Der Turm der Kathedrale - William Golding - E-Book

Der Turm der Kathedrale E-Book

William Golding

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Beschreibung

William Goldings großer historischer Roman Jocelin hat eine Vision: Gott hat ihn auserwählt, einen gewaltigen Turm zu bauen. Sein Baumeister warnt ihn, weil die alte Kathedrale kein sicheres Fundament hat. Doch Jocelin lässt sich nicht beirren. Der Turm wächst und wächst, und um ihn herum breiten sich Chaos und Gewalt aus... Ein eindringlicher Roman des Literaturnobelpreisträgers William Golding über Wahn und Fanatismus, Freiheit und Begehren.

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William Golding

Der Turm der Kathedrale

Roman

 

Aus dem Englischen von Hermann Stiehl

 

Für Judy

Erstes Kapitel

Er lachte, das Kinn hochgereckt, und schüttelte den Kopf. Gott Vater strahlte auf in seinem Gesicht mit der Glorie des durch bemalte Fenster fallenden Sonnenlichts, einer Glorie, die sich bewegte zugleich mit seinen eigenen Bewegungen, um Abraham und Isaak und dann wieder Gott aufzufangen und im Glanz zu erhöhen. Die Tränen des Lachens in seinen Augen gaben Speichen und Räder und Regenbogen dazu.

Kinn hochgereckt, mit den Händen das Kirchturmmodell vor sich haltend, die Augen halb geschlossen; Freude –

»Ein halbes Leben habe ich auf diesen Tag gewartet!«

Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Schragentisches mit dem Modell der Kathedrale, stand der Kapitular, die Altersblässe seines Gesichts dunkel verschattet.

»Ich weiß nicht, Herr Dechant. Ich weiß nicht –«

Er spähte zu dem Modell des Münsterturms hinüber, wie Jocelin es so fest in beiden Händen hielt. Seine Stimme, dünn wie die einer Fledermaus, flatterte schwankend in die weite, hohe Luft des Kapitelhauses hinein.

»Wenn Ihr aber bedenkt, dass dieses kleine Stück Holz – wie lang ist es?«

»Achtzehn Zoll, Herr Kapitular.«

»Achtzehn Zoll. So. Nun, es stellt doch, glaube ich, ein Bauwerk dar aus Holz und Stein und Metall von –«

»Von vierhundert Fuß Höhe.«

Der Kapitular trat ins Sonnenlicht, die Hände an die Brust gehoben, und blickte sich um. Er schaute zum Dach hinauf. Jocelin sah ihn von der Seite an, und er war voller Liebe zu ihm. »Die Fundamente – ich weiß. Aber lassen wir das Gottes Sorge sein.«

Der Kapitular hatte gefunden, wonach er Ausschau gehalten hatte – eine Erinnerung.

»Ja, ganz recht.«

Dann tappte er in ehrwürdiger Geschäftigkeit über die Fliesen zur Tür und durch sie hindurch. In der Luft hinter sich ließ er eine Botschaft zurück.

»Die Frühmesse – natürlich.«

Jocelin stand ganz still da und schoss einen Pfeil der Liebe hinter ihm her. Mein Platz, mein Haus, meine Lieben. Er wird am Schluss der Prozession aus der Sakristei herauskommen und sich dann nach links wenden, wie er das immer getan hat; dann wird er sich besinnen und nach rechts gehen zur Marienkapelle! So lachte denn Jocelin wiederum, das Kinn erhoben, in heiliger Fröhlichkeit. Ich kenne sie alle, weiß, was sie tun und tun werden, weiß, was sie getan haben. All diese Jahre habe ich hier gestrebt, mir meine Kirche angelegt wie einen Mantel.

Er hörte auf zu lachen und wischte sich die Augen. Er nahm den weißen Turm und stieß ihn fest in das quadratische Loch, das man in das alte Modell der Kathedrale hineingeschnitten hatte.

»Da!«

Das Modell war wie ein auf dem Rücken liegender Mann. Das Schiff, das waren seine nebeneinanderliegenden Beine, die Querschiffe zu beiden Seiten seine ausgebreiteten Arme. Der Chor war sein Rumpf, und die Marienkapelle, in der zurzeit die Gottesdienste abgehalten wurden, war sein Kopf. Und jetzt, hervorspringend, hervorbrechend, emporschießend aus dem Herzen des Gebäudes, war auch seine Krone und Majestät da, der neue Turm. Sie wissen es noch nicht, dachte er, sie können es noch nicht wissen – erst wenn ich ihnen von meiner Vision erzähle! Und abermals lachend vor Freude, trat er aus dem Kapitelhaus in das offene Viereck des Kreuzgangs hinaus. Hier häufte die Sonne ihr Licht auf. Und ich muss mich immer daran erinnern, dass der Turm nicht alles ist. Ich muss mich möglichst genauso verhalten, wie ich mich immer verhalten habe.

Da ging er um den Kreuzgang herum, hob Vorhang um Vorhang, bis er zur Seitentür des Westflügels der Kathedrale kam. Er drückte vorsichtig auf die Klinke, um kein Geräusch zu verursachen. Er neigte den Kopf, als er hindurchschritt, und sagte wie immer im Stillen: ›Erhebt, ihr Tore, eure Häupter!‹ Aber kaum war er eingetreten, da wusste er, dass es seiner Vorsicht nicht bedurft hätte, da in der Kathedrale schon ein Wirrwarr von Geräuschen herrschte. Die Frühmesse, in der Lautstärke gemindert, mit Tönen so klein, dass man sie in der einen Hand hätte halten können, war dennoch durch den Schirm aus Holz und Leinwand von der Marienkapelle am anderen Ende der Kathedrale her zu hören. Aber hier war ein näheres Geräusch, welches davon kündete – obwohl seine einzelnen Bestandteile durch das Echo so durcheinandergeschüttelt wurden, dass eines zum andern hätte gehören können –, dass Männer eine Grube aushoben aus Erde und Stein. Sie sprachen miteinander, erteilten Befehle, schrien zuweilen, zerrten Holz über Fliesen, karrten Lasten heran, setzten sie ab und rückten sie dann wuchtig an ihren Platz, so dass alle Geräusche zusammen so formlos wie der Lärm draußen auf dem Markt geklungen hätten, wären nicht die echohallenden Räume gewesen, die sie um und um kreisen ließen, so dass sie sich selbst und die schrillen Chorstimmen einholten und endlos auf einem einzigen Ton weitersangen. Die Geräusche waren so neuartig, dass er zur Mittellinie der Kathedrale im Schatten des großen Westportals eilte, zu dem verborgenen Hochaltar hin das Knie beugte und dann dastand und schaute.

Er blinzelte einen Augenblick. Sonne war schon vorher in die Kirche gefallen, aber nicht so leuchtend. Das scheinbar festeste, greifbarste Ding im Kirchenschiff war nicht die Barrikade aus Holz und Leinwand, welche die Kathedrale zweiteilte vorn bei den Altarstufen, waren nicht die beiden Säulenreihen vor den Seitenschiffen, nicht die Kapellen noch die bemalten Grabplatten dazwischen. Das solideste, greifbarste Ding war das Licht. Es durchstieß schmetternd die Fensterreihen im südlichen Seitenschiff, so dass sie vor Farben barsten, es schrägte vor ihm von rechts nach links in gerader Formation herein, um vor den Säulen an der Nordseite des Mittelschiffes auf den Boden aufzuschlagen. Überall verlieh Staub diesen Stäben und Balken aus Licht das Gewicht des Dimensionalen. Wiederum schaute er sie blinzelnd an, sah, ganz in seiner Nähe, wie die einzelnen Staubteilchen umeinandertanzten oder alle zusammen aufhüpften gleich Eintagsfliegen in einem Windhauch. Er sah, wie sie ein Stück weiter weg in Wolken dahintrieben, sich zusammenrollten oder einen Augenblick lang in der Schwebe hingen und in den am weitesten entfernten Stäben und Balken zu schierer Farbe wurden, zu Honigfarbe quer über den Rumpf der Kathedrale gespritzt. Wo das südliche Querschiff die Vierung von einem hundertfünfzig Fuß hohen Grisaillefenster her erhellte, verdichtete sich der Honig zu einer Säule, die von den mit Brecheisen den Boden aufgrabenden Männern so stracks aufstieg wie die Säule von Abels Opfer.

Er schüttelte den Kopf in bekümmerter Verwunderung. Wenn diese Abelssäule nicht wäre, dachte er, würde ich die übermächtige Lichtebene für eine wahre Dimension halten und somit glauben, mein steinernes Schiff liege gestrandet auf der Seite; und er lächelte schwach – der Verstand, so sann er, erfasst alle Dinge mit Gesetzen und lässt sich doch so leicht täuschen wie ein Kind. Wenn ich jetzt diese Barrikade aus Holz und Leinwand dort am anderen Ende des Mittelschiffs sehe, nun, da die Kerzen von den Seitenaltären fortgenommen sind, könnte ich meinen, dies sei eine Art heidnischen Tempels und jene zwei Männer, die mitten im Sonnenstaub stehen mit ihren Brecheisen (und was für einen Steinbruchlärm und Widerhall machen sie, wenn sie die Platte anheben und wieder zurückfallen lassen!) – und jene beiden dort die Priester irgendeines exotischen Ritus – Vergib mir, Herr.

In diesem Haus flechten wir seit hundertfünfzig Jahren ein prächtiges Gewebe fortwährenden Lobpreises. Alles soll sein, wie es war; nur noch besser, herrlicher, das Muster der Verehrung am Ende vollkommen. Ich muss beten gehen.

Und dann wurde er sich bewusst, dass er noch nicht beten gehen würde, selbst an diesem großen Tag der Freude. Und er lachte laut vor reiner Freude, wusste er doch, weshalb er noch nicht beten gehen würde, kannte er doch seit eh und je das Muster des täglichen Ablaufs, wusste er doch, wer auf Jagd war, wer predigte, wer für wen einsprang, kannte er doch die unerschütterliche Sicherheit des steinernen Schiffes, die Sicherheit seiner Besatzung.

Als ob all dies Wissen das Stichwort für den Eintritt in ein Zwischenspiel wäre, hörte er, wie in der Nordwestecke eine Klinke gedrückt wurde und eine Tür knarrte. Ich werde wie alle Tage meine Tochter in Gott sehen.

Und wirklich, als ob die Erinnerung an sie ihre Person herbeigerufen hätte, kam sie durch die Tür geschlüpft, so dass er stehen blieb und wie stets mit seinem Segen auf sie wartete. Doch Pangalls Frau wandte sich gleich nach links und hob die eine Hand gegen den Staub. Er konnte gerade noch flüchtig ihr ovales, liebliches Gesicht erblicken, ehe sie, anstatt das Mittelschiff stracks zu durchqueren, durch das nördliche Seitenschiff davongeeilt war, so dass er ihr seinen Segen in Gedanken hinterdrein schicken musste. Er sah ihr nach, erfüllt von Liebe und ein wenig enttäuscht, wie sie an den unbeleuchteten Altären des nördlichen Seitenschiffs vorüberhuschte, sah, wie sie die Kapuze zurückschob, dass das weiße Kopftuch zum Vorschein kam, sah grünes Kleid aufscheinen, als der graue Umhang es schwingend einen Augenblick lang freigab. Sie ist ganz Frau, dachte er voller Liebe, und diese törichte, diese kindliche Neugierde beweist es. Aber das geht Pangall oder Pater Anselm an. Und als ob sie ihres törichten Verhaltens innegeworden wäre, sah er nun, wie sie rasch um die Grube herumschritt, die eine Hand vor dem Staub schützend emporgehalten, das Mittelschiff durchquerte und die Tür zu Pangalls Reich hinter sich zuwarf. Er nickte nüchternen Sinnes.

»Wahrscheinlich bedeutet es doch für uns alle eine Veränderung.«

Als die Tür zugefallen war, herrschte eine Fast-Stille; und dann tropfte in die Stille hinein ein neues kleines Geräusch, klopf, klopf, klopf. Er wandte sich zur Linken um, und da saß der Stumme auf der Plinthe einer Säule des nördlichen Bogengangs in seinem Lederschurz, den Steinbrocken zwischen den Knien.

Klopf, klopf, klopf.

»Ich glaube, Gilbert, er hat gewollt, dass du mich zum Modell nimmst, weil ich so oft stillstehe!«

Der Stumme erhob sich schnell. Jocelin lächelte ihn an.

»Von allen, die mit diesem Werk zu tun haben, erscheine ich dir gewiss als der, der am wenigsten tut.«

Der Stumme lächelte wie ein treuer Hund und summte mit seinem leeren Mund. Jocelin lachte zurück, entzückt, und nickte, als hätten sie ein Geheimnis miteinander.

»Frag diese vier Säulen dort an der Vierung, ob sie Nichtstuer sind!«

Der Stumme lachte und nickte zurück.

»Ich werde bald gehen, mein Gebet zu verrichten. Du magst mir dorthin folgen, still dabeisitzen und arbeiten. Bring aber ein Tuch für Splitter und Staub mit, sonst fegt Pangall dich aus der Marienkapelle hinaus wie trockenes Laub. Wir dürfen Pangall keinen Verdruss bereiten.«

Und dann war noch ein neues Geräusch da. Er vergaß den Stummen und lauschte, den Kopf zur Seite geneigt. Nein, sagte er sich, so weit können sie noch nicht sein, das ist unmöglich! Und er eilte ins südliche Seitenschiff hinüber, wo er schräg durch den Raum der Kathedrale ins nördliche Querschiff spähen konnte. Er stand jetzt bei der Grabkapelle der Peverels. Er flüsterte in seiner Freude, die zu tief war für die freie Luft:

»Doch, es ist wahr. Nach all diesen Jahren des Ringens und Mühens. Mein Gott!«

Denn sie taten das Undenkbare. Ich gehe seit Jahren dort vorbei, dachte er. Es gab immer ein Draußen und ein Drinnen, so klar getrennt, so ewig und unumgänglich getrennt wie Gestern und Heute. Der glatte Stein drinnen, gemustert und mit Farbstrichen verziert, das raue, von Flechten überzogene Material draußen – gestern, ja, vor einem Ave-Maria noch waren sie eine Viertelmeile weit voneinander. Doch jetzt bläst die Luft durch sie hindurch. Sie berühren sich, diese getrennten Seiten. Ich kann wie durch ein Guckloch über die Domfreiheit hinweg bis zum Hause des Kapitulars sehen, wo Ivo jetzt vielleicht ist.

Mut. Mein Gott. Es ist ein endlicher Anfang. Als ich ihn an der Vierung graben ließ, hätte dies wegen des Grabes für eine Standesperson sein können. Aber das jetzt ist etwas anderes. Jetzt lege ich die Hand unmittelbar an den Körper meiner Kirche. Wie ein Arzt rühre ich mit meinem Messer an den mit Mohn betäubten Magen.

Und er spielte in Gedanken eine Weile mit der Vorstellung der Droge, und das leise Geräusch der Frühmesse war ihm wie das langsame Atmen des betäubten Körpers, der da ausgestreckt auf dem Rücken lag.

Junge Stimmen klangen jenseits der Kapelle auf.

»Du kannst sagen, was du willst – er ist stolz.«

»Und unwissend.«

»Weißt du, wofür er sich hält? Für einen Heiligen! Ein Mann wie er!«

Als aber die beiden Diakone die Gestalt des Dechanten über sich aufragen sahen, fielen sie auf die Knie.

Er blickte auf sie hinunter, und er liebte sie in seiner Freude.

»Nun, nun, meine Söhne! Was ist? Sollte ich Lästerzungen gehört haben?«

Sie senkten die Köpfe und schwiegen.

»Wer ist der arme Bursche? Ihr solltet lieber für ihn beten. Nun denn!«

Er ergriff zwei Handvoll Locken, zauste sie sanft und hob zuerst das eine, dann das andere weiße Gesicht in die Höhe.

»Bittet den Kapitular um eine Buße für dieses Vergehen. Versteht die Buße in der rechten Weise, meine lieben Söhne, dann wird sie euch eine große Freude bedeuten.«

Er wandte sich von ihnen ab, um das südliche Seitenschiff hinunterzugehen; aber dort gab es wieder einen Aufenthalt. Pangall stand bei der provisorischen Tür, die vom südlichen Chorumgang durch den Schirm aus Holz und Leinwand zur Vierung hinüberführte, und als er nun Jocelin erblickte, schickte er die Schar der Kehrer fort und kam ihm, den Besen quer in den Händen haltend und den linken Fuß ein wenig nachziehend, entgegen.

»Ehrwürdiger Vater.«

»Nicht jetzt, Pangall.«

»Bitte!«

Jocelin schüttelte den Kopf und wollte an ihm vorbeigehen; aber der Mann streckte eine arbeitsraue Hand aus, als wollte er es wagen, sie auf das Gewand des Dechanten zu legen. Jocelin blieb stehen, sah zu ihm hinunter und fragte ihn schnell:

»Was willst du also? Das alte Lied?«

»Diese Leute –«

»Sie gehen dich nichts an. Du musst das ein für alle Mal begreifen.«

Aber Pangall ließ sich nicht abschütteln, er schaute unter seinem dunklen Haarschopf hervor zu ihm auf. Staub war an seinem braunen Kittel, an seinen Hosenbeinen mit den über Kreuz gebundenen Strumpfbändern, auf seinen alten Schuhen. Staub lag auf seinem zornigen Gesicht. Seine Stimme klang rau, vor Staub und vor Zorn.

»Vorgestern haben sie einen Mann getötet.«

»Ich weiß. Hör zu, mein Sohn –«

Pangall schüttelte so feierlich und entschlossen den Kopf, dass Jocelin verstummte und offenen Mundes zu dem Mann hinuntersah. Pangall stellte den Stiel seines Besens auf den Boden und stützte sich darauf. Er ließ den Blick über die Steinfliesen schweifen und sah dann zum Dechanten auf.

»Eines Tages töten sie mich.«

Eine Weile standen beide schweigend da inmitten des Singens, zu dem das Echo die Geräusche der Arbeitenden verwob. Der Staub tanzte zwischen ihnen in der Sonne. Da erinnerte sich Jocelin plötzlich wieder seiner Freude. Er ließ beide Hände auf die Lederschultern des Mannes fallen und packte fest zu.

»Sie werden dich nicht töten. Niemand soll dich töten.«

»Dann werden sie mich fortjagen.«

»Kein Leid soll dir widerfahren. Ich sage es.«

Pangall umklammerte den Besen fester. Er verlagerte sein Körpergewicht auf beide Füße. Sein Mund zuckte.

»Ehrwürdiger Vater, warum habt Ihr es getan?«

Resigniert ließ Jocelin die Hände sinken und verschränkte sie vor dem Leib.

»Das weißt du genauso gut wie ich, mein Sohn. Damit dieses Haus noch herrlicher werde, als es schon ist.«

Pangall zeigte die Zähne.

»Indem Ihr alles abreißt?«

»Nun lass es gut sein, eh du ein Wort bereust.«

Pangalls Erwiderung hörte sich wie ein Angriff an.

»Habt Ihr einmal die Nacht hier verbracht, ehrwürdiger Vater?«

Sanft, wie zu einem Kind:

»Viele Nächte. Das weißt du doch so gut wie ich, mein Sohn.«

»Wenn der Schnee fällt und sein ganzes Gewicht auf dem Bleidach liegt – wenn Laub die Dachrinne verstopft –«

»Pangall!«

»Mein Ururgroßvater hat mitgeholfen, diese Kirche zu bauen. Bei warmem Wetter ist er immer über dem Gewölbe da drüben durch die Decke hinausgestiegen, wie ich das auch tue. Warum?«

»Sacht, Pangall, sacht!«

»Warum? Warum wohl?«

»So sag es mir.«

»Er fand einen Eichenbalken, der schon schwelte. Zum Glück hatte er ein Breitbeil bei sich. Hätte er erst Wasser geholt, dann hätte das Dach inzwischen lichterloh gebrannt und das Blei wäre geflossen wie ein Strom. Er hat das verkohlte Stück herausgehackt. Er hat ein Loch gemacht, in das man ein – ein Kind hätte hineinstecken können, und er hat die glimmenden Späne hinuntergetragen auf Händen, die gebraten waren wie Schweinefleisch. Wusstet Ihr das?«

»Nein.«

»Aber ich weiß es. Wir wissen es. All dies –« Und er stieß mit dem Besen nach dem staubüberzogenen Fries – »dies Aufbrechen und Graben – lasst euch von mir aufs Dach führen.«

»Ich habe anderes zu tun, und du auch.«

»Ich muss mit Euch sprechen –«

»Und was ist das, was du jetzt gerade tust?«

Pangall trat einen Schritt zurück. Er blickte sich um zu den Säulen und den hohen, strahlenden Fenstern, als könnten sie ihm raten, was er sagen musste.

»Ehrwürdiger Vater. Da oben auf dem Dach. Gleich bei der Tür an der Treppe im Südwesttürmchen ist ein Breitbeil, geschliffen, eingefettet, gut verwahrt, jederzeit bereit.«

»Das ist wohl getan. Und klug.«

Pangall machte eine Bewegung mit seiner freien Hand.

»Nicht der Rede wert. Dazu sind wir da. Wir haben gefegt, geputzt, gegipst, Steine behauen und manchmal Glas geschnitten, wir haben nichts gesagt –«

»Ihr seid alle treue Diener dieses Hauses. Ich bemühe mich selber, einer zu sein.«

»Mein Vater und meines Vaters Vater. Und umso mehr, als ich der letzte bin.«

»Sie ist eine gute Frau und Ehegemahlin, mein Sohn. Hoffe und sei geduldig.«

»Sie haben einen Spott gemacht aus meinem ganzen Leben. Und noch mehr. Das ist noch nicht alles – kommt und seht Euch mein Haus an.«

»Ich hab’s gesehen.«

»Aber nicht in den letzten Wochen. Kommt schnell –« Und hinkend, mit der einen Hand winkend, mit der anderen den Besen nachschleifend, führte ihn Pangall in das südliche Querschiff. »Es war unsere Wohnung. Was wird daraus werden? Da!«

Er deutete durch die kleine Tür auf den Hof zwischen dem Kreuzgang und dem südlichen Seitenschiff. Jocelin musste den mit dem Käppchen bedeckten Kopf neigen, um hindurchzugelangen. Er blieb noch innerhalb der Tür stehen, Pangall unterhalb seiner linken Schulter, und über dem Anblick, der sich ihm bot, verschlug es ihm die Sprache. Der Hof war voller Haufen und Stapel behauenen Steins. Sie reichten bis hinauf zu den Fenstern zwischen den Stützpfeilern. Was die Steine an Raum freiließen, war mit Balken ausgefüllt, und der Gang dazwischen war kaum noch ein Katzensteig. Links vom Eingang stand eine Werkbank an der südlichen Mauer mit einem strohgedeckten Schutzdach. Glas und Bleistreifen lagen unter dem Strohdach aufgehäuft, und zwei von des Baumeisters Leuten arbeiteten dort, klink, schnipp, schnipp.

»Seht Ihr, ehrwürdiger Vater? Ich kann kaum meine eigene Haustür finden!«

Jocelin schob sich in seinem Gefolge zwischen den Stapeln hindurch.

»Das ist alles, was sie mir gelassen haben.«

Vor dem kleinen Küsterhaus war ein Raum nicht größer als eine Seitenkapelle ausgespart, und am Ende war die Wand mit schmutzigem Wasser bespritzt. Jocelin betrachtete das Haus mit neugierigen Blicken, da er es noch nie aus solcher Nähe gesehen hatte. Bei früheren Inspektionen hatte ein höflicher Blick zur Kirchentür hinaus über den Hof genügt; denn ob Kirchengut oder nicht, der Hof und das kleine Haus waren schließlich Pangalls Reich. Täglich lag der Schatten dieses Hauses auf dem Südostfenster – gleich einem entgegen der Absicht des Architekten errichteten Denkmal. Jetzt war die Substanz des Hauses seinem Auge nahe – noch ein Zusammenkommen von Drinnen und Draußen. Das Haus hing im Hofwinkel an der Außenmauer der Kathedrale, gleich den Auswüchsen unter den Traufen eines alten Hauses, wo Generationen von Schwalben und Sperlingen ihre Spuren und die Stümpfe ihrer Nester hinterlassen haben. Es war ein zugleich verstohlenes, geheimes und auffälliges Bauwerk; errichtet ohne Erlaubnis, geduldet, stillschweigend übersehen, weil man der Dienste der darin wohnenden Familie nicht entbehren konnte. Es verdeckte einen Stützpfeiler und den unteren Teil eines Fensters. Ein Stück des Mauerwerks war grauer Kathedralenstein und fast so alt wie die Kathedrale selbst. Ein paradoxer Simsstein ragte hervor, ohne das Fenster, das er hätte schützen sollen. Ein anderes Stück der Mauer bestand aus alten Balken, Lehm und Flechtwerk. Waffeldünne Ziegelsteine sah man, die älter waren als das Haus oder die Kathedrale, Beute aus irgendeiner Herberge, die die Römer vor tausend Jahren zum letzten Mal benutzt hatten. Ein Stück des Daches war höchst kostspielig in Blei gefasst; ein anderes Stück war mit Schieferplatten gedeckt, die den Schieferplatten auf dem Dach der Küche der Chorvikare glichen. Dann kam ein Stück Strohdach, so verfallen, dass es nichts als eine verschorfte, unkrautbewachsene erstarrte Wellenbewegung darstellte. Ein Bodenfenster war absichtlich so geformt worden, dass es ein Rechteck aus bemaltem Glas aufnehmen konnte; aber das andere Fenster war kleiner und mit Horn ausgefüllt. Nach kaum hundertfünfzig Jahren verlieh diese zusammengewürfelte Bauweise dem Haus den Charakter des Alten und Verbrauchten. Das Ganze war so eingesunken wie das Dach, als seien seine einzelnen Teile zusammengesackt und in der jetzigen Lage für alle Zeiten zur Ruhe gekommen.

Jocelin sah das Haus an, blickte zur Seite, zu den Stapeln von Baumaterial hinüber, die es umdrängten – eine Dreistigkeit überbot die andere.

»Ja, ja –«

Ehe er noch mehr sagen konnte, begann im Haus eine Stimme lieblich zu singen. Goody kam heraus, erblickte ihn, lächelte, ohne den Kopf zu wenden, und entleerte einen Holzeimer am Fuß der Südmauer. Sie ging wieder ins Haus; und abermals hörte er sie singen.

»Nun zu all dem, was du da gesagt hast – wir sind doch alte Freunde, du und ich, trotz der Unterschiede des Standes. Lass uns vernünftig miteinander reden. Sie werden bauen, und damit basta. Sag mir, was dich wirklich bedrückt.«

Pangall blickte rasch zu den Männern hinüber, die vor sich hin pfiffen und Glasscheiben zerschlugen.

»Ist es deine liebe Frau? Arbeiten sie zu sehr in ihrer Nähe?«

»Nein, das ist es nicht.«

Jocelin sann einen Augenblick nach, nickte dann und sah Pangall mit wissendem Blick an. Er sprach leise.

»Behandeln sie sie, wie manche Männer Frauen auf den Straßen behandeln? Rufen sie ihr nach? Sagen sie unzüchtige Dinge zu ihr?«

»Nein.«

»Was ist es dann?«

Der Zorn war aus Pangalls Gesicht gewichen und hatte einem ratlosen Flehen Platz gemacht.

»Es ist einfach so – warum ich? Ist denn kein anderer da? Warum müssen sie immer mich zum Narren halten?«

»Wir müssen Geduld haben.«

»Die ganze Zeit. Was ich auch tue. Sie grinsen und lachen. Wenn ich mich umsehe –«

»Du bist zu dünnhäutig. Du musst dich damit abfinden.«

Pangalls Gesicht verhärtete sich.

»Wie lange?«

»Sie werden für uns alle eine Plage sein, das gebe ich zu. Zwei Jahre.«

Pangall schloss die Augen und stöhnte.

»Zwei Jahre!«

Jocelin klopfte ihm auf die Schulter.

»Nun gebrauche deinen Verstand, mein Sohn. Die Steine werden Stück um Stück in die Höhe gehen und das Holz dazu. Man wird nicht in alle Ewigkeit vor deinen Augen Glas in Scherben schlagen. Dann wird der Turm stehen und unser Haus noch herrlicher sein.«

»Ich werde es nicht erleben, ehrwürdiger Vater.«

»Warum denn nicht, bei allen –«

Er hielt inne, weil er sich seiner plötzlichen Gereiztheit bewusst geworden war; als er aber dann den Mann von Auge zu Auge anblickte, fiel ihn die Erregung jäh wieder an. Denn er sah die Worte in Pangalls Kopf, so deutlich, als hätten sie dort geschrieben gestanden: weil keine Fundamente da sind und Jocelins Wahn einstürzen wird, ehe oben das Kreuz angebracht ist.

Er biss die Zähne zusammen.

»Du bist wie alle anderen; nicht wie der Alte mit dem Breitbeil. Du hast keinen Glauben.«

Aber Pangall blickte zu Boden. Er duckte sich in Jocelins Schatten. Sein staubiger Haarschopf, sein mistfarbenes Braun und sein Staub waren sechs Zoll unter Jocelins Gesicht, vorgeneigt, zum Priestergewand hin. Durch seine Gereiztheit hindurch vernahm Jocelin ein heiseres, fast nur für den Sprecher selbst gedachtes Murmeln: »Wie soll ich das ertragen? Sie treffen mich da, wo ich wehrlos bin. Ich schäme mich vor den Leuten, vor meiner eigenen Frau; eins kommt zum andern, hier drinnen, und jeden Tag, jede Stunde –«

Etwas schlug auf den Spann von Jocelins Schuh, und als er hinsah, erblickte er dort einen feuchten Stern mit Armen daran und kleinen Wasserkügelchen, die vom Lederfett herunter in den Schmutz des Hofes rannen. Er stieß ungeduldig den Atem aus und sah sich um, auf der Suche nach Worten. Aber das auf den Stein fallende Sonnenlicht zog seinen Blick empor zu dem leeren Raum in der Luft über der Vierung, wo die Zinnen des Stumpfturms auf den Baumeister und seine Gesellen warteten. Er dachte wieder an die Arbeiter, die die Fliesen unter der Vierung aufbrachen, und sein Zorn verflog und machte abermals freudiger Erregung Platz.

»Hab Geduld, sag ich dir! Und ich verspreche dir, dass ich mit dem Baumeister reden werde.«

Er klopfte abermals auf die Lederschulter und eilte dann davon, indem er sich zwischen den Stapeln von Holz und Stein hindurchwand. Die Arbeiter an der Werkbank hielten ihm den Rücken zugekehrt. Er schlüpfte gebückt durch die kleine Tür im südlichen Querschiff und blieb, in das staubige Sonnenlicht blinzelnd, einen Augenblick stehen. Er sah, dass sich Bodenplatten auf der einen Seite der Vierung übereinandertürmten und die beiden Männer, die hier mit ihren Brecheisen am Werke waren, schon bis über die Knöchel in der Erde standen. Hinter ihnen, in der Nordwand, war jetzt ein größeres Stück Außenwelt sichtbar, so dass er bis zu der strohgedeckten Hütte hinüberschauen konnte, wo die Baumstämme bereitlagen. Er stand da, ein Lächeln um die Nasenflügel, den Kopf hochgereckt, und sah, wie Adam, der Kaplan, mit einem Brief in der Hand das südliche Seitenschiff entlang auf ihn zugeeilt kam; aber er winkte ihn fort. »Später, Pater Adam; wenn ich gebetet habe.«

So schritt er denn, lächelnd, von seiner Freude beflügelt, rasch durch den südlichen Umgang zwischen Chor und Sakristei. Die Messe war zu Ende, und nur noch zwei Chorvikare standen an der inneren Tür und sprachen miteinander. In der Marienkapelle hatte man schon das Betpult für ihn auf die Mittellinie gerückt. Von irgendwoher in der Nähe hörte er das leise Klopfen und Schaben des Stummen, der wieder mit seiner Steinmetzarbeit anhob. Aber er brauchte die sanften Geräusche kaum aus seinem Ohr zu verbannen, denn die Freude war sein ureigenes Gebet, tief in seinem Herzen.

Was kann ich tun an diesem Tag der Tage, wo sie endlich begonnen haben, meine Vision in Stein zu gestalten – was anders als Dank sagen?

Deshalb, mit Engeln und Erzengeln –

Freude fiel auf die Worte wie Sonnenlicht. Sie entzündeten sich.

 

Er konnte sich nach den langgeübten Regeln seiner Knie richten. Er wusste, wie sie nach längerem oder kürzerem Knien sein mussten. Nun, da der Zustand dumpfen Schmerzes in ihnen vorübergegangen war und er sie gar nicht mehr spürte, mochte über eine Stunde vergangen sein. Er war wieder bei sich, in sich selbst, und als ihm die langsamen Lichter vor den geschlossenen Augen verschwammen, spürte er, wie ihm der Schmerz wieder in Schienbeine und Knie und Schenkel fuhr. Mein Gebet war nie so einfach; deshalb hat es so lange gedauert.

Und da, ganz plötzlich, wusste er, dass er nicht allein war. Nicht dass er eine Gegenwart gesehen oder gehört hätte, er spürte sie wie die Wärme eines Feuers in seinem Rücken, machtvoll und sanft zur gleichen Zeit; und so unmittelbar war der Druck dieses Wesens, dass es innen in seinem Rückgrat hätte sein können.

Er neigte in Schrecken den Kopf und atmete kaum noch.

Er ließ die Gegenwart tun, was sie wollte. Ich bin hier, schien die Gegenwart zu sagen, tu nichts, wir sind hier, und alle arbeiten zusammen zum Guten.

Dann wagte er wieder zu denken, gestärkt durch die Wärme in seinem Rücken.

Mein Schutzengel.

Ich tue dein Werk, und du hast deinen Boten gesandt, mich zu erquicken. Wie es ehedem war, in der Wüste.

Mit zweien deckte er sein Antlitz, mit zweien deckte er seine Füße, und mit zweien flog er.

Freude, Feuer, Freude.

Herr, ich danke dir, dass du mich in Demut gehalten hast!

Die Fenster fügten sich wieder zusammen. Das Heiligenleben brannte noch in ihnen, blau, rot und grün, aber Funke und Strahl der Sonne waren weitergerückt. Er war wieder da, blickte über gefalteten Händen zu dem vertrauten Fenster auf; und der Engel hatte ihn verlassen.

Klopf, klopf, klopf.

Schab.

Du lässest das Leben deiner Auserwählten erstrahlen gleich der Sonne in einem Fenster.

Er stützte sich auf das Pult und vermochte die Starre seiner Knie abzuschütteln. Er taumelte ein, zwei Schritte, ehe er aufrecht stehen und gehen konnte. Er strich mit der rechten Hand seinen Priesterrock glatt, und dabei erinnerte er sich des Klopfens und Schabens und sah zur Nordwand hin, wo offenen Mundes der Stumme saß. Auf dem Boden zu seinen Füßen lag ein Tuch ausgebreitet, und er kratzte mit behutsamen Bewegungen an dem Steinbrocken. Er erhob sich schnell, als Jocelins Schatten auf ihn fiel. Er war ein kräftiger junger Mann, und er hielt die werdende Plastik mühelos in beiden Händen vor dem Leib. Die Freude und der Trost und Frieden des Engels senkten einen Gnadenschein auf das Gesicht des jungen Mannes wie auf alle Welt; so spürte Jocelin, wie ein Lächeln die Ränder seines eigenen Gesichts verzog, als er ihn von der Seite her ansah. Auch der junge Mann war groß, er konnte dem Dechanten ins Auge sehen, ohne den Kopf heben zu müssen. Jocelin erfasste seine ganze Erscheinung, in der Freude des Engels, noch immer lächelnd, von Liebe erfüllt, das braune Gesicht, den braunen Hals, die Brust, über der das geschnürte Leder auseinanderklaffte und ein Dickicht schwarzen Haares freigab, den lockigen Kopf, die schwarzen Augen unter ihren schwarzen Brauen, die braunen Arme, deren Schweiß an den Achselhöhlen das Wams dunkel gefärbt hatte, die in der Kniekehle kreuzverschnürten Beine, die staubweißen groben Schuhe.

»Heute hab ich wohl still genug gehalten!«

Der junge Mann nickte eifrig wieder und wieder und machte in seiner Kehle ein summendes Geräusch. Jocelin lächelte weiter in die diensteifrigen Augen. Wo ich hinginge, würde er mir folgen. Wäre er nur der Baumeister! Eines Tages vielleicht –

»Zeig mir deine Arbeit, mein Sohn.«

Der junge Mann verschob die eine Hand unter dem Stein und hielt die Büste im Profil an die Brust. Jocelin betrachtete sein Abbild und lachte.

»Oh nein, nein, nein! So eine spitze Nase habe ich aber doch wirklich nicht!«

Dann erweckte abermals das Profil seine Aufmerksamkeit, und er verstummte. Nase wie ein Adlerschnabel. Mund weit offen, faltenzerfurchte Wangen, eingesunken unter den Backenknochen, Augen tief in ihren Höhlen; er fasste sich an den Mundwinkel und zupfte an den parallelen Graten von Fleisch und Haut. Er öffnete den Mund, um zu fühlen, wie sie durch diese Muskelbewegung gedehnt würden, und schlug dabei dreimal mit den Zähnen aufeinander.

»Und so viele Haare habe ich auch nicht, mein Sohn!«

Der junge Mann stieß mit dem freien Arm nach der Seite aus, zog ihn wieder an sich und ließ dabei die Handfläche im Schwalbenflug durch die Luft schweben.

»Ein Vogel? Was für ein Vogel? Ein Adler vielleicht? Du denkst an den Heiligen Geist?«

Wieder seitlich nach oben schwebend der Arm.

»Ah, ich verstehe! Du möchtest den Eindruck von Schnelligkeit festhalten!«

Der junge Mann lachte übers ganze Gesicht, ließ fast den Stein fallen, bekam ihn wieder zu fassen. Kommunion über den Stein hinweg wie mit einem Engel, Freude –

Dann Schweigen, beide den Blick auf den Stein gerichtet.

Davonbrausen mit den Engeln, unendliche Geschwindigkeit, die Stille ist, zurückgewehtes, zurückgezerrtes Haar, vom Wind des Geistes zu geraden Strähnen nach hinten gerissen, offener Mund, offen nicht um Regenwasser von sich zu geben, sondern Hosiannas und Hallelujas.

Da hob Jocelin den Kopf und lächelte ein wenig bekümmert. »Glaubst du nicht, du tust meiner Demut Gewalt an, wenn du einen Engel aus mir machst?«

Summen im Kehlkopf, Kopfschütteln, ergebene, beflissene Augen.

»In dieser Gestalt also werde ich dann eingebaut sein, zweihundert Fuß hoch, auf jeder Seite des Turms, offenen Mundes, den Tag und die Nacht ausrufend bis zum Jüngsten Gericht? Lass mich das Gesicht sehen.«

Der junge Mann drehte gehorsam den Stein mit dem Gesicht zu ihm hin. Eine lange Weile standen sie beide still und stumm da, während Jocelin die scharfen, vorstehenden Backenknochen betrachtete, den offenen Mund, die Nasenflügel so breit gebläht, als höben sie die Adlernase an gleich einem Schwingenpaar, die weitgeöffneten, blinden Augen.

Es ist wahr. Im Moment der Vision sehen die Augen nichts. »Woher weißt du so viel?«

Aber der junge Mann blickte ihn so ausdruckslos an wie der Stein. Jocelin lachte wiederum kurz auf, tätschelte die braune Wange, kniff sie dann liebevoll.

»Vielleicht wissen es deine Hände, mein Sohn. In ihnen wohnt eine Art Weisheit. Deshalb hat der Allmächtige dir die Zunge gebunden.«

Summen in der Kehle.

»Nun geh. Du magst morgen an mir weiterarbeiten.«

Jocelin wandte sich ab und blieb jäh stehen.

»Pater Adam!«

Er eilte quer durch die Marienkapelle dorthin, wo der Kaplan stand, im Schatten unter den Südfenstern.

»Habt Ihr die ganze Zeit gewartet?«

Der kleine Mann stand geduldig da, den Brief in den Händen haltend wie ein Tablett. Seine farblose Stimme kratzte sich in die Luft hinaus.

»Ich stehe unter Obedienz, Herr Dechant«

»Dann trifft mich die Schuld, Pater.«

Aber während er diese Worte noch aussprach, war die Zerknirschung über dem Gedanken an anderes schon verflogen. Er wandte sich um und schritt auf den nördlichen Chorumgang zu, wobei er hinter sich das Klicken genagelter Sandalen hörte.

»Pater Adam, habt Ihr – etwas hinter mir gesehen, während ich kniete und betete?«

Eine Stimme wie das Piepsen einer Maus:

»Nein, Herr Dechant.«

»Wenn Ihr etwas gesehen hättet, hätte ich Euch natürlich Schweigen auferlegt.«

Im Chorumgang blieb er stehen. Balken und Stämme aus Sonnenlicht fielen hier herein, aber die Wand zwischen dem Chor und dem breiten Gang um ihn herum tauchte den Fliesenboden, auf dem er stand, in Schatten. Er hörte die Geräusche brechenden Steins von der Vierung her und beobachtete den Staub, der sogar hier jenseits des hölzernen Schirms tanzte, wenn auch etwas langsamer. Dies lenkte seinen Blick aufwärts, zum hohen Gewölbe, und er trat zurück, um es besser zu schauen. Er spürte weiche Zehen unter seinem eisenbeschlagenen Absatz.

»Pater Adam!«

Aber der kleine Mann sagte nichts, tat nichts. Er stand da, noch immer den Brief in der Hand, und nicht einmal sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert; und dies mag, dachte Jocelin, daher rühren, dass er kein Gesicht hat. Er ist ringsherum gleich, wie der Knauf eines Kleiderhakens. Er sprach, zu dem Kahlkopf mit seinem Kranz wunderlichen Haars hinunter lachend:

»Ich bitte Euch um Vergebung, Pater Adam. Man vergisst so leicht, dass Ihr da seid!« Und dann, laut herauslachend in Freude und Liebe: »Ich werde Euch Pater Anonymus nennen!«

Der Kaplan schwieg noch immer.

»Und nun – was ist’s mit diesem dummen Brief?«

Auf der anderen Seite der Kirche hatte sich der Chor zur nächsten Messe versammelt. Er hörte, wie sie mit dem Prozessionsgesang begannen. Sie bewegten sich vorwärts; man hörte die Kinderstimmen zuerst am deutlichsten; dann verklangen sie, und an ihre Stelle traten die tiefen Stimmen der Chorvikare. Dann verklangen auch diese, und von der Marienkapelle herüber sang eine einzige Stimme, wah, wah, wah, wah, wah, und jagte sich selbst im Echohall um die Fläche des Gewölbes.

»Sagt, Pater – jedermann weiß, dass sie in der Sprache der Welt meine Tante ist, ja?«

»Ja, Herr Dechant.«

»Man muss barmherzig sein, wie immer – selbst zu solchen, wie sie eine ist: oder war.«

Noch immer Schweigen. Mit zweien deckte er seine Füße. Dein Engel ist meine Sicherheit. Nun kann ich alles ertragen.

»Was reden sie?«

»Es ist nur Schenkengeschwätz, ehrwürdiger Vater.«

»Sag es mir ruhig.«

»Sie sagen, wenn ihr Reichtum nicht wäre, würdet Ihr niemals den Turm bauen.«

»Das stimmt. Was noch?«

»Sie sagen, selbst wenn deine Sünden so rot sind wie Scharlach, Geld kauft dir ein Grab am Hochaltar.«

»So, sagen sie das?«

Der Brief war noch immer da, wie ein weißes Tablett. Ein schwacher Duft haftete ihm noch immer an und stieß ihm in die Nase, so dass der Gang, der dunkel dalag unter seinen Nordfenstern, vom Atem eines künstlichen Frühlings erfüllt zu sein schien. Trotz allen Neubeginns und trotz des Engels kam seine Verstimmung zurückgeflutet.

»Er stinkt!«

Das Wah-wah-wah aus der Marienkapelle erstarb.

»Lies ihn vor!«

»›An meinen Neffen und –‹«

»Lauter.«

(Und aus der Marienkapelle eine Einzelstimme, langsam, das Echo überwindend. Ich glaube an den einen Gott.)

»›– Vater in Gott Jocelin, Dechant der Münsterkirche der Jungfrau Maria.‹«

(Und aus der Marienkapelle junge und alte Stimmen, gemeinsam singend. Von allen sichtbaren und unsichtbaren Dingen.)

»Diesen Brief schreibt Meister Godfrey für mich, da ich vermute, du hast über all deinen Kirchengeschäften und Bauangelegenheiten die anderen Briefe vergessen, die er während der letzten drei Jahre für mich aufgesetzt hat. Nun, teurer Neffe, da bin ich wieder mit der alten Frage. Hast du kein Wort für mich übrig? Anders war es und viel schnellere Antwort gabst du mir, als es eine Frage des Geldes war. Lass uns offen reden. Ich weiß und die Welt weiß und du weißt, was für ein Leben das meine war. Aber all das ist mit seinem Tod zu Ende gegangen – Ermordung, Märtyrertum müsste ich sagen. Der Rest ist Buße vor meinem Schöpfer, der, so hoffe ich, seiner unwürdigen Magd noch viele Jahre lebendigen Todes gewähren wird, in denen sie bereuen kann.‹«

(Gelitten unter Pontius Pilatus.)

»Ich weiß, dass du schweigst, weil du meinen Umgang mit einem irdischen König verdammst. Aber steht nicht geschrieben, gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist? Das wenigstens habe ich getan, nach besten Kräften. Ich hätte einst in Winchester unter den Königen begraben liegen sollen, er hatte mir sein Wort gegeben, aber sie haben mich abgewiesen, obschon die Zeit bald kommen wird, da tote Könige das Einzige sein werden, worunter zu liegen ich noch tauge.‹«

(Zu richten die Lebendigen und die Toten.)

»›Meister Godfrey wünscht den letzten Satz zu streichen, aber ich sage, er muss ihn stehen lassen. Sind die Gebeine in deiner Kirche alle so geheiligt? Du magst sagen, ich habe geringe Aussicht auf den Himmel, aber ich bin besserer Hoffnung. Es gibt eine Stelle – oder gab vor deiner Zeit – auf der Südseite des Chors, wo die Sonne hereinfällt, zwischen einem alten Bischof und der Provoste-Kapelle. Ich glaube, dort könnte mich der Hochaltar sehen, und vielleicht wäre er weniger aufmerksam als du, was diese Fehltritte betrifft, die ganz und gar zu bereuen mir immer noch so sehr schwer fällt.‹«

(Vergebung der Sünden und ein ewiges Leben.)

»›Was ist’s also? Mehr Geld? Willst du der Türme nicht nur einen, sondern zweie haben? Nun, wisse, dass ich mein Vermögen zu teilen trachte – er war großzügig in diesem wie in allem andern – zwischen dir und den Armen, ausgenommen eine genügende Summe Geldes für mein Grab, einen Priester, eine Spende für die Kathedrale im Namen deiner lieben Mutter, wir standen einander einmal sehr nahe –‹«

Er streckte den Arm aus und faltete den Brief in den Händen des Kaplans zusammen.

»Wir könnten ganz gut ohne Frauen auskommen, Pater Anonymus. Was meint Ihr?«

»Man hat sie gefährlich und unbegreiflich genannt, Herr Dechant.«

(Amen.)

»Und die Antwort, Herr Dechant?«

Doch Jocelin erinnerte sich jetzt des neuen Beginns, erinnerte sich des Engels und der unsichtbaren Linien des Turms, die sich für jene, die davon wussten, schon jetzt in den sonnigen Himmel über der Vierung emporzogen.

»Antwort?«, sagte er lachend. »Welche Not drängt uns, eine getroffene Entscheidung zu ändern? Wir werden nicht antworten.«

Zweites Kapitel