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Karl und Emilie sind Kinder der Kriegs- und Nachkriegszeit, hineingeboren in das Schweigen einer Familie in der Provinz. Die Schwester kapselt sich bald immer mehr ab, Karl wird zum führenden Agitator der 68er. Einige Jahrzehnte später ist der Kommunismus nur noch eine Alterserscheinung. Und während die meisten sich absetzen in die moderne Zeit, hält Karl an den alten Idealen fest: 2010 stirbt er als letzter Kommunist.
Eberhard Rathgeb erzählt von zwei eigensinnigen Geschwistern, die einander immer weniger verstehen, von einem Mann, der die Welt verändern will und sich doch immer stärker von ihr entfernt. Rathgeb nimmt seine Figuren ernst, selbst da, wo die Weltgeschichte sie längst vergisst.
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Seitenzahl: 369
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Karl und Emilie sind Kinder der Kriegs- und Nachkriegszeit, hineingeboren in das Schweigen einer Familie in der Provinz. Die Schwester kapselt sich bald immer mehr ab, Karl wird zum führenden Agitator der 68er. Einige Jahrzehnte später ist der Kommunismus nur noch eine Alterserscheinung. Und während die meisten sich absetzen in die moderne Zeit, hält Karl an den alten Idealen fest: 2010 stirbt er als letzter Kommunist.Eberhard Rathgeb erzählt von zwei eigensinnigen Geschwistern, die einander immer weniger verstehen, von einem Mann, der die Welt verändern will und sich doch immer stärker von ihr entfernt. Rathgeb nimmt seine Figuren ernst, selbst da, wo die Weltgeschichte sie längst vergisst.
Eberhard Rathgeb
Karl oder Der letzte Kommunist
Roman
Carl Hanser Verlag
Der Fall ist erledigt
Karl dachte, jetzt geht es endlich los
Ich erkläre es euch jetzt noch einmal, sagte Karl
Karl hält einen Knochen in der Hand
Um Karls Kopf drehte sich der ganze Saal
Die Felder des Ruhms und des Glücks
Es fiel ein Baum, es stürzte ein Mensch
Glaubst du, dass sich immer die Gleichen finden?
Was hatte Karl die ganze Zeit gemacht?
Die Welt ist schlecht, und ich schaff mich ab?
Musik hören, rumhängen und so Sachen
Warten Sie doch, Sie werden ja ganz nass
Warum sollten wir weitermachen?
Die Boten der Armen
Weißt du noch?, fragte der Alte und biss in die Bratwurst. Schmeckt gut.
Was?, fragte sein ehemaliger Kollege, der etwas jünger war.
Unser letzter Fall.
Lang ist es her, sagte sein Kollege und biss ebenfalls in seine Bratwurst. Die beiden schauten in den kleinen Garten des Alten, viel sahen sie nicht, Rasen, Blumenbeet, aber auch Bäume. Der Abend war lau und schön, so richtig gemacht für ein Seniorengespräch über alte Zeiten. Sie saßen auf der Veranda in weißen Plastikstühlen mit Kissen, wie es halt so geht. Auf dem Grill lagen noch zwei Würste. Sie mochten älter geworden sein, hungrig waren sie immer noch.
Der Kopf, sagte der Jüngere, der auch schon über siebzig war.
Sie nannten ihn den Kopf.
Wir nannten ihn so.
War eine ruhige Kugel, sagte der Alte, und es klang irgendwie so, als würde er damit sein Lebensideal beschreiben. Und ein wenig hatte er es auch so hingekriegt.
Hätte aber auch anders kommen können, sagte der Jüngere. Es konnte ja, dachte er, nicht schaden, im Rückblick noch etwas Dramatik in die alten Geschichten zu drücken.
Sie nickten sich zu und schauten sinnend vor sich hin. Zwischen ihnen gab es nicht immer etwas zu sagen, aber eine Not, ein Wort zu wechseln, bestand nicht, nicht zwischen ihnen. Dafür kannten sie sich zu lange. Sie wussten gemeinsam zu schweigen. Das hatte der Beruf mit sich gebracht.
Gut, dass wir vier aufgelegt haben, sagte der Alte.
Habe ich hier vom Metzger im Supermarkt.
Klingt gut.
Was?, fragte der Jüngere und schaute den Alten etwas erstaunt an.
Vom Metzger im Supermarkt, statt nur Supermarkt zu sagen.
Der Jüngere nahm die Bemerkung hin und vergaß sie sofort beim nächsten Bissen.
Was der wohl macht?, fragte der Alte.
Der Metzger? Keine Ahnung, ich kenne den nicht. Wie kommst du auf so was?
Ich meine den Kopf, sagte der Alte und leckte sich die fettigen Lippen und dann die fettigen Finger.
Grillen wird der nicht, sagte der Jüngere und zuckte leicht mit den Schultern, als sollte es ein Lächeln sein.
Ich glaube, der ist tot, sagte der Alte, der sich nach einer Serviette umsah.
Kannst du mir mal eine …, fragte er den Jüngeren und rieb sich die Hände in der Luft.
Ja hier, sagte der Jüngere und reichte dem Alten eine weiße Papierserviette.
Der war nicht viel jünger als wir, sagte er dann noch.
Aber er hat ungesund gelebt, sagte der Alte und legte die Serviette dann ordentlich beiseite, damit er sie noch einmal gebrauchen konnte.
Und daran ist er gestorben?
Vielleicht lebt er ja noch.
Kann uns egal sein.
Na, er war unser letzter Fall, daran hängt man doch, sagte der Alte und schaute den Jüngeren fast vorwurfsvoll an.
Gibst du mir noch eine?, fragte er ihn dann.
Mit Brötchen?
Wie immer.
Und noch ein Bier?
Wir sind ja nicht mehr im Dienst.
Bier trinken, das konnte der auch, sagte der Jüngere und reichte dem Alten eine Bierflasche.
Wer kann das hier nicht.
Hast du das irgendwo gelesen?
Was?
Dass er gestorben ist.
Weiß nicht, kommt mir vielleicht nur so vor, sagte der Alte. Es würde zu ihm passen.
Zu uns würde es nicht passen?
Nicht so wie bei ihm.
Wie meinst du das denn?
Wir sterben wie alle anderen, sagte der Alte und lehnte sich schwer zurück, als wollte er jetzt weit ausholen. Ich meine, wir sind arbeiten gegangen, bis es mit der Arbeit zu Ende war, und dann sind wir in den Ruhestand gegangen, und jetzt werden wir irgendwann sterben. Das ist die normale Geschichte.
Und was war bei ihm anders?
Schon dass eine Krähe bei ihm war, sagte der Alte und machte jetzt den Eindruck, als würde er seinen Gedanken nachhängen. Er schaute etwas versonnen.
Ich erinnere mich, du hast überall nur noch Krähen gesehen, sagte der Jüngere und lachte.
Ich habe nur eine Krähe gesehen, korrigierte der Alte.
Weil du die nicht auseinanderhalten kannst, die sehen doch alle gleich aus.
Der Jüngere winkte mit der Hand ab, was so wirkte, als wollte er seinem ehemaligen Kollegen sagen, er solle ihm mit solchen Geschichten nicht kommen.
Es war nur eine, und sie saß bei ihm, beharrte der Alte auf seiner Version der Geschichte.
Jetzt fang nicht wieder davon an, sagte der Jüngere, und dann wies er mit dem Kinn in eine bestimmte Richtung. Da drüben, sagte er, sitzt übrigens auch eine.
Wo?
Da auf dem Baum links, ziemlich weit oben.
Der Alte bemühte sich, die Krähe zu entdecken, dann rief er: Jetzt sehe ich sie. Ob das seine ist?
Wie viel Bier hast du schon getrunken?, fragte der Jüngere.
Zwei. Aber es könnte ja sein.
Dass das seine ist?
Ja, die kommt uns besuchen, die möchte sehen, was wir so machen.
Er hat sie geschickt, sagte der Jüngere geheimnisvoll, er revanchiert sich und lässt uns jetzt durch sie beobachten.
Das wäre eine Nummer. Der Alte lachte leise in sich hinein. Dann sagte er: So was macht der nicht. Das hätte den nicht interessiert.
Und wegen der Krähe ist er anders gestorben?
Ich weiß ja nicht, ob er tot ist.
Aber der Fall ist erledigt.
Da wäre ich mir nicht so sicher.
Im Jahr von Karls Geburt hätte sich in Deutschland kein Kommunist auf der Straße zeigen können, ohne erschlagen oder erschossen zu werden oder in einem Konzentrationslager zu landen. Als Hitler die Macht im Staat übernahm, gingen die Kommunisten, die sich nicht ins Ausland abgesetzt hatten und die den Anschlägen und Verhaftungswellen entkommen waren, in den Untergrund und führten von dort aus einen hoffnungslosen Kampf gegen das Regime. Sie saßen im Dunkeln, dicht aneinandergedrängt, und schöpften Mut aus der Zuversicht, die sich anfühlte, als bissen sie die Zähne zusammen, dass ihr Einsatz, auch wenn er ihr Leben kosten würde, nicht vergebens gewesen sei, dass außerhalb Deutschlands die Genossen aller Länder, vor allem der Sowjetunion, wo sie vorgemacht hatten, was in ihnen und ihrer Partei steckte, sich sammeln würden und dann ausholten zu einem vernichtenden und befreienden Gegenschlag.
Hunderttausende waren für die Idee einer gerechten, einer kommunistischen Gesellschaft gestorben, und Tausende würden für sie noch zugrunde gehen. Auch wenn sie, allein oder in kleinen Gruppen zerstreut, in einen aussichtslosen Kampf mit einem übermächtigen Gegner verwickelt waren, sie fühlten ja und wussten, dass eine unsichtbare Gemeinschaft von Gleichgesinnten hinter ihnen sich angestaut hatte und um sie herum stand, und wenn das nicht reichte, ihnen den Rücken zu stärken und sie den nötigen Mut fassen zu lassen, dann wärmten sie ihre Herzen auf am Lauf einer Geschichte, die in ein gutes Ende münden sollte, das glücklicherweise mit ihrem Ziel zusammenfiel.
Die Kommunisten waren Traditionalisten, wie die Leute aus den regionalen Geschichtsvereinen, sie brauchten alte Bücher und hingen an alten Wahrheiten, an Erzählungen von Helden, Aufständen und Siegen, und auch aus den Niederlagen, für die sie Erklärungen parat hatten, zogen sie den Vorsatz, nicht aufzugeben und umzuschwenken, und die Lehren für kommende Triumphe. Die Vergangenheit, ihre Version der Ereignismasse, die hinter ihnen lag, trieb sie voran, schlug eine helle Schneise durch die Gegenwart und wies, ein langgestreckter Zeigefinger, voraus in die Zukunft, was eine gerade Strecke ergab, gezogen mit einem Lineal aus scheinbar stabilen Erkenntnissen, in denen Wörter wie Proletariat, Klasse, Kapital, Ware, Mehrwert, Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte, Kapitalismus eine entscheidende Rolle spielten.
Das Dritte Reich ging unter, Hitler erschoss sich, und Deutschland wurde in zwei Hälften geteilt, in eine westliche, wo aus den Deutschen Demokraten, und eine östliche, wo aus ihnen Sozialisten werden sollten. Der eine Teil des Landes, dessen Bevölkerung zwölf Jahre lang ein Regime ertragen und unterstützt hatte, das der arischen Rasse die Herrschaft über das Glück und die Vernichtung ihrer Feinde versprochen hatte, landete auf der Seite Nordamerikas, der andere wurde der Sowjetunion zugeschlagen.
Karl bekam davon nichts mit. Wenn ihm einer erzählt hätte, was geschah, er hätte es nicht verstanden, er war für die politischen Ereignisse unmittelbar nach dem Krieg noch zu klein, ein unbeflecktes Bewusstsein, das mit Sinneseindrücken und dem Aufkommen der ersten Wörter und dem Bilden von ersten Sätzen beschäftigt war. Später, als junger Mann, theoretisch versiert, intellektuell geschliffen, ein Kristall des Geistes, hat er anderen, die sich mit weniger oder einfacheren Erkenntnissen meinten begnügen zu können, die Zustände und Vorstellungen erklärt, mit denen sie sich abgaben.
Dass aus ihm ein Kommunist wurde, verdankte er auch der Zähigkeit von Ideen, die dem Druck der im Westen gängigen Art und Weise, mit Erfolg, Versagen, Konkurrenz umzugehen, widerstanden, und sei es dadurch, dass die Wörter, die mit ihnen verbunden waren, sich nicht einfach wieder in Buchstaben auflösen ließen. Aus dem Blickwinkel seiner Zeitgenossen gesehen, deren Zufriedenheit mit dem Wohlstand wuchs, machte er mehr und mehr den Eindruck, als würde er dem Lauf der Dinge, die immer billiger wurden, hinterherhinken.
Aus dem Kommunismus war eine Alterserscheinung geworden, so wie die meisten sich schwertaten, dem Fortschritt zu folgen und, Hand aufs Herz, in Zusammenhängen lebten, die sie nicht verstanden. Sobald sie erwachsen waren und sich einen Beruf suchten, freundeten sie sich mit der Erkenntnis an, dass sie von Wirtschaft, Politik, Staat und Technologie überfordert waren. Die Außenwelt war zu groß für einen Kopf, und der Verstand schämte sich zuzugeben, dass er ihr nicht gewachsen war, ihn trieb die Pflicht, mehr herauszukriegen, ihn plagte das schlechte Gewissen, zu versagen und aufzugeben, sein Ehrgeiz stachelte ihn an, Aufgaben zu lösen, sein Hochmut ließ ihn vergessen, dass es Grenzen des Verstehens geben kann.
Karl sah das anders, er wäre sonst kein Kommunist gewesen. Wer die Welt verändern will, muss das Gefühl haben, es mit ihr aufnehmen zu können. Als er starb, hinterließ er kein Vermögen, über das sich andere gefreut hätten, Geld, Grundstücke, Immobilien, Wertsachen, wie sie üblicherweise unter Familienangehörigen weitergereicht werden, es sei denn, einer bewies ein gutes Herz und ließ andere, die nicht zum Clan gehörten, an seinem Reichtum teilhaben. Zu Karls Hinterlassenschaft, Stuhl, Schreibtisch, Bücher, Bett, gehörte die Idee einer Lücke, nicht jene, durch die Sterbende sich von den Lebenden verabschieden, Karl war kein Theologe und kein Schamane, im Gegenteil, wer den von ihm gewiesenen Weg ging, den zu finden er sich Nächte um die Ohren geschlagen hatte, der würde nicht etwa sein Glück machen, seinen Hunger stillen, seinen Wohlstand mehren, sondern, als wäre das die Voraussetzung zu allem weiteren Lassen und Tun, zur Wahrheit über die Wirklichkeit gelangen, er hätte geschafft, sein Leben, Arbeit, nichts als Arbeit, in der Gegenwart zu verstehen.
Verrückt, nicht wahr?
Zwei Jahre nach der Französischen Revolution war in England ein Buch erschienen, dessen Verfasser sich über die Vorgänge im Nachbarland empörte. Er verdammte den Umsturz als Werk geschichtsloser Aktivisten und beschwor die Einsicht in den Sinn und den Wert der alten, bewährten Verhältnisse. Der Leiter der Abteilung für innere Sicherheit, deren Aufgabe darin bestand, den Staat vor gefährlichen Umtrieben zu schützen, mochte das Buch. Er las die Abhandlung in einer deutschen Übersetzung, weil sein Englisch für das Original nicht ausreichte. Er blätterte darin immer wieder, am Wochenende oder auch abends, wenn er neben seiner Frau im Bett lag. Das Buch bestätigte ihm den Nutzen seiner Arbeit, die ihn viel Zeit kostete.
Seine Abteilung befasste sich mit Terroristen und Staatsfeinden. Die Fälle, mit denen sich ihre Mitarbeiter beschäftigten, waren unterschiedlich spektakulär, aber die Mehrzahl der Verdächtigen waren Gewalttäter, die ihren Kampf mit der Waffe führten, oder potentielle Attentäter, die sich und andere in die Luft sprengen wollten. Es hatte schon friedlichere Leute gegeben, die ihre Ziele, einen Umsturz der Verhältnisse, auf andere Weise zu erreichen versuchten. Zu ihnen zählte Karl, der letzte Kommunist. Die Mitarbeiter der Abteilung nannten ihn so, in Erinnerung an eine Zeit, die längst vorbei war und von der die meisten nur aus dritter Hand etwas wussten, aus Berichten, Dokumentationen, selten aus Erzählungen.
Ihrem Chef erging es mit der Französischen Revolution nicht anders. Er las in den Betrachtungen ihres in Irland geborenen Kritikers mit der Neugier eines Menschen, der davon ausging, dass es sich hier um ein Ereignis handelte, das sich nicht wiederholen würde und von dem ihm keine Gefahr drohte. Umstürze würde es weiterhin geben, aus denen in den meisten Fällen Bürgerkriege resultierten, in die andere Länder verwickelt wurden, bis sich die Verhältnisse wieder stabilisierten. Am Ende hatte nur die Macht gewechselt, es gab viele Tote, viel Leid und die Erfahrung, dass der Aufstand für die meisten nichts gebracht hatte, sondern nur für einige, die über alle anderen regieren wollten.
Als wäre er an einem der Pole eingefroren gewesen, hatte sich Karl länger am Leben gehalten und die Abteilung über den Niedergang jener Widerstandsbewegung hinaus beschäftigt, den die revolutionären Nachfahren der alten Franzosen nicht aufhalten konnten. Auch in der Natur gehen Gattungen unter, verschwinden Tiere und Pflanzen. Und stirbt nicht eine Sprache nach der anderen?
Manche behaupteten, er habe sich zu Tode gesoffen, aber das waren böse Zungen, die kein gutes Haar an ihm lassen wollten und ihm Schlechtes nachsagten, als hätten sie noch einen Streit mit ihm auszutragen und nähmen jetzt, da er nichts mehr dagegen einwenden konnte, die Gelegenheit wahr, ihn als Lumpen hinzustellen, einen Säufer und Schwätzer, der endlos redete und die Welt mit Worten überzog. Keiner, der ihn kannte, würde bestreiten, dass er ständig darüber nachgedacht hat, wie er seinen Kopf, seinen Willen und seine Interessen, eine sehr kompakte und widerstandsfähige Masse, durchsetzen konnte. Jeder Schriftsteller, der eine Geschichte erzählen will, machte das genauso.
Wegen dieser Starrköpfigkeit hatte die Abteilung für innere Sicherheit in den Jahrzehnten, als die revolutionären Ideen einknickten wie Blumen, die im Februar aus dem Boden schossen und im März durch einen späten Frost erledigt wurden, sich entschlossen, ihn noch etwas länger zu beobachten. Die unaufhaltsame Zunahme der Einsicht in die Sinnlosigkeit von Revolutionen spielte ihr in die Hände. Er verlor Zuhörer. Aber gegen jeden Instinkt der Selbsterhaltung, der andere aus den linken Kreisen zum Nachgeben bewog, gab er nicht auf. Er zog sich nicht zurück, er redete weiter.
Die konservativen Ansichten des irischen Kritikers über die Französische Revolution schienen sich im Land durchgesetzt zu haben. Ein Gefühl für Traditionen und der Wunsch, das Bestehende zum eigenen Vorteil zu nutzen, schoben sich über jene undichten Stellen des Bewusstseins, die andere Erfahrungen, Einsichten und Hoffnungen gerissen hatten. Karl mochte sich damit nicht abfinden, als sei er resistent gegen Veränderungen. Er war gegen alles, Staat, Geld, Herrschaft, und war gegen alle, die mitmachten beim Geschäft um Gewinn und Glück, und er blieb dabei.
Mit einer solchen Einstellung lässt sich kein angenehmes Leben führen. Das wusste jeder, auch die Mitarbeiter der Abteilung für innere Sicherheit. Ihr pragmatischer Chef hätte sich auch nie bereitgefunden, die Vernunft als ein höchstes Wesen zu verehren, wie es in der Französischen Revolution geschah.
Als Karl gestorben war, hielt ihn kein Gerücht am Leben, dass er im Geheimen fortwirken würde. Seine trauernden Freunde schworen, den Kampf nicht aufzugeben, aber dann packte sie der Wind und zerstreute sie in alle Richtungen. Das war im Oktober jenes Jahres gewesen, in dem der Nobelpreis für Literatur einem südamerikanischen Schriftsteller verliehen wurde, dessen Geschichten von Macht und Widerstand handelten, von Aufstand und Niederlage. In der Behörde für innere Sicherheit war Karls Akte längst geschlossen worden. Seine Wohnung wurde leergeräumt, Möbel und Kleider entsorgt, die Bücher unter Freunden verteilt, die sie wie Andenken behandelten, obwohl sie so taten, als würden sie in ihnen nur lesen wollen. Einen privaten Handel mit Devotionalien scheuten sie sich aufzumachen, auch von Gefühlen mochten sie sich nicht überschwemmen lassen. Sie blickten seinem Tod ins Auge mit jener Ungerührtheit, die entsteht, wenn sich in Gemütern der Satz breitmacht, dass dort, wo gehobelt wird, auch Späne fallen.
Von dem Toten blieb nicht viel zurück, eine Anhäufung von voraussetzungsreichen Sätzen, die keinen Bestand haben würden, und nicht einmal die Erinnerung an einen Plan, der nur ausgeführt werden müsste. Für Karl hat es keine Zukunft gegeben, nur eine Gegenwart, gegen die er nichts eingetauscht hat, keine Hoffnungen, Illusionen, Kompromisse oder Güter des täglichen Bedarfs, kein neues Auto, keine große Wohnung, keine Urlaubsreisen. Die Angestellten der Behörde für innere Sicherheit, die ihn beobachteten, eine Arbeit, die in diesem Fall wenig Talent und Kraft beanspruchte, hatten über diesen Rigorismus ihre Köpfe geschüttelt. In den Augen seiner Mitstreiter war Karl eine Art Held gewesen, auch wenn er keine der üblichen Heldentaten vollbrachte, er hat keinem Menschen aus der Not geholfen, sich nie für jemanden aufgeopfert und nichts entdeckt, was Leben rettet.
Seine Freunde brachten seine Asche nicht auf einen Friedhof, sondern streuten sie eines Abends in einen Fluss. Sie warteten, bis es aufgehört hatte zu regnen, dann steckten sie die Urne in eine Plastiktüte und gingen los. Sie sahen aus wie eine Gruppe von Touristen, die sich ins nächtliche Stadtleben stürzen wollte. Eine Krähe flog über ihnen und merkte sich die Stelle, wo der Inhalt der Urne ausgekippt wurde. Seitdem ließ sie sich regelmäßig auf einem der Bäume in der Nähe nieder und schaute in das Wasser, das die sterblichen Überreste mitnahm. Zwischen Mensch und Tier bestehen sonderbare Beziehungen, Hunde halten ihren Begleitern die Treue über deren Ableben hinaus, und Pferde lassen ihre Köpfe hängen, wenn der Reiter leblos zu Boden sinkt.
Was machen die dort?
Zwei junge Männer gingen im Gebüsch des gegenüberliegenden Ufers Geschäften nach, die den geltenden Gesetzen zuwiderliefen, eine jener Tausenden von illegalen Transaktionen, mit deren Bekämpfung sich andere Staatsabteilungen beschäftigten.
Das ist Gift. Die kippen Gift in den Fluss.
Die müssen sich sicher fühlen.
Und warum sind das so viele? Einer hätte doch gereicht.
Zeugen, das sind Zeugen, dass das Zeug auch wirklich weg ist.
Wir hauen jetzt ab, das geht uns nichts an.
Karl war ein guter Schwimmer gewesen. Jeden Sommer war er im Schwimmbad, damals, als er ein Junge war, und auch später, so lange, bis er gar nicht mehr herausfand aus der Arbeit und deshalb unruhig geworden wäre, wenn er seine Bahnen hätte ziehen sollen. Die Gedanken ließen ihn nicht los, sie hätten ihn aus dem Wasser zurückgejagt an den Schreibtisch.
Karl, Karl, rief die Krähe und legte den Kopf schief, als könnte sie dadurch besser hören. Aber keine Antwort kam zurück, kein Zeichen, kein Plätschern, kein Fisch, der aus dem Wasser sprang. An schönen Tagen liefen Menschen ahnungslos am Ufer entlang, hielten sich in den Armen, redeten, schwiegen und lachten. So viele lebten und starben unerkannt. Karl wird nicht der einzige Tote im Fluss gewesen sein. Er lag auf dem Rücken und ließ sich treiben, an Liebespaaren vorbei, die über das Wasser sahen, vorbei an Anglern, die ihr Glück versuchten. Er war stumm. Er hatte die Augen offen und musste, das wird er als Strafe empfunden haben, die ganze Zeit in den Himmel schauen. Mit dem Himmel hatte er nichts zu tun, er wollte sich nicht vertrösten lassen.
Eine Weile hing er wie ein Gespenst in den Erinnerungen seiner Freunde, aber die Erinnerungen verblassten, und das Gespenst löste sich auf, bis nur noch ein Name, ein Gefühl und Wörter blieben, die einmal mehr gewesen waren als eine Abfolge von Buchstaben, mehr als Sätze, die alt würden. Wenn Karl Wörter setzte, dann erschuf er eine Welt. Drunter machte er es nicht.
Manche freuten sich, als er tot war, obwohl sie ihn nicht persönlich gekannt hatten. Der Hass brauchte keine Nähe, er scheute Intimitäten, die ihn von seinem Weg, der ein Feldzug war, abbringen konnten. Was hätten sie über den Toten wissen können? Sie durften lesen, was er geschrieben hatte, sie durften ihm zuhören, wenn er Reden hielt, keiner verbot es ihnen. Aber mehr war über ihn nicht zu erfahren. Nur die Familie, Mutter, Vater, Schwester, und die Freunde wussten über ihn in Maßen Bescheid, sie hätten über ihn etwas erzählen können. Aber keiner kam, der nach ihm fragte. Das Leben ging über ihn hinweg, als wäre er nie da gewesen, und weil die Ereignisse, in die er verwickelt gewesen war, keine historischen Dimensionen besaßen, durch die er aus dem Pfannkuchenbrei der Alltagsküchen herausgehoben worden wäre, tauchte er in keinen kritischen oder gutherzigen Betrachtungen über die vergangenen Zeitläufte auf.
Es bleiben in seiner Geschichte dunkle Reste, wer auch immer sich melden mochte und sagte, er wüsste noch etwas über ihn.
Am Abend, wenn die meisten Leute vor dem Fernseher sitzen oder irgendwo draußen Bier trinken, werden junge Männer und junge Frauen, in der Mehrzahl sind es junge Männer, die nicht zur Ruhe finden, wieder auf den Straßen einen Zug bilden, als gingen sie der Geschichte vorweg und zögen den Karren aus dem Dreck. Sie proben einen Aufstand, der kommen wird, wenn sie die Idee der Revolution am Leben erhalten. Das ist ihre Mission. Einige von ihnen sind verletzt oder inhaftiert, in Sammellagern. Rechtsanwälte stehen bereit und werden ihnen helfen. Die meisten sind in den nächsten Tagen wieder auf freiem Fuß, den anderen droht eine Anklage und Strafe wegen Landfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung.
Die jungen Leute sollten wissen, dass sie Glück haben, hier zu sein, in diesem Land, in dem sie nicht ohne Prozess in Gefängnissen verschwinden oder auf Demonstrationen erschossen werden. Aber auch wenn sie es wissen, für sie ändert das nichts. Irgendwann, denken sie, werden hier Schüsse fallen, das liege, sagen sie, am System, es sei eine Frage der Zeit, wann diese Grenze überschritten werde. Da sie davon ausgehen, dass es passieren wird, halten sie sich bei ihren Aktionen nicht zurück. Was sie heute genau machen, ergibt sich aus der Lage, in die sie geraten. Wenn sie provoziert werden, werden sie reagieren. Das lassen sie nicht auf sich sitzen, dass die andere Seite sofort die Regeln verletzt, die es immer noch gibt.
Sie dürfen hier stehen und protestieren, aber sie geben sich damit nicht zufrieden, sie werden den anderen zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, und diese Aussicht beflügelt sie. Die Sache ist ins Rollen geraten, dieser Tag, die Nacht heute, die kommenden Tage und Nächte, wie lange es auch dauern wird, obwohl sie sich noch keinen Schritt bewegt haben. Doch der Sog ist da, und dann wird sich zeigen, wie sich alles entwickelt, Aktion und Reaktion, was sie und was die anderen tun. Die Konfrontation liegt in der Luft, und die Aussicht darauf wird alle mitziehen, und dass es so weit kommt, ist nicht nur eine Frage der politischen Interessen, sondern einer Art Körpergefühl, das aus der großen Menge von Gleichgesinnten entsteht, die sich hier zusammengefunden hat. Sie sind nicht allein, jeder zieht den anderen mit sich, ein Konzept, das ihrer Vorstellung vom Leben entspricht, von Gemeinsamkeit, sie wollen mit anderen teilen, auch aus der eigenen Erfahrung heraus, dass es gut ist, von anderen etwas zu bekommen. Ein gewisser Mangel an Gütern treibt nur auf dem Markt den Preis in die Höhe und forciert die Konkurrenz, unter den jungen Leuten schafft er Solidarität.
Was ist mit dir los, Karl?, fragte ihn seine Mutter. Hat dich eine Wespe gestochen? Andere konnten schneller laufen als er, schneller schwimmen oder besser zeichnen. Er war eines Tages, nicht einmal er konnte sich später erinnern, wann es gewesen war, innerlich losgezogen. Die Gedanken wurden ihm leicht, sie stiegen auf wie ein Schwarm Vögel und stoben davon. Er rannte in die Welt hinein, aber nicht so, als ginge es einen Gang hinunter und dann links und rechts und wieder geradeaus, bis er da war. Die Welt entstand im Laufen, so wie ein Tag begann, wenn er erwachte, und sich dann Stunde um Stunde ausdehnte, bis er wieder einschlief, ein gesunder, kräftiger Junge, der einige der üblichen Kinderkrankheiten hinter sich bringen würde und sich die normalen kleinen Verletzungen beim Spielen und Herumbalgen zuzog. Die Dinge um ihn herum waren da, weil er sie sah und spürte, das Kinderzimmer, die Wohnung, die Straße, die Schule, und mit jedem Schritt, den er machte, kam etwas Neues hinzu und reizte seine Nerven und Muskeln. Die Beine wurden ihm nicht müde, er geriet im Großen und Ganzen nicht außer Atem, das Los derer, die rasch an ihre Grenzen stoßen und sich dann in einer Mischung aus Demut und Heroismus mit ihrer Mittelmäßigkeit zufriedengeben, und das ging mit ihm so lange, bis er tot war, zu früh gestorben.
Aber jeder geht, wenn er sich erfüllt hat. Karl hatte sich überlebt, die Gegenwart stieß ihn ab. Kaum einer wollte noch etwas von Veränderungen wissen, der Radikalität folgen, die Karl vorantrieb, und Wörtern die Last aufbürden, die Wahrheit zu sagen, wer du bist in dieser heillosen Welt und was du hier tust. Als hätte Karl diesen Verlust an Erkenntnis und Selbstachtung beweisen müssen, hat er ihn mit dem Leben bezahlt. Die Vorsehung, die überall die Hand im Spiel hat, zeigt, was sie sich vorgenommen hat. Sie folgt einem Plan, den keiner kennt und jeder erfüllt, auch Karl wäre darauf nicht gekommen, wenn er an die Möglichkeit gedacht hätte, dass so etwas existiert. Aber in diesen Dimensionen bewegte er sich nicht, mit der Vorsehung wollte er nichts zu tun haben, das war ihm zu metaphysisch, zu abgeschmackt. Komm mir nicht mit so was, sagte er nur.
In keiner einzigen durchwachten Nacht, allein in seinem Zimmer mit Büchern und Zeitungen, kriegte er einen Rappel und dachte, dass auch er nicht aus seiner Haut herausgekommen ist. Das lässt sich nur so erklären, dass gerade die Gedanken, die ja keine Ruhe gaben, in alle Richtungen ausschwärmten, Dinge über den Haufen warfen und die entferntesten Verbindungen zogen, ihn davor bewahrt haben, aufzuspringen und alles stehen und liegen zu lassen und wegzurennen, ganz aus sich heraus, in irgendetwas Neues hinein. Gedanken müssen nicht schwierig sein, um schwer zu wiegen, um ein Gewicht zu haben, das einen Menschen bei allen intellektuellen Turbulenzen am Boden hält, sie müssen nur glaubhaft sein, und dann lässt sich etwas mit ihnen anfangen, da kommt einer zum anderen, und nachher, wenn die Sache sitzt, sind die Fugen nicht zu sehen, keine Ritzen, keine Löcher, luftdicht. Wenn in so einem Gebäude noch geatmet werden soll, dann muss es sehr groß werden, und Karl konnte bauen wie ein Weltmeister, das ging flink und sicher, da kam der Verstand von denen, die zuschauten, nicht mehr mit.
Er konnte wütend werden, er schlug dann nicht um sich, aber er schimpfte. Lass mich damit in Ruhe, sagte er, stiehl mir mit so was nicht die Zeit. In seinem Zorn war noch Platz genug, dass er sich wundern konnte, wie einer darauf verfiel, sich solche komischen, abwegigen Gedanken zu machen, es gab, ja, wach doch auf, Wichtigeres zu tun, und es lief drauf hinaus, dass ein Leben, aber das sagte er nicht: ein Leben, gelebt werden wollte, es lag jedem in der eigenen Hand, und komm mir jetzt nicht damit, dass dir die Hände gebunden seien, dass die Umstände nicht mitmachen, als wäre so ein Umstand eine nette Tante, die sich um dich sorgen soll. Solche Ausflüchte, aber nie hätte er gesagt: Flieh nicht vor dir selbst, du musst dich selbst finden, wollte er nicht hören, das hieße nachgeben vor der Wirklichkeit, sich klein machen, dem Denken aus dem Weg gehen.
Er hatte Glück. Keine schlechten persönlichen Bedingungen, mangelhafte Intelligenz und beschränkte Aufnahmefähigkeit, oder Schicksalsschläge, Mutter tot, Vater tot, und er käme in ein Heim, blockierten den Jungen, der durch die Welt rannte, als gehört sie ihm, schon jetzt, da er nicht daran dachte, sich mit ihr anzulegen.
Der Karl, sagte seine Mutter und sah ihn von der Seite an.
Der Junge wurde eingeschult und dachte: Jetzt geht es endlich los.
Wie war es in der Schule?, fragte die Mutter.
Großartig, sagte er und strahlte.
Was habt ihr gemacht?
Er begann aufzuzählen, was er gelernt hatte an diesem Tag, Flüsse, Berge, Adjektive, jedes Detail, wie die Blätter der Buche sich von den Blättern der Eiche unterscheiden, die Vögel der Region, jeder Satz des Lehrers, Lob, Bestätigung, Ermahnung, war wichtig. Die ganze Stunde wurde wiederholt. Dann die nächste. Bis er das Gefühl hatte, ein umfassendes, der Wahrheit, seiner Begeisterung entsprechendes Bild des Unterrichts geliefert zu haben.
Karl, iss. Dein Essen wird kalt, sagte die Mutter.
Und er schaufelte es in sich hinein, um weitererzählen zu können.
Iss nicht so schnell, sagte die Mutter.
Er sah sie fragend an.
Keiner der anderen Schüler dachte darüber nach, wie es möglich war, mit Buchstaben Bedeutungen zu erfassen. Sie kritzelten die Zeichen von der Tafel in ihr Heft ab, fügten sie zu Wörtern zusammen und bildeten Sätze. Karl war skeptisch. Ein Hund war nicht nur ein Hund, sondern alle Hunde, auch diejenigen, die er nicht kannte. Er wusste nicht, welchen Hund er und welchen die anderen meinten, wenn sie Hund sagten. Später wunderte er sich, dass so viele mit Wörter hantierten, von denen sie nicht wussten, was sie bedeuteten, und wenn sie eine Vorstellung hatten, was sie bedeuteten, dann schienen sie die bei den anderen vorauszusetzen, weil sie ja nie nachfragten und keiner sie fragte, was sie darunter verstanden. Als Junge dachte er, dass es deswegen besser wäre, mehr zu reden, und diese Angewohnheit hat er sein Leben lang beibehalten, er hat nicht aufgehört zu reden, weil er nicht leben konnte, ohne sich mitzuteilen. Er redete von früh an mit Händen und Füßen, als dirigierte er die Wörter, damit sie groß wurden, wenn sie groß gedacht waren, und weit, wenn sie umfassend waren. Es war ausgeschlossen, dachte er, dass ihn einer nicht verstehen konnte.
Beim Fußballspielen verstanden sie sich, auch wenn sie nicht miteinander redeten. Sie wussten, was los war, sie konnten sich vorstellen, was derjenige machen würde oder machen sollte, der den Ball hatte. Sie schimpften und waren enttäuscht, wenn es anders kam, und sie waren sofort unterwegs, kaum dass der Ball in die Richtung flog, die er ihrer Ansicht nach hatte nehmen müssen. Nach dem Spiel, und nicht nur hier, sagten sie vollmundig und treuherzig, sie hätten sich gut verstanden, und meinten damit gerade dies, dass alles ohne Worte gelaufen war. Wenn später die ganz große Sache, die Auflösung der alten Gesellschaft und der Weg in eine neue, nur mit Worten, mit besseren Argumenten eingefädelt werden konnte, dann vielleicht auch deshalb, weil er diese Erfahrung gemacht hatte, dass es möglich war, sich darüber, was falsch und schlecht war, so gut zu verständigen, dass nichts mehr schieflaufen konnte.
Seitdem er das wusste, lief er durch die Gegend, redete wie ein Wasserfall und fragte nach: Verstehst du? Sie müssen mich verstehen, dachte er, wir reden dieselbe Sprache, und wir werden so lange reden, bis die Unstimmigkeiten ausgeräumt, die Hürden genommen sind. Dann würde alles anders werden, jeder würde Bescheid wissen und würde sein Leben nicht mehr für Illusionen und falsche Vorstellungen vergeuden. War es das, was er wollte, was er sich erhoffte?
Wenn Karl ein Typ gewesen wäre, der die Faust ballte, hätte er jetzt, um zu zeigen, wie das aussehen könnte, dass einer die Sache begriffen hatte, die Hand zur Faust geschlossen. Stattdessen leuchteten seine schwarzen Augen auf, und jeder, der ihn sah und ihm zuhörte, dachte, dass das gehen müsste, dass das nicht so schwer sein könnte, leben, ohne sich etwas vorzumachen, ohne Lüge, Heuchelei und Selbstbetrug, die immer dabei sind, damit es einem leichter fällt, halbwegs durchzukommen. Du hast nur eins, und wenn es rum ist, hast du mit einem Mal Zeit nachzudenken, das Nachdenken kostet dich dann nichts mehr, und dann stellst du fest, dass das Leben verbogen worden ist von dem Glück, dem du hinterhergerannt bist, dass es nur ein Existieren war unter Bedingungen, die du akzeptiert und zu deinem Vorteil zu nutzen versucht hast, dass du nicht einen Augenblick gewusst hast, was es heißt, ein Mensch zu sein, auch wenn du einmal vor dem Meer gestanden bist und hinausgeschaut hast und dachtest, wie groß es ist, wie unermesslich, wie frei. Nichts von alldem bist du gewesen, und du hast es nicht einmal versucht. Der Urlaub ist zu Ende, sagst du und packst die Koffer, aber die Wahrheit ist, dass das Leben zu Ende war, bevor es begonnen hat, und es lag bei dir, du hättest nur anfangen müssen, nachzudenken und der Wahrheit ins Auge zu schauen. So hat das Karl gemeint, aber gesagt hätte er es anders, das wäre ihm zu pathetisch gewesen, er war auf keinen Wegen der Selbstverwirklichung, der Selbstfindung unterwegs. Wenn das die Alternative gewesen wäre, er hätte seine Sachen gepackt.
In den ersten Wochen war er morgens zur Schule gerannt und war immer zu früh da. Dann begann die Gewohnheit neben ihm herzulaufen, sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte, er könne sich Zeit lassen, er käme rechtzeitig genug. Er wollte nichts vom Unterricht verpassen, das war alles. Wenn er krank war, wurde er unglücklich.
Karl, bleib im Bett, du bist noch krank, sagte seine Mutter.
Er wollte das nicht einsehen, er fühlte sich gesund. Der Unterricht durfte nicht ohne ihn stattfinden, dachte er, und er sah die anderen Schüler im Klassenzimmer, der Lehrer vor ihnen, und sein Stuhl war leer. Keine seiner Begabungen, schnelle Auffassungsgabe, große Konzentrationsfähigkeit, gutes Gedächtnis, musste sich durch eine Decke aus natürlichem Phlegma, psychopathologischen Ablagerungen und moralischen Widerständen arbeiten. Karl blühte sofort auf. Die Natur versäumte bei ihm keinen Tag.
Er war kein Wunderkind, hätte seine Mutter gesagt, er war nur sehr aufgeweckt, ein Bündel Energie, er war nicht still zu kriegen.
Das gibt sich schon, sagte der Vater. Wenn er älter ist, wird er zur Ruhe kommen.
Der Vater täuschte sich, so wie er versucht hatte, sich über sich selbst zu betrügen, weil das der einzige Weg für ihn war, durchs Leben zu kommen, bis es nicht mehr weiterging und er anfing, nach Wörtern zu suchen, die ihm helfen konnten, obwohl er nie ein Mann der Wörter gewesen war.
Wenn aber alles ganz anders gelaufen ist mit Karl? Vielleicht war er ein Spätzünder, einer, der in sich gekehrt war, verschlossen und lethargisch in der Ecke stand und nicht den Mund aufkriegte. Und spät erst schoss er aus sich heraus, zur Verwunderung seiner Eltern, die nie geglaubt hätten, dass er sich noch einmal ändern würde. Irgendwann wird aus einem stillen Gewässer eine Fontäne. Aber würde das etwas ändern, zu wissen, wie er gewesen sein muss, nachdem sich gezeigt hatte, was er tat? Ein früher radikaler Wechsel des Gemüts würde ihn nur daran erinnert haben, dass er sich auf sein Innenleben nicht verlassen konnte, dass die Seele, das Gemüt, das Unbewusste machten, was sie wollten, wenn er nicht seinen Willen stärkte und dagegen aufbot. Wer du bist, was du tust und denkst, hängt vom Willen ab. Das sagte er ständig, wie ein Mantra. Er konnte mit dieser Botschaft anderen sehr auf die Nerven gehen.
Karl, das stimmt doch nicht, was du da behauptest, sagten sie. Aber er blieb dabei. Er hatte es am eigenen Leib erlebt, dass das Denken ein Leben erschaffen kann, indem es den Blick schärft, so dass einer nicht in die Irre geht und dann glaubt und sich einredet, er sei bei sich.
Schon in frühen Jahren, bei Gesprächen mit Freunden, fuhr er mitten in einem Gespräch, über was immer es auch ging, mit der Bemerkung dazwischen:
Das kannst du so nicht sagen.
Seine Augen blitzten. Dann konnte es vorkommen, dass er, vom Überdruss mit der Unzulänglichkeit der anderen gepackt, aufstand und verschwand.
Wo warst du, Karl?, fragten sie, wenn er wieder auftauchte.
Daheim.
Was hast du gemacht?
Da ließ er die Hand niedersausen zwischen sich und den anderen. Meine Sache, hieß das, als wollte er kein Wort darüber verlieren. Aber dann gab er nach.
Studieren, sagte er, und alle um ihn herum, die nicht älter waren als er, schüttelten den Kopf.
Mach du erst die Schule fertig, sagten sie, wie Erwachsene, und dachten, was immer sie damit meinten: Wirst schon noch sehen, und er sah sie zornig an, als verstünde sich das mit der Schule nicht von selber. In die Schule gehen, dazu musste ihn keiner aufmuntern.
Das Land, in dem er aufwuchs, bot viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln und einen Beruf zu finden, der einem zusagte. Die Abteilung, deren Chef sich der Kritik der Französischen Revolution widmete so wie ein Archäologe seltenen Funden aus uralter Vergangenheit, die ihn gemahnten, dass auch seine Zeit einmal im Sand vergraben sein würde, war ja gerade deswegen da, damit das Land so blieb, wie es war.
Es lag an Karl, etwas aus sich zu machen. Aber kann ein Held aus einer Tragödie aussteigen wie aus einem Zug, der in die falsche Richtung fährt? Der Zug rattert dahin, und wie einfach wäre es für einen jungen begabten Mann, hier oder dort auszusteigen. Er sitzt mit anderen im Abteil, und wie naheliegend wäre es für ihn, sich mit ihnen zu unterhalten und herauszufinden, was einer in dieser Welt werden kann. Dann fährt der Zug immer schneller, er hält an keinem Bahnhof mehr. Das Abteil hat sich geleert, alle sind irgendwo ausgestiegen, weil es dies oder jenes zu tun gibt, sie wollen sich niederlassen, ein sicheres und gutes Leben führen. Karl war allein. Und es kam ihm so vor, als könnte er jetzt machen, was er wollte. Er wechselte auf den gegenüberliegenden Platz und schaute aus dem Fenster. Er fuhr nicht mehr in Fahrtrichtung, und er konnte den Dingen, die an ihm vorbeirauschten, länger nachsehen und über alles nachdenken.
Er hatte am Küchentisch gesessen, mit seinen Hausaufgaben beschäftigt, und seine Mutter trocknete das Geschirr ab, als die Freundin seiner Mutter zu zittern begann und vom Stuhl fiel. Sie lag starr auf dem Boden und rollte mit den Augen. Schaum trat ihr aus dem Mund, sie stöhnte und lallte. Er dachte, sie würde Spaß machen.
Was macht sie da? Was ist mit ihr?, fragte er seine Mutter, in einer Mischung aus Neugier und Angst. Er war aufgesprungen und zurückgewichen, als die Frau sich auf den Boden geworfen hatte. Jetzt machte er einen Schritt auf sie zu, beugte sich nach vorne. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Seine Mutter hatte der Frau ein Tuch zwischen die Zähne geschoben. Damit sie sich nicht wehtut, sagte sie. Und dann kniete sie neben ihrer Freundin auf dem Boden und wartete, bis wieder alles ruhig war, die Nerven sich entspannt hatten.
Ein epileptischer Anfall gehörte zu den Ereignissen, die er sich nicht erklären konnte, die ihm unheimlich waren. Er rubrizierte ihn unter die Kategorie der Albträume, mit denen er sich nachts manchmal herumschlug und in denen sich Fetzen von Erzählungen, die er irgendwo aufgeschnappt hatte, zu Ungeheuern auswuchsen, die ganz real wurden, als er Bilder von Häftlingen aus den ehemaligen deutschen Konzentrationslagern sah oder von Soldaten im Krieg. Die Angst rückte an, wenn er nicht aufpasste. Er musste sich konzentrieren, dann konnte ihm nichts passieren. Dass er sich nicht die ganze Zeit daran hielt, lag in der Natur eines Kindes, das sich beim Spielen vergaß und in Dämmerzustände wegsacken konnte, wo die Gestalten der Einbildung sich selbständig machten. Wenn er sich dabei erwischte, dass er kurz davor war, ins Träumen mit offenen Augen zu geraten, verdoppelte er seine Konzentrationsanstrengungen.
Das ist der große Nachteil des Nachdenkens, dass es nicht auf Augenhöhe mit dem Geschehen ist, es kommt für Bruchteile von Sekunden zu spät und versucht diesen Mangel dann dadurch auszugleichen, dass es sich mit den Dingen intensiver beschäftigt, als könne es sie auf diese Weise einholen. Karl sah das Problem nicht, er war in die Betrachtung der Welt und in seine Gedanken versunken. Die Wörter waren Netze, in denen sich die Ereignisse verfangen sollten.
Als Karl an einem sonnigen Vormittag wissensdurstig und aufgeregt das monumentale Universitätsgebäude zum ersten Mal betrat, eine Tasche mit Papier und Stiften in der Hand, nahm niemand von ihm Notiz. Er war ein junger Student unter vielen anderen jungen Leuten, die unabhängig davon, ob sie schüchtern oder draufgängerisch waren, in der überwiegenden Mehrzahl ein Familienlos teilten, Söhne und Töchter von Vätern und Müttern zu sein, die in irgendeiner Weise vom Krieg durcheinandergeschüttelt worden waren, Täter und Zuschauer, die ihren Teil abbekommen hatten, körperliche und seelische Verletzungen aller Art. Jeder dieser jungen Leute hier war mit sich beschäftigt, mit den Folgen eines schwer zu fassenden historischen Erbes, das die Eltern ihnen durch Schläge, Befehle, Schreierei, Wut, Trauer und Depression weitergereicht hatten. Weder hinter den Bäumen vor der Universität, die grüne Blätter trugen, noch hinter den marmornen Säulen drinnen in den Hallen und Gängen, wo es kühl war und die Schritte und Stimmen einen Klang seltsamer Weltenferne annahmen, hatten sich Männer versteckt, deren Aufgabe darin bestand, ihn zu beobachten.
Der Sommer war sehr heiß, und die Vorstellung, dass nicht weit von hier ein hellgrüner Fluss durch einen weitläufigen Park perlte, prüfte die Standfestigkeit des Geistes. Karl lief mit einem kurzärmeligen Hemd herum und mit Sandalen an den Füßen. Die Hose schlackerte um seine Beine. Ihm war nicht anzusehen, welchen Beruf er ergreifen würde. Er hätte Maschinenbau, Physik, Jura oder Betriebswirtschaft studieren können statt Philosophie. Nichts stand einer Karriere im Wege, keine Schüchternheit, kein schwerer Verstand, keine Vergnügungssucht.
Karl hätte seinen Weg gemacht, dachte die Mutter später. Aber er hatte seinen eigenen Kopf, hatte ihn schon immer gehabt. Er wusste, was er wollte. Manchmal war er schwer mit Worten zu erreichen.
Wenn er sich etwas vorgenommen hatte, dann konnte keiner ihn davon abhalten, auf sein Ziel loszugehen, und er hat diese Konsequenz und Unerbittlichkeit nie bereut. Das war schon so, als er klein war und in die Schule kam. Niemand kannte ihn anders.
Keine Fachdisziplin an der Universität schaffte es, ihm die intellektuelle Unruhe und den geistigen Übermut auszutreiben, ihn an sich zu binden und aus ihm einen verlässlichen und einsichtigen Vertreter eines Forschungszweiges zu machen. Das gelang auch nicht der Angst vor dem Leben, die er nicht kannte und die andere bedrückt, nicht der Unsicherheit, die andere lähmt und in die Enge treibt, und nicht dem Bedürfnis nach Glück und Sicherheit, das anderen den Weg vorzeichnet. Sein lebenslanges Aufbegehren gegen jede Form von Zwang und Unterwerfung war ein Reflex der Eruptionen vergangener Jahrhunderte, aus denen politische und soziale Revolutionen erwachsen waren, Ereignisse, zu denen es nicht noch einmal kommen würde, ihre Zeit, so schien es, war um, sie waren ausgestorben wie Tiere aus der Vorzeit.
Karl saß am Schreibtisch und lernte, ein junger Mann, der seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht und sich vorgenommen hatte, keine Gelegenheit, mit Frauen ins Bett zu gehen, ungenützt verstreichen zu lassen, aber der ganzen Sache nicht mehr Bedeutung aufzubürden, als sich mit seinen Interessen und seinen Freunden vertrug. Er nahm, wie er dort saß, ein Reiter fest im Sattel, jedes Wort, das vor ihm auftauchte und geprüft wurde, ernst, als hätte er es mit komplizierten Gedichten zu tun, wo jede Silbe auf die Waagschale zu legen war, und nicht mit Sätzen, die einfach ihren Teil dazu beitragen wollten, dass ein Sinn im Ganzen entstand, gleichsam als Reaktion gemeinsamer Bemühungen um Verständnis. Karl hat nicht mit den Wörtern gespielt und sie nicht benutzt, um Wirkungen zu erzielen, sie waren für ihn kein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft und keine Decke, in die sich einer hüllen und mit der er sich vor besseren Einsichten, die schwerer, nur mit mehr Kopfzerbrechen zu haben waren, schützen konnte. Er machte aus ihnen keine attraktiven Geschichten, an die sich glauben ließ und die etwas versprachen, das die zerfaserte, rüde Wirklichkeit nicht hielt, mitmenschliche Wärme und Geborgenheit.