Die Erben - William Golding - E-Book

Die Erben E-Book

William Golding

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Beschreibung

Eine Neuausgabe des Romans, den Literaturnobelpreisträger William Golding für seinen besten hielt In seinem Roman »Die Erben« reist Literaturnobelpreisträger William Golding in die Vorzeit zurück und versetzt uns in das Leben der Neandertaler. Es ist Frühling, der Stamm verlässt die Höhlen und sucht nach Nahrung. Es gibt erste Werkzeuge, es gibt Feuer und ein gemeinsame Sprache. Niemand ahnt, dass es die letzten Tage der Neandertaler sind ... Eine meisterhafte Parabel vom Aufeinandertreffen zweier Kulturen. Und eine Lobeshymne auf das, was uns Menschen trotz allem verbindet: Freude und Schmerz und die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln. William Goldings Romane »beleuchten die Conditio humana der heutigen Welt.« Komitee zum Literaturnobelpreis 

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Seitenzahl: 329

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William Golding

Die Erben

Roman

 

Aus dem Englischen von Hermann Stiehl

 

»Wir wissen sehr wenig über das Aussehen des Neandertalers, aber dies … scheint, über seine niedrige Stirn, die überhängenden Augenbrauen, den Affenhals und die kleine Körperstatur hinaus, auf eine sehr starke Behaarung, eine gewisse Hässlichkeit oder abstoßende Fremdartigkeit in seiner Erscheinung hinzudeuten … Sir Harry Johnston sagt in seinen Views and Reviews: ›Die verschwommene Erinnerung an solche gorillaähnlichen Ungeheuer mit listigem Verstand, schlenkerndem Gang, haarigem Körper, kräftigen Zähnen und möglicherweise kannibalistischen Neigungen mag das Urbild des Menschenfressers in der Folklore gewesen sein …‹«

H.G. Wells, Outline of History

Für Ann

I

 

Lok lief so schnell er konnte, sein Kopf war vornübergeneigt, und er hielt seinen Dornenast des Gleichgewichts wegen waagrecht und schlug mit der freien Hand das Gewoge der jungen Triebe zur Seite. Liku ritt lachend auf seinen Schultern, klammerte sich mit einer Hand in die kastanienbraunen Locken, die Nacken und Rückgrat bedeckten, und verbarg mit der anderen die kleine Oa unter seinem Kinn. Loks Füße waren geschickt. Sie konnten sehen. Sie trugen ihn um die ausschlängelnden Wurzeln der Buchen herum und sprangen, wenn eine Wasserlache sich in den Weg legte. Liku strampelte mit den Füßen gegen seinen Leib.

»Schneller! Schneller!«

Er spürte Stiche in den Füßen und lief langsamer. Jetzt konnten sie den Fluss hören, der, von Laub noch verdeckt, neben ihnen zur Linken dahinfloss. Die Buchen traten auseinander, die Büsche wichen zurück, und sie standen vor der schmalen Stelle flachen Moorwassers, wo der Stamm war.

»Da, Liku!«

Das onyxfarbene Wasser breitete sich vor ihnen aus, ging in den Fluss über. Jenseits des Tümpels, wo der Boden anstieg, begann der Pfad, der den Fluss entlangführte, von neuem, doch verlor er sich bald hinter Bäumen. Lok grinste zufrieden und glücklich, tat zwei Schritte auf das Wasser zu und blieb stehen. Das Grinsen erlosch, und sein Mund ging auf, bis die Unterlippe herabhing. Liku rutschte auf sein Knie, dann auf den Boden hinunter. Sie hielt den Kopf der kleinen Oa vor ihr Gesicht und sah darüber hinweg auf das Wasser.

Lok lachte unsicher.

»Der Stamm ist fortgegangen.«

Er schloss die Augen und beschwor brauenrunzelnd das Bild des Stammes herauf. Er hatte im Wasser gelegen, von hier nach der anderen Seite, grau und faulig. Wenn man in der Mitte angelangt war, konnte man das Wasser spüren, das unter einem platschte, schreckliches Wasser, stellenweise ging es bis zur Schulter. Es war nicht wach wie der Fluss oder der Wasserfall; es schlief, weitete sich hierhin zum Fluss aus und erwachte, ging dort nach rechts in Wildnis und undurchdringlichen Sumpf und Morast und Dickicht über. So sicher war er dieses Stammes, den die Gefährten immer benutzten, dass er die Augen öffnete und zu lächeln begann, wie nach einem Traum. Aber der Stamm war fort.

Fa trottete den Pfad entlang. Das Junge schlief auf ihrem Rücken. Sie wusste, dass es nicht fallen konnte, denn sie fühlte, wie es sich mit Händen und Füßen im weichen Fell auf ihrem Rücken festklammerte, aber sie trat dennoch vorsichtig auf, damit es nicht erwachte. Lok hörte sie kommen, ehe sie noch die Buchen erreicht hatte.

»Fa! Der Stamm ist fortgegangen!«

Sie ging geradewegs auf das Wasser zu, äugte, witterte, sah dann Lok vorwurfsvoll an. Sie brauchte nichts mit dem Munde zu sagen. Lok schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, nein. Ich habe den Stamm nicht zum Spaß weggenommen. Er ist fortgegangen.«

Er breitete die Arme aus, um zu zeigen, wie sehr der Stamm nicht da war, sah, dass sie begriff, und ließ die Arme wieder sinken.

Liku stieß ihn an.

»Schaukle mich.«

Sie griff nach einem Buchenast, der wie ein langer Hals dem Baum entwuchs und sich dann mit einem Büschel grüner und brauner Triebe dem Licht entgegenreckte. Lok vergaß den Stamm, der nicht da war, und schwang sie in die Astbiegung. Er trat seitlich daneben, zog, ging langsam zurück, und der Ast knackte.

»Ho!«

Er ließ den Zweig fahren und fiel in die Hocke. Der Ast schoss davon, und Liku schrie vor Vergnügen.

»Nein! Nein!«

Aber Lok wiederholte das Spiel unermüdlich, und Liku glitt schreiend und lachend und aufbegehrend in dem Laubbüschel über das Ufer hin. Fa sah vom Wasser auf zu Lok und starrte dann wieder hinunter. Sie zog erneut die Brauen zusammen.

Ha kam den Pfad daher, geschwind, aber doch ohne Hast, überlegter als Lok – der Mann für kritische Augenblicke. Als Fa nach ihm zu rufen begann, antwortete er nicht sogleich, sondern sah auf das leere Wasser und dann nach links, wo er den Fluss jenseits der Buchenreihe erkennen konnte. Dann durchforschte er den Wald mit Auge und Nase nach Eindringlingen, und erst als er gewiss war, dass keine Gefahr drohte, ließ er den Dornenast sinken und kniete am Wasser nieder.

»Da!«

Sein Finger wies auf die Abdrücke unter dem Wasser, wo der Stamm geruht hatte. Die Ränder waren noch frisch, und Erdkrumen lagen in den Kerben, die sich noch nicht aufgelöst hatten. Er verfolgte die gebogenen Einschnitte unter dem Wasser, bis sie sich im Dunkeln verloren. Fa sah zu der Stelle hinüber, an der der Pfad jenseits wieder begann. Wo das andere Ende des Stammes gelegen hatte, war Erde aufgewühlt. Sie stellte Ha eine stumme Frage, und Ha antwortete mit seinem Mund.

»Ein Tag. Vielleicht zwei. Nicht drei.«

Nil kam auf dem Pfad in Sicht. Sie jammerte leise vor sich hin, wie immer, wenn sie müde und hungrig war. Aber obwohl ihr das Fell schlaff um den schweren Leib hing, reckten sich ihre Brüste straff und voll, und weiße Milch stand in den Warzen: wenn keiner von ihnen zu essen fände, das Junge brauchte nicht zu hungern. Sie suchte es mit den Augen, sah es in Fas Haar festgeklammert und schlafend, trat dann zu Ha und berührte ihn am Arm.

»Warum bist du nicht bei mir geblieben? Du hast mehr Bilder im Kopf als Lok.«

Ha deutete auf das Wasser.

»Ich wollte schnell den Stamm sehen.«

»Aber der Stamm ist fortgegangen.«

Die drei standen da und blickten einander an. Dann fühlten sie, wie ihnen so oft geschah, Gemeinsames. Fa und Nil erstand das gleiche Bild, und darin sahen sie, dass Ha dachte. Er hatte daran gedacht, dass er sich von dem Vorhandensein des Stammes überzeugen müsse, denn wenn das Wasser den Stamm mitgenommen oder wenn der Stamm sich eigenmächtig davongemacht hatte, mussten die Gefährten das Moor umgehen, und das war eine Tagreise mehr und bedeutete Gefahr und noch größere Mühe als ohnehin.

Lok warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Ast und ließ ihn nicht mehr los. Er gebot Liku Schweigen, und sie kletterte herunter und blieb neben ihm stehen. Die Alte kam auf dem Pfad näher, sie hörten ihre Füße und ihren keuchenden Atem. Jetzt trat sie hinter dem letzten der Stämme hervor; sie war grau und schmächtig, ging gebückt und war ganz in die Betrachtung des laubumwickelten Bündels versunken, das sie mit beiden Händen vor ihren welken Brüsten trug. Die Gefährten standen beisammen und grüßten sie mit Schweigen. Sie sagte nichts und harrte der Dinge, die kommen mochten. Nur ihre Hände sanken ein wenig unter der Last, und sie hob das Bündel wieder an, damit die anderen wüssten, wie schwer es war.

Lok sprach als Erster. Er sprach zu allen gewandt, lachte, vernahm aber nur die Worte aus seinemeigenen Mund und wollte doch, dass die anderen ebenfalls lachten. Nil begann wieder zu klagen.

Jetzt hörten sie den letzten der Gefährten den Pfad entlangkommen. Es war Mal. Er ging langsam und hustete häufig. Er trat hinter den Stämmen hervor, blieb vor der freien Fläche stehen, stützte sich schwer auf das splittrige Ende seines Dornenastes und hustete erneut. Während er sich vornüber beugte, konnten sie sehen, dass ihm das weiße Haar auf einer breiten Bahn ausgefallen war, die hinter den Augenbrauen begann, über den Kopf führte und bis in die Mähne hineinreichte, die ihm auf die Schultern fiel. Er hustete, und sie schwiegen still, regungslos wie äugendes Wild, während sich rings um ihre Füße der Schlamm in großen Klumpen hob und zwischen ihren Zehen hervorquoll. Eine scharf umrissene Wolke zog von der Sonne weg, und die Bäume siebten fröstelndes Licht über ihre bloßen Leiber.

Schließlich hörte Mal auf zu husten. Er richtete sich auf, indem er den Ast als Stütze benutzte und mit den Händen abwechselnd übereinander daran hochgriff. Er sah auf das Wasser, ließ dann den Blick auf jedem einzelnen ruhen, und sie warteten.

»Ich sehe ein Bild.«

Er nahm eine Hand vom Ast und legte sie sich flach auf den Kopf, wie um die Vorstellungen zu bannen, die darin umeinander kreisten.

»Mal ist nicht alt. Er reitet auf dem Rücken seiner Mutter. Es ist mehr Wasser da, nicht nur hier, sondern den ganzen Pfad entlang, den wir gekommen sind. Ein Mann ist klug. Er lässt die Männer einen Stamm holen, der gestürzt ist, und –«

Die tief in ihre Höhlen gesunkenen Augen wandten sich an die anderen und baten sie, dieses Bild mit ihm gemeinsam zu sehen. Er hustete wieder leise. Die Alte hob vorsichtig ihr Bündel an.

Endlich sprach Ha.

»Ich kann dieses Bild nicht sehen.«

Der Alte seufzte und nahm die Hand vom Kopf.

»Sucht einen Baum, der gestürzt ist.«

Sie schwärmten gehorsam am Wasser entlang aus. Die Alte trat zu dem Zweig, auf dem Liku geschaukelt hatte, und ruhte die hohlen Hände mit ihrer Last darauf aus. Ha rief den anderen. Sie eilten zu ihm und fuhren vor dem wässrigen Morast zurück, der ihnen bis an die Knöchel stieg. Liku fand einige schwarzgewordene, von der letzten Fruchtzeit übrig gebliebene Beeren. Mal trat hinzu und blickte brauenrunzelnd auf den Stamm. Es war der Stamm einer Birke, gerade schenkeldick, und er lag halb in Schlamm und Wasser. Die Rinde begann sich an manchen Stellen zu schälen, und Lok löste die bunten Schwämme daran ab. Einige der Schwämme waren gut, und Lok gab sie Liku zu essen. Ha und Nil und Fa zerrten ungeschickt an dem Stamm. Der Alte seufzte erneut.

»Wartet. Ha da. Fa da. Nil auch. Lok!«

Leicht hob sich der Stamm. Es waren noch Zweige daran, die sich in Büschen verfingen, im Schlamm nachschleiften und sie behinderten, während sie ihn mühsam zur Schmalstelle des Wassers trugen. Die Sonne verschwand wieder hinter Wolken.

Als sie an das Ufer kamen, starrte der Alte angestrengt zu der aufgewühlten Erde jenseits des Wassers hinüber.

»Lasst den Stamm schwimmen.«

Das war nicht einfach. Wie sie das morsche Holz auch fassten, sie mussten mit den Füßen ins Wasser treten. Schließlich hatten sie es zuweggebracht, und Ha stand vornübergeneigt und hielt den Stamm am einen Ende fest. Das andere sank ein wenig unter die Oberfläche. Ha begann mit der einen Hand zu drücken und mit der anderen zu ziehen. Die Zweigkrone ging langsam hoch und kam dann auf Morast am jenseitigen Ufer zu liegen. Lok plapperte vor Freude und Bewunderung, wobei er den Kopf zurückwarf und die Worte aufs Geratewohl herausschießen ließ. Niemand kümmerte sich um Lok; der Alte runzelte die Brauen und drückte sich beide Hände auf den Kopf. Das andere Ende des Stammes lag etwa zwei Manneslängen unter Wasser, und das war der schmalste Teil. Ha starrte seine Frage zu dem Alten hinüber, der sich wieder auf den Kopf drückte und hustete. Ha seufzte und trat entschlossen mit einem Fuß ins Wasser. Als die anderen sahen, was er tun wollte, jammerten sie vor Mitempfinden. Ha stieg vorsichtig hinein, verzog das Gesicht und sie verzogen das Gesicht mit ihm. Er schnappte nach Luft, ging weiter, bis ihm das Wasser über die Knie spülte, und seine Hände umfassten die faule Rinde, dass sie Falten warf. Dann drückte er mit der einen Hand und hob mit der anderen an. Der Stamm drehte sich, die Zweige wühlten braunen und gelben Schlamm auf, der mit einer Wolke von Blättern emporwirbelte; die Krone fiel auf die Seite und blieb liegen. Ha drückte mit aller Kraft, aber gegen die spreizigen Äste vermochte er nichts auszurichten. Immer noch war eine Lücke, wo sich der Stamm jenseits der Mitte unter Wasser bog. Ha kam aufs trockene Land zurück, von den ernsten Blicken der anderen empfangen. Mal sah ihn erwartungsvoll an, seine beiden Hände hielten wieder den Dornenast umklammert. Ha ging bis dahin zurück, wo der Pfad in die freie Stelle einmündete. Er hob seinen Ast auf und ging in die Hocke. Einen Augenblick lang beugte er sich vor, und während er noch fiel, holten die Füße den Oberkörper ein, und er sauste über die freie Stelle. Er machte vier Sätze auf dem Stamm, es sah aus, als müsste er fallen, mit dem Kopf auf die Knie stoßen; da peitschte der Stamm das Wasser hoch und Ha flog mit angewinkelten Beinen und ausgebreiteten Armen durch die Luft. Er fiel auf Laub und Erde. Er war drüben. Er drehte sich um, packte die Baumkrone, zog: und der Pfad hatte wieder seinen Steg.

Die Gefährten schrien vor Erleichterung jubelnd auf. Gerade da kam die Sonne wieder heraus, so dass die ganze Welt ihre Freude zu teilen schien. Sie zollten Ha Beifall, schlugen sich mit der flachen Hand auf die Schenkel, und Lok frohlockte mit Liku.

»Siehst du, Liku? Der Stamm liegt über dem Wasser. Ha sieht viele Bilder!«

Als sie sich beruhigt hatten, deutete Mal mit seinem Dornenast auf Fa.

»Fa und das Junge.«

Fas Hand fühlte nach dem Jungen. Ihr Haarschopf bedeckte es, und sie sahen von ihm kaum mehr als Hände und Füße, die sich ein jedes fest an einer Locke anklammerten. Sie trat zum Ufer, breitete die Arme aus und rannte geschickt über den Stamm, bewältigte das letzte Stück im Sprung und trat zu Ha. Das Junge wachte auf, äugte ihr über die Schulter, fasste mit einem Fuß in eine andere Locke und fiel wieder in Schlaf.

»Jetzt Nil.«

Nil runzelte die Brauen, dass sich die Haut darüber zusammenzog. Sie strich die Locken aus den Augen, verzerrte schmerzvoll das Gesicht und lief auf den Stamm zu. Sie reckte die Arme hoch über den Kopf, und als sie die Mitte erreicht hatte, begann sie zu schreien.

»Ai! Ai! Ai!«

Der Stamm gab langsam nach und sank ein. Nil kam an die schmalste Stelle, machte einen Satz, dass ihre Brüste wippten, und fiel bis zu den Knien ins Wasser. Sie kreischte und zog die Füße aus dem Schlamm, ergriff Has ausgestreckte Hand und stand dann keuchend und zitternd auf festem Boden.

Mal ging auf die Alte zu und redete sie freundlich an.

»Will sie es jetzt hinübertragen?«

Die Alte fand nur mit einem Teil ihres Wesens in die Wirklichkeit zurück. Sie schritt zum Wasser hinab und hielt das Bündel immer noch in Brusthöhe mit den hohlen Händen. Sie war fast nur noch Haut und Knochen und dünnes, weißes Haar. Als sie schnell hinüberlief, rührte sich der Stamm kaum im Wasser.

Mal beugte sich zu Liku hinunter.

»Willst du jetzt hinübergehen?«

Liku nahm die kleine Oa vom Mund und rieb ihren roten Lockenschopf an Loks Schenkel.

»Ich bleibe bei Lok.«

Lok war, als gehe in seinem Kopf eine Sonne auf. Er öffnete den Mund weit und lachte und redete auf die anderen ein, wenn auch zwischen den schnell aufzuckenden Bildern und den Worten, die herauskamen, wenig Zusammenhang war. Er sah, wie Fa zurücklachte und Ha ernst lächelte.

Nil schrie herüber.

»Sei vorsichtig, Liku. Halt dich fest.«

Lok zog Liku an einer Haarlocke.

»Hoch!«

Liku nahm seine Hand, hob einen Fuß auf sein Knie und kletterte in die Locken auf seinem Rücken. Die kleine Oa ruhte in ihrer warmen Hand unter seinem Kinn.

»Los!«, rief sie ihm zu.

Lok ging auf dem Pfad bis unter die Buchen zurück. Er blickte finster zum Wasser hin, rannte darauf zu, hemmte dann den Lauf und stockte. Die über dem Wasser drüben begannen zu lachen. Lok sauste vor und zurück und scheute jedes Mal vor dem Stamm. Er schrie.

»Seht Lok, den kühnen Springer!«

Er nahm stolz Anlauf, der Mut verließ ihn, er duckte sich und eilte zurück. Liku hopste und kreischte.

»Spring! Spring!«

Ihr Kopf rollte hilflos gegen den seinen. Er lief wie Nil mit hocherhobenen Armen zum Uferrand.

»Ai! Ai!«

Sogar Mal musste jetzt grinsen. Likus Lachen hatte das lautlose, atemlose Stadium erreicht und das Wasser rann ihr aus den Augen. Lok verbarg sich hinter einer Buche und Nil hielt sich die Brüste vor Lachen. Da kam Lok plötzlich wieder hervor. Er schoss dahin, fast waagrecht, sauste über den Stamm hinweg mit einem Donnerruf, sprang, landete auf trockenem Boden, hüpfte umher und hüpfte immer weiter und verhöhnte das besiegte Wasser, bis Liku den Schlucken bekam an seinem Hals und die anderen sich halten mussten vor Lachen.

Schließlich verstummte sie, und Mal trat vor. Er hüstelte und lächelte ihnen verzerrt zu.

»Jetzt Mal.«

Er hielt den Dornenast waagrecht vor sich, um das Gleichgewicht zu bewahren. Er lief auf den Stamm zu und seine alten Füße griffen und rutschten. Dann war er auf dem Stamm und schwang den Dornenast. Er hatte nicht genügend Anlauf genommen, um sicher hinüberzugelangen. Sie sahen, wie die Angst sein Gesicht überzog, sahen seine entblößten Zähne. Da riss sein Fuß ein Stück Rinde vom Stamm, dass eine glatte Stelle entstand, und er war nicht schnell genug. Der andere Fuß glitt aus, und er fiel nach vorn. Er warf sich noch zur Seite und verschwand in einem schmutzigen Wasserwirbel. Lok lief hin und her und schrie aus Leibeskräften.

»Mal ist im Wasser!«

»Ai! Ai!«

Ha watete hinein und verzerrte das Gesicht unter der fremden, kalten Berührung. Er bekam den Dornenast zu fassen, und Mal war am anderen Ende. Dann packte er Mal am Handgelenk und sie fielen und taumelten und schienen miteinander zu ringen. Mal machte sich frei und kroch auf allen vieren das sichere Ufer hinauf. Er brachte eine Buche zwischen sich und das Wasser und rollte sich erschauernd zusammen. Die Gefährten traten in engem Kreis um ihn herum. Sie hockten sich nieder und rieben ihn mit ihren Leibern, wanden die Arme zu einem schützenden, wärmenden Flechtwerk. Das Wasser lief an ihm herunter und seine Haare richteten sich auf. Liku bohrte sich in den Knäuel und drückte ihren Bauch gegen seine Waden. Nur die Alte verharrte immer noch regungslos. Die Gruppe hockte um Mal herum, und sie teilten sich in sein Zittern.

Liku sprach.

»Ich habe Hunger.«

Der Knoten um Mal löste sich, und er stand auf. Er zitterte immer noch. Dieses Zittern lief nicht außen über Haut und Fell, es kam von innen heraus, so dass es sogar den Dornenast mit ihm schüttelte.

»Kommt!«

Er ging ihnen auf dem Pfad voran. Hier standen die Bäume weit auseinander mit vielen Büschen dazwischen. Bald kamen sie auf eine Lichtung, die ein großer Baum gemacht hatte, ehe er starb – eine Lichtung am Flussufer, die immer noch von dem aufrechten Leichnam des Baumes beherrscht wurde. Efeu hatte das Baumskelett überwachsen, die tief eingebetteten Stränge bildeten einen Wirrwarr von Adern auf dem toten Stamm und endeten, wo sich dieser zu einem Horst aus dunkelgrünen Blättern ausweitete. Auch die Schwämme wucherten üppig, große abstehende Scheiben, Ohren, in denen das Regenwasser stand, und kleinere gallertartige Klümpchen aus Rot und Gelb, so dass sich der alte Baum zu Staub und weißem Brei aufzulösen schien. Nil suchte Nahrung für Liku, und Lok fingerte nach den weißen Maden. Mal wartete auf sie. Er zitterte jetzt nicht mehr ununterbrochen, aber ab und zu schüttelte es ihn. Danach stützte er sich jedes Mal auf seinen Dornenast, als wollte er daran hinuntergleiten.

Ein neues Erlebnis war jetzt den Sinnen gegenwärtig, ein Geräusch so stet und durchdringend, dass die Gefährten einander nicht an seinen Ursprung zu erinnern brauchten. Jenseits der Lichtung begann der Hang steil anzusteigen, der Erdboden lag frei, nur hier und da standen kleinere Bäume wie hingestellt; und jetzt trat das Knochengerüst des Landes zutage, Klumpen glatten, grauen Felsgesteins. Hinter diesem Anstieg zog sich der Spalt durch die Berge, und vom Ausguss dieses Spalts stürzte der Fluss in einem Wasserfall herab, der zweimal so hoch war wie der höchste Baum. Jetzt da sie schwiegen, erfüllte sie ganz das ferne Tosen des Wassers. Sie sahen einander an und begannen zu lachen und zu schnattern. Lok sprach zu Liku.

»Heute Nacht schläfst du, wo das Wasser fällt. Es ist nicht fortgegangen. Weißt du noch?«

»Ich sehe ein Bild von dem Wasser und von der Höhle.«

Lok tätschelte den toten Stamm, und Mal führte sie den Hang hinauf. Bei all ihrer Freude dachten sie jetzt auch an seine Erschöpfung, obgleich sie noch nicht ahnten, wie sehr sie von ihm Besitz ergriffen hatte. Mal hob die Beine wie einer, der durch Morast geht, und seine Füße waren nicht mehr geschickt. Sie tappten eigenmächtig und unbeholfen, und es war, als würden sie zur Seite gezogen, so dass er an seinem Stock dahinschwankte. Sie folgten hinter ihm jeder seiner Bewegungen, mühelos aus der Fülle ihrer gesunden Kraft heraus. Ganz in sein schweres Mühen versunken verfielen sie in eine liebevoll-mitempfindende, unbewusste Parodie. Stützte er sich auf und rang nach Atem, keuchten sie ebenfalls, und sie taumelten und ihre Füße waren absichtlich ungeschickt. Der Steig wand sich zwischen verstreut liegenden Felsblöcken aufwärts, bis die Bäume zurückblieben und sie im Freien waren.

Hier blieb Mal stehen und hustete, und sie wurden gewahr, dass sie nun auf ihn warten mussten.

»Da!«

Der Hang führte zur Schlucht hinauf, und der Berg ragte vor ihnen in die Höhe. Linker Hand war der Hang jäh zu Ende und fiel über eine Klippe zum Fluss ab. Eine Insel war in dem Fluss, die nach oben anstieg, als ob ihr hinterster Teil aufrecht an den Wasserfall angelehnt worden wäre. Der Fluss stürzte zu beiden Seiten der Insel hinab, auf der näher gelegenen nur in schmaler, dünner Bahn, aber breit und donnernd auf der anderen; und Gischt und Sprühnebel verbargen dem Auge die Stelle, an der er auftraf. Bäume und dichtes Gebüsch gab es auf der Insel, aber nach dem Wasserfall hin schob sich milchiger Dunst davor, und der Fluss zu beiden Seiten erstrahlte nur in trübem Glanz.

Mal schritt wieder weiter. Zwei Wege führten zur Schwelle des Wasserfalls; der eine kletterte im Zickzack über Felsen den Hang hinan. Obgleich dieser Weg für Mal weniger mühsam gewesen wäre, wählte er den Pfad zur Linken, als wollte er vor allem möglichst schnell den Ort der Ruhe und Sicherheit erreichen. Jetzt begleiteten sie kleine Büsche den Rand der Klippe entlang, und während sie daran vorüberzogen, sagte Liku wieder zu Lok:

»Ich habe Hunger.«

Das Lärmen des Wasserfalls nahm ihren Worten die Kraft, so dass Lok sie nur ganz schwach hörte. Er schlug sich an die Brust und rief, dass alle ihn verstanden.

»Ich sehe ein Bild. Ich sehe, wie Lok einen Baum findet mit Ohren, die dick wachsen –«

»Iss, Liku.«

Ha trat mit Beeren in der Hand zu ihnen. Er gab sie Liku, und sie aß und vergrub ihren Mund in der Nahrung; und die kleine Oa musste sich unter den Arm stecken lassen. Die essende Liku gemahnte Lok an seinen eigenen Hunger. Die feuchte Winterhöhle am Meer und die bittere, unnatürlich schmeckende Nahrung, welche Küste und salzige Marsch boten – das alles lag nun hinter ihnen, und er sah plötzlich ein Bild: gute Dinge, Honig und junge Triebe, Knollen und Maden, süßes und ungutes Fleisch. Er hob einen Stein auf und schlug ihn wider den tauben Fels zu seinen Häupten, so wie er bald an einen viel versprechenden Baum klopfen würde.

Nil zupfte eine verdorrte Beere von einem Busch und steckte sie in den Mund.

»Seht! Lok schlägt an einen Felsen!«

Als sie über ihn lachten, verstellte er sich und schrie und tat so, als ob er dem Steinblock lausche.

»Wacht auf, Maden! Seid ihr wach?«

Aber Mal führte sie weiter.

 

Die Spitze der Klippe neigte sich ein wenig zurück, so dass sie nicht über den gezackten Grat zu klettern brauchten, sondern an der abfallenden Seite entlanggehen konnten, wo das Felsmassiv aus dem wirren Nebel am Fuße des Falls emporwuchs. Der Steig gewann mit jedem Schritt an Höhe, ein schwindelnder Weg aus Schräge und überhängendem Gestein, Spalt und Felspfeiler, wo rauer Boden dem Fuße einziger Halt war, und darunter sprang das Massiv zurück und schuf zwischen ihnen und dem Sprühnebel und der Insel einen Raum nur aus Luft. Darinnen schwammen die Raben gleich schwarzen Stückchen Feuerholzes, die Wasserpflanzen bebten mit ganz schwachem Glanz in ihren Zöpfen, dass man gerade eben sah, wo das Wasser war: und die Insel, deren oberes Ende sich an den Fall anlehnte und den Sims der stürzenden Fluten zerteilte, war so fern wie der Mond. Die Klippe beugte sich vor, als wollte sie ihren Fuß ins Wasser tauchen sehen. Die Tangzöpfe waren sehr lang, länger als viele Mal und Lok und Ha, und sie spülten unter den kletternden Gefährten hin und her mit der Regelmäßigkeit des Herzschlags oder der Meereswogen.

Lok fiel ein, wie die Raben immer krächzten. Er schlug nach ihnen mit den Armen.

»Rab! Rab!«

Das Junge auf Fas Rücken regte sich und rutschte ein Stück höher. Ha ging sehr langsam, denn sein Körpergewicht machte ihn vorsichtig. Er tappte dahin, auf besonnenen Händen und Füßen, die sich auf dem schrägen Fels beugten und streckten. Mal sprach wieder.

»Wartet.«

Sie lasen seine Lippen, als er sich zu ihnen umwandte, und traten zu ihm. Hier weitete sich der Pfad zu einer Plattform aus, auf der sie alle Platz hatten. Die Alte stützte ihre Hände auf die schiefe Felswand, damit sie nicht mehr so schwer trüge. Mal beugte sich vornüber Und hustete, bis es ihn in den Schultern riss. Nil kauerte neben ihm nieder und legte ihm eine Hand auf den Leib und die andere auf die Schulter.

Lok sah über den Fluss hinweg, um seinen Hunger zu vergessen. Er blähte die Nasenflügel und wurde sogleich mit einem ganzen Strauß von Witterungen belohnt, denn der Nebel vom Wasserfall verstärkte wunderbar jeden Geruch, wie Regen die Farben einer Blumenwiese sättigte und sie deutlicher voneinander abhob. Da waren auch die Gerüche der Gefährten, einen jeden vermochte er zu unterscheiden, und doch flossen sie alle in der Witterung des schlammigen Pfades zusammen, über den sie gekommen waren.

All dies sprach so vernehmlich von ihrer Sommerheimat, dass er vor Freude auflachte und sich zu Fa umdrehte und spürte, dass er trotz seines Hungers gern bei ihr liegen würde. Das Regenwasser vom Wald war auf ihrem Fell getrocknet und die Lockenbüschel um ihren Hals und über dem Versteck des Jungen glänzten rot. Er berührte sie an der Brust, dass sie lachte, und strich ihr das Haar hinter die Ohren zurück.

»Wir werden Nahrung finden«, sagte er, und sein breiter Mund ging noch weiter auseinander, »und wir werden beieinanderliegen.«

Das Wort Nahrung machte seinen Hunger so lebendig wie die Gerüche. Er wandte sich wieder nach links, von wo ihm die Witterung des Bündels der Alten kam. Da war aber plötzlich nur Leere und der Nebelschleier des Wasserfalls, der von der Insel herüberwehte. Er hing unten mit ausgespreizten Armen und Beinen, und Zehen und Hände saugten sich wie Schnecken an der Felswand fest. Er konnte unter seinen Achseln die Tangzöpfe sehen, deren Bewegung für einen Augenblick äußerster Bewusstseinsschärfe erstarrt schien. Liku plärrte auf der Plattform und Fa lag flach am Boden und beugte sich über den Rand und hielt sein Handgelenk umklammert, während das Junge wimmernd in ihrem Haar zappelte. Die anderen kamen zurück. Er sah Has Oberkörper. Ha handelte vorsichtig und doch rasch und fasste jetzt nach seinem anderen Arm. Lok fühlte den Angstschweiß auf ihren Handflächen. Zwischen Fuß und Hand abwechselnd zog er sich hoch und hockte dann auf der Plattform nieder. Er machte einen Satz herum und schnatterte die Tangzöpfe an, die sich wieder bewegten. Liku kreischte. Nil beugte sich zu ihr hinab und nahm ihren Kopf zwischen die Brüste und strich ihr sanft die Locken den Rücken hinunter. Fa zerrte Lok herum, dass er sie ansehen musste.

»Warum?«

Lok kniete einen Augenblick hin und kratzte sich im Haar unter seinem Mund. Dann wies er auf den feuchten Nebel, der von der Insel auf sie zutrieb.

»Die Alte. Sie war da draußen. Und es.«

Die Luft stieg an der Wand empor, und unter seiner Hand flogen die Raben auf. Fa nahm den Arm von ihm, als er, der Mann, mit Worten an Dinge rührte, die einzig die alte Frau betrafen. Aber Loks Blick blieb an ihrem Gesicht haften.

»Sie war da draußen –«

Völliges Nichtverstehen machte sie beide schweigen. Fa runzelte wieder die Brauen. Sie war jetzt keine Frau, bei der man liegen konnte. Etwas von der Alten hing unsichtbar in der Luft um ihren Kopf. Lok flehte noch einmal.

»Ich habe mich zu ihr herumgedreht und bin gestürzt.«

Fa schloss die Augen. Aus ihren Worten klang Strenge.

»Ich kann dieses Bild nicht sehen.«

Nil führte Liku den anderen hinterdrein. Fa folgte, als ob Lok nicht da gewesen wäre. Er tappte benommen und scheu hinter ihr her und ward sich seines Fehltritts bewusst; aber im Gehen murmelte er:

»Ich habe mich zu ihr umgedreht –«

 

Die anderen waren ein Stück Wegs weiter beieinander stehengeblieben. Fa rief ihnen zu:

»Wir kommen!«

Ha schrie zurück:

»Hier ist eine Eisfrau!«

Über der Stelle, an der Mal stand, war eine Rinne in der Klippe, in der alter Schnee lag, den die Sonne nicht berührt hatte. Schwere und Kälte und dann der strömende Regen des ausgehenden Winters hatten den Schnee zu Eis zusammengepresst, das gefährlich überhing, und Wasser rann zwischen der schmelzenden Kante und dem wärmeren Felsen heraus. Obwohl sie noch nie in dieser Rinne eine Eisfrau überrascht hatten, wenn sie aus ihrer Winterhöhle am Meer hierher gezogen waren, kam keinem von ihnen der Gedanke, dass Mal sie zu zeitig in die Berge geführt haben könnte. Lok vergaß seine Errettung aus großer Gefahr und das seltsam-unnennbar Neue an dem Sprühschleier und lief auf die anderen zu. Er trat an Has Seite und rief:

»Oa! Oa! Oa!«

Ha und die anderen fielen ein.

»Oa! Oa! Oa!«

Das ruhelose Donnern des Falls verschlang ihre Stimmen fast völlig, doch die Raben hörten die Rufe und schreckten auf und glitten dann wieder in weichen Kurven dahin. Liku schrie auch und schwenkte die kleine Oa, wenngleich sie nicht wusste warum. Das Junge erwachte wieder, fuhr sich mit der rosigen Zunge über die Lippen wie ein Kätzchen und schaute aus dem Haargelock hinter Fas Ohr hervor. Die Eisfrau hing erhaben über ihnen. Obwohl tödliches Schmelzwasser ihrem Leib entsickerte, wollte sie sich nicht rühren. Dann erstarb jedes Wort unter ihnen und sie gingen schnell weiter, bis Fels die Gestalt verbarg. Sie erreichten in Schweigen die Steinblöcke am Fall, wo die riesige Klippe im Wirbel und Sturz weißen Wassers nach ihren Füßen Ausschau hielt. Sie waren fast in Augenhöhe mit dem scharfen Bogen, in dem das Wasser über den Sims hinabfiel, Wasser so klar, dass sie hindurchsehen konnten. Tang gab es da, der sich nicht in leisem Rhythmus wiegte, sondern toll bebte, als wollte er mit Gewalt entfliehen. Die Felsen am Fall waren sprühfeucht, und Farne neigten ihre Wedel in leeren Raum. Sie schenkten den stürzenden Wassern kaum einen Blick und schritten schneller aus.

Oberhalb des Wasserfalls kam der Fluss durch eine Spalte in der Bergkette dahergeeilt.

Jetzt da der Tag fast vorüber war, lag die Sonne in dieser Kerbe und blendete sie im Wasser. Jenseits strömten die Fluten an steiler Wand dahin, die schwarz war und vor der Sonne verborgen; aber der diesseitige Hang der Schlucht war zugänglicher. Hier erstreckte sich eine schräge Steinbank, eine Terrasse, die allmählich zur Klippe wurde. Lok achtete nicht der nie betretenen Insel und nicht des Berges dahinter über dem jenseitigen Ufer. Er eilte den anderen hinterdrein, denn die Erinnerung kündete ihm plötzlich von der Geborgenheit der Terrasse. Nichts konnte sie dort vom Wasser her anfallen, denn die Strömung riss alles den Fall hinab; und die Klippe über dem Getose gehörte den Füchsen und Ziegen, den Gefährten, den Spitzohren und den Vögeln. Selbst der Steig von der Terrasse hinunter zum Wald hatte einen so engen Eingang, dass ihn ein Mann mit einem Dornenast versperren konnte. Nur die Füße der Gefährten hatten diesen Pfad an der steilen Klippe über Gischtsäulen und Wasserwirbeln getreten.

Als Lok am Ende des Steigs um den Fels bog, lag der Wald hinter ihm schon im Dunkeln, und Schatten jagten durch die Spalte auf die Terrasse zu. Die Spannung fiel von ihnen ab und freudiges Lärmen war auf der steinernen Platte; da schwang Ha seinen Dornenast, dass das stachelige Ende vor ihm auf dem Boden lag. Er beugte die Knie und sog die Luft ein. Sogleich fielen sie wieder in Schweigen und traten im Halbrund vor den Überhang. Mal und Ha schlichen sich, den Dornenast schlagbereit, über eine kleine Bodenwelle an, und dann konnten sie in die Höhlennische hineinsehen.

Aber die Spitzohren waren fort. Die Witterung haftete wohl noch an den verstreuten Steinen, die vom Dachgewölbe herabgefallen waren, und an dem dürftigen Gras, das in der Erde von Generationen wuchs, doch sie war einen Tag alt. Sie sahen, wie Ha seinen Dornenast hob, bis er keine Waffe mehr war, und die Spannung wich aus ihren Muskeln. Sie gingen die wenigen Schritte den Hang hinauf und standen vor der Höhlennische, und das Sonnenlicht warf ihre Schatten zur Seite. Mal unterdrückte das Husten, das aus seiner Brust steigen wollte, wandte sich zu der Alten und wartete. Die Alte kniete im Überhang nieder und legte den Lehmklumpen in der Mitte dieses geschützten Raumes zu Boden. Sie löste den Klumpen und drückte und glättete den Lehm über die alte Stelle vom vergangenen Jahr. Sie näherte ihr Gesicht dem Lehm und blies darauf. Ganz hinten in der Wölbung des Überhangs waren zu beiden Seiten eines Felspfeilers Nischen, und diese waren angefüllt mit Reisig und Zweigen und dickeren Ästen. Sie schritt schnell zu diesen Vorräten und kam zurück mit Zweigen und Laub und einem großen staubmorschen Holzstück. Sie baute dies alles über dem ausgebreiteten Lehm auf und blies, bis sich eine Rauchfahne aufrollte und ein einzelner Funke emporschoss. Der Ast knackte, und eine violette und rote Flamme züngelte hoch und richtete sich auf, so dass die der Sonne abgekehrte Seite ihres Gesichts glühte und Glanz in ihren Augen war. Sie ging noch einmal zu den Wandhöhlungen und legte noch mehr Holz auf, und das Feuer tanzte vor ihnen in Flammen und Funken. Sie begann, den feuchten Lehm mit den Fingern zu bearbeiten und machte die Ränder gerade, so dass das Feuer jetzt mitten auf einer flachen Schale brannte. Dann stand sie auf und sprach die Gefährten an.

»Das Feuer ist wieder erwacht.«

II

Darauf schwatzten sie wieder alle erregt durcheinander. Sie eilten in die Einbuchtung des Berges. Mal hockte sich zwischen dem Feuer und der hinteren Nische nieder und hielt die ausgebreiteten Hände der Wärme entgegen, während Fa und Nil frisches Holz holten und bereitlegten. Liku brachte einen Ast und gab ihn der Alten. Ha setzte sich gegen den Felsen und rutschte hin und her, bis sein Rücken die richtige Stelle gefunden hatte. Seine rechte Hand fand einen Stein und hob ihn auf. Er zeigte ihn den anderen.

»Ich sehe ein Bild von diesem Stein. Mal hat ihn benutzt, um einen Ast zu zerschneiden. Hier ist der Teil, der schneidet.«

Mal nahm Ha den Stein ab, wog ihn in der Hand, runzelte einen Augenblick die Brauen und lächelte ihnen dann zu.

»Das ist der Stein, den ich benutzt habe«, sagte er. »Seht! Hier hat mein Daumen gelegen, und meine Hand passt genau hier um das dicke Teil.«

Er hielt den Stein hoch und stellte Mal dar, der einen Ast durchschnitt.

»Der Stein ist ein guter Stein«, sagte Lok. »Er ist nicht fortgegangen. Er ist beim Feuer geblieben, bis Mal wieder zurückkam.«

Er stand auf und spähte über Erde und Fels den Abhang hinab. Auch der Fluss war nicht weggegangen und auch die Berge nicht. Die Höhlennische hatte auf sie gewartet. Auf einmal überfluteten ihn Glücksgefühl und Frohlocken. Alles hatte auf sie gewartet: Oa hatte auf sie gewartet. Und eben jetzt trieb sie in den Knollen die Frucht hoch, mästete die Maden, ließ der Erde Gerüche entströmen, die Knospen in jedem Spalt, an jedem Zweig sich runden. Er hüpfte auf die Terrasse hinunter, vor ihm lag der Fluss, und er breitete die Arme aus.

»Oa!«

 

Mal rutschte ein wenig vom Feuer zurück, und sein Blick glitt prüfend über die Rückseite der Höhlennische. Er spähte am Boden umher und fegte trockenes Laub und Tierkot zu Füßen des aus der Wand vorspringenden Steinpfeilers zur Seite. Er hockte nieder und räkelte seine Schultern, bis sie in die Felslehne passten.

»Und das ist der Platz, wo Mal sitzt.«

Er berührte zart das Gestein, so wie Lok oder Ha Fa berührt haben könnte.

»Wir sind zu Hause!«

Lok kam von der Terrasse herein. Er sah auf die Alte. Von ihrem Bündel befreit schien sie jetzt weniger entrückt, schien sie mehr den anderen zu gleichen. Er konnte ihr nun in die Augen sehen und zu ihr sprechen, vielleicht sogar Antwort erhalten. Außerdem drängte es ihn, zu sprechen, vor den anderen das Unbehagen zu verbergen, das die Flammen jedes Mal in ihm wachriefen.

»Jetzt sitzt das Feuer auf dem Herd. Ist dir warm, Liku?«

Liku nahm die kleine Oa vom Mund.

»Ich habe Hunger.«

»Morgen werden wir zu essen suchen für alle.«

Liku hielt die kleine Oa in die Höhe.

»Sie hat auch Hunger.«

»Sie soll mit dir gehen und essen.«

Er lachte und wandte sich an alle.

»Ich sehe ein Bild –«

Da lachten sie ebenfalls, denn das war Loks Bild, er sah nur wenig andere, und sie kannten es genau so gut wie er selbst.

»– ein Bild, wie Lok die kleine Oa findet.«

Wunderlich war die Wurzel gewunden und gebaucht und von den Jahren zur Gestalt einer dickleibigen Frau geschliffen worden.

»– ich stehe zwischen den Bäumen. Ich fühle. Mit diesem Fuß hier fühle ich –« Er spielte es ihnen vor. Sein Gewicht ruhte auf dem linken Bein, und mit dem rechten Fuß wühlte er in der Erde. »– ich fühle. Was fühle ich? Einen Knochen? Einen Ast? Eine Knolle?« Sein rechter Fuß packte etwas und reichte es der linken Hand weiter. Er sah hin. »Es ist die kleine Oa!« Triumphierend sonnte er sich vor ihnen in seinem Ruhm. »Und jetzt: wo Liku ist, da ist auch die kleine Oa.«

Sie spendeten ihm Beifall und lächelten, teils über Lok, teils über die Geschichte. Durch ihre Zustimmung sicher geworden, ließ er sich am Feuer nieder, und alle schwiegen und starrten in die Flammen.

Die Sonne versank im Fluss, und das Licht stieg aus der Höhlennische heraus. Nun war das Feuer mehr denn je Mittelpunkt, weiße Asche, roter Fleck und aufzitternde Flammenzunge. Die Alte ging leise hin und her und legte neues Holz auf, dass der rote Fleck um sich fraß und das Geloder erstarkte. Sie sahen zu, und ihre Gesichter schienen im unsteten Licht zu erbeben. Ihr gesprenkeltes Fell schimmerte rötlich, und in jeder der tiefen Höhlen unter ihren Brauen wohnten kleine Abbilder des Feuers, und alle Feuer tanzten miteinander. Als die Wärme sie durchdrang, entspannten sie die Glieder und sogen dankbar den Rauch ein. Sie beugten die Zehen und streckten die Arme und rückten sogar ein wenig vom Feuer ab. Wieder kam jene tiefe Stille über sie, die so sehr viel natürlicher zu sein schien als Gespräch, ein zeitloses Schweigen, in dem zunächst noch Gedanken und Vorstellungen eines jeden einzelnen gegenwärtig waren – und dann vielleicht überhaupt keine Vorstellung mehr. So vertraut klang ihnen jetzt das Brausen des Wassers, dass sie zu hören vermochten, wie der Wind sanft über den Fels strich. Ihren Ohren schien Eigenleben gegeben, denn sie filterten die vielerlei schwachen Geräusche und nahmen sie in sich auf, das Geräusch des Atmens, das Geräusch des feuchten, zu Flocken werdenden Lehms und der niederfallenden Asche.