Die Enten im Teich - Eva Schniedertüns Gornik - E-Book

Die Enten im Teich E-Book

Eva Schniedertüns Gornik

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Beschreibung

"Die Enten im Teich - Geschichten von Frauen und anderen Geheimnissen" - ist ein Roman mit elf feinsinnigen Geschichten, die sich in einer idyllischen Kleinstadt in Süddeutschland in den Jahren 2009 / 2010 ereignen und in subtiler Vernetzung geheimnisvolle Beziehungen von Einzelschicksalen aufzeigen. Im Mittelpunkt steht die junge erfolgreiche Künstlerin Anja Kaahl, für die alles im Leben seine Zeit und seine Ursache hat. Sie erfährt eine bedeutsame Begegnung am Ententeich im Stadtpark, Unsicherheiten in ihrer Partnerschaft und muss um ihr Liebesglück bangen. Sie ahnt nicht, mit welch anderen Frauen-Schicksalen sie durch ihre Kunst in Verbindung steht. Da ist z. B. Sophie. Sie sucht Rat bei ihrer einstigen Lehrmeisterin, erlebt sich selbst und andere Frauen bei einem Schönheits-Business-Seminar und entdeckt nach 26 Ehejahren völlig neue Seiten an ihrem Mann. Pia muss lernen, die Angst vor dem Altwerden und Alleinsein anzunehmen und loszulassen. Marie schaut 30 Jahre zurück, um ihr Dasein im Hier und Jetzt zu verstehen. Die mitten im Leben stehenden Protagonistinnen und Protagonisten dieser berührenden Lebensgeschichten erfahren Glücksmomente, Sehnsüchte, Ängste und denken über sich selbst, über ihre Beziehungen und über so manches Geheimnis nach - liebenswert, heiter, intim und spannend. Eva Schniedertüns Gornik greift in jeder ihrer Erzählungen ein anderes Thema auf, dass so oder ähnlich jeden betreffen kann. Dazu zählen das Älterwerden, die Einsamkeit oder Probleme in der Partnerschaft. All diesen Facetten des menschlichen Daseins widmet sich die Autorin auf eine humorvolle und ermunternde Schreibweise. Oder, wie die Kunsthistorikerin und Autorin Karin Jäckel meint: "Mit etlichen Überraschungseffekten und viel Einfühlungsvermögen, aber auch mit Ortskolorit und Sprachwitz ist eine ansprechende Erzählung gelungen. Sie rundet den Band vergnüglich ab, sodass man ihn mit einem Schmunzeln aus der Hand legt." Der Roman richtet sich an Leserinnen ab 30 Jahren, die, wie die Charaktere im Roman, mitten im Leben stehen.

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Inhalt

Was ist der Sinn?

Und welche Farbe hat die Seele?

Loki, Pia und Mister Bi

Teddybär und Sternenkinder

Schöne Lust und lustvoll schön

Der Schrank

Im Zirkus

Humor ist, wenn man trotzdem lacht

Alles hat seine Zeit

Das Leben ist voller Geheimnisse

Wenn die Lösung so einfach wäre

Das Lilit-Gedicht

Über die Autorin

Quellenangabe / Hinweis

Veröffentlichungen (Auswahl)

WAS IST DER SINN?

Es war vor langer Zeit

„Was ist der Sinn?“, fragte die betrübte Schülerin eines Tages ihren Lehrer und Meister, „ich male und schreibe und schreibe und male und studiere die Kunst nun schon ‚gefühlte 100 Jahre‘ und sehe keinen Sinn mehr darin. Die schöpferische Freiheit und Vielfältigkeit, nach denen ich bisher so sehr gestrebt hatte, sie wachsen mir über den Kopf und sie quälen mich, und ich weiß nicht, mit welcher Arbeit ich zuerst beginnen soll. Meine handwerklichen und künstlerischen Fertigkeiten empfinde ich als ausgeschöpft. Meine Erfolge mit meinen Kunstwerken, ob Wort oder Bild, beglücken mich nur noch für eine kurze Zeit. Ich bin am Ende meiner Schöpferkraft und fühle mich wie in einer Sackgasse, in der ein grauer Wind von Sinnlosigkeit meinen Geist umweht. Ja, ich frage mich, was ist der Sinn meiner Arbeit? Und ich frage dich, was ist der Sinn des Lebens?“

Der Lehrer und Meister hörte seiner Schülerin aufmerksam zu. Liebevoll und mit Empathie betrachtete er deren voller Erwartung dreinschauendes Gesicht und sagte schließlich mit fürsorglicher Stimme: „Ich kann dir auf deine Frage jetzt keine Antwort geben. Aber ich kann dir zu einer Übung raten, die ich einst selbst einmal praktiziert habe. Es ist die Übung des Kreises. Male einen Kreis in allen Variationen, die dir einfallen. Lasse dich inspirieren von deiner Fantasie. Nimm dir Zeit. Male so lange, bis du alle Möglichkeiten deines Schaffens ausgeschöpft hast. Sei achtsam bei deinem Tun. Betrachte deine Werke, aber beurteile sie nicht. Sei du der Pinsel und die Tusche auf dem Papier. Werde selbst zum Kreis. Und dann, wenn du glaubst und spürst, fertig zu sein, dann beende diese Übung und komm wieder zu mir, um deine Frage aufs Neue zu stellen.“

Die Schülerin blickte eine längere Weile nachdenklich vor sich hin und wagte dann zu fragen: „Muss es denn unbedingt ein Kreis sein? Wird es mit der Zeit nicht eintönig und langweilig, immer nur einen Kreis zu malen?“

Der Meister lächelte mit fröhlichen Augen und fragte zurück: „Hättest du denn ein anderes Motiv, auf dass du dich mit Liebe und Hingabe konzentrieren könntest? Könntest du dich mit Achtsamkeit und Konzentration nur auf dieses eine Motiv alleine einlassen?“

„Ja, ich denke schon“, antwortete sie sogleich, „ich würde vielleicht viel lieber ein Clown-Gesicht malen.“ „Nun gut, dann tue dies“, sagte der Meister, „übe so, wie ich es dir empfohlen habe. Und übe so, als wäre dein Motiv ein Kreis.“ Bei den letzten Worten blitzten seine Augen vergnügt auf.

Die Schülerin folgte dem Rat ihres Meisters und begann zu malen. Weil sie aber den Hinweis und den wahren Hintergrund, ein Clown-Gesicht so zu malen, als wäre es ein Kreis, nicht wirklich verstanden und schon gar nicht verinnerlicht hatte, malte sie einfach kreisrunde Clown-Gesichter. Aber bald plagten sie Zweifel und sie stellte sich die Frage, ob sie tatsächlich immer nur ein kreisrundes Gesicht zeichnen und malen sollte? „Das konnte es doch nicht sein“, überlegte sie und ließ den Gedanken an den Kreis schnellstens fallen. Sie konzentrierte sich jetzt viel lieber allein auf ein Clown-Gesicht, allein auf dieses Motiv, egal welche Form es erhalten sollte. Voller Freude entfalteten sich ihre Ideen.

Mit Pinsel und Tusche gestaltete sie Clown-Gesichter – mal rund, mal oval, mal kantig – mit spitzem Kinn, mit breitem Kinn, mit großen Augen, mit kleinen Augen – mit dicker Nase, mit kleiner Nase, mit großem Mund, mit kleinem Mund – mit traurigem Ausdruck, mit heiterem Ausdruck, mit Hütchen, ohne Hütchen und, und, und. Mit Begeisterung kreierte sie Clowns in allen möglichen Variationen. Einer wirkte schöner als der andere. Ihre künstlerische Arbeit wurde bald bekannt und ihre Clown-Bilder fanden große Beliebtheit und verkauften sich gut. Das erfreute sie natürlich. Aber diese Freude hielt nur für eine kurze Zeit. Denn wirklich glücklich war sie schließlich nicht, weil das Erschaffen dieser ständig neuen Clown-Gesichter schrecklich anstrengend wurde. Und weil sie ihre Kunstwerke auch noch stets miteinander verglich und ihr bald keine noch besseren Darstellungen mehr einfallen wollten, spürte sie große Unlust, Unzufriedenheit und eine Traurigkeit sogar. Langsam schienen ihre Ideen schließlich vollends verloren zu gehen. Aber einfach so aufgeben, das konnte sie jedoch nicht.

Ein letztes Mal wollte sie ihre malerischen Fähigkeiten bemühen und das ausdrucksvollste Clown-Gesicht erschaffen, was sie jemals erschaffen hat. Sie malte wieder ein Clown-Gesicht nach dem anderen. Doch seltsam, alle zuletzt entstandenen Kreationen erhielten ein und denselben Gesichtsausdruck. Und die Augen ähnelten mehr und mehr den Augen ihres Meisters. Sie blickten ihr entgegen, freundlich, ja väterlich, mit einem zwinkernden Schalk in der Tiefe und doch mit einer dringlichen Ermahnung und unmissverständlichen Aufforderung.

Und für die Schülerin war es plötzlich nicht mehr schwer zu erraten, dass dieser Blick, diese Aufforderung nur eines bedeuten konnte: „Denke an die Übung des Kreises. Male einen Kreis.“

Die Schülerin verstand. In diesem Moment ließ sie all ihre Clown-Bilder, ihre Vorstellungen, ihre festgefahrenen Gedanken und ihre Zweifel an sich selbst los. Bald fühlte sie eine versöhnende und heilende Leere in ihrem Inneren und konnte sich nun voll und ganz der wahren Übung des Kreises widmen. Mit Pinsel und Tusche malte sie Kreise in allen ihr möglichen Variationen. Sie malte eine geregelte Zeit, Tag für Tag, Monat für Monat über eine lange, lange Zeit hinweg, mit leichtem Gemüt und leichter Hand. Dabei übte sie sich auch im „Nicht-Vergleichen“ und „Nicht-Beurteilen“. Ihre Ideen sprudelten nur so aus ihr heraus. Immer mehr Kreise brachte sie auf das Papier mit Leichtigkeit und Hingabe.

Eines Tages stellte sie mit Staunen und großer Freude fest, dass diese Art zu malen gar nicht anstrengend für sie war und dass ihr Geist beim Malen sogar immer freier und weiter wurde.

Längst hatte nämlich ihre malende Hand die Regie des Kreise-Malens übernommen. Ihre Hand malte wie von selbst und tat es mit einem gekonnten Schwung so aus dem Handgelenk heraus. Und die Schülerin erkannte, dass sie dieses Tun einfach nur zulassen und betrachten und beobachten musste und sonst nichts.

Das Betrachten und Beobachten machten ihr solch eine Freude, dass sie diese Fähigkeiten auch auf alle Geschehnisse und auf alle Menschen um sie herum ausdehnte. Sie beobachtete und betrachtete alle und alles mit Zurückhaltung und Taktgefühl eine lange Zeit. Die Achtsamkeit, die sie dabei übte und ihr „nicht beurteilen“ der Dinge, machten sie offen für das wahrhafte Sehen und Erkennen. Dabei entdeckte sie auch ihre große Begabung, ihrem Gegenüber zuhören zu können, mit Empathie und Besonnenheit. All diese Fähigkeiten zusammen machten sie zu einer Meisterin ihrer Art und zu einer beliebten und gefragten Lebensberaterin. Sie freute sich über die Menschen, die zu ihr kamen, ihre Sorgen und Geschichten erzählten und ihren Rat suchten. Fortan waren ihre Tage mit Begegnungen und Gesprächen ausgefüllt. Und mit den Jahren gab sie ihr Wissen, ihre Selbsterfahrungen, ihre philosophischen Lebens-Betrachtungen in Seminaren weiter.

Das „Kreise-Malen“ gab sie trotzdem nicht auf. Sie malte täglich eine kleine, angemessene Zeit. Sie malte mit Hingabe und so, als wäre sie selbst der Kreis, aus dem heraus sie immer wieder neue Kräfte schöpften konnte. Und dann, irgendwann einmal, begann sie ein Buch zu schreiben.

Ihr alter Lehrmeister beobachtete über Jahre die Entwicklung seiner einstigen Schülerin und verspürte große Freude darüber, da er wusste, dass sie ihre Frage nach dem „Sinn des Lebens“ nicht noch einmal an ihn stellen würde. Sie hatte die Antwort darauf schon selbst gefunden.

UND WELCHE FARBE HAT DIE SEELE?

Anja und die Schulkinder

„Wir machen Kunst“, so lautete das Motto an jedem Dienstag-Nachmittag im Atelier der städtischen Grundschule. Anja leitete dieses zum normalen Schulunterricht zusätzlich angebotene Kreativ-Programm. Sie verstand es großartig, die Kinder für Kunst zu begeistern und zum künstlerischen Tun zu motivieren. Und die teilnehmenden Kinder fanden es toll und cool, gemeinsam mit ihr, einer richtigen Künstlerin, wie sie es stets betonten, spannende Kunstprojekte zu erarbeiten. „Wir machen Kunst mit Frau Kaahl“, verkündeten sie dann immer mit Stolz.

An diesem Dienstag-Nachmittag waren drei Mädchen und drei Jungen der Klasse 2, 3 und 4 schon überpünktlich um 14:30 Uhr im Schulatelier versammelt. Sie rätselten lautstark, was es wohl heute für ein neues Thema geben würde, als Anja den Raum betrat. „Hallo Frau Kaahl!“, riefen sie ihr entgegen. Anja lachte: „Hallo, na prima, ihr seid schon alle hier. Das ist schön. Marie und Albert kommen nicht, die haben sich entschuldigt. Dann sind wir jetzt komplett und können gleich loslegen. Und ich habe etwas sehr Schönes für euch mitgebracht, schaut mal.“ Sie packte dicke, runde und rotbraun glänzende Granatäpfel aus einem Korb auf den Tisch.

„Die habe ich gestern im Supermarkt gekauft. Und ich habe mir gedacht, dass diese Form und diese vielschichtigen Farbtöne euch interessieren würden. So könnte unser Thema lauten: einen Granatapfel in allen möglichen Farbfacetten malerisch darzustellen. Na, was meint ihr?“

Lächelnd blickte sie in die Runde und schaute in sechs stille und nachdenkliche Gesichter. Sie wartete eine Weile.

Die Mädchen schienen nach dieser Bedenkzeit plötzlich aufgeschlossen zu sein für diese Idee und stimmten sogar begeistert zu.

Für die Jungen aber blieb es ein total uncooles Thema. „Och! Ach! Nein!“ – „Können wir nicht ein Fahrrad malen?“ – „Oder ein Alien oder ein Ufo?“ – „Ach, nein, einen Granatapfel?“ – „Nein, das ist doch langweilig.“ „Nur so ein komisches Ding.“ – „Ich würde lieber ein Auto oder Spiderman malen.“

Was für ein lautes Durcheinander. Was für ein Geplapper und Redegewirr. Lustlos und jämmerlich klangen die Stimmen der Buben. Die Mädchen staunten über dieses abwehrende Getue. Sie fanden es albern und kindisch und schenkten den Jämmerlingen nur verächtliche Blicke und abwertendes Kopfschütteln.

„Nun ja“, gab Anja zu bedenken, „wir müssen ja nicht nur einfach einen runden Granatapfel malen. Da steckt doch noch viel mehr darin. Wir haben doch alle Fantasie.“

Sie lachte in die lustlosen Gesichter und meinte:

„Seid ihr nicht neugierig? Habt ihr denn schon einen Granatapfel von innen angeschaut?“ Allgemeines Verneinen und Kopfschütteln.

„Sollen wir nicht einfach mal einen halbieren und schauen, wie es dort aussieht? Ich habe auch ein Küchenmesser mitgebracht, hier.“ Sie legte das Messer auf den Tisch.

„Ja halbieren, super, toll, klasse“, erklang jetzt plötzlich ein gemischter Chor, besonders lautstark zu hören aus den Kehlen der Jungen. Die Stimmung der drei Burschen war wie ausgewechselt.

„Ich möchte einen durchschneiden“, rief einer nach dem anderen. Die Mädchen hielten sich zurück.

„Also gut“ entschied Anja, „dann halbieren wir halt drei Stück und jeder von euch bekommt eine Hälfte. Stephan, du bist der Älteste. Es wäre schön, wenn du anfängst, aber sei vorsichtig, schneide dich nicht.“

Als Stephan mit dem Messer die erste Frucht durchtrennte und der rote Fruchtsaft aus dem Innersten herausspritzte, gab es großes Geschrei. Stiller wurde es beim Betrachten und Bestaunen der beiden Fruchthälften. Keines der Kinder hatte sich die Schnittfläche dieser Frucht so vorstellen können, wo in einer weißen und gelblich-schwammig wirkenden Masse lauter dicke, rot glänzende Kerne eingebettet lagen. Es schienen Unmengen von roten Kernen zu sein.

„Oh, wie schön, die sind ja angeordnet wie ein Stern. Es sieht aus wie ein Mandala“, begeisterte sich Lina, die Achtjährige aus der zweiten Klasse und die Jüngste hier im Kreis.

„Und der Saft ist so rot wie Blut“, stellte Thomas fest, der Drittklässler, der gerade den zweiten Granatapfel zerteilen durfte. Er tippte mit den Fingern in die kleine Saftpfütze, die sich dabei auf seinem Tisch gebildet hatte.

Das Halbieren der letzten Frucht nahm Alex, ein Klassenfreund von Thomas, in Angriff.

„Ach je, diese Schale ist aber zäh wie Leder. Ich komme mit dem Messer da gar nicht richtig durch. Die scheint ja sehr alt zu sein“, stöhnte er und säbelte und sägte an der harten Schale des Granatapfels rundherum. Als er schlussendlich die so angeschnittene Frucht mit den Händen in zwei Hälften brechen konnte, spritzte der Saft zu allen Seiten und so manch roter Kern flog dabei weit über Tisch und Bänke.

Geschrei und Gelächter waren die Folge. Alex schleckte derweil den triefenden Fruchtsaft von seinen Fingern ab. „Hm, das schmeckt nicht schlecht“, war sein Urteil, „das schmeckt lecker.“

„Habt ihr denn noch nie einen Granatapfel gekostet?“, fragte Anja in die Runde.

Bis auf Stephan schüttelten alle den Kopf. Dann erzählte Stephan, dass er am letzten Sonntag zum Geburtstag eingeladen war. Dort gab es Karamellpudding mit knallroten Granatapfelkernen, die süßlich und saftig lecker schmeckten. Stephan wusste auch, warum der Granatapfel eigentlich Granatapfel heißt.

Alle blickten erwartungsvoll auf den Professor, wie sie Stephan nannten, weil er immer so viel wusste und der Beste der vierten Klasse, vielleicht gar der ganzen Schule war. „Der Granatapfel heißt Granatapfel, weil er so viele Kerne hat und weil das Wort Korn und Kern auf Lateinisch ‚Granum‘ bedeutet. Das hat mir am Sonntag mein Onkel erklärt“, berichtete er stolz.

„Das ist richtig, Stephan“, lobte Anja, „ich habe gestern im Internet auch darüber recherchiert und …

Sogleich wurde sie von Thomas unterbrochen: „Mit meinem neuen Handy könnten wir das bei ‚Wikipedia‘ im Internet doch einmal nachlesen!“, rief er freudestrahlend.

„Du Angeber! Du immer mit deinem schon wieder allerneusten Smartphone“, rügte ihn Sabine, seine Klassenkameradin, barsch. „Du weißt doch, dass wir unsere Handys hier nicht anmachen dürfen.“

„Nun, wir könnten ja in diesem speziellen Fall mal eine Ausnahme von der Regel machen“, räumte Anja beschwichtigend ein und erteilte Thomas die Erlaubnis, sein Handy aus dem Schulranzen zu holen. Der hatte das Ding aber schon längst in der Hand und tippte mit strahlendem Gesicht darauf herum. Seine Finger wirbelten und wischten nur so über die Fläche. Im Nu landete er auf der Wikipedia-Webseite.

„Was soll ich eingeben?“

„Granatapfel, wie man es spricht“, sagte Stephan.

„Granatapfel“, wiederholte Thomas noch einmal und tippte die Buchstaben ein und las die Erklärung, die dort stand, laut vor. Er las, dass der Granatapfel auf Lateinisch ‚Punica granatum‘ heißt und dass ‚Punica‘ sich von lateinischpuniceus, „purpurrot“ ableitet und auf die Farbe der Blüten und Früchte zurückgeht und dass Granatumlateinischgranum, „Korn“, („Kern“ „Samen“) heißt. „Und Apfel heißt der Granatapfel, weil er von Weitem wie ein roter Apfel aussieht“, ergänzte er noch mit seinen eigenen Worten und blickte schlau herum.

„Danke schön, Thomas, nun wissen wir es genau und du kannst dein tolles Handy wieder ausmachen und weglegen“, lachte Anja.

Thomas folgte aufs Wort, grinste aber siegesbewusst zu Sabine herüber, die mit einem Nasenrümpfen antwortete.

Weiter ging es mit der Betrachtung der exotischen Frucht. Anja zeigte auf die dicht an dicht eingebetteten dicken purpurroten Kerne in den Fruchthälften und erklärte: „Jeder Kern ist eine mit Saft prall gefüllte, leicht durchscheinende Hülle, eine Saftblase könnte man sagen. Wenn diese Hülle, diese Blase, zerplatzt – ihr habt es ja gerade erlebt, wie schnell das geschieht – spritzt der rote Saft heraus und das eigentlich grauweiße Samenkorn kommt zum Vorschein. Ja, und wegen seiner vielen Samen ist der Granatapfel ein Symbol für Leben und Fruchtbarkeit.“

Sie lachte und fragte an alle gewandt: „Was meint ihr denn, wie viele Samenkörner könnten in so einer Frucht wohl stecken?“

Eifrig begannen die Kinder über die Anzahl der Samen zu rätseln: 100, 140, 200, 300, 800, 1000 lauteten ihre Schätzungen.

„Man muss sie zählen, um es genau zu wissen“, stellte Stephan schlussendlich fest.

Gemeinsam wurde beschlossen, dass jeder am Ende der Stunde eine Fruchthälfte mit nach Hause nimmt, die Samenkörner heraus pult, zählt und das Ergebnis beim nächsten Mal mitbringt. „Und was meint ihr zu dieser purpurroten Farbe?“, fragte Anja.

„Na ja, die Kerne glänzen schön und purpurrot. Aber die dicke Schale ist ja eher bräunlich oder rotbräunlich“, meinte Sabine.

„Aber es gibt noch viel mehr Farbschattierungen“, stellte Alex fest, „Man sieht Rot bis Gelb-Grün oder Gelblich-braun und auch Schwarz-Violett.“

„Ich mag lieber die leuchtenden Farben, Rot, Gelb, Grün, Blau, Lila“, rief Lina.

„Ich auch. Ich auch“, stimmten die anderen sofort zu und philosophierten nun über ihre Lieblingsfarben. „Ich mag Ferrari-Rot und Mercedes-Silber“, rief Thomas.

„Ich mag auch gerne Rosa“, beteuerte Lina.

„Ich mag Schweinchen-Ferkel-Rosa“, feixte Alex und griente Lina entgegen.

Mit Begeisterung wurden nun von allen die verrücktesten Farbnamen erfunden: Mäuse-Schwänzchen-Grau und Pinguinen-Rabenschwarz und Gummibärchen-bunt – und, und, und.

Das ging so lange, bis Anja schließlich zur Arbeit aufrief und die Kinder ihre Malkästen, Malblöcke und ihre Granatapfel-Hälften auf ihren Arbeitstischen zurechtlegten und zu malen begannen. Anja erinnerte noch einmal an die künstlerische Aufgabe, den Granatapfel mit seinen vielen Samenkörnern und unterschiedlichen Farbschattierungen zu malen.

Sie lächelte schelmisch: „Ich weiß, die Aufgabe ist nicht leicht, aber ihr schafft das schon. Denkt auch daran, was ihr über die Bedeutung der Farben schon alles wisst.“

„Grün – ist die Hoffnung und Gelb der Neid“, rief Thomas lauthals in den Raum.

„Grün ist die Natur, grün ist das Gras, zartgrün sind die Knospen im Frühling. Und Gelb ist die Sonne. Und Gelb strahlt so schön. Ich mag Gelb“, begeisterte sich Lina.

„Im Herbst ist die Natur aber dann nicht mehr grün, sondern eher braungrau und die Blätter auf den Bäumen sind dann eher rotbraun wie der Granatapfel hier“, erklärte Sabine.

„Aber die Tannenbäume sind grün, sie sind immer grün“, behauptete sich Lina.

„Meine Granatapfelhälfte hat auch etwas orangerot“, stellte Beate fest. „Ich mag Orange, Orange ist heiter. Mein Granatapfel wird orange, aus Rot und Gelb gemischt“, betonte sie.

„Und ich mag Blau, der Himmel ist blau und mein Fahrrad ist blau“, rief Alex nun. „Mein Granatapfel wird blau und braunrot. Braun ist die Erde. Ich male ein braunes Feld mit vielen roten Samenkörner und einen blauen Granatapfel und einen blauen Himmel und ein blaues Fahrrad“, begeisterte er sich.

Über so viel Fantasie und Einfallsreichtum konnten alle nur staunen. Die Mädchen prusteten vor Ungläubigkeit ihr Backen auf und kicherten.

Auch Thomas ließ seiner Fantasie freien Lauf und rief: „Ich mag Rot! Ich male ein rotes Samenkornfeld mit diesem roten Saft hier.“ Dabei quetschte er ein paar Saftspritzer aus seiner Granatapfelhälfte auf sein Mal-Papier. „Und, ich weiß schon, wie mein Bild heißen wird, „Granum in der roten Saftblase“, lachte er.

Stephan nannte das Weiß als eine ganz besondere Farbe. „Mit Weiß kann man alle Farben aufhellen. Aus Rot wird dann Rosa und so. Und im weißen Licht sind alle Farben enthalten. Ich habe mal durch ein kantiges Glas, ein Prisma, aus dem Fenster geschaut, da bekam unser weißes Balkongeländer einen Rand von Rot und Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett, das leuchtete toll im Sonnenlicht.“

„Ein Regenbogen leuchtet auch. Ich mag den Regenbogen“, begeisterte sich Sabine, „der hat auch alle Farben in sich: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett.“

„Und welche Farbe hat die Seele?“, fragte Anja plötzlich in die Runde und wunderte sich, warum sie diese Frage ausgerechnet jetzt gestellt hatte. Vielleicht, weil sie sich in letzter Zeit selbst mit dem Thema „Seele“ so sehr beschäftigte? Nun gut. Wie dem auch sei. Gesagt ist gesagt und die Frage stand jetzt im Raum. Und sicherlich könnte es spannend sein, zu erfahren, was Kinder dazu meinen.

„Schwarz!“, rief Thomas sofort wie aus der Pistole geschossen, „mein Vater sagt immer, dass unser Nachbar eine schwarze Seele hat.“

Sabine und Beate kicherten. Thomas antwortete darauf mit affigen Grimassen und feixte.

„Ich glaube, ich glaube, die Seele ist weiß, wenn man sie sehen könnte“, erklärte die kleine Lina.

„Ja, die Seele ist bestimmt, weiß, ja weiß, wie ein Engel und sie hat Flügel. Meine Oma sagt öfter Seelchen oder Engelchen zu mir, wenn ich ein weißes Kleid anhabe.“

Thomas und Alex grinsten sich pausbäckig an und rollten mit den Augen.

„Seelchen oder Engelchen!“, äffte Thomas nun Lina nach. „Meine Oma sagt immer frecher Lümmel zu mir.“

Lina streckte ihm die Zunge heraus und schüttelte beleidigt den Kopf.

Beate, die zusammen mit Stephan in der vierten Klasse war, meinte selbstbewusst: „Ich stelle mir die Seele farblos vor, farblos wie die Luft.“

„Du meinst, deine Seele ist Luft? Und sie schwirrt hier so als Luft, so wie ein Geist um uns herum?“, lästerte Thomas schon wieder. „So ein Quatsch! Vielleicht gibt es die Seele ja gar nicht wirklich. Vielleicht ist sie nur etwas Erfundenes. So, so wie Harry Potter oder wie ein Gespenst vielleicht?“

„Du bist ein Gespenst“, ereiferte sich Beate. Thomas und Alex grinsten ihr entgegen und fuchtelten mit ihren Armen herum.

„Hui, Hui, wir sind Gespenster!“, riefen sie.

„Doch ja, die Seele gibt es“, warf Stefan jetzt energisch ein und beendete damit die Blödeleien der beiden Freunde. „Sie ist irgendwie da, so in jedem drin“, glaube ich, „so, wie unser Verstand und unser Geist ja auch irgendwie da sind in uns drin, in unserem Gehirn, meine ich.“ Sein Gesicht, sein Blick, seine Stirn, seine Haltung, ja seine ganze Persönlichkeit drückten äußerste Überzeugung aus.

„Ich weiß nicht“, begann nun Alex auch wieder ernsthafter zu werden. Um seine Gedanken zu ordnen, überlegte er eine Weile und meinte dann:

„Aber ich glaube doch eher auch, dass es sie gibt, die Seele. Aber wo sie ist und wie sie aussieht und welche Farben sie hat? Hm?“ Auf einmal lachte er auf und rief: „Vielleicht ist sie bunt wie Gummibärchen?“ Alle lachten mit.

Schließlich fiel den Kindern zum Thema Seele nichts mehr ein. Sie wurden still und konzentrierten sich wieder auf ihre Malereien.

Beate malte ihre Granatapfelhälfte in rot-orangenen Farben. Jede Tönung, jeden Schatten, jedes sichtbare Samenkorn brachte sie ausdrucksvoll auf das Papier.

Sabine arbeitete großflächig an einer grünen Berg-Landschaft mit Himmel und Regenbogen und unzähligen Granatapfelkernen darin.

Lina malte ein sternförmiges Mandala mit vielen roten und gelben und rosafarbenen Kernen darin.

Alex, der malende Geschichtenerzähler, pinselte an seiner fantastischen Landschaft: mit Fahrrad, Himmel, blauem Granatapfel, braunem Feld und roten Samenkörnern.

Thomas malte schwungvoll ein rotes Feld, das die ganze Fläche des Blattes einnahm und tupfte Reihe für Reihe dicke weiße Punkte (Blasen) nebeneinander, spritzte dann auf jeden weiß gemalten Punkt etwas Saft aus seiner Fruchthälfte.

Stephan dagegen zeichnete erst mit Bleistift die feinen Strukturen der Schnittfläche seiner Granatapfelhälfte auf, bevor er sie mit zarten, durchscheinenden Rottönen ausmalte.

Alle Kunstwerke entwickelten sich in individuellfantastisch-bunter Vielfalt. Hilfestellung von Anja gab es nur beim Mischen von rotbraunen Farbtönen.

Die Mädchen malten still vor sich hin und warfen den Jungen, die ihnen direkt gegenübersaßen, hin und wieder naserümpfende Grimassen zu.

Alex und Thomas steckten ab und zu ihre Köpfe zusammen, tuschelten miteinander und zeigten wiederum den Mädchen ihre breiten Zungen. So ging es mal hin und mal her.

Anja beobachtete diese ihr schon bekannten Spielchen, diese gegenseitigen „Jungs sind doof und Mädchen sind doof Rituale“ mit Gelassenheit und einem Schmunzeln, denn sonst herrschte eine zufriedene, von Kreativität erfüllte Atmosphäre. Bis, ja, bis plötzlich ein Schluchzen zu hören war, weil die kleine Lina zu weinen begann.

„Aber Lina, was ist los? Warum weinst du denn?“, fragte sie das Mädchen. „Die beiden da“, Lina zeigte auf Thomas und Alex, „die flüstern mir dauernd zu, ich hätte einen dicken Pickel auf der Wange.“

„Wir haben das nur zweimal geflüstert“, verteidigten sich die Jungs sichtlich erschrocken über Linas Reaktion. Anja sah Lina an, betrachtete ihr verweintes Gesicht, suchte nach einem Pickel.

„Aber da ist nichts, Lina. Die beiden wollten dich nur ärgern“, versuchte sie die Kleine zu trösten und warf den Bengeln einen strafenden Blick zu.

Das Trösten half nichts. Lina weinte weiter.

„Lina, du bist ein hübsches Mädchen. Die Jungs blödeln dumm herum. Sag ihnen einfach, wie dumm sie sind.“, versuchte sie es noch einmal.

„Ihr seid so dumm und ganz doof und ganz …!“, brachte Lina schluchzend hervor.

Alex und Thomas ließen ihre Köpfe hängen. Sabine und Beate warfen den Burschen verachtende Blicke entgegen. Stephan schaute irritiert von einem zum anderen. Und Lina schmollte und schluchzte und weinte.

Und Anja? Anja blickte eine Weile sprachlos in die Runde und in die bedrückten Gesichter der Kinder und fragte sich: „Was nun? Was kann ich tun?“

Wie konnte sie eine versöhnende und heilende Lösung finden für diese betrübliche Lage, für die betrübte Lina hier und für die betrübten Rabauken dort, denen sie ansehen konnte, wie leid es ihnen tat und dass sie sich schämten. Anja hatte keine Lösung parat, fühlte sich ratlos in diesem Moment.

Aber manchmal kommt das Heilende wie von selbst. Denn gerade aus ihrer inneren Verlegenheit heraus und ohne zu ahnen, was sie damit bewirken würde, stellte sie an die beiden Übeltäter wohl genau die richtige Frage: „Thomas und Alex, sagt mal, was ist jetzt bei Lina passiert?“ Eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und sie kam prompt und ausgerechnet aus Thomas Munde.

Verlegen murmelte er: „Wir haben ihre Seele gekränkt.“ Alle hatten es gehört.

Augenblicklich herrschte Stille. Kein Ton war mehr zu hören. Lina hatte abrupt mit der Heulerei aufgehört und ihre tränennassen Augen fingen an zu strahlen. Sie lächelte Thomas und Alex entgegen. Die beiden lächelten erleichtert zurück. Blitzartig beflügelten Leichtigkeit und Frohsinn wieder die Gemüter. Wie befreit lachten alle. Und weil es sonst und im Besonderen zwischen ihnen so üblich war, klatschten sie sich einander mit den Handflächen ab, auch die Mädchen mit den Jungen.

Was für ein Geschehen? Anja konnte es kaum fassen. Aber sie glaubte es wahrlich zu spüren, dass in diesem Moment all ihre Seelen im Einklang verbunden waren. „Was für ein Erlebnis“, dachte sie glücklich und beseelt und lächelte in die Runde.

Da plötzlich wurde sie von allen Kindern mit großen Augen angestarrt, bis ein schallendes Gelächter ertönte. Alex und Thomas zeigten mit den Fingern auf ihr Gesicht und Alex rief: „Frau Kaahl, du hast da einen dicken roten Farbfleck auf deiner Nase.“

„Was?“, schrie Anja auf und eilte lachend zum Waschbecken. Sie schaute dort in den Spiegel hinein, der über dem Becken hing. Und tatsächlich, auf ihrem linken Nasenflügel glänzte ein purpurroter, dicker Farbtupfer. Oder war es ein Granatapfelsaftspritzer? Lachend wischte sie den Fleck weg.

„Es ist Granatapfelsaft“, erklärte sie schlicht, „das ist bestimmt passiert, als beim Zerteilten der Granatäpfel der Saft herumspritzte.“

Nun rannten alle Kinder schreiend zum Spiegel, um sich zu begutachten. Mit Getöse wurde dort so mancher Fleck entdeckt und entfernt.

Anja blickte zu der kleinen Lina und zwinkerte ihr zu und dachte bei sich: „Na, vielleicht hatte sie vorhin doch einen roten ‚Granatapfel-Saft-Pickel‘ auf der Wange, der dann beim Tränen abwischen einfach verschwunden war. Und vielleicht hatten die beiden Rabauken da doch einen solchen ‚Pickel‘ gesehen? Wer weiß?“ Zu sagen gab es dazu nichts mehr.

Lina strahlte Anja entgegen und schaute dann freudig zu Thomas hinauf, der gerade seinen Hals in den Spiegel reckte, ihn akribisch beäugte und nach roten Farbflecken absuchte. Amüsiert schaute Anja dem Treiben zu, wie sich die Kinder immer wieder um das Waschbecken und den Spiegel drängten.

Als schließlich alle zufrieden feststellen konnten, dass sie sauber und ordentlich aussahen, war die Zeit dieser Kunststunde zu Ende. Die Mal-Tische wurden aufgeräumt, die Granatapfelhälften in Plastiktüten gepackt und die unvollendeten Kunstwerke bis zum nächsten Mal sorgfältig in einem Regal aufbewahrt. Fröhlich verabschiedeten sich alle.

„Auf Wiedersehen, Frau Kaahl. Ich werde die Kerne zu Hause zählen!“, rief Stephan. „Ich auch“, riefen die anderen Kinder alle zugleich und stürmten mit ihren Granatapfelhälften davon.

„Ja, dann bis zum nächsten Dienstag“, rief Anja ihnen nach und lächelte zufrieden: „Was für ein Tag“, dachte sie.

LOKI, PIA UND MISTER BI

Von Abschied und Neubeginn

Für Pia Kasimir war sie die schönste und klügste und süßeste Katze, die es gab auf der Welt. Und wenn man sie danach fragte, was sie denn ganz besonders an ihrer Katze liebte, dann lächelte sie und sagte:

„Es sind die Augen, der weise Blick, der tief in meine Seele schauen kann und vertrauensvolle Wärme ausstrahlt.“

Über siebzehn Jahre lebten Pia und Loki nun schon miteinander in dieser Gemeinschaft. Und bis vor vier Jahren gehörte auch noch Edgar Kasimir zu ihnen. Aber der war damals ganz plötzlich an Herzversagen verstorben und so musste Pia ohne ihren geliebten Mann zurechtkommen. Loki half ihr mit Treue und Anhänglichkeit über die große Trauer hinweg.

Mit der Zeit wurden die beiden immer unzertrennlicher. Und das verstärkte sich noch, als Pia vor zwei Jahren als Lehrerin und Kunstpädagogin in Pension ging. Jetzt hatte sie viel Zeit für neue, kreative Ideen und konnte sich ausgiebig der Neugestaltung ihres Gartens widmen. Und Loki war mit Freude und Neugier immer dabei.

Aber in den ungewöhnlich heißen Maitagen dieses Jahres 2009 kränkelte Loki sehr. Sie hatte keinen Appetit, wirkte sehr schlapp und schnappte bedrohlich oft nach Luft. Pia machte sich große Sorgen.

„Es ist das schwache Herz“, erklärte die Tierärztin, „und auch die Nieren, sie funktionieren nicht mehr ausreichend. Das sieht nicht gut aus.“ Die verabreichten Medikamente schienen nicht zu helfen.

Und dann, an einem der folgenden Tage, ging es Loki so schlecht, dass sie eingeschläfert werden musste. Sie lag danach auf ihrer Katzendecke im Wohnzimmer, als würde sie friedlich schlafen. In großer Traurigkeit entschied Pia, Loki einäschern zu lassen.

Am nächsten Morgen kam der Tier-Bestatter mit einem mit Bild und Text beschilderten weißen Transportauto angefahren, um Loki abzuholen. „Wenn ihr Liebling stirbt“ stand dort in großer Schrift geschrieben. Pia reagierte entsetzt. Sie hatte ein diskretes Fahrzeug erwartet.

Der Tier-Bestatter, ein sympathischer junger Mann, entschuldigte sich dafür, dass er doch für sein Geschäft auch Reklame machen müsste. Na gut. Alles Weitere verlief sehr pietätvoll ab. Er packte Loki schön zurecht, nahm sie mit und versprach, dass ihre Asche in 14 Tagen abgeholt werden könnte.

Für Pia folgte eine traurige und einsame Zeit. Aber so sehr traurig sie auch war, so sehr freute sie sich auch darauf, Loki wieder nach Hause zu holen. Aus ihrem Fundus suchte sie eine kleine, selbst gestaltete, hübsche Keramikdose als Urnen-Gefäß aus. Lokis Asche bekam sie beim Abholen in einem Plastiktütchen überreicht, welches sie liebevoll in die Keramikdose legte. Zu Hause stand diese Dose schön platziert auf einem Schränkchen im Wohnzimmer. Loki war auf diese Weise immer präsent und Pia konnte jeden Tag ein paar Worte mit ihr sprechen.

Eines Tages aber beschloss Pia, Loki endgültig loszulassen und einen stillen Platz im Garten für sie einzurichten. Eine Lieblingsstelle von Loki sollte es sein.

Auf dem Gartenmäuerchen suchte sie aus einer Sammlung bunt bemalter Steine, einst von ihren Schülern und Schülerinnen schön gestaltet, den Stein aus, neben dem Loki immer gern gelegen hatte.

Dann bereitete sie ein kleines, tiefes Erdloch vor, legte das Asche-Tütchen und einen Abschiedsgruß mit hinein, verschloss die Stelle und setzte den Stein, auf dem eine Katze abgebildet war, oben auf. Es könnte Lokis Abbild sein. Alles war gut! Und Pia richtete sich auf das endgültige ‚zu Hause allein leben‘ ein.

Doch nach wenigen Wochen stellte sie sehnlichst fest, dass ihr die Gesellschaft einer Katze immer mehr fehlte. Loki könnte natürlich niemals ersetzt werden. Aber eine neue, eine andere Katze, vielleicht eine aus dem Tierheim, um die könnte sie sich doch kümmern. Die Neue würde mit ihrem Miauen und Herumtollen wieder Schwung, Frohsinn und Kuschelwärme in das so einsam gewordene Haus zurückbringen. Ja, das wäre schön. Immer öfter dachte Pia über ihren Wunsch nach, ganz besonders an den Abenden, an denen sie sich schmerzlich alleingelassen fühlte.

Aber dann, am nächsten Morgen, verschob sie jedes Mal die Entscheidung, denn da gab es „einen“, der sie mit seiner Anwesenheit davon abhielt.

Und er war wieder da. Für Pia seltsam genug, hatte er sich in der Zeit als Loki so kränkelte und sogar bis vor kurzem kaum noch blicken lassen. Aber nun saß er auf dem Terrassen-Mäuerchen, dort, wo sonst Loki gerne gesessen hatte. Und er beobachtete Pia aus der Ferne.

Pia spürte seine Blicke, tat aber so, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Gespielt, konzentriert zupfte sie ein paar verwelkte Geranien-Blüten aus einem Blumenkübel. Dabei schielte sie verhalten aus ihren Augenwinkeln zum Mäuerchen hinüber. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und ein wohliges Gefühl entsprang in ihrem Herzen.

Schön, dass er wieder da war. Dieser Platz schien ihm zu gefallen. Ach, wie sehr wünschte sie sich, dass er dort länger bleiben würde. Jetzt nur keine hektische Bewegung und kein freudiges auf ihn zugehen, keine falsche Gestik. Sie wollte ihn nicht wieder verscheuchen, so wie am gestrigen Abend – unglücklicherweise. Da lag er nämlich auf den Terrassenfliesen unterhalb des Mäuerchens, seelenruhig und entspannt in der Abendsonne und genoss sichtlich sein Dasein. Pia hatte ihn dort schon eine Weile beobachtet, schaute versteckt hinter der Fenstergardine. Um bessere Sicht zu haben, wollte sie die Gardine ein wenig zur Seite schieben. Dabei verhedderte sie sich aber mit der Hand in einer Falte und stieß an die auf der Fensterbank stehende Keramikvase, die mit einem kurzen, dumpfen Ton leicht gegen die Scheibe kippte. Das klang nicht besonders laut. Aber dieser Ton genügte bereits, um den Terrassengast aufzuschrecken. Augenblicklich schnellte er auf, sprang flugs hoch über das Mäuerchen hinweg und flitzte davon in Nachbars Garten. Pias Betrübnis war groß. Schon wieder hatte sie etwas falsch gemacht. „Nein, so kann man keinen Freund gewinnen.“

Aber wie konnte sie ihm seine Schreckhaftigkeit und sein Misstrauen auch verdenken? Schließlich hatte sie ihn in den vergangenen drei Jahren immer wieder durch ein drohendes an die Scheibe klopfen, erschreckt und verscheucht oder anderweitig durch ihr scharfes Stimmen-Zischen oder schrilles Rufen vertrieben. Heute empfand sie ihr Gehabe von damals als unschön und übertrieben.

Aber damals hatte sie einen triftigen Grund. Damals lag ihr allein das Wohlergehen ihrer Katze Loki am Herzen, die sich dauernd vor der Angriffslust und der Aufdringlichkeit dieses Katers erwehren musste. Ständig wurde sie von ihm bedrängt und scheuchte und fauchte ihn jedes Mal mühevoll zurück. Nein, die beiden pflegten wirklich keine gute Nachbarschaft miteinander. Im Großen und Ganzen hätte Pia das aber so hinnehmen und akzeptieren können, denn schließlich waren es ja Tiere, die mit ihrem Dasein auf ihre eigene Weise zurechtkommen mussten.

Aber an diesem Tag vor drei Jahren, als dieser Draufgänger Loki auch noch ins Hinterteil blutig gebissen hatte, da war es aus mit ihrem Tierverständnis.

An diesem Tag wurden sie und der Kater Feinde. Und Pia entpuppte sich zu einer unerbittlichen Loki-Beschützerin. Fortan drohte sie ihm schon, sobald sie ihn nur sah, auch wenn Loki gar nicht anwesend war. Manchmal scheuchte sie ihn dann durch ihr tosendes Gehabe mit der Gießkanne davon.

Und das letzte Mal verjagte sie ihn sogar mit einem kräftigen Wasserstrahl aus dem Gartenschlauch von der Terrasse. Das hatte zum Resultat, dass er sich nur noch ganz selten vorbeizukommen traute.

Doch nun, nach Lokis Tod, ließ er sich wieder öfter blicken und Pia wünschte sich, endlich Frieden mit dem Kater schließen zu können. Aber wie sollte das gehen? Wenn sie sich nämlich ernsthaft an das Vergangene weiter zurückbesann, war das Verhältnis noch viel gestörter als bisher beschrieben. Denn sie hatte auch mit Katers Herrchen oft schon einen gereizten Disput ausgetragen, wegen der Katzen. Gegenseitige Vorwürfe, wer wohl mehr Schuld, ob Katze oder Kater an den Rangeleien hätte, brachte nie ein Entgegenkommen, geschweige denn eine Versöhnung zustande.

Beim letzten Mal hatte der Mann sogar große Anschuldigungen gegen Loki vorgebracht.

„Sorry verehrte Dame, aber ihre Katze ist auch nicht ohne“, schimpfte er drauflos, „sie traktiert und raubt meine Goldfische in meinem Gartenteich!“

„Das würde meine Katze nie tun!“, hatte Pia sich entrüstet und dieses ärgerliche Gespräch endgültig mit den Worten abgebrochen: „Mit Ihnen rede ich nicht mehr, Herr Gloster.“ Und dieses „nicht miteinander reden“ galt bis heute, obwohl Loki gar nicht mehr lebte und seine Fische wieder in Ruhe und Frieden in seinem Gartenteich schwimmen durften. Dass Loki keine Fischräuberin war, dessen war sich Pia schon lange nicht mehr so sicher.

Darum würde sie am liebsten diese unsägliche Angelegenheit und all die anderen Ärgernisse bereinigen und Frieden schließen wollen, auch mit diesem Herrn. Eine Gelegenheit, sich irgendwie zufällig zu begegnen und ein paar nette Worte zu wechseln, die gab es bisher aber nicht, obwohl sie beide in der gleichen Straße und nur drei Häusergrundstücke voneinander entfernt wohnten. Sollte sie ihm vielleicht einen kurzen nachbarschaftlichen Besuch abstatten und einen guten Tag wünschen? Nein, das wäre vielleicht doch zu aufdringlich.

Aber sie könnte ihn vielleicht einfach abpassen, ganz zufällig, versteht sich. Er würde sicherlich wieder einmal den Weg hinter den Gärten entlanglaufen und nach seinem streunenden Kater suchen und wie verrückt nach „Mister Bi“ rufen.

Diesen Namen hatte sie in der Vergangenheit auf jeden Fall sehr häufig von ihm gehört. Und jedes Mal ärgerte sie sich insgeheim und lästerte und lachte manchmal sogar hämisch darüber. Wie kann man einen Kater überhaupt Mister Bi nennen? Einfach lächerlich erschien ihr das damals. Nun aber fragte sie sich, mit welchem Recht sie solch eine Überheblichkeit an den Tag legen und diesen Namen so verächtlich machen konnte?

Vielleicht hatte der Name Mister Bi ja einen netten Hintergrund, so wie es beim Namen ihrer Katze Loki einst gewesen war. Pia musste feststellen, dass sie in der Vergangenheit für die beiden – Kater wie Herrchen – keinen einzigen guten Gedanken gelten ließ. Rückblickend hatte sie ihnen sogar nur Schlechtes angedichtet. Das machte sie jetzt sehr traurig und sie fragte sich, wie aus ihr im Laufe der Zeit eine solch griesgrämige und zickige Alte werden konnte? Wo waren ihre heitere Gelassenheit und ihr innerer Frieden geblieben? Und wie sollte man ehrenhaft Frieden mit jemandem schließen, wenn man diesen Frieden nicht einmal in sich selbst spürte? Wie sollte das gehen? All diese Fragen und unangenehmen Erinnerungen gingen ihr augenblicklich durch den Kopf.

Noch immer stand sie an den Blumenkübeln auf der Terrasse. Tränen liefen jetzt über ihre Wangen. Sie fühlte sich einsam und alleingelassen, wie noch nie. Wie sehr fehlte ihr Loki.

Und wie sehr fehlte ihr Edgar. Wäre er doch da. Sie vermisste ihn so sehr.

Und sie vermisste Geselligkeit, freundschaftliche Kontakte und eine Aufgabe. Seit Lokis Tod, nein, schon seit ihrer Pensionierung aus dem Schuldienst hatte sie sich mehr und mehr von allem zurückgezogen, glaubte, allein zurechtkommen zu können, keinen nötig zu haben. Sie glaubte, dass allein die Natur und ihr schöner Garten sie glücklich machen würden. Zu Beginn genoss sie diese Zeit auch sehr und liebte diese Freiheit, in den Tag hinein leben zu können. Aber bald musste sie sich eingestehen, dass ihr nicht nur die Arbeit mit den Kindern in der Schule fehlte, sondern sie sich zutiefst alleingelassen fühlte und einsam war. Und dass sie von keinem mehr gebraucht wurde, noch nicht einmal von einem Kater, das tat besonders weh.

Pia wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaute sich um. Sie hatte die Zeit fast vergessen und überlegte, wie lange sie wohl hier an dem Blumenkübel bereits gestanden sein musste. Ihren schmerzenden Füßen zur Folge sicherlich eine Weile schon.

Mit tränenverschwommenem Blick sah sie zum Mäuerchen herüber. Mister Bi war noch da. Er lag dort zusammengerollt in entspannter Position und schien sich wohlzufühlen. Ein wenig konnte sie sich darüber freuen, aber eben nur ein wenig.

Sie fühlte sich plötzlich elendig und sehr müde. Sie ging ins Haus, musste ausruhen und dann nachdenken, nachdenken über ihre betrübten Gefühle und über ihr trauriges Dasein. Das Ausruhen gelang ihr schon sehr gut, hatte sie doch in der Nacht wie ein Murmeltier geschlafen.

Das Nachdenken allerdings zog sich hin, weit über die nächsten Tage hinweg. Schnelle Lösungen, ihr Leben zu ändern, kamen ihr nicht in den Sinn.

Doch eine ganz spontane Idee an einem frühen Morgen setzte sie ohne Umschweife noch am selben Tag in die Tat um. Sie ging zum Friseur. Seit vielen Monaten hatte sie ihre dunkelblonden Haare, die immer grauer und länger wurden, vernachlässigt und nur noch zu einem, wie sie meinte, unschönen Dutt zusammenstecken können.

Die Friseuse schlug ihr eine Farbauffrischung vor, um das Grau zu überdecken und zudem einen schicken neuen Haarschnitt.

Pia ließ alles mit sich geschehen. Und zum Schluss, als die neue Frisur nach fast drei Stunden fertig war, schaute ihr eine lächelnde und gepflegte Pia im Spiegelbild entgegen. „Schön wie früher“, dachte sie und strahlte und fühlte sich schon ein klein, klein, wenig glücklicher.

Am übernächsten Tag, es war Samstag, besuchte sie den in der Region sehr beliebten Bauernmarkt. Zahlreiche Verkaufsstände füllten den großzügigen Platz vor der Stadtkirche und lockten immer viele Besucher und Käufer an. Auch hier hatte sie sich schon über viele Monate, vielleicht sogar ein Jahr lang, nicht mehr blicken lassen. Und sie war überrascht, wie viele Leute sie noch erkannten und grüßten und sich darüber freuten, sie wiederzusehen. Nette kleine Gespräche, die sich ergaben, taten ihr gut. Die Freude darüber brachte Lichtblicke von Leichtigkeit in ihr Gemüt und beflügelte ihren Entschluss, einfach öfter unter Menschen gehen zu wollen. Fortan nahm sie sich vor, an jedem Samstagvormittag den Markt zu besuchen. Und mit einer ehemaligen Schulkollegin traf sie sich ab und zu im Stadtcafé. Mit neuem Interesse verfolgte sie auch wieder mehr und mehr die kulturellen Angebote in der Region. Einer Anfrage vom Verein der Schülerhilfe, ob sie bei der Betreuung lernschwacher Kinder mithelfen könnte, gab sie sofort ihre Zusage. Es beglückte sie außerordentlich, endlich wieder gebraucht zu werden und die Kinder begleiten und unterstützen zu können. Diese neue Aufgabe und all die neuen Begegnungen gaben ihr das Gefühl, nicht mehr ganz so allein zu sein.

Mit ihren Hausnachbarn, den Muschlers, einem älteren Ehepaar, pflegte sie schon immer ein zwar zurückhaltendes, aber gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Anita Muschler bot ihr einmal sogar das „Du“ an, was Pia nicht abschlagen konnte, auch wenn sie dabei an Edgars Warnung denken musste.

Edgar hatte seine Bedenken zu diesem Thema, nämlich jedem, der es hören wollte, ausgiebig erläutert.

„Seinen direkten Nachbarn muss man freundlich begegnen, aber immer respektvollen Abstand einhalten. Nie darf es zu freundschaftlich werden und schon gar nicht zu überschwänglichen Duz-Freundschaften kommen. Wenn nämlich irgendwann Streitereien und Unstimmigkeiten auftreten, dann wird es schwierig, wieder friedvoll miteinander umzugehen. Schlimmstenfalls endet so etwas vor Gericht. Und dann ist es aus mit der guten Freundschaft und der ‚Duzerei‘ und der guten Nachbarschaft.“

Ja, das waren Edgars Worte, und er musste es ja wissen, hatte er doch als Staatsanwalt schon so manch böse Geschichte im Gerichtssaal erlebt.

Pia lächelte wehmütig, wenn sie an ihn dachte. Seinem Rat folgend vermied sie natürlich bei all ihren nachbarschaftlichen Begegnungen eine zu enge Verbindung. Nur mit den Muschlers eben tauschte sie, wenn es sich um Haus und Garten handelte, gegenseitige Hilfe aus. Und seit Neuestem konnte sie sich sogar ein wenig mehr persönlichen Umgang mit ihnen gut vorstellen. Vor ein paar Tagen lud sie Anita Muschler zu einem Kaffeestündchen zu sich ein. Sie empfand es als wohltuend, seit Langem einfach wieder einmal nur so zu plaudern. Und mit der fröhlichen und redseligen Anita klappte das prima und machte Spaß. Überraschender Weise erfuhr sie dabei auch vieles über ihren, drei Häuser weiter in der Nachbarschaft lebenden Katzen-Kontrahenten, Benjamin Gloster.

„Ach, Benjamin Gloster, das ist ein sehr netter Mann“, erzählte Anita, „er ist Professor an der Uni, arbeitet sehr viel, hat eine Freundin, außerordentlich nett, eine Kollegin, eine Frau Doktor, die wohnt aber nicht bei ihm, kommt aber häufig zu Besuch. Sie ist aber viel, viel jünger als er. Manchmal spreche ich mit den beiden so über den Zaun hinweg. Sonst leben die ja sehr zurückhaltend.“

„Der Herr Gloster hat doch auch eine Katze, einen Kater“, warf Pia ein.