zu kämpfen. Der Bürger fühlte sich dem Mitbürger verpflichtet. Die Durchsetzung von Demokratie weckte das Gefühl für Solidarität, und umgekehrt. Wer auf die Straße ging, betrat ein Grundstück, dessen Besitzer ein neuer, unbekannter Eigentümer war, die Gesellschaft, zu der jeder Fußgänger gehörte. Ein Gang durch Paris oder London konfrontierte Väter und Söhne, Mütter und Töchter mit dem Elend und der offensichtlichen Wertlosigkeit des Menschen sowie mit der eigenen moralischen Not, wie den Armen geholfen werden könne.
Diese neuen Erfahrungen, die im großstädtischen Raum entstanden, belasteten das Gewissen. Nach einem längeren Aufenthalt in England veröffentlichte der junge Friedrich Engels, Sohn eines rheinländischen Fabrikanten, 1845 seinen Bericht über die Lage der arbeitenden Klasse, eine faktenreiche Darstellung der elenden Zustände, die von Armut, Krankheiten und Leid geprägt waren. Die verstörende Wirklichkeit musste in die Öffentlichkeit, vor ein Tribunal der moralischen Selbstbefragung und Empörung gezogen werden. Das große Elend, das er sah, war nah, mitten in Europa, und nicht weit weg, mitten in Afrika.
Schutz vor heftigen sozialen Eindrücken und den irritierenden moralischen Folgen ließ sich hinter der christlichen Vorstellung finden, dass Leben und Leid von Gott gegeben und hinzunehmen seien, dass soziale Gleichheit, Demokratie, Reformen oder eine Revolution aus der menschlichen Not nicht heraushelfen könnten, weil sie ein zeitloses Übel sei. Für Schopenhauer in seinem konservativen Pessimismus erfüllte sich der Anspruch auf Glück schon dadurch, keine Schmerzen zu haben.
Im urbanen Kontext war es eine Frage der emotionalen Widerstandskraft, ob und wie ein dünnhäutiger Spaziergänger mit dem sichtbaren Elend fertig wurde, ohne darüber zu verzweifeln, ob und wie es ihm gelang, das eigene Glück und das fremde Leid, Egoismus und Altruismus zu verbinden. Nietzsches aristokratische Lebensbejahung schloss den Schmerz als existenzielles Elixier in beide Arme. In der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik aus dem Jahr 1872 wird er behaupten, dass die alten Griechen den Schmerz in der Kunst und im Ritus sogar geehrt und gefeiert hätten, um das mühselige Dasein besser zu ertragen. Am eigenen Leib erfuhr er, zu welchen Gipfeln der Erkenntnis der Schmerz den Geist locken konnte. »Nie habe ich so viel Glück an mir gehabt, als in den kränksten und schmerzhaftesten Zeiten meines Lebens«, resümierte er rückblickend in der späten Schrift Ecce homo.7
Aus dieser Haltung konnte kein sozialreformerisches Programm zur Verminderung von Leiden entstehen. Das Deutsche Reich unter Bismarck verabschiedete in den letzten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts Sozialgesetze, Unfallversicherung, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Alters- und Invaliditätsversicherung, in der Hoffnung, sozialen Druck aus der Gesellschaft zu nehmen. Doch die Mittel der Befriedung erwiesen sich als zu schwach, sie konnten die Radikalisierung der Arbeiter unter Kommunisten und Faschisten nicht aufhalten.
Im Todesjahr Hegels, 1831, hatte sich Charles Darwin, für Nietzsche ein »achtbarer, aber mittelmässiger Engländer«, an Bord eines Schiffes auf eine folgenreiche Entdeckungsfahrt begeben. Sein Buch Über die Entstehung der Arten erschien 1859 und kippte das anthropologische Selbstverständnis. Nietzsche fand Darwins Theorie falsch, nach der die Starken über die Schwachen siegen würden. In seinen Augen geschah genau das Gegenteil, triumphierte die Masse über die Ausnahme. Die Schwachen besaßen die für einen Sieg über die Starken notwendige »Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Teil der sogenannten Tugend)«.8
Anpassung an die Umwelt war einerseits Schwäche, minimale Selbstbehauptung durch maximale Selbstverleugnung, andererseits Stärke, maximale Selbstbeherrschung durch minimale Selbstaufgabe. Mit diesem sozialpsychologischen Trick hatte das Christentum als Religion der Schwachen den Sieg über die heidnische Kultur der Stärke davongetragen, statt unterzugehen. An die Macht gelangt, predigten die Priester, die Führungskader einer erfolgreichen Organisation, Nächstenliebe und Barmherzigkeit, um ihre Herrschaft zu erhalten. Den Politikern, so ließe sich diese Theorie der Herrschaft durch geforderte Selbstrelativierung fortsetzen, gelang der Erhalt des bürgerlichen Staates, indem sie demokratisches Engagement im Rahmen der Verfassung und die Unterwerfung unter den Wählerwillen der Mehrheit predigten.
Für die Arbeit als explodierende Produktivkraft und für deren soziale Grundlage in der Arbeiterschaft fehlte Nietzsche die historische Phantasie und das politische Kalkül. Er hätte sich auf die Notwendigkeiten der Moderne, auf das Projekt Gesellschaft, einlassen und sich von einem kulturellen Deutungsraster verabschieden müssen, das Phänomene nur nach Stärke und Schwäche, Macht und Ohnmacht klassifizierte und beurteilte. Über die Arbeiter-Frage schrieb er in der Götzen-Dämmerung von 1889 mit dem Widerwillen eines Passanten, der sich eines Bettlers erwehren muss: »Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache a l l e r Dummheiten ist, liegt darin, dass es eine Arbeiter-Frage giebt. Über gewisse Dinge f r a g t m a n n i c h t: erster Imperativ des Instinktes. – Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat … Will man einen Zweck, muss man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren erzieht.«9
Die drei Exzentriker fanden unter den unmittelbaren Zeitgenossen keinen Zuspruch, auch nicht unter Theologen und nicht unter Philosophen. Hegel hatte zu seinen Lebzeiten enormen Einfluss ausgeübt. In seiner Philosophie triumphierte der Geist ein letztes Mal über die Materie, bevor der Siegeszug der Naturwissenschaften begann, die sich bemühten, das Verhältnis umzukehren. Von ihm stammte das Diktum, eine Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«10, das unterstelle, dass ihm deutlich vor Augen stehe, was seine Zeit als Ganzes sei, was seine Epoche charakterisiere, und dass es möglich sei, so etwas wie die Zeit, zu der sich Menschen als Zeitgenossen verhalten könnten und durch die sie zu Zeitgenossen geprägt würden, in einem Gedankengebäude zu erfassen. Die Idee eines objektiven Geistes, der sich in der Geschichte entfalte und in dem sich die Vernunft in ihrer Entwicklung verwirklichen würde, hatte ihm bei dieser Aufgabe geholfen. Die Folge einer solchen Zusammenfassung einer Epoche in einer Philosophie war, dass alle anderen zeitgleichen philosophischen Bestrebungen, die in seinen Augen dieses Ziel nicht erreichten, nicht das Recht für sich in Anspruch nehmen durften, im strengen Sinne eine Philosophie zu sein. Als er diesen programmatischen Satz in der Rechtsphilosophie niederschrieb, dachte er mit großzügiger Selbstverständlichkeit an sich selbst, an sein eigenes System. Philosophie, wie er sie betrieb, war für ihn Wissenschaft von der Realität, und zwar eine Wissenschaft, wie er sie verstand. Die Vernunft Hegels war absolut, ihre Realität grenzenlos, sie schluckte sogar das Leben und Gott.
Der Glaube an die Wissenschaft hat das ganze 19. Jahrhundert geprägt. Hegel hat ihn mit vorbereitet, auch wenn die einzelnen Wissenschaften sich nach seinem Tod von ihm abwandten und ihre eigenen Wege gingen. Schopenhauer hat Hegel verachtet und beschimpft, Kierkegaard hat ihn im Furor seiner Selbstbehauptung gegen die Ansprüche der objektiven Wahrheit so einseitig gelesen, wie Hegels unmittelbare Schüler, die Linkshegelianer und die Rechtshegelianer, ihn auslegten. Die Grundlinien dieser beiden Interpretationsmöglichkeiten seines Werkes hatte Hegel selbst vorweggenommen in einem berühmten Satz, der ebenfalls aus seiner Philosophie des Rechts stammt und behauptet, dass wirklich sei, was vernünftig ist, und vernünftig sei, was wirklich ist. Die Rechtshegelianer hielten sich an die erste Hälfte des Satzes und beugten sich der Wirklichkeit, insofern und weil sie als Staat, Gesetz und Ordnung vernünftig war. Die Linkshegelianer favorisierten die zweite Hälfte des Satzes und wollten die Wirklichkeit zur Vernunft bringen mit ihren utopischen Konzepten einer gerechten Gesellschaft.
Die Anmaßung der Vernunft und der Objektivität, die moderne Herrschaft der Rationalität und der Wissenschaften empörte Kierkegaard. »Alles logische Denken«, schrieb er 1846 in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift, »vollzieht sich in der Sprache der Abstraktion und specie aeterni. Die Existenz so zu denken, heißt von der Schwierigkeit abzusehen, das Ewige im Werden zu denken, da der Denkende im Werden ist. Es ist daher leichter, abstrakt zu denken als zu existieren, falls darunter nicht verstanden wird, was man so landläufig existieren nennt, ähnlich wie das, was man landläufig ein Subjekt sein nennt. Hier ist wieder ein Beispiel dafür, wie die einfachste Aufgabe die schwierigste ist. Existieren, meint man, sei gar nichts, geschweige denn eine Kunst, wir existieren ja alle, aber abstrakt denken: das ist etwas. Aber in Wahrheit existieren, also mit Bewusstsein seine Existenz durchdringen, zugleich ewig gleichsam weit über sie hinaus und doch in ihr gegenwärtig und doch im Werden: das ist fürwahr schwierig.«11
Die Naturwissenschaftler erforschten nicht die Existenz, was es hieß, ein Mensch zu sein, schon gar nicht, was es hieß, dieser besondere Mensch zu sein. Sie interessierte das Leben, die besondere Art von Materie, die sich von der toten Materie unterschied. Für Gott, die Seele, für das rein Geistige blieb in diesen Theorien oft kein Platz mehr. Der promovierte Mediziner Ludwig Büchner, der Bruder Georg Büchners, schrieb 1855 den Bestseller Kraft und Stoff.Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein-verständlicher Darstellung, ein Werk im Geiste des Materialismus, das ihn seinen Lehrstuhl in Tübingen kostete, worauf er wieder als Arzt in Darmstadt arbeiten musste. Ludwig Büchner wollte die Einheit von Kraft und Stoff, von Geist und Materie beweisen und jeden Idealismus verbannen. Charles Darwin ließ den Streit um den Ursprung des Lebens auflodern. Friedrich Albert Lange holte 1866 mit einer Geschichte des Materialismus, die Nietzsche gelesen hat, zum Schlag aus gegen die Materialisten. Vorausgegangen war Otto Liebmanns Kant und die Epigonen, zu denen er auch Schopenhauer rechnete. Liebmann empfahl den Freunden der Materie die Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft. Dort könnten sie lernen, dass die Wirklichkeit, die sich ihnen in den Laboren zeige, nicht die Realität sei.
Diese Ansicht widersprach dem Alltagsverstand. Auch die Legitimation für politisches Handeln stützte sich auf eindeutige Erkenntnisse, mit denen Anhänger gewonnen und Gegner überzeugt werden sollten. Die Revolutionäre, die die Gesellschaft verändern wollten, hielten fest am Glauben an den Realitätsgehalt der Wissenschaft, den sie mit den bürgerlichen Forschern teilten. Kants Erbe verunsicherte sie nicht. Marx und Engels klammerten sich an Hegel und an die Erkennbarkeit der Welt. An die Stelle der Welt der Erscheinungen trat in ihrer Theorie die bürgerliche Ideologie, die sich kritisieren ließ. Dass sie mit ihrer wissenschaftsgläubigen Einstellung selber Produkte einer Zeit blieben, deren Kennzeichen die Rationalisierung des Lebens war, thematisierten sie nicht. Letzte sture Verfechter einer sozialistischen Planwirtschaft mögen in ihren Gesellschaftsträumen mit dem Einsatz der modernen künstlichen Intelligenz rechnen.
Auch Pierre Proudhon, der Eigentum für Diebstahl hielt, jede Autorität verwarf, egal ob sie vom Staat ausgeübt wurde oder von Gott ausging, Institutionen wie die Ehe auflösen wollte und die Anarchie zur einzig akzeptablen Form des gesellschaftlichen Zusammenschlusses erklärte, konnte sich aus den wissenschaftlichen Erwartungen seiner Zeit nicht lösen. Er schrieb eine Philosophie des Elends, die 1846 erschien und den Zorn von Marx weckte, der moralische Betrachtung und wissenschaftliche Untersuchung strikt trennte und mit der Polemik Das Elend der Philosophie antwortete, einer Abfertigung der theoretischen Fähigkeiten und historischen Kenntnisse Proudhons, mit dem er doch Nächte durchdiskutiert hatte. Die Kritiker des sozialen Unrechts, die sich auf die Seite der Armen und Ausgebeuteten stellten, waren von der Gesellschaft, die unmittelbar vor ihnen entstand, überfordert, mit der Folge, dass sich die Analysen trotz der wissenschaftlichen Ambition widersprachen. Erst mit dem Kapital, das Marx im Londoner Exil in der Bibliothek schrieb, schien wissenschaftlich eindeutig bewiesen zu sein, was an der modernen Gesellschaft falsch war.
In einer aus dem Jahr 1846 stammenden Aufzeichnung Kierkegaards heißt es: »In unserer Zeit sind es besonders die Naturwissenschaften, welche gefährlich sind. Die Physiologie wird zuletzt so um sich greifen, daß sie die Ethik einstreicht. Es gibt ja bereits Spuren genug für ein neues Streben: die Ethik als Physik zu behandeln, womit denn das gesamte Ethische zur Illusion wird, und das Ethische in der Menschheit statistisch auf Durchschnittszahlen hin zu behandeln oder zu berechnen, so wie man Schwankungen bei Naturgesetzen berechnet.«12
Was als moralisch richtig, was als moralisch falsch galt, das würde sich also danach bemessen, wie die Mehrheit ihrer bedürftigen Natur nach handelte. Das Bewusstsein für Recht und Unrecht im moralischen Sinne würde sich nach den Neigungen der Mehrheit richten, nach dem, was als menschliche Natur allgemein akzeptiert oder verworfen wurde. Irgendetwas im Menschen, so hieß es in Büchners Dantons Tod, stahl, hurte, mordete. Experimente mit dem Menschen würden gemacht werden, um herauszufinden, was das war.
Der objektive Mensch, wissenschaftlich vermessen und zur Wissenschaft geeignet, setzte sich durch. Er war in Nietzsches Augen »ein Werkzeug, ein kostbares, leicht verletzliches und getrübtes Mess-Werkzeug und Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll; aber er ist kein Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein komplementärer Mensch, in dem das ü b r i g e Dasein sich rechtfertigt, kein Schluss – und noch weniger ein Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges, Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will: vielmehr nur ein zarter ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf irgend einen Inhalt und Gehalt erst warten muss, um sich nach ihm ›zu gestalten‹, – für gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein ›selbstloser‹ Mensch.«13
Diese Selbstlosigkeit war fatal. Sie gehörte zu einem selbstzufriedenen Bürger, der zu allem bereit sein würde, einem Eroberer, der über Leichen ging, einem Opportunisten, der die Buchhaltung für diese Feldzüge übernahm, einem funktionierenden staatstreuen Mitläufer ohne Widerstandsgeist, ohne zivilen Ungehorsam, einem kompetenten, kreativen, pragmatischen Erfüllungsgehilfen.
Die drei Philosophen waren radikale Ausnahmen, Solitäre zwischen Konservativen, die nur ihre alten Rechte, und Revolutionären, die nur die Masse im Kopf hatten. Die Gegenwart, die Moderne schien für sie nicht gemacht zu sein, sie eroberten sich in der Auseinandersetzung um die politische und soziale Zukunft der Gesellschaft keinen Platz. Das Gespräch der Zeitgenossen über Gewinn und Gerechtigkeit, Demokratie und Eigentum, Engagement und Eigennutz, fand ohne sie statt. Das war der Preis ihrer Einzigartigkeit. Heute, nachdem der Abschied vom 19. Jahrhundert sich noch ein ganzes Jahrhundert mit zwei Weltkriegen hingezogen hatte, sind es diese drei Außenseiter, die daran erinnern, was im Siegeszug von Universalismus und Wissenschaft, Materie und Masse verloren ging.
Arthur Schopenhauer wurde am 22. Februar 1788 in Danzig geboren, in einer freien Stadt, die bald nach seiner Geburt an Preußen und die Hohenzollern fallen sollte. Der Vater, Heinrich Floris Schopenhauer, war ein wohlhabender Kaufmann. Er war Protestant, gab seinem Sohn den Namen Arthur, weil dieser Name in vielen Sprachen ähnlich ausgesprochen wurde, ein Vorteil für den zukünftigen Kaufmann, und ließ den Sohn protestantisch taufen. Am 20. April 1805 stürzte das Familienoberhaupt vom Dachspeicher seines Hauses und starb. Es konnte ein Unfall gewesen sein. Da er unter Depressionen litt, lag die Vermutung nahe, dass er Selbstmord begangen habe.
Er ließ eine Ehefrau, Johanna Schopenhauer, einen Sohn und eine Tochter, Adele Schopenhauer, zurück. Die Familie musste die Zukunft jetzt selbst in die Hand nehmen. Diese Aufgabe brachte nicht nur Nachteile mit sich. Mit dem Tod des Vaters begann das selbstbestimmte Leben des Sohnes. Er konnte den beruflichen Weg, den der Vater ihm mit patriarchalischer, vielleicht auch fürsorglicher Geste vorgezeichnet hatte, verlassen und sich den eigenen Interessen widmen.
Die Mutter besaß einen ausgeprägten Realitätssinn, war zupackend und intelligent, sie hielt mit ihrer Meinung nicht zurück und gab gerne Ratschläge, wie das Leben zu meistern sei. Sie sah mit einem gewissen Kummer, dass dem Sohn, wie sie ihm am 28. April 1807 aus Weimar schrieb, der frohe Sinne der Jugend gefehlt und er sich damals, wie der Vater, in schwermütigen Grübeleien verloren habe. »Das Ungeheuer Alltäglichkeit«, schrieb er ihr am 8. November 1806, »drückt alles nieder was emporstrebt. Es wird mit nichts Ernst im Leben, weil der Staub es nicht werth ist.« Der Teenager schwor, wie alle Teenager, denen die Decke auf den Kopf fällt, auf die erlösende Kraft der Musik: »Die Pulsschläge der göttlichen Tonkunst haben nicht aufgehört zu schlagen durch die Jahrhunderte der Barbarei und ein unmittelbarer Widerhall des Ewigen ist uns in ihr geblieben, jedem Sinn verständlich und selbst über Laster und Tugend.«14
Arthur Schopenhauer in jungen Jahren
Der Vater hatte den Sohn zum Kaufmann bestimmt. Der Wunsch entsprach dem Brauch. Väter übergaben ihr Geschäft den Söhnen. Arthur Schopenhauer fühlte sich verkannt und gefangen. Die Mutter stand auf der Seite des Sohnes, sie wusste aus eigener Erfahrung, was es hieß, ein Leben zu führen, das den inneren Impulsen und Wünschen widerstrebte. Durchsetzen konnte sie sich gegenüber dem Ehemann nicht.
Ein »Brief an den Vater«, wie Kafka ihn schrieb, ist von Schopenhauer nicht überliefert. Er wollte auf ein Gymnasium gehen, und nicht in die Lehre. Der Vater wusste seine Interessen geschickt durchzusetzen. Er stellte den Sohn vor die Alternative, entweder mit den Eltern durch Europa zu reisen oder allein zu Hause zu bleiben und das ersehnte Gymnasium zu besuchen. Der Sohn setzte sich mit den Eltern 1803 in eine Kutsche und erlernte danach den Beruf des Vaters. In England musste er sich von der Mutter ermahnen lassen, nicht so viel Schiller zu lesen, ja die Kunst einmal ganz beiseitezulegen. Mit fünfzehn Jahren gelte es, endlich den Ernst des Lebens kennenzulernen. Sie teilte seinen Sinn für das Schöne, ihr Erbteil, wie sie glaubte, aber in der Welt, wo der Nutzen regierte, bestand ihrer Ansicht nach kein Geist, wenn er sich in die Dichtung und in die Künste verlor.
Kaum war der Vater tot, brach der Sohn die ungeliebte Kaufmannslehre ab und ging, unterstützt von der Mutter, auf das Gymnasium, das das Tor zur Universität öffnete. In Göttingen begann er 1809 mit dem Studium der Medizin. Er wechselte zur Philosophie und nach Berlin, wo er Johann Gottlieb Fichte hörte. Anfang Oktober 1813 machte er in Jena seinen Doktor mit einer Arbeit Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Vom Krieg seiner Landsleute gegen Napoleon hielt sich der junge Mann fern. Er wollte lieber seinen friedlichen Gedanken als dem blutigen Kriegshandwerk dienen. Das Jahr der Befreiungskämpfe ging im späten Oktober 1813 mit der Völkerschlacht bei Leipzig zu Ende, bei der Napoleons Armee geschlagen wurde.
Sein Leben lang lebte Schopenhauer vom väterlichen Erbe. Um sein finanzielles Auskommen musste er sich keine ernsthaften Sorgen machen, die ihn dazu getrieben hätten, unter allen Umständen einen Beruf zu ergreifen. Sein Geist war in dieser Hinsicht frei von der Knechtschaft in fremden Diensten. Sechs Jahre nach der Dissertation, im Jahr 1819, als die Karlsbader Beschlüsse in Deutschland erlassen wurden, die die Freiheit der Universitäten und die Pressefreiheit drastisch einschränkten, erschien sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, dessen pessimistische Lebensanschauung sich damals wie ein Kommentar zur aktuellen politischen Lage hätte lesen lassen. Nur fand das Buch kaum einen Leser. Die Schwester tröstete ihn in einem Brief aus Danzig vom 9. November 1819 über eine in ihren Augen viel zu leichtfertige Rezension hinweg, die dem ernsten Werk nicht gerecht würde. Wichtig aber sei die Resonanz, die das Buch habe, da die Gegenwart ihn wie alle Menschen unterm Arm halte, die Auseinandersetzung mit den Zeitgenossen das Band sei, das mit dem Leben verbinde. Da sei es nicht wichtig, ob die Auseinandersetzung mit einem Sieg oder einer Niederlage ende.
Im Grunde hatte er mit diesem Erstling alles Wesentliche gesagt. Das Fundament war gegossen, der Grundriss gezogen, die Mauern standen, was folgte, war Ausbau, Anbau und Verfeinerung, Projekte, die Senioren mit praktischen Problemen zweihundert Jahre später in die Baumärkte treiben. Schopenhauer war 31 Jahre alt.
Die Reaktionen auf das große Werk waren deprimierend. Die Anerkennung, die einem Genie, für das er sich ohne Rücksprache hielt, würdig gewesen wäre, wurde ihm versagt. Erst gegen Ende des Lebens hatte das Schicksal ein Nachsehen mit ihm, und er wurde berühmt. Der Griesgram muss jetzt zum ersten Mal gelächelt haben. Er lebte ohne Ehefrau und Kinder, hatte aber Geliebte, eine bekam ein Kind von ihm, das früh starb.
Ihn hielt kein Amt, kein Beruf, er unternahm Reisen nach Italien, das klassische Ziel deutscher Autoren. Mit der Mutter, die nach dem Tod des Vaters nach Weimar zog, dort einen Salon eröffnete und eine bekannte Schriftstellerin wurde, zerstritt er sich bis aufs Blut. Als sie im Krieg gegen Napoleon, der durch die Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 ganz nahe gerückt war, durch Hilfsbereitschaft und Mut glänzte bei der Bewältigung der französischen Zwangseinquartierungen und der Verpflegung der vielen Verwundeten, hatte sie die Weimarer bessere Gesellschaft für sich gewonnen. Nachdem die verwundeten Soldaten endlich aus Weimar wegtransponiert worden waren, atmete sie mit der ganzen Stadt erleichtert auf. Die Bewohner hatten den Verletzten geholfen, so gut sie es vermochten, aber selber unter dem fürchterlichen Leid, dem nicht abzuhelfen war, gelitten und es nicht mehr viel länger ertragen wollen. Die dramatischen Vorgänge damals hat sie in einem langen bewegenden Brief geschildert, ein eindrückliches Prosastück, das einen klaren und umsichtigen Geist und ein von unmittelbarer Anteilnahme und gerechten Empfindungen volles Herz verrät. Den Sohn, der in ihren Augen leider ein elender Querulant und Besserwisser war, warf sie 1814 aus dem Haus. Seit 1833 wohnte er in Frankfurt am Main, ein Klatschnest, wie sie ihn aus Bonn am 12. August 1833 wissen ließ, und ging jeden Tag zur Mittagszeit ins Restaurant. Schon in seinen Studententagen hielt er sich einen Pudel. Er gab den Hunden immer den gleichen Namen, »Atman«, das Sanskrit-Wort für »Lebenshauch«. Die Tiere hielten das Zusammenleben mit ihm offenbar besser aus als alle Zweifüßler. In Frankfurt starb er am 21. September 1860.
Über seine Philosophie wird Schopenhauer sagen, es sei wohl kaum »irgend ein philosophisches System so einfach und aus so wenigen Elementen zusammengesetzt, wie das meinige; daher sich dasselbe mit Einem Blick leicht überschauen und zusammenfassen läßt … Man könnte mein System bezeichnen als IMMANENTENDOGMATISMUS: denn seine Lehrsätze sind zwar dogmatisch, gehn jedoch nicht über die in der Erfahrung gegebene Welt hinaus; sondern erklären bloß WASDIESESEI, indem sie dieselbe in ihre letzten Bestandteile zerlegen.«15 Das hörte sich nicht an wie das Programm eines Schwärmers, der von einer Idee zur anderen zog. Hier sprach ein Grundbesitzer.
Schopenhauers Vater hatte aus dem Sohn einen lebenstüchtigen Mann machen wollen. Das ist ihm in gewisser Weise gelungen. Er wurde zwar kein Kaufmann, wie es sich der Vater gewünscht hatte, sondern ein Philosoph. Doch hat er der Welt nicht den Rücken gekehrt, eine Wendung, die aus dem Blickwinkel der Praktiker und Geschäftstüchtigen vorgezeichnet war, wenn ein junger Mann dem Drang nach Bildung und Theorie nachgab. Das philosophische System, das Schopenhauer in jungen Jahren vorlegte, diente dem Beweis, dass sich das ganze Chaos drinnen und draußen aus einem einzigen Prinzip herleiten ließ, aus einem kosmisch waltenden, alles durchdringenden Willen. Wer das Prinzip in seinem Wirken begriffen hatte, der hatte die Antwort auf alle Fragen in der Tasche. Die philosophische Souveränität, die aus dieser Einsicht sprach, schien nicht nur eine Replik auf Goethes Faust zu sein, der 1808 erschienen war und in dem der Gelehrte Faust sich den Kopf darüber zerbrach, was die Welt im Innersten zusammenhielt. Auch ein rechtschaffener Kaufmann favorisierte klare Verhältnisse und eindeutige Verträge. Mit Schopenhauers Reduktion von Komplexität auf ein einziges Prinzip wäre er zufrieden gewesen. Die Welt als Wille und Vorstellung, wie Schopenhauer sein philosophisches Grundbuch nennen wird, fand sich im Ausgabenbuch des Kaufmanns als Welt von Soll und Haben wieder.