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Die Wurzeln des BND liegen in den ersten Nachkriegsjahren, als Wehrmachtsgeneral a. D. Reinhard Gehlen mithilfe von US Army und CIA einen Nachrichtendienst aufbaute. Dessen Apparat spottete jedoch allen Kriterien rationaler Organisation: In seinen Strukturen fand zum Teil schwer NS-belastetes Personal Unterschlupf, Ineffizienz und Sicherheitsdefizite waren an der Tagesordnung. Gravierender jedoch war, dass der Gehlen-Dienst hinter den Kulissen massiv den Aufbau der westdeutschen Sicherheitsbehörden beeinflusste und sich jeder Kontrolle entzog.
Thomas Wolf hat anhand bislang geheimer Quellen akribisch den Aufbau des BND rekonstruiert und ordnet die Entstehungszusammenhänge ganz neu in die Frühgeschichte der Bundesrepublik ein.
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Seitenzahl: 1037
Veröffentlichungen der UnabhängigenHistorikerkommission zurErforschung der Geschichte desBundesnachrichtendienstes1945–1968
Herausgegeben von Jost Dülffer,Klaus-Dietmar Henke, WolfgangKrieger und Rolf-Dieter Müller
BAND 9
Thomas Wolf
Aufbau, Finanzierung,Kontrolle
Das vorliegende E-Book ist die überarbeitete Fassung der an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden eingereichten und im Juli 2018 erfolgreich verteidigten Dissertation. Gutachter: Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke, Technische Universität Dresden und PD Dr. Andreas Hilger, Universität Heidelberg/DHI Moskau.
Die Rechtschreibung in der Studie folgt den aktuellen Empfehlungen der Dudenredaktion. Bei direkten Zitaten aus den Quellen wurde die alte Rechtschreibung übernommen, offensichtliche Druckfehler stillschweigend korrigiert, andere Eigenheiten und Fehler aus den Originaldokumenten beibehalten.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage als E-Book, Oktober 2018
entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2018
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; [email protected]
Reihenlayout: Stephanie Raubach, Berlin
Abbildungen: Olga Medvedeva, Berlin
Lektorat: Birte Meyer, Berlin
eISBN 978-3-86284-434-0
Vorbemerkung
Einleitung
I.Improvisation ohne Kontrolle:Die Organisation Gehlen unter der Ägide der US-Army, 1946–1949
1.Frühe Strukturen
Entstehung von »Beschaffung« und »Auswertung«
Aufbau der Zentrale
Außenorganisationen der Beschaffung
Peripherie: Roman Schellenberg, Drostamat Kanayan, Peter-Heinz Seraphim, Theodor Oberländer
2.Finanzierung und Mitteleinsatz
Amerikanische Versorgung und Schwarzmarktgeschäfte
Finanzierungskrise 1948/49
3.Personalstrukturen und Personalbestand
Mitarbeiter der Zentrale
Angehörige der Außenorganisationen
Exkurs: Beschäftigung politisch belasteten Personals
II.Unter der Kontrolle der CIA: Amerikanischer Reformdruck und Ausrichtung auf Bonn, 1949–1956
1.Die CIA in Pullach
Rahmenbedingungen und Vorentscheidungen
Aufbau und Personal des CIA-Stabes
2.Von der CIA-Operation zum westdeutschen Nachrichtendienst
Leitungsebene
Auswertung
Informationsbeschaffung
Der operative Außenbereich
Dienststellen für die Inlandsspionage
Exkurs: »Bundesministerium für das Sicherheitswesen«
3.Finanzierung, Ausgabenkontrolle und deutsche Unterstützung
Entwicklung des US-Budgets
Amerikanische Verwaltungsreformen und »Bürokratieabwehr«
Finanzbeihilfen der Bundesregierung
Mittelbeschaffung aus der Wirtschaft
Reinhard Gehlens Sonderfonds
4.Personalwirtschaft und Probleme der Personalerfassung
Entwicklung des Personalbestandes
Personalerfassung und Mitarbeiterkategorien
Von der Praxis zur Norm: Rekrutierung, Einstellung und Entlassung
III.Die Eingliederung des BND in die Behördenstruktur der Bundesrepublik, 1949–1960
1.Weichenstellungen in Politik und Verwaltung
Frühe Konzepte eines »deutschen Nachrichtendienstes«
Zustimmung der Besatzungsmächte
Innenpolitische Weichenstellung im Kabinett
Ohne Gesetz: Die bestellte Rechtsgrundlage
Verzögerungen nach der John-Affäre
Das Übernahmegutachten des Bundesrechnungshofs
2.Politische Konflikte in Bonn
Auseinandersetzung im Kabinett
Einhegung des Parlaments: Die Bewilligung des ersten BND-Budgets
3.Einbau in die Bundesverwaltung
Dienstaufsicht des Kanzleramts und Status »sui generis«
Beziehungen zum Verteidigungs-, Wirtschafts- und gesamtdeutschen Ministerium
Interessengegensätze: BND und Auswärtiges Amt
IV.Die Transformation zum BND, 1956–1963
1.Organisationsstruktur: Abschottung und Zergliederung
Leitungsebene
Auswertung
Informationsbeschaffung
Gegenspionage und Spionageabwehr
Ein Geheimdienst im Geheimdienst: Der »Strategische Dienst«
Bedeutungsverlust der Außenorganisationen
2.Budgetbewilligung und Rechnungsprüfung
Budgetentwicklung
Mittelbewilligung, Rechnungsprüfung und die Rolle des Bundesrechnungshofs
Grenzen der Finanzkontrolle
3.Personalwesen
Organisation und Entwicklung des Personalbestandes
Abschottung der Personalwirtschaft
Übernahme der Mitarbeiter der Organisation Gehlen in den Bundesdienst
Personal außerhalb des öffentlichen Dienstes: »Y-Mitarbeiter«
Resümee
Dank
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Presseartikel
3. Websites
4. Memoiren und Erinnerungsschriften
5. Zeitgenössische Schriften und Periodika
6. Forschungsliteratur
Abbildungsverzeichnis
Personenregister
Der Autor
Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) wurde im Frühjahr 2011 berufen und sechs Jahre mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln finanziert. Die Kommission sowie ihre zeitweilig zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen zuallererst gedankt sei, hatten im Bundeskanzleramt und im Bundesnachrichtendienst freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungszeitraums. Nach vorbereitenden »Studien« (www.uhk-bnd.de) legt sie ihre Forschungsergebnisse nun in mehreren Monografien vor. Die UHK hatte sich verpflichtet, die Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch relevante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen. Dabei ist sie bei keiner historisch bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen.
Das Forschungsprojekt zur Geschichte des BND unterscheidet sich von ähnlichen Vorhaben insofern, als es sich nicht auf die Analyse der personellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur NS-Zeit beschränkt, sondern eine breit gefächerte Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes aus unterschiedlichen Perspektiven bietet. Eine Bedingung der Vereinbarung mit dem BND war es gewesen, dass die UHK den Rahmen und die Schwerpunkte ihrer Forschung selbst festlegt. Gleichwohl waren auf einigen Feldern Einschränkungen hinzunehmen, namentlich bei den Partnerbeziehungen und den Auslandsoperationen des Dienstes.
Die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, vertreten durch Herrn Ministerialdirigent Hans Vorbeck, war ausgezeichnet. Bei den BND-Präsidenten Ernst Uhrlau, der das Projekt durchsetzte, Gerhard Schindler, der es förderte, und Bruno Kahl, der die Erträge erntet, stieß die Arbeit der Kommission auf wachsendes Verständnis und Entgegenkommen. Der Kommission ist es eine besondere Genugtuung, dass sie den entscheidenden Anstoß dazu geben konnte, dass die Einsichtnahme in historisch wertvolle Unterlagen des deutschen Auslandsnachrichtendienstes für alle Interessierten inzwischen zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist.
Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke (Sprecher),
Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller
Geheime Nachrichtendienste besetzen einen eigentümlichen Ort innerhalb der Institutionen moderner Demokratien: Sie entziehen sich weitgehend den Imperativen größtmöglicher Öffentlichkeit und Nachvollziehbarkeit staatlichen Handelns, die sich in der Moderne sukzessive als fundamentale Normen des Politischen durchgesetzt haben. Ihr Agieren ist an entgegengesetzten Fluchtpunkten ausgerichtet: Die Dienste bauen auf Geheimhaltung und Abschottung, legen die Ergebnisse ihrer Arbeit nicht offen, machen ihre Erfolge nicht publik und müssen sich für ihre Misserfolge (meist) nicht öffentlich rechtfertigen.1 Obwohl sie aus dieser Perspektive betrachtet als Parias innerhalb des Institutionengefüges pluralistischer Demokratien stehen, haben sie sich als integrale Bestandteile der Politikfelder innere und äußere Sicherheit etabliert. Die »professionellen Geheimdienstadministrationen« der Gegenwart, mit ihren Wurzeln in Polizei und Militär, sind »eine Erfindung moderner Demokratien« und haben sich erst nach den beiden Weltkriegen, im Zuge der Ausweitung staatlicher Aufgaben, als selbstständige Einrichtungen innerhalb des Staatsapparates durchgesetzt.
Aus der »Exteriotität«2 resultiert gewöhnlich ein gewisses Unbehagen der staatlichen Exekutive gegenüber ihren Diensten, wenn diese für einige Momente doch an das Licht der Öffentlichkeit treten. Beispielsweise im Augenblick ihrer Errichtung. Bei kaum einem Nachrichtendienst der großen westlichen Demokratien dürfte dieses Phänomen so deutlich geworden sein, wie bei der offiziellen Einrichtung des Bundesnachrichtendienstes (BND) als Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik. Der BND wurde am 1. April 1956 in auffälliger Stille geschaffen. Der einzige Festakt im Rahmen seiner Gründung fand erst rund drei Monate später statt. Anlass bot ein Ereignis, das lediglich indirekt mit der eigentlichen Errichtung in Beziehung stand und vergleichsweise nebensächlich war: Die Freigabe der Hauptverkehrsstraße in Pullach, dem Sitz der Zentrale des Dienstes, für den allgemeinen Personenverkehr am 25. Juni 1956. Die Straße, die das BND-Areal auf der Nord-Süd-Achse durchschneidet und Pullach mit dem Stadtteil Großhesselohe verbindet, war nach dem Einzug der US-Army in die ehemalige NS-Mustersiedlung 1945 für den Verkehr gesperrt worden und wurde erst jetzt, nach dem Auszug der Amerikaner und der Gründung des BND als Dienststelle der Bundesregierung, wieder geöffnet. Bei der feierlichen Freigabe waren der bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, Bayerns Innenminister August Geiselhöringer, der Bürgermeister von Pullach, BND-Präsident Reinhard Gehlen und weitere ranghohe BND-Mitarbeiter3 anwesend. Etwas unbeholfen versicherte Geiselhöringer bei seiner Ansprache vor den Ehrengästen, dass der BND »nicht etwa als Fremdkörper in unserem Lande« betrachtet werde, weil »hier dieses Amt schon Wurzeln geschlagen hat«.4 Geiselhöringer spielte darauf an, dass der Dienst seine Zentrale bereits seit 1947 in dem Ort südlich von München hatte.
Kein Vertreter des Bundes war an diesem Tag in Pullach anwesend. Aus Bonn war überhaupt noch keine offizielle Stellungnahme zur BND-Gründung zu vernehmen gewesen. Insbesondere hatte sich die Bundesregierung mit dem Kanzleramt an der Spitze, dem der BND zuarbeitete, bisher nicht geäußert. Auch die überregionale Presse hatte die offizielle BND-Gründung kaum aufgegriffen. Der BND mit seinen zunächst rund 1500 hauptamtlichen Mitarbeitern und einem Jahresbudget von über 30 Millionen DM wurde abseits jeder öffentlichen Aufmerksamkeit ins Leben gerufen.
Dass das Unbehagen der Politik gegenüber dem Nachrichtendienst aus Pullach besonders groß war und in weitgehendem Beschweigen seinen Ausdruck fand, hatte mehrere Gründe. Der zeithistorische Kontext spielte dabei die wesentliche Rolle: Die NS-Herrschaft und der von Deutschland ausgehende Zweite Weltkrieg waren allen Entscheidungsträgern aus der persönlichen Erfahrung noch präsent. Mit dem Holocaust und den Verbrechen im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion waren einige der schlimmsten Gewalttaten des Regimes nicht zuletzt von Geheim- und Sicherheitsdiensten des NS-Staates vorbereitet, organisiert und vorangetrieben worden. Namentlich die politische Polizei (Gestapo) und der Sicherheitsdienst der SS (SD) hatten als willfährige »Terrorinstrumente gegenüber den politischen Gegnern«5 des Nationalsozialismus mit vollends entgrenzten Zuständigkeiten einen zentralen Platz in der Maschinerie von Verfolgung und Vernichtung besetzt. Die öffentliche Haltung gegenüber staatlichen Dienststellen Deutschlands, die im Verborgenen agierten, oszillierte vor diesem Hintergrund national und international zwischen Ablehnung, Angst und – sehr nachvollziehbarer – Dämonisierung. Auf der anderen Seite war die Besatzungszeit in Westdeutschland zum Zeitpunkt der BND-Gründung nach dem Inkrafttreten der Pariser Verträge6 erst ein Jahr zuvor beendet worden. Die allmähliche Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft war dabei von einigen Zweifeln bei den wichtigsten Partnern in Europa – die die ehemaligen Kriegsgegner waren – begleitet gewesen, ob sich Deutschland in die vorgesehene Rolle einfügen werde und alte machtpolitische Ambitionen wirklich hinter sich gelassen hatte. Ein geheimer Auslandsnachrichtendienst bot leicht Anlass, dass international die Zweifel an den westdeutschen Beteuerungen wuchsen, mit den außenpolitischen Traditionen, d. h. dem Streben nach einer Hegemonialstellung in Zentraleuropa, abgeschlossen zu haben. Es kann als Ausdruck politischer Klugheit angesehen werden, dass die Bundesregierung, die sich der europäischen Integration und transatlantischen Kooperation verpflichtet hatte, kein Aufhebens um die BND-Gründung machte. Außerdem war dieser Dienst, wie Geiselhöringer in seiner Rede andeutete, nicht neu aus der Taufe gehoben worden. Er war bereits rund zehn Jahre lang eine amerikanische Einrichtung gewesen. Im langwierigen Prozess der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität war die umfassende Beendigung der Besatzungsherrschaft auf allen Ebenen eine wichtige innenpolitische Forderung über die Parteigrenzen hinweg. Nun wurde Reinhard Gehlens Nachrichtendienst, dessen Existenz aus der Besatzungszeit herrührte, Teil der staatlichen Exekutive. Bei nicht wenigen dürfte sich die Frage gestellt habe, wie eng die Beziehung des BND und seiner leitenden Mitarbeiter zum vormaligen Dienstherrn, den USA, nach wie vor war. Auch deshalb dürfte es aus Sicht der politischen Entscheidungsträger in Bonn angeraten gewesen sein, die BND-Gründung nicht mit Pauken und Trompeten zu begehen.
Mit der Errichtung des Bundesnachrichtendienstes war der Aufbau der wesentlichen Institutionen der inneren und äußeren Sicherheit auf Bundesebene abgeschlossen. Nach dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als dem Inlandsnachrichtendienst des Bundes (gegründet 1950), den Polizeien des Bundes (Bundeskriminalamt, BKA, und Bundesgrenzschutz, BGS, jeweils gegründet 1951) sowie der Bundeswehr (gegründet 1955) verfügte Westdeutschland nun auch offiziell über einen Auslandsnachrichtendienst mit breitem, integrierten Aufgabenspektrum und ziviler Spitze.7
Thematischer und methodischer Rahmen: Behörden- und Organisationsforschung
Die deutsche Zeitgeschichtsforschung hat in den vergangenen rund zehn Jahren ihren Fokus verstärkt darauf gerichtet, die Entstehung, die personelle Zusammensetzung sowie das Handeln von Behörden und Dienststellen des Bundes in der Frühphase der Bundesrepublikgeschichte aufzuarbeiten. Begonnen mit Das Amt und die Vergangenheit,8 hat sich »Behördenforschung«, oft im Auftrag der jeweiligen Ministerien und Behörden initiiert, zu einem hoch frequentierten Forschungsfeld entwickelt, dem zudem einige Aufmerksamkeit über die Grenzen der Fachwissenschaft hinaus zuteil wird.9 Im Anschluss an die Auftragsforschung zur Geschichte deutscher Unternehmen in der NS-Zeit wurde bei der zeithistorischen Forschung über die staatlichen Institutionen Westdeutschlands zunächst der zeitliche Betrachtungsrahmen erweitert. Der thematische Schwerpunkt lag anfangs darauf, Kontinuität zum NS-Staat auf personeller Ebene zu klären, d. h. die Rolle leitender Beamter während des »Dritten Reichs« wissenschaftlich offenzulegen. Bald im Anschluss wurde der Fokus erweitert und nach den Folgewirkungen der vielfach nachgewiesenen personellen Kontinuität für das Agieren der staatlichen Institutionen der frühen Bundesrepublik gefragt.10 Die beiden Forschungsprojekte zur Entstehungsgeschichte des Bundeskriminalamts und des Bundesamts für Verfassungsschutz konnten jeweils als wichtiges Ergebnis herausarbeiten, dass in der polizeilichen und nachrichtendienstlichen Praxis der 1950er Jahre personelle und mentale auch in handlungspraktische Kontinuität überging.11 Im Bundeskriminalamt schlug sich die Anknüpfung an Vorläufereinrichtungen aus der Weimarer Republik und dem NS-Staat auch im organisatorischen Aufbau nieder.12
Die Errichtung des BND unterscheidet sich in zwei wesentlichen Aspekten von der Errichtung vieler anderer Bundesdienststellen, insbesondere auf dem Gebiet der inneren und äußeren Sicherheit: Im Gegensatz zu den Polizeigliederungen sowie dem Inlandsnachrichtendienst verfügte der BND über keinen institutionellen Vorläufer in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«. Der deutsche Auslandsnachrichtendienst war vor 1945 dezentral organisiert gewesen. Nach der Kriegsniederlage 1918 und dem Verbot des Generalstabs durch den Versailler Vertrag waren zunächst verteilte Dienststellen innerhalb der Reichswehr verdeckt mit nachrichtendienstlichen Aufgaben betraut worden. 1928 wurden sie innerhalb einer Abwehrabteilung zusammengefasst. Das später so bezeichnete »Amt Ausland/Abwehr« war auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten vorerst weiter für den militärischen Nachrichtendienst zuständig. Schnell reüssierten aber auch die parteiinternen Nachrichtendienste der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) sowie später neu errichtete Dienststellen innerhalb der Reichsministerien auf diesem Feld und weiteten ihren Aktionsradius aus. Nach der Entmachtung des militärischen Nachrichtendienstes der Wehrmacht im Zuge der Bekämpfung des militärischen Widerstandes gewann das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) 1944 schließlich die Oberhand in der jahrelang schwelenden Auseinandersetzung mit der Abwehr.13
Obwohl sich zahlreiche leitende Angehörige des frühen BND, insbesondere Reinhard Gehlen, in der Tradition der Abwehr sahen und sich drüber hinaus Angehörige aller anderen Nachrichtendienste des NS-Staates in den Reihen des BND finden lassen, knüpfte der Dienst als integrierter Apparat mit ziviler Führung in institutioneller Hinsicht an keine dieser Einrichtungen an. Als Dienststelle der staatlichen Exekutive handelte es sich beim BND strukturell damit um eine Neugründung.
Aus einer organisatorischen und personellen Perspektive betrachtet, ergibt sich hingegen ein anderes Bild als aus dem institutionellen Blickwinkel. Denn zum Zeitpunkt seiner formellen Gründung 1956 handelte es sich beim BND gerade nicht um eine Neugründung, vielmehr blickten dieser Dienst und viele seiner leitenden Mitarbeiter Mitte der 1950er Jahre bereits auf eine rund zehnjährige Arbeit im Auftrag der USA zurück. 1946 hatten ehemalige Wehrmachtsoffiziere um den Oberstleutnant der Abwehr Hermann Baun von Oberursel bei Frankfurt am Main aus damit begonnen, einen Apparat zur verdeckten, nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung aufzubauen. Generalmajor a. D. Reinhard Gehlen, dessen Abteilung »Fremde Heere Ost« (FHO) Baun während des Krieges militärische Nachrichten über die Sowjetunion geliefert hatte, befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in den USA und versuchte von dort aus, Einfluss auf den Aufbau und die Ausrichtung des neuen Dienstes zu nehmen. Im Sommer 1946 war er nach Deutschland zurückgebracht worden und hatte einige Monate später Baun von der Spitze des Apparates verdrängt.14 Unter Gehlens Leitung agierte der Dienst zunächst weiter im Auftrag der US-Army, ab 1949 dann für die Central Intelligence Agency (CIA), suchte nach der Gründung der Bundesrepublik den Anschluss an die Spitze der Bundesregierung und wechselte schließlich 1956 in deutsche Verantwortung, Beauftragung und Finanzierung. Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich die BND-Gründung damit von der Errichtung der anderen westdeutschen Sicherheitsbehörden, weil ein bestehender Apparat herangezogen wurde, aus dem der neue Nachrichtendienst der Bundesregierung hervorging.
Beide Aspekte, die institutionelle Neugründung sowie der organisatorischpersonelle Fortbestand, waren im langjährigen Prozess der Vorbereitung, politischen Entscheidungsfindung und anschließenden Umsetzung der Errichtung des BND durchgehend miteinander verschränkt. Die Planungen zur Schaffung eines Auslandsnachrichtendienstes der Bundesrepublik, die bereits kurz nach der Einsetzung der ersten Bundesregierung 1949 begannen und vom Dienst aus Pullach hinter den Kulissen forciert wurden, sind unmittelbar mit der Entstehungsgeschichte des Apparates nach Kriegsende verknüpft, weil sich die Vorbereitungen von Beginn an implizit oder explizit, positiv oder negativ auf den existierenden Nachrichtendienst Reinhard Gehlens bezogen. Die Organisationsgeschichte des frühen BND nach der Überführung des Dienstes von der amerikanischen in westdeutsche Hoheit Mitte der 1950er Jahre erschließt sich deshalb erst mit Blick auf die Vorgeschichte des Apparates von 1946 bis 1956 sowie auf die politischen Entscheidungen zur Beauftragung und Einbindung des Dienstes in den Regierungsapparat. Bisher wurden diese Blickwinkel nicht zur Analyse der Entstehung des Bundesnachrichtendienstes und seiner Vorgeschichte als Operation im Dienst der USA zusammengeführt. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Organisationsgeschichte des BND und seiner Vorläufereinrichtung sowie der langjährige, wechselvolle Prozess der politischen Gründung des Bundesnachrichtendienstes integriert betrachtet, um Bezüge und wechselseitige Abhängigkeiten herauszuarbeiten.
Bei der organisationsgeschichtlichen Analyse folgt die Untersuchung einem prozessualen Organisationsverständnis. Der Ansatz hat sich in der anglo-amerikanischen Organisationsforschung im Anschluss an die Arbeiten Karl Weicks und dessen Theorie retrospektiver Sinngebung als analytisches Instrumentarium zur Beschreibung von Organisationsentwicklungen bewährt und wurde in den vergangenen Jahren auch von der historischen Forschung in Deutschland bereits erfolgreich adaptiert.15 Eine Organisation konstituiert sich in diesem Verständnis erst in der Interaktion ihrer Mitglieder und wird dabei fortwährend neu- und umgebildet.16 Gleichzeitig stellt die Organisation den sozialen Rahmen dar, in dem diese Kommunikation abläuft und der sie daher sowohl ermöglicht als auch einschränkt.17 Die Organisation wird unter dieser doppelten Perspektive als Prozess und Entität greifbar: Organisationsstruktur ist dementsprechend nicht als formelles Korsett zu betrachten, dem informelle Praktiken und Arbeitsroutinen, die wiederum die Organisationskultur konstituieren, entgegenstehen. Die konstitutiven Merkmale einer spezifischen Organisation werden vielmehr erst in ihren Arbeitsroutinen, der Umweltwahrnehmung ihrer Mitglieder und nicht zuletzt auch in ihrer Strukturentwicklung empirisch greifbar. Organisation in einem prozessorientierten Verständnis zu analysieren, erfordert, den Fokus auf die Merkmale und Veränderungen in diesen Feldern zu legen. »Organisation ist Kultur«, wurde der Ansatz unter anderem von der Organisationstheoretikerin Linda Smircich auf eine Formel gebracht.18 Dieser Ansatz ermöglicht, den Aufbau und das Handeln in einer Organisation im zeitlichen Verlauf integriert zu beschreiben und damit Organisationsstruktur und Organisationskultur nicht komplementär zu betrachten, sondern zusammenzuführen.
Der britische Organisationsforscher Christopher Grey hat das Konzept in seiner Studie über Bletchley Park19 konkretisiert und einen Zugriff für die historische Analyse des organisatorischen Aufbaus einer nachrichtendienstlichen Einrichtung entwickelt. Grey plädiert für einen pragmatischen Ansatz, sowohl hinsichtlich der Methodenwahl als auch bei der Auswahl der Betrachtungsschwerpunkte.20 Entsprechend der ihm zur Verfügung stehenden Quellen und seiner Erkenntnisinteressen wählte Grey zur Analyse Bletchley Parks die drei Gegenstandsbereiche Struktur, Kultur und Arbeit.21 Grey trennt die drei Teilbereiche, die nicht chronologisch aufeinander aufbauen und diverse Berührungspunkte aufweisen, lediglich im analytischen Ansatz, der sich im Aufbau der Studie niederschlägt. Indem er die diversen Verbindungslinien offenlegt, arbeitet er die übergreifenden Spezifika der Organisation Bletchley Park heraus.
Für die Untersuchung der Organisation BND, ihrer Entstehung und ihres organisatorischen Wandels bis zum Beginn der 1960er Jahre wurde Greys Ansatz aufgegriffen und entsprechend der Materialgrundlage, des Forschungsstandes und der eigenen Erkenntnisinteressen angepasst. Während Grey auf eine gute Forschungslage zu Bletchley Park aufbauen und vor diesem Hintergrund seine Analyse stärker auf bis dahin vernachlässigte Aspekte konzentrieren konnte, fehlen für den frühen BND bisher Studien, die empirisch gesichert Auskunft über die Größe und Zusammensetzung des Apparates geben. Die wissenschaftliche Offenlegung dieser empirischen Basis, die für die meisten Ministerien und für viele weitere Dienststellen des Bundes nach ihrer Gründung inzwischen erfolgt ist, steht für den BND noch aus. Dieser Befund hängt zum einen damit zusammen, dass die wesentliche Überlieferung im Bestand des Bundesnachrichtendienstes für die wissenschaftliche Auswertung bisher nicht zugänglich war. Die meist journalistisch inspirierten Darstellungen zur Geschichte des BND fokussieren auf der anderen Seite vor allem auf Operationen, Informanten und Aktivitäten im Halbschatten und widmen sich den weniger aufmerksamkeitsträchtigen Aspekten, wie dem organisatorischen Aufbau, nur am Rand.
Bei der Analyse des Personals bzw. des Personalbestandes eines geheimen Nachrichtendienstes ist ein genauerer Blick darauf zu richten, an welchen Kriterien die Zugehörigkeit bemessen werden kann, um sämtliche Klassen des Personals (hauptamtliche Mitarbeiter, Informanten etc.) in die Untersuchung einzubeziehen und nach den Differenzierungsmerkmalen zwischen ihnen zu fragen. Diese Perspektive ermöglicht es, den Personalbestand als weitere Ebene zur Beschreibung der Organisation aufzugreifen, denn Aufnahmekriterien und -rituale sowie Verhaltensnormen, von denen sich die Zugehörigkeit ableiten lässt, bestimmen wesentliche Merkmale der betreffenden Organisation. Mitgliedschaft ist mit der Erwartung verbunden, dass der Einzelne bestimmte Verhaltensweisen verlässlich zeigt und andere unterlässt. Aus dem Bündel der Verhaltenserwartungen ergibt sich die Mitgliedsrolle. Wer sie ausfüllt, gehört zur Organisation; wer sie wiederholt verletzt, wird irgendwann ausgeschlossen werden, weil die Organisation deviantes Verhalten22 nicht dauerhaft tolerieren kann, ohne ihre konstitutiven Normen, die ihren Fortbestand innerhalb einer sich wandelnden Umwelt sichern, infrage zu stellen.23 Jede Organisation steht deshalb vor der Aufgabe, über mehr oder weniger formalisierte Eintrittsriten, Verhaltenskontrollen und Ausschlussregeln ihren Mitgliedern Erwartungen an ihre Verhaltensweisen bekannt zu machen und die Einhaltung sicherzustellen. Weil Mitglieder nie nur dieser einen Organisation angehören, sondern auch in anderen sozialen Zusammenhängen agieren, was sich wiederum mit eigenen Verhaltenserwartungen verbindet, kommt es unaufhörlich zu Spannungen und Widersprüchen. Für die Organisation ist deshalb von wesentlicher Bedeutung, wie anspruchsvoll die Eintritts- und Austrittsschwellen definiert sind. Je höher die Anforderungen und Erwartungen an das Verhalten angesiedelt sind und je anspruchsvoller und umfangreicher damit die Kriterien für die Mitgliedschaft liegen, desto schwerer ist die Gewinnung neuer Mitglieder und desto häufiger werden Verhaltensweisen gezeigt werden, die den Organisationsnormen widersprechen. Umso höher wird demzufolge die Zahl der ausscheidenden Mitglieder sein. Umgekehrt bedeuten anspruchsvolle Erwartungen an das Mitgliederverhalten eine enge Bindung an die Organisation. Bei niedrig gelagerten Mitgliedschaftsbedingungen bleibt die Bindung des Einzelnen an die Organisation gering; ein Eintritt ist leicht möglich, das Verlassen der Organisation ebenso; die Organisation bleibt »latent«, d. h. hinsichtlich der erwarteten Verhaltensweisen wenig organisiert und formalisiert.24
Der Eintritt in eine Organisation, d. h. der Beginn der Mitgliedschaft, ist in der Regel mit einem oder mehreren Ritualen verbunden, die den Übergang vom »Außen« in das »Innen« der Organisation markieren. Sie dienen dazu, Verbindlichkeit zu stiften und die genannten Verhaltensnormen sowie spezifische Aufgaben, die der Betreffende als Mitglied der Organisation zu erfüllen hat, zu definieren. Solche Inaugurationsrituale dienen später als Bezugspunkt, um abweichendes Verhalten, gemessen an dem Organisationszweck und der zugewiesenen Stellung innerhalb des Apparates, als solches benennen und sanktionieren zu können. In Arbeitsverträgen, schriftlichen oder mündlichen Verpflichtungs- oder Beitrittserklärungen drücken sich solche Initiationen als Zeugnis gegenseitiger Verbindlichkeit zwischen dem neuen Mitglied und der Organisation aus.25 Diesen Aspekten wird in den Abschnitten zum Personalbestand und der Personalwirtschaft im BND nachgegangen.
Für die organisationsgeschichtliche Analyse eines geheimen Nachrichtendienstes ist eine Perspektive, die den Einsatz, die Funktion und Wirksamkeit von Prozessen der Abschottung und Geheimhaltung berücksichtigt, durchgehend einzubeziehen. Geheimhaltung in Organisationen kann als die Summe der fortlaufenden formalen und informellen sozialen Prozesse verstanden werden, intentional Informationen durch Handelnde vor Handelnden zu verbergen.26 Dies umfasst zwei Bereiche, die wiederum lediglich in der Analyse zu trennen sind, in der Praxis aber ineinandergreifen. Zum einen konstituieren Weisungen und schriftlich niedergelegte Regeln den Bereich formaler Geheimhaltung in einer Organisation. Sie verkoppeln bestimmte Segmente an Informationen mit einem exklusiven Zugangs- und Verfügungsrecht. Konkrete Informationsklassen werden dadurch in gewisser Weise zum »Besitz« einer Gruppe innerhalb der Organisation. Informelle Geheimhaltung auf der anderen Seite basiert auf innerorganisatorischen sozialen Normen, Konventionen, Glaubens- und Moralvorstellungen, die den Fluss und Austausch von Informationen einschränken und bestimmte Akteure und Gruppen innerhalb der Organisation vom Zugang zu diesen Informationen ausschließen. Umgekehrt übt eine solche informelle Geheimhaltung auf jene Akteure und Gruppen, die im Besitz dieser Informationen sind, eine besondere, integrierende Wirkung aus (»In-Groups«, Netzwerke etc.).27 Geheimhaltung beeinflusst grundlegende Phänomene, die bei fast allen Organisationen anzutreffen sind, wie organisatorischen Wandel, die Durchsetzung und Aufrechterhaltung von Formen hierarchischer Ordnung, Kontrolle, Identitätsstiftung und Handlungserwartungen von und an die Mitglieder der Organisation. Geheime Nachrichtendienste kennzeichnet darüber hinaus, dass sie Informationen habituell intern und nach außen geheim halten und ihren Aufbau sowie ihre Handlungsnormen an diesen Mechanismen ausrichten.28 Geheimhaltung, formal wie informell, wirkt sich in den Diensten besonders stark auf die strukturelle Prägung des Apparates aus sowie auf das Selbstbild der Mitglieder. Wegen dieser starken Ausprägung in dem Organisationstyp »Nachrichtendienst«, ist Geheimhaltung in diesem weiten Verständnis als sozialer Prozess deshalb als reflexives Analyseinstrument für die Beschreibung der Entstehung und des organisatorischen Wandels eines Nachrichtendienstes durchgehend zu berücksichtigen.
Ausrichtung und Zeitrahmen der Untersuchung
Zur Erschließung der Organisation BND wird der Fokus auf die drei thematischen Dimensionen Struktur, Finanzierung und Personal gerichtet. Die Betrachtung der Struktur und die Analyse ihrer Entwicklung öffnet den Bick auf den Handlungsrahmen sowie die Umweltwahrnehmung der Protagonisten und Umwelteinflüsse auf den Dienst, die in organisatorischem Wandel ihren Ausdruck fanden.29 Besonders geht es in diesen Abschnitten darum, den Einfluss der wechselnden Dienstherren (US-Army, CIA, Bundesregierung) auf diese Prozesse herauszuarbeiten. Wie weit ging ihr Regelungsanspruch und wie erfolgreich ließ er sich durchsetzen? Auf der anderen Seite ist danach zu fragen, inwieweit sich der Apparat von externen Einflüssen unabhängig machte: Welche Aufgaben definierten die leitenden Mitarbeiter in Pullach selbst und welche Maßnahmen leiteten sie daraus ab?30 Diesen Fragestellungen zäsurübergreifend nachzugehen, d. h. über die Wasserscheide der BND-Gründung 1956 hinaus, verspricht, Aufschluss über personelle, strukturelle und handlungspraktische Kontingenz zwischen dem BND und seiner Vorläufereinrichtung zu geben und Konsequenzen für die Arbeitsergebnisse des BND im Untersuchungszeitraum abzuleiten.
In den Abschnitten zur Finanzierung wird jeweils dem Umfang der materiellen Basis nachgegangen, die dem Dienst in seinen ersten ca. 15 Jahren zur Verfügung stand. Darüber hinaus werden die unterschiedlichen Wege der Geldmittelbeschaffung, der Mittelverteilung innerhalb des Apparates sowie der Mechanismen zur Kontrolle analysiert und nach systematischen Einschränkungen nachvollziehbaren Geldmitteleinsatzes gefragt. Diese Perspektiven können als besonders aussagekräftige Indikatoren für die Beschreibung einer Organisation in einem prozessualen Verständnis betrachtet werden, weil hier eine stete Interaktion mit der Umwelt, aus der die materielle Basis bezogen wurde, vorliegt und wichtige Initiativen zur Kontrolle des Geldmitteleinsatzes von externen Dienststellen ausgingen.
Der Blick auf das Personal ermöglicht schließlich, die Frage nach der Umgrenzung der Organisation zu stellen. Wer gehörte zum Apparat bzw. an welche Kriterien war die Mitgliedschaft gebunden? Besonders stehen hierbei die Prozesse der Anbindung von Personal an den Dienst im Mittelpunkt (Anwerbung, Einstellung, Einstellungsvorbehalte, Sicherheitsüberprüfungen), sowie jene, durch die die Mitgliedschaft wieder beendet wurde (Entlassung, »Abschaltung«). Nach der Überführung der Organisation Gehlen in den BND stand zu klären, wie die hunderte Mitarbeiter in öffentlich-rechtliche Anstellungsverhältnisse übergeleitet werden sollten. Anhand der Maßnahmen und Strukturen, durch die Personal im Dienst gehalten wurde, das formalen Anforderungen nicht genügte, wird analysiert, wie umfangreich die Gestaltungsspielräume des Dienstes auf dem Personalgebiet waren.
Die Untersuchung setzt mit dem Aufbau des Nachrichtendienstes 1946 ein und schließt zum Beginn der 1960er Jahre ab, als die Integration des BND in den Aufbau der staatlichen Exekutive Westdeutschlands im Wesentlichen abgeschlossen war. Die Überführung des Dienstes Mitte der 1950er Jahre bildet den Angelpunkt der Studie, da analysiert werden soll, inwieweit sich die Übernahme zum Bund auf die organisatorische Entwicklung in den drei Bereichen Struktur, Finanzen und Personal niederschlug. Um dies herausarbeiten zu können, ist die organisationsgeschichtliche Betrachtung, wie bereits angedeutet, durch eine weitere Perspektive zu ergänzen: die politische Vorbereitung und Durchführung der Übernahme sowie die anschließende Eingliederung des BND als (teil-)ziviler Auslandsnachrichtendienst in den Aufbau der Bundesexekutive. Hierbei geht es keineswegs nur darum, auf der Basis erstmals ausgewerteten Materials den Prozess der BND-Gründung ereignisgeschichtlich umfassend nachzuzeichnen. Die Beschreibung soll auch den Rahmen bestimmen helfen, in den die Struktur-, Finanz- und Personalentwicklung des Dienstes ab 1956 einzubetten ist.
Forschungsstand
Die Geschichte der geheimen Nachrichtendienste der Bundesrepublik Deutschland gilt zu großen Teilen nach wie vor als Desiderat,31 obwohl mehrere ältere und jüngere Arbeiten zum Themengebiet vorliegen. Deren Entstehungskontext sowie die unterschiedliche Materialbasis sind in Rechnung zu stellen, um den Wert der Veröffentlichungen für die historische Forschung zu beurteilen. Im Folgenden werden vier Kategorien von Arbeiten zur Vor- und Frühgeschichte des BND herausgearbeitet und ihr Erkenntniswert für die Zeitgeschichtsforschung und für die vorliegende Studie im Speziellen umrissen. Die Kategorisierung lässt sich lediglich eingeschränkt anhand zeitlicher Grenzen vornehmen, weil im Feld der »Nachrichtendienstgeschichte« Institutionalisierungsbemühungen im deutschsprachigen Raum noch am Anfang stehen, Erkenntnisinteressen sowie Zugriffe dementsprechend bisher stark variierten und unterschiedliche Ansätze teilweise länger parallel verfolgt wurden. Unter den Autoren sind außeruniversitäre Akteure darüber hinaus traditionell stark vertreten. Der Versuch, die bisherige Forschungslandschaft zu kategorisieren, führt dementsprechend zu einem sehr heterogenen Bild.32
Die ersten umfangreicheren Veröffentlichungen zur Geschichte des BND kamen in den 1960ern und frühen 1970er Jahren auf den Buchmarkt. Es handelte sich meist um journalistische Arbeiten; die Autoren hatten sich häufig bereits im Vorfeld in Presseveröffentlichungen dem Sujet gewidmet, verfügten nicht selten über Verbindungen zu den Diensten und bezogen Informationen für die Veröffentlichungen aus diesen Kanälen. Daneben finden sich unter den Verfassern dieser frühen Arbeiten auch Veteranen des militärischen Nachrichtendienstes der Wehrmacht, die nach 1945 als Publizisten eine zweite Karriere begannen. Generell ist bei diesen frühen Publikationen in Rechnung zu stellen, dass der BND bei einigen von ihnen als (Mit-)Autor im Hintergrund agierte, ohne in dieser Rolle in Erscheinung zu treten.33
Diese ersten Veröffentlichungen zur BND-Geschichte fokussieren insbesondere auf einzelne Operationen und wichtige Zäsuren der Geschichte des Dienstes (Entstehung nach Kriegsende, Übernahme durch den Bund); je nach Zugriff durchzieht sie eine ins Positive oder Negative gewendete Stilisierung der Sachverhalte.34 Die ersten (auto-)biografischen Arbeiten, die ebenfalls in dieser Zeit entstanden,35 sind dieser Gruppe von Publikationen deshalb ebenso zuzurechnen wie die DDR-Propagandaschriften von Julius Mader.36 Der »Offizier im besonderen Einsatz« der Abteilung Agitation des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) machte in seinen Veröffentlichungen die Namen von Mitarbeitern und Informanten des BND öffentlich, darunter vornehmlich solche Personen, denen eine Funktion im NS-Staat nachgewiesen werden konnte. Die Beispiele dienten vornehmlich zur Untermauerung der Propagandathesen des Ostens über die Wesensverwandtschaft von Faschismus und bürgerlicher Demokratie als Subkategorien kapitalistischer Herrschaft (Dimitroff-These) sowie über die Verbindungen zwischen Westdeutschland und den USA bzw. zwischen BND und CIA, der Mader die Rolle des übermächtigen Spiritus Rector hinter dem aggressiven westdeutschen Nachrichtendienst zuschrieb.37 Mader wurden für seine Veröffentlichungen gezielt Informationen vom MfS zur Verfügung gestellt.38
Wissenschaftlichen Standards genügen diese frühen Schriften zur BND-Geschichte in Ost und West nicht, wegen der tendenziösen Darstellung und fehlender Nachweise für viele ihrer Quellen. Ihre Bedeutung für die historische Forschung bemisst sich deshalb vor allem am übergeordneten Bild des Bundesnachrichtendienstes, das sie zeichnen. Die Darstellungen dieser ersten Publikationsphase sind überwiegend der Kategorie der von den Diensten gesteuerten Eigengeschichtsschreibung zuzuordnen und damit ein Instrument der Auseinandersetzung zwischen Ost und West im Kalten Krieg mittels verdeckter Informationspolitik. Sie waren Teil eines »kulturellen Kalten Krieges«, in dem nicht zuletzt die Nachrichtendienste zu den wichtigsten Akteuren zählten.39 Die Arbeiten zeichnet aus, dass keine Angaben enthalten sind, die den informierten Stellen auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs« nicht ohnehin schon bekannt waren; genauer gesagt: deren Kenntnis bei den befreundeten und gegnerischen Nachrichtendiensten bestätigt war oder als sicher gelten konnte.40 Gepaart mit dem genannten Ansatz zur Selbststilisierung bzw. ihrer propagandistischen Funktion, ergibt sich hieraus ein strukturelles Problem für die Nutzung dieser Arbeiten durch die Zeitgeschichtsforschung: Korrekte Informationen stehen neben Halbwahrheiten und Vermutungen, teilweise auch neben gezielten Lügen.41 Erst im Abgleich mit der zeitgenössischen Überlieferung lassen sich Wert und Gehalt aufschlüsseln. Wenn die Forschung diese nicht kleine Mühe auf sich nimmt, können die Arbeiten Lücken der zeitgenössischen Überlieferung schließen helfen.
Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entstanden weitere Arbeiten zur BND-Geschichte, deren Bedeutung für die propagandistische Auseinandersetzung der Blöcke aufgrund der größeren zeitlichen Distanz nun deutlich geringer war. Das Ende des Ost-West-Konflikts brachte dann einen wichtigen Wendepunkt für die Historiografie. Die Dienste begannen, ihre Geschichte in Teilen für die Öffentlichkeit freizugeben oder ihr selbst nachzugehen, nicht zuletzt aus dem Bemühen heraus, sich ihren Platz in der nun abgeschlossenen Epoche des »Kalten Krieges« zu sichern. Vor diesem Hintergrund entstanden Zeitzeugenberichte einiger Protagonisten der Dienste bzw. aus deren Umfeld.42 Einige ranghohe ehemalige Nachrichtendienstmitarbeiter äußerten sich nun erstmals und gaben Forschern und Sachbuchautoren Auskunft zu ihrem Handeln. Dies schlug sich auch in der Geschichtsschreibung zum frühen BND nieder: Die amerikanische Journalistin Mary Ellen Reese konnte zahlreiche ehemalige US-Offiziere und CIA-Angehörige befragen, darunter John Boker, James Critchfield, John R. Deane, Jr. und Eric Waldman, die in den Jahren 1946 bis 1956 in unterschiedlichen Phasen für die Organisation Gehlen auf amerikanischer Seite verantwortlich zeichneten.43 Reese’ Buch über die Organisation Gehlen unter amerikanischer Kontrolle ist bis heute ein wichtiges Standardwerk. Darüber hinaus wurden 1983 im Zuge der Ermittlungen des US-Justizministeriums zum Fall Klaus Barbie mehrere hundert Seiten über die Indienstnahme des NS-Kriegsverbrechers durch die amerikanischen Nachrichtendienste nach Kriegsende veröffentlicht und damit erstmals in größerem Umfang Originalunterlagen, die auch neue Einsichten zu den Anfängen der BND-Vorläufereinrichtung brachten, der Öffentlichkeit zugänglich. Operationen der amerikanischen Dienste, bei denen ehemalige Wehrmachtsoffiziere, SS- und Gestapo-Angehörige involviert gewesen waren, hatten in den Erinnerungsberichten der Beteiligten häufig gefehlt. Auf der Grundlage des Barbie-Materials wurde dies nun vor allem in populärwissenschaftlichen Arbeiten aufgegriffen. Insbesondere die Studie von Christopher Simpson hat nicht nur die frühe umfangreiche Kooperation der ehemaligen Kriegsgegner nachweisen können, sondern darüber hinaus auch das Weiterbestehen von Netzwerken der Funktionseliten des »Dritten Reiches« über das Kriegsende hinaus belegt.44 Simpsons Arbeit kennzeichnet entsprechend der begrenzten Materialbasis jedoch die Fokussierung auf ausgewählte Spezialaspekte.
Erste fachwissenschaftliche Studien in Deutschland aus den 2000er Jahren, die auf ausgewählten, freigegebenen Originalunterlagen des BND oder der verfügbaren offenen Überlieferung aufbauten, sind ebenfalls dieser Gruppe von Veröffentlichungen zuzuordnen. In ihrer Darstellung zur nachrichtendienstlichen Aufklärung der sowjetischen Militärverbände auf dem Gebiet der DDR stützen sich Armin Wagner und Matthias Uhl auf die an das Bundesarchiv abgegebenen Lageeinschätzungen des Dienstes.45 Der BND und seine Vorläufereinrichtung erscheinen in dieser Arbeit noch weitgehend als Black Box; die interne Organisation und deren Entwicklung bleiben weitgehend ausgeklammert. Die Dissertationsschrift von Stefanie Waske von 2009 über die Kontrolle des BND durch Regierung und Parlament basiert auf dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren offenen Material. Ähnlich wie die Arbeit von Wagner/Uhl bleiben bei Waske wegen der eingeschränkten Quellenbasis wichtige Perspektiven ausgeklammert, insbesondere hinsichtlich der aktiven, verdeckten Beeinflussung der politischen Vorbereitungen der BND-Errichtung durch die Organisation Gehlen. Mittels der systematischen Auswertung der verfügbaren Parallelüberlieferung legte Waske aber ein wichtiges Ergebnis zur Kontrollpraxis über den BND vor, das auch als Anhalt für die vorliegende Studie von Bedeutung ist: Waske konnte zeigen, dass es dem BND gelang, Parlamentarier der Regierungsparteien und der Opposition in den 1950er Jahren mittels geschickter Informationspolitik zu animieren, ihre Kontrollaufgaben kaum wahrzunehmen. Die zuständigen Abgeordneten des Bundestages gaben sich mit dem minimalen Einblick in die Arbeit des BND zufrieden, weil sie im Gegenzug exklusiv Informationen aus Pullach erhielten.46
Die Bedingungen für die Zeitgeschichtsforschung besserten sich seit dem Ende der 1990er Jahre, als durch die Freigabe amerikanischen Materials im Rahmen des »Nazi War Crimes Disclosure Act« erstmals eine umfangreiche Originalüberlieferung zur Geschichte der BND-Vorläufereinrichtung zur Verfügung stand. Insgesamt wurden über 8,5 Millionen Blatt amerikanischer Unterlagen, darunter 114 200 Blatt aus dem Bestand der CIA, für die wissenschaftliche Auswertung freigegeben.47 Auf dieser Grundlage konnten erstmals Abläufe der nachrichtendienstlichen Kooperation nach Kriegsende und Intentionen der Handelnden, wie sie sich aus amerikanischer Perspektive ergeben, rekonstruiert werden. Auf dieser Grundlage entstanden zunächst in den USA und wenig später auch in Deutschland erste detaillierte Untersuchungen über die Aufbauphase des Nachrichtendienstes Reinhard Gehlens. Diese Studien, die Grundlagenarbeit leisteten, fokussieren auf die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den US-Dienststellen und der deutschen Nachrichtentruppe und behandeln vor allem die Abhängigkeiten und gegenseitigen Erwartungen an die heikle Kooperation der ehemaligen Gegner kurz nach Kriegsende.48 Abgesehen von knappen und punktuellen Angaben über die Größe und Zusammensetzung des Dienstes werden Fragen zum organisatorischen Aufbau und zur Finanzierung sowie nach den Formen und der Wirksamkeit der fachlichen Kontrolle in diesen Studien nur am Rand aufgegriffen oder gar nicht thematisiert. Zwar enthalten die amerikanischen Originaldokumente zu diesen Aspekten zahlreiche wichtige Informationen. Sie sind dort jedoch meist mit den Tarnchiffren des deutschen Dienstes verschlüsselt. Die Chiffren systematisch aufzulösen, um die Angaben historisch einordnen und bewerten zu können, war der Forschung zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, weil BND-Unterlagen als notwendige Gegenüberlieferung zur Decodierung nicht zur Verfügung standen.
Unter den deutschsprachigen Autoren zur BND-Geschichte ist Erich Schmidt-Eenboom mit der größten Zahl von Veröffentlichungen hervorgetreten. Er hat in den vergangenen Jahren seinen Fokus ebenfalls auf die Auswertung der neu verfügbaren Überlieferung aus amerikanischen Beständen gelegt.49 Seine detailreichen Studien bilden einen wichtigen Referenzpunkt zur Einordnung der behandelten Sachaspekte, Personen und Operationen des BND in der Ära Gehlen.
Eine neue Phase der Forschungsgeschichte über Entstehung und Aufbau des BND wurde 2011 mit der Einsetzung der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) eingeläutet. Seit 2013 legt die UHK die Ergebnisse ihrer Forschung der Fachwissenschaft und der Öffentlichkeit vor, zunächst in Form kürzerer Studien50 und seit 2016 im Rahmen der Schriftenreihe der Kommission. In Einzelmonografien und Sammelwerken werden geschlossene Themenbereiche zur BND-Geschichte bis 1968 auf Basis der vollständig zugänglichen Überlieferung im BND-Archiv behandelt. Unter den bisherigen Veröffentlichungen ist für die vorliegende Untersuchung insbesondere die Arbeit von Gerhard Sälter über Pullachs langjährige Operation zur Überwachung vermeintlicher sowjetischer Einflussagenten in Westdeutschland von großer Bedeutung gewesen. Sälter betrachtet darin unter anderem die organisatorische und personelle Entwicklung der Spionageabwehr-/Gegenspionageabteilung des frühen BND erstmals auf breiter Quellenbasis.51 Klaus-Dietmar Henkes Studie über die innenpolitischen Aktivitäten des Gehlen-Dienstes bis 1953 liefert zu den Dispositionen wichtiger Akteure der Organisation Gehlen hinsichtlich der Konzeption der innenpolitischen Aufklärung wesentliche neue Erkenntnisse und konnte für die vorliegende Studie bereits ausgewertet werden.52 Sabrina Nowack behandelte in ihrer Arbeit zur dienstinternen Überprüfung von NS-belasteten BND-Mitarbeitern in den 1960er Jahren zahlreiche Angehörige des BND, die im Kapitel IV.3 der vorliegenden Untersuchung aufgegriffen werden konnten.53 Der Weg dieser NS-belasteten BND-Angehörigen in den Dienst wird in diesem Kapitel unter einer strukturellen Betrachtung offengelegt. Christoph Rass hat mit seiner quantitativen Untersuchung des Sozialprofils der BND-Mitarbeiter bis 1968 schließlich auf der Basis einer umfassenden Auswertung von 3650 BND-Personalunterlagen stichprobenbasiert Angaben zur Entwicklung des BND-Personalbestandes vorgelegt, die nun anhand der zeitgenössischen Sachaktenüberlieferung ergänzt und weiter ausdifferenziert werden konnten.
Quellengrundlage
Die wichtigste Materialgrundlage für die vorliegende Untersuchung bildet die Überlieferung im BND-Archiv, die im Rahmen des Forschungsprojekts der Unabhängigen Historikerkommission für den Untersuchungszeitraum vollständig zur Auswertung zur Verfügung stand. Die ausgewertete Überlieferung umfasst sach- sowie personenbezogene Unterlagen. Die unsystematische Ablage, die insbesondere für die Frühphase unter US-Ägide (1946–1956) zu konstatieren ist, erschwerte partiell eine lückenlose Rekonstruktion von Abläufen und Strukturen; zur Ergänzung und Vervollständigung konnten Erinnerungsberichte wichtiger Protagonisten sowie die Tagebuchaufzeichnungen des späteren BND-Präsidenten Gerhard Wessel und des BND-Abteilungsleiters Heinz Danko Herre herangezogen werden.
Neben den Beständen des BND bildet die Überlieferung in der Verschlusssachen-Registratur (VS-Registratur) des Bundeskanzleramts insbesondere für die Darstellung der politischen Planung und Umsetzung der Übernahme der Organisation Gehlen in den Bundesdienst, der folgenden Integration in die Bundesverwaltung (Kap. III) sowie für die anschließende Finanzierung und Personalausstattung des BND die wichtigste Quellengrundlage (Kap. IV.2 und IV.3).
Zudem stellt die offen verfügbare Überlieferung der CIA eine maßgebliche Basis der Studie dar, insbesondere für das Kapitel zur Organisationsentwicklung von 1949 bis 1956 (Kap. II), aber auch darüber hinaus. In zahlreichen Fällen konnte durch die amerikanische Gegenüberlieferung BND-Material sicherer beurteilt bzw. konnten umgekehrt die CIA-Dokumente vor dem Hintergrund der Überlieferung des BND entschlüsselt und hinsichtlich der Richtigkeit und Relevanz enthaltener Informationen eingeordnet werden. Insgesamt macht die umfangreiche, jedoch mit Schwärzungen und Leerstellen versehene amerikanische Überlieferung zur Geschichte des Nachrichtendienstes Reinhard Gehlens deutlich, dass die Amerikaner im Zeitraum 1949 bis 1956 einen zwar sehr tiefgehenden, jedoch nicht vollständigen Einblick in die Aktivitäten, den Aufbau und die personelle Zusammensetzung ihrer »Operation Zipper« (CIA-Codename für die Organisation Gehlen) besaßen.
Für Teilbereiche der Untersuchung wurde Komplementärüberlieferung, unter anderem aus den Parteiarchiven von CDU, SPD und FDP, den National Archives London und dem Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv (RWWA) herangezogen, sowie auf Überlieferung in Privatbesitz zurückgegriffen. Viele Dokumente dieser Überlieferungswege haben gemeinsam, dass ihr Bezug zur Vor- und Frühgeschichte des BND nicht unmittelbar ersichtlich ist: Die Verfasser achteten in der Regel darauf, durch verschleiernde Wortwahl die Zusammenhänge zu verdecken. Erst durch den Abgleich mit den BND-Unterlagen konnten die Dokumente in ihrer Bedeutung für die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes erstmals eingeordnet und ausgewertet werden.
Aufbau der Arbeit
Für den Gang der Untersuchung wurde ein gestaffelter chronologischer Ansatz gewählt, um auf diese Weise die angestrebte Verzahnung der Organisationsgeschichte des Dienstes mit der politischen Geschichte der Errichtung des BND als Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik umzusetzen. Die Studie gliedert sich in vier Hauptkapitel. Kapitel I, II und IV bieten eine Organisationsgeschichte von den Anfängen nach Kriegsende bis zum Beginn der 1960er Jahre, wobei die Kapitel lose an die wichtigsten Zäsuren in der Entstehungsgeschichte des Dienstes angelehnt sind. Kapitel I widmet sich der Aufbauphase unter der Ägide der US-Army von 1946 bis 1949, Kapitel II behandelt im Kern die CIA-Phase zwischen 1949 und 1956 und Kapitel IV die organisatorische Entwicklung nach der Überführung zum Bund und Umwandlung in den BND ab 1956. Jedes der drei Kapitel ist entsprechend der drei Analysedimensionen Struktur, Finanzierung und Personal untergliedert. In diesen Kapiteln wird eine detailgenaue und empirisch gesicherte Darstellung angestrebt, jedoch keine erschöpfende Abhandlung aller Abteilungen und Dienstbereiche. Die Kleinteiligkeit des organisatorischen Aufbaus, die wiederholten Umgruppierungen und Umbenennungen sowie die diversen Abschottungsmaßnahmen nach innen und außen würden beim Versuch einer lückenlosen Organisationsbeschreibung lediglich eine unlesbare Zusammenstellung von Dienststellenchiffren, Abkürzungen, Tarn- und Klarnamen der Dutzenden Mitarbeiter mit Leitungsverantwortung in diesem Zeitraum produzieren. Die Untersuchung der Organisationsstruktur fokussiert deshalb auf die vier wesentlichen Bereiche: die Führungsgliederung, die Abteilung Auswertung, die Abteilung Informationsbeschaffung sowie die operativen Außendienststellen, die mittels des Einsatzes von Informanten Meldungen aus dem In- und Ausland lieferten. Darüber hinaus werden jene Dienstbereiche gesondert in den Blick genommen, die ebenfalls mit operativer Meldungsbeschaffung durch menschliche Quellen54 befasst, aus der übrigen Beschaffungsstruktur aber ausgeklammert waren. Es handelt sich hierbei um die Abteilungen Spionageabwehr/Gegenspionage und die Dienststelle Sonderverbindungen sowie den »Strategischen Dienst«. Der Bereich der Informationsgewinnung mit technischen Mitteln wird nicht näher behandelt; dieser Sektor gewann in quantitativer und qualitativer Hinsicht im BND erst nach dem Ende des Untersuchungszeitraums, in den 1960er Jahren, an Bedeutung.55 Die gesamte technische Ausstattung (Funk, Chiffrierverfahren, Geheimschriftwesen etc.) ist ebenfalls nicht Gegenstand dieser Untersuchung.56
In Kapitel IV der Studie stehen die Strukturentwicklungen nach der Überführung des Dienstes zum Bund im Mittelpunkt. Die sachthematischen Perspektiven aus den Kapiteln I und II (Organisationsaufbau, Finanzierung und Personal) werden aufgegriffen, Anknüpfungspunkte, Kontinuität und Veränderungen des BND gegenüber seiner Vorläufereinrichtung im US-Dienst herausgearbeitet. Insbesondere werden an verschiedenen Stellen dieses Kapitels Prägungen und Denkstile der leitenden Mitarbeiter und der politisch Verantwortlichen in der Bundesregierung und Bundesverwaltung in den Blick genommen. Die Ansichten darüber, wie ein geheimer Nachrichtendienst in der Demokratie zu arbeiten habe, werden mit der Vorgeschichte des BND unter amerikanischer Finanzierung zwischen 1946 und 1956 in Beziehung gesetzt, um die »Erblasten« herauszuarbeiten, die wiederum Einfluss auf die Beauftragung und Kontrolle des BND bis zum Beginn der 1960er Jahre hatten.
Die chronologische Gliederung in den Kapiteln I (1946–1949), II (1949–1956) und IV (1956–1963) wird in einzelnen Fällen aufgebrochen, um zäsurübergreifende Prozesse zu verdeutlichen, die über den zweifachen Unterstellungswechsel (1949 von der US-Army zur CIA und 1956 von der CIA zur Bundesregierung) hinaus wirkten. Die betreffenden Vorgänge werden jeweils in dem Kapitel behandelt, in dem ihr sachlicher Schwerpunkt liegt: Die Bemühungen des Dienstes, sich in der deutschen Wirtschaft und bei der Bundesregierung alternative Geldquellen zur US-Finanzierung zu erschließen, sind vor dem Hintergrund der strengeren CIA-Vorschriften über den Geldmitteleinsatz einzuordnen, auch wenn die Anfänge der meisten Initiativen in die Phase vor 1949 zurückreichten. Die Anfänge des »Strategischen Dienstes« im BND liegen im Jahr 1949, seine besondere Relevanz für die innere Organisation des Gehlen-Dienstes erlangte dieser abgeschirmte Sonderbereich aber erst nach der Übernahme durch die Bundesregierung; gleiches gilt für seine umfassende organisatorische Ausgestaltung als geschlossener, separater Nachrichtendienst innerhalb des BND. Er wird dementsprechend im Kapitel IV zur Organisationsstruktur des Dienstes nach 1956 behandelt.
Für die Organisationsstrukturentwicklung des BND in den ersten Jahren nach seiner Errichtung als Bundesdienststelle spielte nicht nur die Anknüpfung an den Aufbau der Organisation Gehlen eine maßgebende Rolle, sondern auch die veränderten Rahmenbedingungen, die sich aus der neuen Unterstellung ergaben, kamen zum Tragen. Um diese Konstellationen offenzulegen, und damit wichtige Grundlagen für die Wirksamkeit und den Umfang der externen Kontrollmaßnahmen ab 1956 zu erschließen, wird der langjährige Prozess der Überführung des Dienstes zum Bund sowie die institutionelle Einbindung des BND in den Regierungsapparat dem Kapitel zur Organisationsentwicklung ab 1956 vorangestellt und in Kapitel III behandelt. Dieses Kapitel fungiert als eine Art Scharnierstelle zur umliegenden organisationsgeschichtlichen Betrachtung. Es steht hier im Fokus zu klären, wie Gehlens Nachrichtendienst bis 1956 auf die Vorbereitungen der BND-Gründung einwirkte, auf welchen Wegen und mit welchen Konsequenzen die Einflussnahme ablief. Es wird dabei die Rolle der Regierungsspitze um Bundeskanzler Konrad Adenauer und dessen langjährigen Kanzleramtschef Hans Globke beleuchtet. Globke hatte sich seit 1950 als Verantwortlicher in der Regierungszentrale für die Angelegenheiten, die Gehlens Nachrichtendienst betrafen, durchgesetzt.57 Zudem wird nach dem Einfluss der Westalliierten und insbesondere der CIA auf die Vorgänge gefragt sowie die Errichtung des BND vor dem Hintergrund der Wiederbewaffnungsplanungen und der Beendigung der Besatzungszeit eingeordnet.
Auf den meisten der Originalunterlagen des BND und teilweise auch auf denen der CIA sind Verfasser und Adressaten lediglich mit Tarnbezeichnungen vermerkt. Entweder handelte es sich um Tarnchiffren, die für eine Diensteinheit im Apparat standen, beispielsweise eine bestimmte Dienststelle, eine Abteilung oder ein Fachreferat etc., oder es wurden die Tarn- bzw. Dienstnamen der Mitarbeiter angegeben. Um die Systematik der Schriftüberlieferung nicht willkürlich zu überdecken – zumal die für die Untersuchung zentralen organisatorischen Merkmale der inneren Abschottung und Tarnung des BND hierin zum Ausdruck kommen –, wurden die Tarnbezeichnungen in den Fußnoten beibehalten und durch Einfügung der Klarnamen in runden Klammern aufgelöst. Einige wenige Bezeichnungen konnten nicht konkreten Personen zugeordnet werden. Wo lediglich die Funktionsbezeichnung des Dienstbereichs oder Dienstpostens ermittelt werden konnte, wurde dies in eckigen Klammern vermerkt. Dieses Vorgehen wurde, soweit möglich, auch für die verwendeten historischen Dokumente der CIA und die dort enthaltenen Chiffren angewandt. Aufschlüsselungen von Tarnbezeichnungen im Fließtext wurden mit eckigen Klammern markiert.
1Eva Horn, Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M. 2007, S. 114 f.; die folgenden Zitate ebd., S. 139.
2Ebd., S. 136.
3Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Form verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.
4Susanne Meinl/Bodo Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach. Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND, Berlin 2014, S. 198 f., Zitat S. 199. Beim BND hatte man ein eigens komponiertes Lied für den Festakt vorbereitet: »Die Straße frei jetzt dem Zivilverkehre, die Straße frei dem braven Bürgersmann […]« erinnerte eindeutig an das Horst-Wessel-Lied; ob es vorgetragen wurde, ist nicht überliefert. (Ebd.)
5Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 856.
6Vgl. Walter Schwengler, Der doppelte Anspruch: Souveränität und Sicherheit. Zur Entwicklung des völkerrechtlichen Status der Bundesrepublik Deutschland (1949–1955), in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik. Bd. 4: Wirtschaft und Rüstung. Souveränität und Sicherheit, München 1997, S. 187–566, hier S. 330–351; Bruno Thoß, Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur WEU und NATO im Spannungsfeld von Blockbildung und Entspannung (1954–1956), in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik. Bd. 3: Die NATO-Option, München 1993, S. 1–234, hier S. 50–64.
7Ab 1950 existierte im Rahmen der Wiederbewaffnungsvorbereitungen unter der Leitung von Friedrich Wilhelm Heinz bereits inoffiziell ein geheimer Nachrichtendienst der Bundesregierung mit überwiegend militärischem Aufgabenspektrum. Vgl. zum Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst: Susanne Meinl/Dieter Krüger, Der politische Weg von Friedrich Wilhelm Heinz. Vom Freikorpskämpfer zum Leiter des Nachrichtendienstes im Bundeskanzleramt, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), H. 1, S. 39–69; Susanne Meinl, Im Mahlstrom des Kalten Krieges. Friedrich Wilhelm Heinz und die Anfänge der westdeutschen Nachrichtendienste 1945–1955, in: Wolfgang Krieger/Jürgen Weber (Hrsg.), Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges, München/Landsberg am Lech 1997, S. 247–266; Peter M. Quadflieg, Gerhard Graf von Schwerin (1899–1980). Wehrmachtgeneral, Kanzlerberater, Lobbyist, Paderborn 2016, S. 174 f.; zur Auseinandersetzung zwischen Heinz und Gehlen vgl. Klaus-Dietmar Henke, Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage der Organisation Gehlen 1946–1953, Berlin 2018, S. 336–433.
8Eckart Conze u. a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
9Vgl. den Überblick über das Forschungsfeld von Christian Mentel/Niels Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, München/Potsdam 2016, sowie zusammengefasst und aktualisiert erneut von Christian Mentel/Niels Weise, Die NS-Vergangenheit deutscher Behörden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14–15 (2017), S. 16–21. Demnach haben bisher rund 20 Bundesministerien und nachgeordnete Bundesbehörden Projekte zur wissenschaftlichen Erforschung ihrer Vor- und Frühgeschichte in Auftrag gegeben.
10Frank Bösch/Andreas Wirsching, Erfahrene Männer. Das Personal der Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin, in: Stefan Creuzberger/Dominik Geppert (Hrsg.), Die Ämter und ihre Vergangenheit. Ministerien und Behörden im geteilten Deutschland 1949–1972, Paderborn 2018, S. 163–181, hier S. 172 f.; Dies., Die deutschen Innenministerien nach dem Nationalsozialismus. Eine Bilanz, in: Dies. (Hrsg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018, S. 729–749, insb. S. 745–747; Frieder Günther, Rechtsstaat, Justizstaat oder Verwaltungsstaat? Die Verfassungs- und Verwaltungspolitik, in: Ebd., Hüter der Ordnung, S. 381–412, insb. S. 403, 411 f.; Manfred Görtemaker/Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016. Auf die methodischen Schwierigkeiten beim Vorhaben, Handlungen staatlicher Amtsträger aus ihrem berufsbiografischen Hintergrund im NS-Staat und teilweise der Weimarer Republik herzuleiten, weist Constantin Goschler, Personelle Brüche und Kontinuitäten im Bundesamt für Verfassungsschutz, in: Stefan Creuzberger/Dominik Geppert (Hrsg.), Die Ämter und ihre Vergangenheit. Ministerien und Behörden im geteilten Deutschland 1949–1972, Paderborn 2018, S. 123–143, hier S. 132 f. hin.
11Vgl. Imanuel Baumann u. a., Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011, u. a. S. 72 f., 247–322; Constantin Goschler/Michael Wala, »Keine neue Gestapo«. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek bei Hamburg 2015, S. 356 f., 359. Zu diesem Ergebnis kommt auch Gerhard Sälter, Phantome des Kalten Krieges. Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes »Rote Kapelle«, Berlin 2016.
12Dieter Schenk, Die braunen Wurzeln des BKA, Frankfurt a. M. 2003, S. 160–180.
13Vgl. als Überblick: Wolfgang Krieger, Geschichte der deutschen geheimen Nachrichtendienste: eine historische Skizze, in: Jan-Hendrik Dietrich/Sven-R. Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, Stuttgart 2017, S. 29–75, hier S. 48–55.
14Zur frühen Entstehungsgeschichte und der Auseinandersetzung zwischen Gehlen und Baun vgl. Thomas Wolf, Die Anfänge des BND. Gehlens Organisation – Prozess, Legende und Hypothek, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), H. 2, S. 191–225, hier S. 193–210.
15Insbesondere jüngere Forschungsarbeiten zur Entstehung und dem Handeln von Verwaltung in der frühen Neuzeit am Übergang zur Moderne haben Weicks theoretisches Modell aufgegriffen. Vgl. insbesondere Birgit Emich, Verwaltungskulturen im Kirchenstaat? Konzeptionelle Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, Stefan Brakensiek/Corinna von Bredow/Birgit Näther (Hrsg.), Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 163–180; Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, Frankfurt a. M./New York 2005.
16Vgl. Ann Langley/Haridimos Tsoukas, Introducing »Perspectives on Process Organization Studies«, in: Tor Hernes/Sally Maitlis (Hrsg.), Process, Sensemaking, and Organization, Oxford 2010, S. 1–26, hier S. 4.
17James R. Taylor, Impersonating the Organization. Reflections on the Communicative Construction of Organizations, in: Francois Cooren u. a. (Hrsg.), Language and Communication at Work, Oxford 2014, S. 17–38, hier S. 17.
18Linda Smircich, Concepts of Culture and Organizational Analysis, in: Administrative Science Quarterly 28 (1983), S. 339–358, hier S. 347.
19In der nach dem gleichnamigen Landsitz bezeichneten Militäreinrichtung wurden während des Zweiten Weltkriegs die Verschlüsselung der deutschen Wehrmacht decodiert und die abgefangenen Funksprüche ausgewertet.
20»I will deploy a range of organizational theories […] regardless of what camp or perspective they come from and regardless of their current fashionability […]. This does not, of course, imply an acceptance of any of them wholesale […], rather it means recognizing that in relation to particular questions or ranges of problem one kind of organizational theory may have purchase, whilst for another it may be quite irrelevant, or simply wrong. […] So what historical analysis can do for the study of organizations is to provide a particular blend of closeness and distance which brings certain things into focus. Of course, the corollary of that is that other things fall out of focus: the historical gaze is not an all-knowing one; it has its own particularities, its own blind spots, its own occlusions.« (Christopher Grey, Decoding Organization. Bletchley Park, Codebreaking and Organizational Studies, Cambridge 2012, S. 9, 20 f.)
21Struktur zielt auf den organisatorischen Aufbau der Einrichtung, deren Entstehung und Veränderung während des Krieges. Kultur fokussiert auf die verschiedenen, integrierenden und differenzierenden habituellen Prägungen in Bletchly Park, die sowohl aus den unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen, der durchgehenden vielschichtigen Abschottung als auch der unterschiedlichen Herkunft der Mitarbeiter herrührten. In diesem Abschnitt liegt der Fokus dementsprechend besonders auf dem Personal, das Träger dieser verschiedenen Kulturen war. Im Abschnitt zur Arbeit betrachtet Grey schließlich den Prozess des Decodierens und Auswertens in einem ganzheitlichen Ansatz.
22»Deviant« ist hier nicht als Abweichung von allgemeingültigen, gesellschaftlich und/oder juristisch definierten Normen zu verstehen, sondern auf die organisationsspezifischen Handlungserwartungen bezogen.
23Vgl. Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 4. Aufl., Berlin 1994, S. 43.
24Mary Douglas, Wie Institutionen denken, Frankfurt a. M. 1991, S. 71.
25Haas, Kultur der Verwaltung, S. 313–318.
26Diese Definition basiert auf Jana Costas/Christopher Grey, Bringing Secrecy into the Open. Towards a Theorization of the Social Process of Organizational Secrecy, in: Organization Studies 35 (2014), H. 10, S. 1423–1447, hier S. 1423, die Geheimhaltung als sozialen Prozess beschreiben und explizit gegen ein enges Verständnis abgrenzen, demnach sie lediglich als Schutz von (wichtigen) Informationen verstanden wird. Im erweiterten Verständnis wird Geheimhaltung für die Analyse von Phänomenen organisatorischen Wandels nutzbar.
27Ebd., S. 1431 f.
28Ebd., S. 1430.
29Zur Interdependenz von Umweltwahrnehmung (»gestaltete Umwelt«), Umwelteinwirkungen und Organisationsgestaltung vgl. Karl E. Weick, Der Prozess des Organisierens, Frankfurt a. M. 1985, insb. S. 190–192, 326.
30Der amerikanische Organisationsforscher James Q. Wilson hat in seiner umfassenden Studie über das Handeln von öffentlichen Behörden in den USA, die auch die beiden Nachrichtendienste FBI und CIA einschloss, nachweisen können, dass die Fähigkeit leitender Beamter, Kernaufgaben ihrer Zuständigkeitsbereiche zu definieren, sie ihren Mitarbeitern plausibel zu machen und sie zur Erreichung davon abgeleiteter Ziele zu motivieren, maßgeblichen Einfluss auf die Akteure in staatlichen Organisationen und deren Handeln ausübt. In vielen Fällen waren die gewählten Aufgaben nicht identisch mit den institutionell zugewiesenen Aufträgen, sondern orientierten sich an unmittelbaren Problemwahrnehmungen und/oder dem Erfahrungswissen der Handelnden. (James Q. Wilson, Bureaucracy. What Government Agencies Do and Why They Do It, New York 1989, S. 174 f.)
31Mentel/Weise, Behörden und der Nationalsozialismus, S. 52; Wolfgang Krieger, German Intelligence History: A Field in Search of Scholars, in: Intelligence and National Security 19 (2004), H. 2, S. 185–198.
32Für den anglo-amerikanischen Raum gilt dieser Befund im Grundsatz ebenso. Aufgrund der längeren Forschungstradition und der stärkeren akademischen Verankerung der Nachrichtendienstgeschichte innerhalb der interdisziplinär aufgestellten »Intelligence Studies« sind die Effekte hier aktuell aber bereits abgemildert. Vgl. hierzu Christopher R. Moran/Christopher J. Murphy, Intelligence Studies Now and Then, in: Dies. (Hrsg.), Intelligence Studies in Britain and the US. Historiography since 1945, Edinburgh 2013, S. 1–15.
33Vgl. Jost Dülffer, Pullach intern. Innenpolitischer Umbruch, Geschichtspolitik des BND und »Der Spiegel« 1969–1972, Marburg 2015, S. 11. Instruktiv, jedoch im Detail oft ohne nachprüfbare Belege der enthaltenen Informationen Erich Schmidt-Eenboom, Geheimdienst, Politik und Medien. Meinungsmache Undercover, Berlin 2004, S. 331–339; vgl. auch den knappen Überblick, der eine deutsch-deutsche Vergleichsperspektive öffnet, bei Sigurd Hess, German Intelligence Organizations and the Media, in: Journal of Intelligence History 9 (2009), H. 1, S. 75–87; neue Hinweise finden sich darüber hinaus bei Jost Dülffer, Geheimdienst in der Krise. Der BND in den 1960er-Jahren, Berlin 2018, S. 541–620.
34Vgl. die unkritisch-idealisierende Darstellung bei Gert Buchheit, Der deutsche Geheimdienst. Geschichte der militärischen Abwehr, München 1966; Ders., Die anonyme Macht. Aufgaben, Methoden und Erfahrungen der Geheimdienste, Frankfurt a. M. 1969.
35Insbesondere ist auf Gehlens Erinnerungsbericht »Der Dienst« (1971) zu verweisen, aus dem die Absicht des ersten BND-Präsidenten deutlich herauszulesen ist, seine Lebensleistung vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen und kritischen Urteilen (Beschäftigung NS-belasteter Mitarbeiter, Fehlschläge, Leistungsschwäche, gesetzwidrige Inlandsaufklärung) einen Kontrapunkt entgegenzusetzen. Die im gleichen Jahr erschienene, detailreiche Stilisierung Gehlens zum »Spy of the Century« von Edward Spiro (Pseudonym: H. E. Cookridge) folgt dieser Narration in ihrem Ansatz ebenfalls.
36»Julius Mader« war ein Pseudonym; Maders bürgerlicher Name lautete Thomas Bergner.
37Vgl. insbesondere Julius Mader, Die graue Hand. Eine Abrechnung mit dem Bonner Geheimdienst, Berlin (Ost) 1960; Julius Mader, Nicht länger geheim. Die Geheimdienste der Deutschen Bundesrepublik und ihre subversive Tätigkeit gegen die Deutsche Demokratische Republik, Berlin (Ost) 1966. Maders insgesamt über 30 Bücher erlebten zusammengenommen mehr als 120 Auflagen, wurden in 18 Sprachen übersetzt und über fünf Millionen Mal verkauft. Vgl. Paul Maddrell, What we have discovered about the Cold War is what we already knew: Julius Mader and the Western security services during the Cold War, in: Cold War History 5 (2005), H. 2, S. 235–258, hier S. 242.
38Ebd., S. 240.
39Richard J. Aldrich, CIA History as a Cold War Battleground: The Forgotten First Wave of Agency Narratives, in: Moran/Murphy (Hrsg.), Intelligence Studies, S. 19–46.
40Zur Analyse dieses Textgenres am Beispiel der Erinnerungen Kim Philbys, des ranghohen sowjetischen Agenten im britischen Auslandsnachrichtendienst MI6, vgl. Horn, Der geheime Krieg, S. 359 f., die die »blendende Leere« als signifikantes Merkmal der Gattung herausarbeitet (Zitat S. 360); vgl. auch Maddrell, What we have discovered, S. 242 f.
41Ein Beispiel ist die Unterstellung, die Organisation Gehlen sei maßgeblich an der Vorbereitung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR beteiligt gewesen (Mader, Graue Hand, S. 180). Auf der Grundlage der Überlieferung des BND konnte Ronny Heidenreich, Die Organisation Gehlen und der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, Marburg 2013 nachweisen, dass Reinhard Gehlens Nachrichtendienst nichts mit den Vorbereitungen zu tun hatte, den Aufstand zunächst vielmehr selbst unzutreffend als eine von Moskaus Führung initiierte Propagandaaktion einschätzte.
42Der BND holte in den späten 1980er und frühen 1990er zahlreiche Erinnerungsberichte vieler seiner frühen leitenden Mitarbeiter ein. Sie stellen einen wichtigen Materialbestand für die zeithistorische Forschung zum BND in der Ära Gehlen dar.
43Mary Ellen Reese, Organisation Gehlen. Der Kalte Krieg und der Aufbau des deutschen Geheimdienstes, Reinbek b. Hamburg 1992 (Orig.: General Reinhard Gehlen: The CIA-Connection, Fairfax (Virginia) 1990).
44Christopher Simpson, Der amerikanische Bumerang. NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA, Wien 1988 (Orig.: Blowback. America’s recruitment of Nazis and its effects on the Cold War, London/New York 1988).
45Armin Wagner/Mathias Uhl, BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR, Berlin 2007.
46Stefanie Waske, Mehr Liaison als Kontrolle. Die Kontrolle des BND durch Parlament und Regierung, Wiesbaden 2009, S. 47–56.
47https://www.cia.gov/library/readingroom/collection/nazi-war-crimes-disclosure-act (Zugriff: 9. 4. 2018).
48Kevin C. Ruffner, American Intelligence and the Gehlen Organization, 1945–1949, in: Studies in Intelligence 41 (1997), S. 69–84; Breitman u. a. (Hrsg.), U. S. Intelligence and the Nazis, Washington 2004, darin insb. Timothy J. Naftali, Reinhard Gehlen and the United States, S. 375–417; Jens Wegener, Die Organisation Gehlen und die USA. Deutschamerikanische Geheimdienstbeziehungen, 1945–1949, Berlin 2008; Wolfgang Krieger, US Patronage of German postwar intelligence, in: Loch K. Johnson (Hrsg.), A Handbook of Intelligence Studies, London 2007, S. 91–102; Wolfgang Krieger, German-American Intelligence Relations, 1945–1956: New Evidence on the Origins of the BND, in: Diplomacy & Statecraft 22 (2011), S. 28–43; Derek R. Mallet, Western Allied Intelligence and the German Military Document Section, 1945–6, in: Journal of Contemporary History 46 (2011), H. 2, S. 383–406.
49Vgl. etwa Matthias Ritzi/Erich Schmidt-Eenboom, Im Schatten des Dritten Reiches. Der BND und sein Agent Richard Christmann, Berlin 2011; Erich Schmidt-Eenboom/Ulrich Stoll, Partisanen der NATO. Stay-Behind-Organisationen in Deutschland 1946–1991, Berlin 2015; Helmut Müller-Enbergs/Erich Schmidt-Eenboom, MfS contra Organisation Gehlen. Ein beachtlicher Erfolg im Spionagekrieg 1951/52, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), H. 7/8, S. 667–678; Christoph Franceschini/Thomas Wegener Friis/Erich Schmidt-Eenboom, Spionage unter Freunden. Die Partnerdienstbeziehungen und Westaufklärung der Organisation Gehlen und des BND, Berlin 2017.
50Die ersten Studien behandelten Rolle und Handlungen der Organisation Gehlen im Rahmen des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR sowie des sogenannten Prager Frühlings 1968, die Beteiligung des Dienstes an einem Plan zur Aufstellung von westdeutschen Militärformationen im Fall eines Angriffs des Ostens in der ersten Hälfte der 1950er Jahre sowie die Entstehungsgeschichte der Spiegel-Veröffentlichungen über den BND Anfang der 1970er Jahre, die unter dem Titel »Pullach Intern« sowohl als Fortsetzungsreihe im Heft als auch in Buchform erschienen. Die Studien sind online abrufbar unter: www.uhk-bnd.de.
51Sälter, Phantome, S. 57–87.
52Henke, Geheime Dienste.
53Sabrina Nowack, Sicherheitsrisiko NS-Belastung. Personalüberprüfungen im Bundesnachrichtendienst in den 1960er Jahren, Berlin 2016.
54In der englischsprachigen Fachliteratur und der nachrichtendienstlichen Praxis wird dieses Feld der Informationsgewinnung als »Human Intelligence« (HUMINT) bezeichnet. Vgl. hierzu Len Scott, Human Intelligence, in: Robert Dover/Michael S. Goodmann/Claudia Hillebrand (Hrsg.), Routledge Companion to Intelligence Studies, New York 2014, S. 96–104. Michael Herman, Intelligence power in peace and war, Cambridge 1996, S. 61–66.
55Im Rahmen der Forschungen der UHK hat Armin Müller in seiner Studie über den Agentenfunk und die Funkaufklärung des BND bis 1968 dieses Ergebnis auf der Basis der Überlieferung im BND herausgearbeitet. Armin Müller, Wellenkrieg. Agentenfunk und Funkaufklärung des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968, Berlin 2017, insb. S. 233.
56Vgl. hierzu ebd., S. 51–212.
57Zur symbiotischen Verbindung Gehlens und Globkes vgl. Henke, Geheime Dienste, insb. S. 212–221.